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2. Die Rechtsstruktur der Gnade — Kirchenrecht als Gnadenrecht

Der Anspruch (sei es aus einer personalen Verpflichtetheit aktual entspringend, sei es aus einer generellen Norm abgeleitet), und die ihm entsprechende (im wörtlichen Sinne sinngemäß antwortende, sich nicht entziehende) Anerkennung ist jedoch nicht der einzige Rechtstypus und Rechtsvorgang, der für unsere Erwägung in Betracht kommt. Die Vorstellung des rechts als ausschließlicher Sollensstruktur ist ein ungeprüftes Vorurteil, welches die Tradition der abendländischen Rechtsphilosophie mit großer, aber verhängnisvoller Wirkung in das Kirchenrecht eingebracht hat. Der zweite, jenem Vorgang entgegengesetzte, von ihm unabhängige und ihm korrespondierende Typus ist der der Gnade als Rechtsvorgang, ist das Gnadenrecht.

Die Gnade spielt in der allgemeinen Rechtslehre als wissenschaftlichen Lehrfach ebensowenig eine wesentliche Rolle wie in der Rechtsphilosophie. Sie bedeutet in beiden höchstens eine den regelmäßigen Zusammenhang des Systems durchbrechende Besonderheit. Aber auch in der Rechtsphilosophie geht es durchgängig um die Gerechtigkeit, nicht um die Gnade. Diese erscheint entweder als dialektischer Gegenbegriff zur Gerechtigkeit oder ist als mit der Gerechtigkeit (Gottes) identisch zu postulieren — aber in keinem Falle rechtlich zu interpretieren. Auf die Gründe dieser allgemein vollzogenen Arbeitsstellung der Gnade ist noch ausführlich einzugehen. Sie muß hier zunächst nur als Tatsache verzeichnet werden.

Dieser geringen Beachtung entsprechend gibt es nur eine einzige größere juristische Spezialuntersuchung über die Gnade, die von Wilhelm Grewe.6

Unter Benutzung dieser Schrift hat Edmund Schlink ebenso fast als einziger eine Verhältnisbestimmung von Gerechtigkeit und Gnade im Zusammenhang der Rechtstheologie unternommen.7

Schlink hat aus dem Buch von Grewe die in der sehr kurzen Einleitung vorweg gegebene Begriffsbestimmung der Gnade offenbar in der nicht unbedenklichen Annahme verwendet, damit sei im wesentlichen ausgesagt, was die Jurispruden hier darzubieten habe. Die begriffsgeschichtlichen Darlegungen des Hauptteils übernimmt er in knappsten Stichworten. Die systematische Schlußbetrachtung (S. 120 ff.), die zu dem geschichtlichen Bild Stellung nimmt, hat ihn nicht interessiert. Grewe faßt hier Gnade als Dispensation. Er stellt den modernen rechtsstaatlichen dem mittelalterlichen Gesetzesbegriff gegenüber: der eine schließe die Dispensation, die Einzelbefreiung unter Aufrechterhaltung der generellen Regel ein, der andere schließe sie aus. Grewes Interesse geht dann zunächst nur dahin, den Dispensationsbegriff als einen formalen klarzustellen: die Dispensation verhalte sich zu der Gnade wie das Gesetz zur Gerechtigkeit. Das heißt: die Gnade ist Motiv und

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Sinngrund, die Dispensation die juristische Form.

Bedeutsam ist sein Hinweis auf den kanonistischen Ursprung des Dispensationsbegriffes (S. 122):

„Nach Hinkmar von Reims bestimmen die canones insofern verschiedenes, als sie je nach Zeitumständen oder Art des Falles in der Handhabung des göttlichen Gesetzes bald Strenge, bald Gnade zur Anwendung bringen. Die scheinbaren Widersprüche beruhen lediglich auf gnadenweiser Dispensation von der gemeingültigen Regel … Kein Satz des kanonischen Rechtes gilt ausnahmslos. Von allen canones kann ,pro necessitate’ dispensiert werden. In der Dispensationsgewalt ebenso wie in der Aufstellung des Gesetzes findet, wie in allem Handeln der Kirche unmittelbares Handeln Gottes statt. Daher ist die Dispensationsgewalt grundsätzlich unbegrenzt. Sie schließt jedoch keine Änderungsgewalt ein. Sobald die not beseitigt ist, stellt sich die göttliche Regel von selbst wieder her.”

