2. Schlüsselgewalt und Gottesdienst

Im ersten Abschnitt dieses Kapitels wurden als der vierfache Auftrag kirchlichen Handelns Taufe, Predigt, Abendmahl und Sündenvergebung kraft Schlüsselgewalt aufgeführt.

Schlüsselgewalt ist die nach Matth. 16, 19; 18, 18; Joh. 20, 22 den Jüngern verliehene Gewalt der Sündenvergebung, die Gewalt „zu binden und zu lösen”. Sie ist — die Echtheit der Überlieferung vorausgesetzt — „der Ausdruck für den von Jesus selbst der eschatologischen Gemeinde zugesprochenen Vollzug einer richterlichen Gewalt über die Sünder”.28

Bei einer näheren Interpretation des Sachverhalts fällt jedoch auf, daß sich die Schlüsselgewalt wesentlich von allen anderen den Jüngern anbefohlenen Verrichtungen unterscheidet. Der Taufbefehl, der Missionsbefehl sind eindeutig imperativisch gefaßt. Das Reich Gottes soll so angeboten und ausgebreitet werden. Der imperativische Charakter des Abendmahls als Stiftung ist schon verhaltener. Es wird die Wiederholung des Mahls vorausgesetzt. So oft es gefeiert wird, soll es so

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gefeiert werden, wird und soll damit der Tod des Herrn verkündigt werden. Taufe, Predigt und Abendmahl haben je in sich wie in ihrem Zusammenhang den Charakter einer eschatologischen Teleologie. Eingliederung in den neuen Äon, Erneuerung dieser Lebensgemeinschaft ist ihr gemeinsames, widerspruchsloses Ziel.

Von dieser Teleologie ist in der Verleihung der Schlüsselgewalt nichts zu spüren. Sie wird als Vollmacht verliehen, ohne daß etwas darüber gesagt wird, in welcher Lage, wann sie angewandt werden soll. Der Schlüsselgewalt fehlt jede ausdrückliche Situationsbestimmung. In dieser Vollmacht verzichtet der Auftraggeber darauf, ein Ziel zu setzen, das der Empfänger der Vollmacht für ihn erreichen soll. Wohl aber will der Vollmachtgeber in der Voraussicht, daß sich Anlaß zum stellvertretenden Handeln bieten wird, wirksam vertreten sein. Er traut es dem Bevollmächtigten zu, daß er dann in seinem Sinne handelt und identifiziert sich von vornherein mit dessen Handeln. Die Lage stellt sich also, sie wird nicht aufgesucht oder herbeigeführt. Aber der Vollmachtgeber nimmt den Empfänger doch darin in Anspruch und Auftrag, daß dieser berufen wird, in der sich stellenden Lage zu entscheiden. Der Vollmachtgeber will vertreten sein. Würde der Bevollmächtigte nicht entscheiden, so würde er sagen: wozu gebe ich sie Dir, wenn Du sie nicht gebrauchst?

Dieser Unterschied hindert es, die Schlüsselgewalt und das daraus entstandene Bußsakrament einfach in die Linie der gottesdienstlichen Verrichtungen der Kirche einzugliedern. Freilich darf hier wie anderwärts die Differenzierung und Abhebung von Unterschieden nicht im Sinne eines kontradiktorischen und exklusiven Gegensatzes verstanden werden.

Die Frage des Verhältnisses zu den gottesdienstlichen Verrichtungen würde sich freilich umgekehrt in dem Maße lösen, in dem eben diese Verrichtungen indikativisch verstanden werden, je mehr sie den teleologischen Geschehenscharakter verlieren, und das in ihnen Geschehende mit dem Geschehen des Zuspruchs der Sündenvergebung wesentlich ineinsgesetzt wird. Und freilich: daß sie alle einen entscheidenden Bezug dazu haben, darf weder verkannt noch verkürzt werden.

Aber gerade Taufe und Absolution stehen sich so nahe, daß sie sich ausschließen: der Täufling wird nicht absolviert und dann getauft, sondern er empfängt in der Taufe Sündenvergebung. Von der Predigt hat Luther gesagt, der Prediger könne nicht den Mund aufmachen, ohne eine Absolution auszusprechen. Aber er selbst wiederum weiß sehr wohl, daß die Predigt nicht der direkte Zuspruch der Sündenvergebung ist. Ebensowenig kann verkannt werden, daß das Amt, das die Versöhnung predigt, etwas sehr viel umfassenderes tut, als die konkrete individuelle Applikation: es proklamiert die Herrschaft Christi. Die konstitutive Bindung der Sakramentsspendung an die vorgängige Absolution

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ist bis heute problematisch und umstritten. Sie droht dem Sakrament selbst den scheidenden wie den zuordnenden gemeinschaftsstiftenden Charakter und die Freudigkeit des eschatologischen Mahles zu nehmen. Das heißt: mit jeder Annäherung erneuert sich der Anlaß zur sorgfältigen Unterscheidung.

