3. Rechtsformen der Kommunikation: Bote, Herold, Gesandter, Zeuge

Mit dem Begriff der Repräsentation werden wir auf die personalen Rechtsrollen zugeführt, unter denen sich die Kommunikation zwischen Gott und Mensch nach der Bibel vollzieht. Das Gottesverhältnis selbst wird in Verhältnissen des materiellen Rechts vorgestellt (Dienst, Werk usw.26). Die Beziehung als solche wird durch Akte, Formen, Typen der Rechtsübertragung, Übermittlung hergestellt, die wesentlich personenrechtliche Struktur haben. So insbesondere: der Bote — der Herold — der (Ab-)Gesandte.

1. Der Bote:
Der Begriff des Boten wird bestimmt durch die von ihm auszurichtende Botschaft. Seine Eigenschaft als Bote geht in der Botschaft auf. Er übermittelt Willenskundgebungen oder Tatsachen, deren Übermittlung ihm aufgetragen ist, und zwar so, daß er weder der Willenserklärung noch dem Sachinhalt der Tatsachen irgendetwas hinzuzusetzen hat. Er ist Vertreter nicht im Willen, sondern nur in der Erklärung des schon feststehenden und formulierten Willens. Mit der Ausrichtung der Botschaft ist auch seine Aufgabe vollkommen erfüllt. Die Botschaft könnte anstelle der Person auch einer anderen gegenständlichen Verkörperung, wie einer Niederschrift oder einem dem Empfänger sonst verständlichen Zeichen anvertraut werden, wenn nicht die Person des Boten gegen der Verlust der Botschaft höhere Gewähr böte. Durch diesen objektiven und objektivierbaren Charakter der Botschaft steht der Botenbegriff einem gegenständlich-eindeutigen, nichtexistentiellen Wahrheitsbegriff verhältnismäßig nahe, ist mindestens in dieser Richtung ausdehnbar.

2. Der Herold:
Der Herold richtet nicht eine Botschaft aus, sondern verkündigt etwas, und zwar wie der Bote Tatsachen und Willenskundgebungen in derselben Objektivität, ohne Hinzufügung oder Auslegung. Indem er sie

|112|

proklamiert, setzt er sie zugleich schon in Kraft, auch wenn sich diese Inkraftsetzung erst durch den zu leistenden Gehorsam der Hörer realisiert. Beim Boten liegt der Akzent auf der Reaktion der Empfänger, beim Herold in der damit vollzogenen Inkraftsetzung der Herrschaft. Zufolge der Botschaft soll etwas geschehen, zufolge der Verkündigung ist immer schon etwas geschehen, was selbst bei Ablehnung der Hörer nicht aus der Welt zu schaffen ist. Diese Verkündigung ist ein sich selbst in Wirksamkeit setzendes Wort. Obwohl es eine rein schriftliche Gesetzesverkündigung gibt, drängt doch der Vorgang der Verkündigung (etwa in der formellen Urteilsverkündung selbst bei Abwesenheit aller Beteiligten) vermöge seines dynamisch-konstitutiven Charakters zur Mündlichkeit. Er ist voll nur in dieser. Es läßt sich auch sein Inhalt nicht in gleichem Maße wie die Botschaft unabhängig vom personalen Wort objektivieren — oder vielleicht überhaupt nicht.

3. Der (Ab-)Gesandte:
Dieser ist ein Bevollmächtigter. Für den Rechtsbegriff ist er heute ein Vertreter im Willen, der den Auftraggeber durch sein Handeln verpflichten kann, nach Maßgabe seiner Vollmacht unter Einschluss eines weitreichenden Vertrauensschutzes. In einem ursprünglicheren Rechtssinne, insbesondere aber im Völkerrecht (Gesandtschaftsrecht) repräsentiert er seinen Herrn so, daß dieser in ihm gegenwärtig ist, in ihm geehrt oder mißachtet wird. Der Herr läßt vermöge dieser im Gesandtenbegriff liegenden Gleichsetzung die Erklärungen des Gesandten gegenüber Dritten gegen sich selbst gelten, und verbürgt dem Anderen den Rechtsbestand der Akte, die jener in Vollmacht vorgenommen hat. Er läßt sogar im Rahmen der Vollmacht dem Gesandten Entscheidungsspielraum, in der Gewißheit und dem Vertrauen, daß er in seinem Sinne entscheiden wird. Es liegt also im Begriff ein Moment diskretionärer, arbiträrer, anvertrauter Entscheidungsfreiheit.  Boten und Herolde sind vergleichsweise subaltern gegenüber dem Gesandten. Nur er, nicht jene, ist ein echter Stellvertreter. Wie der Bote, so hat auch der Abgesandte einen Auftrag, durch den sein Wirken für den Herrn, der ihn sendet, begründet und begrenzt wird. Aber er hat im Unterschied zu jenem eine ihn zu selbständig wirksamen Handeln befähigende Vollmacht, die im Rahmen jenes Auftrages ein Element der Freiheit bedeutet. Diese Freiheit gründet darin, daß der Absendende sich mit dem Abgesandten gleichsetzt, gleichgemacht hat, mit ihm in einer Weise in Kommunikation getreten ist, wie es beim Boten und Herold nicht der Fall ist. Auftrag und Vollmacht sind also zweierlei. Der Auftrag ist ein Imperativ, die Vollmacht ein Indikativ. Der Auftrag limitiert die Vollmacht, ist sie aber nicht selbst. Insofern kann vom Auftrag noch nicht positiv auf die Vollmacht geschlossen werden. Der vollmachtlose Auftrag beschränkt sich dann von allein

|113|

auf eine Stellung als Bote oder Herold.