Grewe benutzt hier Gedanken von Sohm. Es handelt sich nicht nur um den Versuch, die Widersprüche des kanonischen Rechts zu harmonisieren (concordantia discordantium canonum), sondern auch um eine grundsätzliche Einsicht. Das pneumatische Recht ist nicht von so aktualistischer Gegenstandslosigkeit, als daß es sich nicht in bestimmten Grundsätzen und Rechtsgedanken ausdrücken ließe. Aber es erschöpft sich eben nicht in Grundsatz und Regel, sondern ist offen für das Besondere und die necessitas. Weil es so offen ist, braucht es seinen pneumatischen Charakter auch nicht durch Regellosigkeit unter Beweis zu stellen

Im weiteren zeigt Grewe die Abhängigkeit des juristischen Gesetzesbegriffs von den wechselnden theologischen Grundlagen: der Theismus führt zur Durchbrechbarkeit, der Deismus zur Undurchbrechbarkeit des Gesetzes. Indem er gegen den Verlust der Gnadenbegriffs zugleich mit der Tendenz zur Aufhebung personaler Verantwortlichkeit etwa im Strafrecht und im bürgerlich-rechtsstaatlichen Denken überhaupt polemisiert, zögert er doch offenbar mit gutem Grund, eben jene Instanz zur Durchbrechung des Gesetzes im Personalismus des NS-Führerstaates zu sehen (1936!). So haften dem hier beschworenen Gnadenbegriff ein wenig Romantik an. Systematisch wird aber das Problem als solches von Regel und Ausnahme begriffen. Norm und Durchbrechung der Norm bilden eine Einheit.

Aus der Schrift von Grewe entnimmt Schlink als die drei Hauptmerkmale des Begriffes:
1. Die Gnade setzt ein Über- und Unterordnungsverhältnis voraus, sie wird von einem Übergeordneten in „gnädiger Gesinnung” gewährt.
2. Die Gnade kann nicht verlangt, sondern nur erbeten werden. Es kann niemals ein Anspruch auf Begnadigung bestehen.
3. Die Gnade enthält eine Begünstigung, keine Benachteiligung.

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Als vierten Gedanken nimmt er die These auf, daß politische Amnestien vom Gnadenbegriff auszunehmen seien, da sie nicht auf gnädiger Gesinnung beruhten, sondern z.T. auf der Undurchsetzbarkeit der Rechtsordnung.

Diese Grundlage der Betrachtung erscheint mir unvollständig.

1. Das Merkmal der Über- und Unterordnung trifft nicht prägnant das Wesentliche des im Gnadenakt vorausgesetzten und aktuell werdenden Verhältnisses. Wesentlich ist zu allererst, daß der Eine dem Anderen und dessen faktischer Überlegenheit unterworfen ist. Unterordnung als Forderung zu leistenden Gehorsams dagegen reicht dazu nicht aus. Man kann fragen, ob diese faktische Überlegenheit eine rechtlich begründete sein muß. Wenn der Sieger mit dem Besiegten, der sich auf Gnade und Ungnade ergeben hat, glimpflich verfährt, so ist er über die faktische Macht hinaus insofern im Recht, als der Besiegte darauf verzichtet hat, den Rechtsstreit auch mit Waffengewalt weiterzuführen.
Wie der Gnade Übende sowohl im faktischen Besitz der Macht wie im Recht sein muß, so der Empfänger, der zu Begnadigende, in der Machtlosigkeit und im Unrecht.
Unterordnung ist hier nicht das Untertansein im Sinne allgemeiner und regelmäßiger Verpflichtetheit, sondern eine Verschuldung des Betreffenden, eine Verstrickung, ein geminderter Rechtsstatus, der nach Ausgleich drängt. Es gibt Gnade nicht in einem Normalverhältnis. Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.