Die gottesdienstlichen Verrichtungen im strengen Sinne und die Schlüsselgewalt stehen in einem Verhältnis der Zugehörigkeit, der Anziehung und Abstoßung. Ihre Ineinssetzung löst den Gottesdienst auf, und ihre Trennung gefährdet ihn nicht weniger.

Hier treffen wir auf die eigentlichsten sehr schwerwiegenden Fragen nicht nur der Gottesdienstlehre, sondern auch des Kirchenrechts. Wir werden hier nur weiterkommen, wenn wir die ausdrücklich nicht angesprochenen Situationen ins Auge fassen, in welchen die Schlüsselgewalt sinngemäß allein zum Zuge kommen kann.

Es ergibt sich dann, daß es sich um Grenzsituationen handelt. Der Ungläubige, der durch die missionarische Predigt einschließlich des Angebotes der Sündenvergebung zum Glauben geführt wird, wird wie gesagt nicht absolviert, sondern getauft. Der Herr allein vergibt Sünden, ohne zu taufen. Es mag dahinstehen, wie wir das deuten — als ein Zeichen seiner Vollmacht, als unmittelbare Gemeinschaft mit ihm. Daß diejenigen, denen Jesus selbst Vergebung der Sünden zuspricht, in seine sichtbare Jüngerschaft eintreten, wird nicht regelmäßig bezeugt. Auf alle Fälle bezieht sich praktisch die Schlüsselgewalt der Jünger nach Pfingsten auf die Getauften.

Gegenüber dem Getauften aber kommt die Schlüsselgewalt in zwei gänzlich entgegengesetzten Lagen zur Anwendung. Entweder es erbittet der Gläubige, in seinem Gewissen angefochten,  den Zuspruch der Sündenvergebung, weil er gesündigt hat und aus der Gemeinschaft herausgefallen ist: oder aber das Amt der Kirche schließt den Verächter des Evangeliums, den Irrlehre, den öffentlichen Sünder von sich  aus der Gemeinschaft aus, und nimmt ihn bei Umkehr wieder an, wie es in CA XXVIII geschildert ist. Dieser Fall trifft regelmäßig auf solche zu, die sich in ihren Verfehlungen oder ihrem Irrglauben selbst rechtfertigen und erst durch den Ausschluß zur Umkehr und Wiederversöhnung gebracht werden sollen. Im ersteren Falle bekennt der Gläubige selbst seine Sünden, im zweiten hält die Kirche sie ihm um seinetwillen wie um der Gemeinschaft willen vor. Daß die wesentliche Verschiedenheit der beiden Lagen nicht gesehen und beide nicht klar genug auseinandergehalten worden sind, erklärt viele der Schwierigkeiten, welche das Problem der Schlüsselgewalt von jeher geboten hat.

Daß es sich um Grenzsituationen und nicht ein Handeln und Vermögen in beliebig verschiedenen Lagen handelt, ergibt sich aus dem unbestreitbaren judiziellen Charakter der Schlüsselgewalt. Das ist dem Juristen nicht verwunderlich, sondern leicht verständlich. Regierung,

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Verwaltung, Gesetzgebung wollen etwas mit den Mitteln des Rechtes — sie enthalten ein teleologisches Moment — das Recht in aller seiner unverkürzten Würde ist ihnen Mittel zu dem es transzendierenden Zweck. Der Richter dagegen entscheidet den gegebenen Streitfall, ordnet die Störung. Dabei ist dieser Richterspruch ein schöpferischer Akt, und jenes zielgerichtete Handeln dient im tieferen und weiteren sinne dem Recht, der Durchsetzung des Ordnungswillens des Herrn, der seine Gerechtigkeit ausbreiten will. Aber die Akzentuierung ist eine verschiedene. So gesehen hat die Schlüsselgewalt neben der beschriebenen Beziehung zum Gottesdienst und damit zum liturgischen Recht eine besondere Beziehung zum bekennenden Recht. Es bekennt der bußfertige Christ, und es bekennt die Kirche dem Unbußfertigen, was sie bekennen muß und nicht verschweigen kann, ohne ihr Amt zu versäumen. Deshalb genügt es, hier auf die zweifellosen Zusammenhänge mit dem engeren Kreise des liturgischen Rechts, die nicht verkürzt werden sollen, hinzuweisen. Das Problem der Schlüsselgewalt ist selbst jedoch erst im Zusammenhang des Bekenntnisrechtes zu behandeln. Daß die These vom liturgischen Recht zwar aufgestellt worden ist, aber unausgeführt bleibt, liegt daran, daß in Wahrheit der Charakter des bekennenden Rechtes im System der kerygmatischen Theologie einseitig, ja geradezu verdrängend überwiegt.