Alle drei Formen setzen in actu die Abwesenheit des Herrn voraus, vermitteln aber nicht das gleiche Verhältnis zu ihm.

Die Begriffe Bote, Herold, Gesandter sind vorstehend zunächst lediglich nach ihrem allgemeinen, auch heute noch gegenwärtigen Rechtssinne umschrieben. Vergleichen wir damit die Bedeutung der entsprechenden Begriffe im Neuen Testament, so ergeben sich bemerkenswerte Unterscheidungen wie Besonderheiten.

Zunächst zeigt sich, daß der heutige Begriff des Boten einen großen Teil seines früheren Inhalts und Gewichts verloren hat, indem er wesentlich zum äußeren Übermittler von Mitteilungen und Tatsachen geworden ist. Er ist nach seiner Begriffsgeschichte im Griechentum mehrdeutig, nähert sich auf der einen Seite über den des Herolds hinaus bis zur Identität dem des Gesandten, behält aber zugleich den Charakter der Überbringers von Mitteilungen. Im Alten Testament wird der menschliche Bote verdrängt durch die alleinige Bedeutung des Engels; dementsprechend spielt auch im Neuen Testament der menschliche Bote als Typus keine wesentliche Rolle. Die gleiche Bedeutung besitzt im Neuen Testament der Herold. Dagegen sind die relativ synonymen Funktionen beider Typen in den verschiedenste, reichen Wortbildungen von hoher Bedeutung. Nicht der Typus des Handelnden, sondern die auftragsgemäße Handlung interessiert.

Im auffälligen Gegensatz dazu steht der Begriff des Apostels. Über diesen im Spätjudentum sagt Rengstorf:27

„Das juristische Moment des Begriffs ist also in der Sache gegeben. Man kann aber niemand senden, über den man nicht verfügt, oder der sich einem nicht zur Verfügung stellt. Darum ist mit dem Auftrag auch die Notwendigkeit der Verantwortung da für den, der ihn empfängt: darum ist der Beauftragte aber immer auch der Repräsentant des Auftraggebers und vertritt in seiner Person dessen Person und Recht. Die Rabbinen haben diese Grundlage der Institution ... in dem häufig zitierten Satze zusammengefaßt: ... „der Abgesandte eines Menschen ist wie dieser selbst”, (d.h. er ist so gut wie der ihn Senden in allem, was er auftragsgemäß sagt und tut ...).
In der rabbinischen Institution ... handelt es sich also ... nicht um mechanischen Vollzug eines Befehls, sondern um die bewusste Tatentscheidung für Plan und Auftrag eines anderen”.

Er fährt dann im Bereich des Neuen Testaments fort:28

„Apostolos ist ... überall die Bezeichnung ... eines bevollmächtigten Gesandten. Das Griechische liefert ... nur die Form des neutestamentlichen Begriffs; inhaltlich wird er durch den (vorher erörterten Begriff) des Spätjudentums bestimmt ...” (und zwar, wie weiter ausgeführt wird, ausschließlich).

Hier wird also die Bedeutung nicht auf das Funktionale verschoben,

|114|

sondern ein scharf ausgeprägter, institutioneller Typus der Tradition, eine Institution übernommen und für die veränderte Aufgabe verwendet, ohne daß zwischen Typus und Funktion irgendeine Spannung besteht.

Botschaft und Anwesenheit des Herrn schließen sich aus. Es genügt völlig, daß sein Wort ausgerichtet und etwa vollstreckt wird. Im Kerygma wird die gegenwärtige Herrschaft des selbst nicht in Erscheinung tretenden Herrn bezeugt. In der apostolischen Vollmacht kommt ein Moment der vorläufigen Offenheit und Freiheit zum Kerygma hinzu, die eben darum, weil sie echte Vollmacht ist, im Rückbezug der Verantwortung, und weil sie rückbezogen ist, echte Vollmacht des Handelns bleibt. Andererseits kann der Bote gegenüber den eigenen Leuten wie gegenüber Fremden, der Herold nur im als eigen beanspruchten Bereich, der Abgesandte nur gegenüber dem Fremden handeln: denn die Repräsentation im Willen (und der ganzen Person) kommt nur in Betracht, wo mit der Möglichkeit eines fremden Willens gerechnet wird. Die Botschaft fordert, gleichviel von wem, Beachtung, der Herold statuiert, der Gesandte gestaltet das noch offene Verhältnis. Daß er Elemente der anderen Vertretungsformen in sich schließt, hebt dieses Besondere nicht auf. Die Gesandtschaft ist auf alle Fälle die qualifizierteste Form der Vertretung. Er hat Freiheit innerhalb seiner Vollmacht.