2. Das Merkmal der gnädigen Gesinnung, der Zuwendung und Herablassung schließt sich mit recht an den Wortsinn von Gnade als Geneigtheit an. Aber so vereinzelt subjektiviert dieses Merkmal den schon formalisierten Begriff in zu hohem Maße. Denn Gesinnung ist das Ergebnis einer Zuwendung, und läßt auf die Motive eines solchen Entschlusses zurückfragen. Sie ist zugleich auch mehr der modus des Verhaltens als dieses selbst. Diese Zuwendung kann drei Gründe haben:
a) sie kann in einer schlechthin unableitbaren Weise grundlos sein, ihren Grund rein in sich selbst tragen, sie kann gnädige Willkür sein.
b) Sie kann hervorgerufen und in Bewegung gesetzt werden durch Vorgänge innerhalb des Machtbereiches selbst — unabhängig von jedem Tun des Empfängers und daraus folgenden Ansprüchen.
Gnadenakte werden meist erteilt bei besonders glücklichen Ereignissen, bei Siegen, Fürstenhochzeiten, Jubelfeiern. Dies ist nicht zufällig, sondern typisch und wesentlich. Auch Schlink erwähnt es im Anschluß an Grewe, ohne jedoch den Sachzusammenhang herzustellen. Das Gemeinschaftsleben erscheint in solchen Ereignissen so erhöht, gefüllt, gestärkt, ja überschüssig, daß diese Überfülle auch das Defizit der Schuld des Einzelnen auszugleichen vermag. Wenn das

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ganze Volk von der Gefahr der Zerstörung befreit ist, braucht man den Einzelnen nicht mehr wegen einer geringen Verschuldung haften zu lassen.
c) Sie kann angeregt („hervorgerufen”) werden durch Bitten und Unterwerfungsakte des Empfängers. Das hat seine sehr engen begrifflichen Grenzen. Es kann des Gnadenhandeln weder im Sinne kausaler Bewirkung in Ganz setzen, noch moralisch oder rechtlich einen Anspruch begründen. Beides hebt den Begriff der Gnade auf. Wer sich so verhält und einstellt, schließt sich selbst von der Gnade aus.

Der Begriff der Gnade schließt im innerweltlichen Geschehen ein gewisses Maß des Kalkuls nicht aus: die Erwägung, ob man stark genug ist, auch unter Verzicht auf die direkte Durchsetzung der Machtchance, die Herrschaft zu gewährleisten, aber auch den Gedanken, durch Milde zu verpflichten, zu binden. Im letzteren wird sich meist die Begrenztheit des Gewalthabers ausdrücken. Trotzdem ist auch dieses Verhalten nicht eindeutig: es schließt die Bereitschaft ein, das Lebensrecht und den Lebenssinn des Unterworfenen anzuerkennen, ist insoweit auch „gnädige Gesinnung”. Angesichts dieser Mehrdeutigkeit kann man nicht, wie Grewe es tut, politische Amnestien begrifflich ausschließen. Man denke insbesondere an die wichtigen früher üblichen Amnestieklauseln in Friedensverträgen, welche auf die moralisch-strafrechtliche Vernichtung des Besiegten verzichten.

3. Gerade weil der Gnadenakt grundsätzlich nicht abhängig sein kann von Tun und Verdienst des Empfängers, zerfällt er in ein inneres und ein äußeres Geschehen:
a) das innere ist der Gnadenentschluß, der entweder, wie geschildert grundlos ist oder durch eine anderweitige Genugtuung und Ersatzleistung ausgelöst wird.
b) die Gnade vollzieht sich niemals von selbst, sondern bedarf der konkreten Zuwendung durch einen besonderen Akt der Individualisierung auf die Person, durch Freilassung und Wiedereinsetzung in den verlorenen Status der Freiheit. Die Gnade verweist nicht nur zurück und findet ihren Grund in jenem Geschehen, sondern sie muß dem Empfänger auch zukommen.

4. Wie alle einseitigen rechtsgeschäftlichen Willenserklärungen muß der Gnadenakt auch angenommen werden. Daß der Mensch eine ihn zunächst und scheinbar zu nichts verpflichtende Freilassung meist unreflektiert und selbstverständlich hinnimmt, wie ein losgelassener Vogel davonfliegt, ändert nichts daran, daß es sich um einen wirklichen und bedeutsamen Rechtsakt der Annahme handelt. Dieser Akt schließt recht verstanden das Anerkenntnis der Gnadenbedürftigkeit, der Schuldverfallenheit ein. Wer auf seinem Recht beharrt, kann Gnade nicht empfangen.

Dies sind die konstitutiven Elementen des Gnadenbegriffs, von denen

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ersichtlich keines fehlen kann. Daß sie nicht sämtlich entwickelt werden, beruht wohl darauf, daß die Gnade als ein mehraktiger Vorgang durch die Begriffsbildung in einen Akt zusammengezogen worden ist. Dabei ist aber weiter die Frage nach ihrer Rechtsstruktur, den Rechtsfolgen und den aus dem Gnadenakt für den Begnadigten erwachsenden Verbindlichkeiten ausgefallen.

a) Der Gnadenakt ist grundsätzlich unkonditional, nicht an Bedingungen geknüpft, da er ja nicht nur die gnädige Zuwendung, sondern auch die Unfähigkeit des Schuldigen voraussetzt, in diesem Moment oder überhaupt genug zu tun. Gerade das vielfache Vorkommen eingeschränkter, bedingter Begnadigung zeigt den unkonditionalen Charakter der Gnade im Grundsatz.

b) Der Gnadenakt ist zugleich deklaratorisch (Hinweis auf die vorausgegangene Erfüllung und Kundmachung der Entscheidung) wie konstitutiv (Zuwendung und Vollzug der konkreten Begünstigung an den Empfänger). Gerade weil er beides ist, muß er als konkreter Akt vorgenommen werden und zwar gerade, weil die Gnade unverdient ist. Die Zuwendung ist deshalb kein lediglich funktionaler, sondern ein personaler Akt. Wäre sie verdient, so wäre sie ein Aufrechnungsakt, der jeweils in sich vollzogen und nur der Sicherheit halber festgestellt werden müßte. Ein deklaratorischer Gnadenbegriff liegt also dem Verdienstgedanken näher als ein konstitutiver.
Der Verdienstgedanke ist dem Gnadenbegriff gänzlich wesensfremd und in seinem Zusammenhang sinnwidrig. Man kann ein Gefäß nur füllen, wenn und soweit es leer ist.

c) Unter den genannten Voraussetzungen verpflichtet der Gnadenakt zum Wohlverhalten, ohne dieses Wohlverhalten als auflösende Bedingung zu setzen. Daß beim Rückfall der frühere Gnadenerweis ohne Widerruf erschwerend bewertet wird, widerspricht nicht dem Wesen der Gnade. Die Gnadenwirkung ist kein isoliertes Objektivum. Sie schafft schöpferisch eine neue Lage, hinter die der Betroffene nicht einfach zurückkann. Deshalb verpflichtet Gnade auf stärkste. Geben ist die stärkste Inanspruchnahme. Nehmen ist sicher, Geben ist im Wagnis seiner Wirkung gewiß.

Die Verpflichtungsfolge der Gnade kann nur recht gesehen werden durch den Vergleich mit anderen Rechtsinstituten, in welchen eine grundlose Zuwendung vor sich geht: in der Schenkung und in der Erbeinsetzung. Auch diese sind:
a) grundlos, ohne Anspruch, sine causa von seiten des Empfängers,8
b) bedingungsfrei: soweit Bedingungen und Gegenleistungen reichen, zessiert der Charakter dieser Institute zugunsten anderer Rechtsverhältnisse,
c) Quelle von Dankbarkeitsverpflichtungen.
In vielen Rechten können Schenkungen bei grobem Undank des

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Beschenkten widerrufen werden. Die testamentarische Erbeinsetzung kann von den Miterben wegen grober Verfehlungen des anderen Erben gegen den Erblasser angefochten werden usw.

Alles dies sind keine Bedingungen, sondern Folgen, die in der Struktur des Verhältnisses liegen. Dieser personale Grundbezug tritt in den unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen der Undanksfolgen hervor. Der Inhalt dieser Verpflichtungen ist positiv schon deswegen nicht umschreibbar, weil es sich eben nicht um den rechtsgeschäftlichen Inhalt, sondern um das Gesamtverhältnis, oder, wenn man will, um eine Grenzbestimmung handelt. Gnade, Schenkung, Erbeinsetzung belasten nicht den Empfänger mit Hypotheken seiner Freiheit, sondern setzen ihn in Freiheit zu einem durchaus eigenen Verhalten, zu eigener Zwecksetzung innerhalb des ihm gewährten Rechtsstatus, über das hinaus, was der Verfügende etwa voraus berechnet. Dieser geht immer ein echtes Wagnis ein. Dennoch begründen sie ein personales, nicht sachbestimmtes Band der Dankbarkeitsverpflichtung, dessen Verletzung nicht rein ideeller Natur ist, sondern auf den durch die Zuwendung geschaffenen Rechtsstand wieder zurückwirkt, und zwar in seinem ganzen Umfange. Auch die Unteilbarkeit dieser Rechtsfolge verwehrt, sie inhaltlich zu umschreiben. Auch kann dieser Sachverhalt nicht in eine ethische und in eine rechtliche Verpflichtung aufgespalten werden. Er widerstreitet einer Spiritualisierung.

Die gleichen Strukturen finden wir in zwei wesentlichen personalen Rechtsvorgängen des öffentlichen Rechts: in der Verleihung der Staatsbürgerschaft9 und der Übertragung öffentlicher Ämter.

Um eine Staatsbürgerschaft zu erlangen, muß man ggf. gewisse Qualifikationen erfüllen (Gesundheit, Unbescholtenheit, Fähigkeit, sich selbst zu erhalten). Aber auf die Verleihung besteht auch dann kein Anspruch, weil das öffentliche Rechtsband ja erst hergestellt werden soll, auf Grund dessen etwa subjektiv-öffentliche Rechte in Anspruch genommen werden könnten. Die Verleihung bleibt eine freie Zuwendung, deren Annahme durch den Verleihungsantrag vorweggenommen ist. Sie ist auch kein Vertrag. Die Verleihung setzt den Neubürger in den gleichen Rechtsstatus wie den Altbürger, in einen Freiheitsraum, in dem er sich jetzt bewegen kann. Wird er jetzt etwa straffällig, so stellt ein bürgerliches Delikt das Bürgerrecht nicht mehr in Frage. Wohl aber kann dies bei schweren politischen Delikten, bei Hoch- und Landesverrat der Fall sein — die personale Treupflicht, die das Bürgerrecht impliziert, ist dann verletzt.

Ähnlich liegt es beim Amt. Die Erfüllung der Qualifikationsbedingungen verleiht keinen Anspruch auf Ernennung: sie bleibt immer freie Wahl. Auch sie muß angenommen werden und setzt in einen Status, einen Rechtsraum des Handelns. Dabei liegt das Wesentliche des Amtes gerade in dem, was die jederzeit vertretbaren fungiblen Verrichtungen,

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die eindeutig festlegbaren Regeln, die Erfüllung der Norm überschreitet: Die Emotionalität, die Spontaneität, Personalität, mit der der Ermessensspielraum, die Gestaltbarkeit des Amtes schöpferisch wahrgenommen wird. Ein echtes Amt ist nur ein solches, welches einen solchen Freiheitsraum einschließt. Zum Amtsverlust während seiner bestimmungsmäßigen Dauer führen noch nicht die mäßigen Leistungen, sondern allein das Zuwiderhandeln gegen den Sinn des Amtes überhaupt. Es braucht die Analogie hier nicht weiter durchgeführt zu werden. Funktionär ist der Amtsträger, dessen Aufgabe in der vorausbestimmten und vorausbestimmbaren Norm völlig aufgeht, also radikal vergesetzlicht ist.

Daraus ergibt sich jedoch weiter, daß eine Entgegensetzung des Begriffs Gnade mit den Begriffen Recht, Gerechtigkeit und Gesetz keinesfalls im kontradiktorischen Sinne und wenn überhaupt, nur sehr bedingt möglich ist.

1. Gnade ist nach der soeben gegebenen Umschreibung ein mehraktiger Rechtsvorgang mit spezifischen Rechtsfolgen in einem komplizierten, aber sinngemäß ineinander eingreifenden Gefüge. Gnade ist in ihrem ganzen Umfange rechtliches Geschehen.
Von einer „Verrechtlichung” der Gnade als einer Mißbildung des Verständnisses zu sprechen, hat keinen Sinn, weil es sich eben um einen Rechtsakt handelt. Der Mißbrauch der Gnade durch den Versuch, aus ihr einen Anspruch zu machen, kann mit diesem Begriff nicht zutreffend bezeichnet werden.

2. Gnade ist eine Form der Gerechtigkeit, als gebende und fordernde, die ihr eigenes Recht durch die Gabe in der Erwartung aufrichtet, daß die konkrete Verpflichtung des Gebens stärker sei als die des Nehmens.

3. Gnade ist insofern auch „Gesetz”, als sie ihre eigene — analogisch auch in anderen Instituten hervortretende — Rechtsstruktur besitzt und spezifische Rechtsfolgen erzeugt. Sie kann auch nicht dadurch in einen Gegensatz zum Gesetzesbegriff gebracht werden, daß sie fälschlich auf einen Akt, denjenigen der Zuwendung, beschränkt wird, der wie ein Blitz aus heiterem Himmel in die immanente Gesetzlichkeit des sonst gnadenlosen Rechtes hineinfällt.

4. Die Gnade hat eschatologischen Charakter. Es entscheidet sich hier immer wieder alles an der frage, ob der Begnadigte in dem gewährten Freiheitsraum bleibt oder aus ihm herausfällt. Das „Bleiben in …”, die Zugehörigkeit entscheidet alles.

Andererseits unterscheidet sich die Gnade von den beiden anderen, ihr analogen Instituten unentgelticher Zuwendung dadurch, daß in ihr ein früheres Rechtsverhältnis restituiert wird. Im Gegensatz dazu begründet die Schenkung ein völlig neues Verhältnis, während in der Erbeinsetzung der Begünstigte in der Sachherrschaft die Person des

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Erblassers fortsetzt, weil dieser es nicht mehr selbst vermag.

Wenn solche Akte freier Zuwendung der Verwirklichung bestimmter Zwecke des Verfügenden dienen — es wird etwa geschenkt, um zu verpflichten —, so sind solche Akte eben doch nicht als Schuldverhältnisse zu begreifen. Denn sie enthalten immer eine Rechtseinräumung statusrechtlicher Art, und diese als Vorleistung mindestens mit einem Risiko. Vom Standpunkt der Systematik, der Geschichte und der Phänomenologie des Rechtes wird dem Typus des schuldrechtlichen Vertrages eine ganz unverhältnismäßige Bedeutung beigemessen — rechtlich wie lebensmäßig. Dieser Mißbildung ist die Theologie weitgehend einfach gefolgt, so wie sie anderwärts dem Strafurteil eine übertriebene Bedeutung für die Gesamtanschauung von Recht eingeräumt hat. Das Recht ist weder altruistisch noch sozialpazifistisch, aber eben darum sehr viel lebensbejahender und — menschenfreundlicher, als debitum und culpa erkennen lassen.

Gnade ist Restitution eines zerstörten, Neuinstitution eines alten Verhältnisses: die ihr analogen Rechtsvorgänge grundloser Zuwendung sind dagegen Institution eines neuen Verhältnisses. Trotz dieses tiefgreifenden Unterschiedes, der hier und nur hier die Gnade von allem absondert, bleibt unzweifelhaft die Gemeinsamkeit der Struktur bestehen. Ist das Verhältnis grundlegend gestört, so kann erst nach Restitution wieder Institution erfolgen, so wie etwa erst nach Beseitigung der Straffolgen jemand ein öffentliches Amt erhalten kann. Die Restitution aber setzt andererseits voraus, daß ein unzerstörtes Verhältnis vorher bestanden hat.

Haben die Gnade und die übrigen Formen der freien Zuwendung eine aufweisbare analoge Struktur, so kann man vom Gnadenrecht im engeren und im weiteren Sinne eines Rechtstypus sprechen: Gnade im engeren Sinne ist Restitution, im weiteren und allgemeineren Sinne ist sie Institution.

Dies ist das Mindeste, was in einer allgemeinen Umschreibung zum Rechtsbegriff der Gnade selbst gesagt werden muß, der damit keineswegs erschöpft ist. Die Gnade ist wie andere institutionelle Rechtsformen grundsätzlich im abschließenden Sinne nicht definitionsfähig. Vorbehaltlich dieser grundsätzlichen Undefinierbarkeit wäre der Rechtsbegriff der Gnade wie folgt zu umschreiben:

Gnade ist ein Rechtsvorgang, in welchem zwischen zwei Personen ein zerstörtes Rechtsverhältnis wiederhergestellt oder ein neues dadurch begründet wird, daß der einseitig berechtigte Geber kraft überlegener Rechtsmacht durch eine konkrete Zuwendung dem Nichtberechtigten eine Neubegründung oder Mehrung seines Rechtsstandes als freie nichtgeschuldete Begünstigung zukommen läßt. Die Gnade bedarf der Annahme durch den Begünstigten. Sie ist nicht von eigenen Leistungen des Empfängers abhängig, verpflichtet diesen aber mit der

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Wirkung im Rechtssinne zur Dankbarkeit, daß eine Verletzung dieser Verpflichtung zur Verwirkung der Vergünstigung führt.