Der Zeuge. Zu den Rechtsformen der Kommunikation gehört auch das Zeugnis der Zeugen. Auch bei diesem Begriff kann vom Rechtsgehalt nicht abstrahiert werden. Der Begriff des Zeugen ist jedoch im besonderen und spezifischen ein forensischer: er gehört nicht dem materiellen, sondern dem Prozeßrecht an.

Der Begriff des Zeugen darf nicht von vornherein im Sinne unserer heutigen, geschichtlich gewachsenen Vorstellungen verstanden werden. Nach diesen ist der Zeuge ein am Prozeß Uninteressierter, der deshalb mit möglichster Unvoreingenommenheit und Sachlichkeit „objektive” Tatsachen bezeugt und dadurch als Beweismittel dient. Daß das menschliche Zeugnis ein sehr fragwürdiges, wenn nicht das schlechteste Beweismittel ist, weiß der juristische Praktiker. Diese Erfahrung steht in Spannung zu dem Glauben an die Objektivität der Tatbestände, die sich bei hinreichender Sorgfalt eben objektiv erfassen lassen müßten. Weniger bekannt ist die forensische Erfahrung, daß der Vorgang des Zeugnisses selbst ein unwiederholbarer, geschichtlicher ist: die Unmittelbarkeit des Zeugnisses erster Hand verbraucht sich. Das wiederholte Zeugnis zum gleichen Gegenstande verändert sich schon allein durch die Wiederholung. Das Zeugnis ist von vornherein eine Form der Wiedergabe, der Überlieferung, der Tradition und diese formende Gestaltung und Umformung setzt sich fort. Bei einfachen Gegenständen ist dieses Geschichtlichkeitsmoment verhältnismäßig wenig bedeutsam. Der Makrokosmos grober, sinnfällige Dinge ist verhältnismäßig leicht

|115|

objektivierbar, obwohl auch hier die erstaunlichsten Verschiebungen sich ereignen. Umfangreichere und kompliziertere Komplexe können nicht mit hinreichender Sicherheit wiederholt reproduziert werden. Wer nur im gelegentlichen Einzelfall den Vorgang der Zeugenaussage erlebt, dem erschließt sich diese Erfahrung nicht. Er ist versucht, alles eben doch vorzugsweise auf die subjektive Treue und die verfahrensmäßige Genauigkeit abzustellen. Wesentliche größere Treue können nur dichterisch oder rituell geprägte Aussagen in der Wiedergabe erlangen, weil sie vorweg objektiviert sind. Je strenger die Aussage sich dem Erinnerungssachverhalt anpassen will, desto geschichtliche gefährdeter ist sie. Die Forderung kritischer Besinnung auf die Wahrheit läuft ihrer eigenen Erfüllung bis zu einem gewissen Grade entgegen.

Im Rechtsverfahren, im Prozessrecht älterer Rechtsordnungen ist Zeugnis überhaupt nicht wesentlich Tatsachenbekundung, sondern Einstehen für jemand oder den Gültigkeitsbestand eines bestrittenen Rechts, ist personale oder rechtliche Gewährleistung. Die eine Partei „überzeugt” die andere vor dem Richter dadurch, daß sie eine stärkere Gewährleistung nach Ansehen und Zahl der Gewährsmänner für die Unschuld ihres „Rechtsfreundes” oder den Rechtsbestand des strittigen Rechts aufbringt. Wofür niemand einstehen will, das erweist sich als unbegründet, wofür sich nur schwache Stimmen erheben, das unterliegt. Macht und Wahrheit sind noch nicht geschieden. Was in einer rationalisierten Welt sofort reine Willkür, zweckhafter Mißbrauch, manipulierbare Pseudowahrheit werden müßte, ist es in dieser älteren Welt bei allen offenkundigen Mängeln durchaus nicht und nicht notwendig.

Zeugnis dagegen im Sinne einer mehr oder minder grundsätzlich von der personalen Bindung der Beteiligten abgelösten Sachaussage setzt eine beträchtliche Rationalisierung und Spiritualisierung voraus (beides ist fast synonym — jedenfalls realgeschichtlich betrachtet). Will man den Begriff des Zeugen und des Zeugnisses nicht von einer erweislich geschichtlich-relativen Form des Verständnisses abhängig machen, so darf man ihn nur dialektisch begreifen: personales Engagement und Sachtreue liegen in ihm im Widerstreit.

Dies vorausgesetzt, tritt nun der Zeuge in zwei wesentliche verschiedenen  Rechtsformen auf, weil er nämlich nicht Beweismittel an sich ist, sondern es nur im und durch den Zusammenhang eines bestimmten Rechtsverfahrens wird. Der irrigen Vorstellung vom „Zeugnis an sich” entspricht die vom „Zeugen an sich”.

1. Erstens gibt es den freien Zeugen im Bereich der sog. freiwilligen Gerichtsbarkeit. Konstitutive Rechtsakte von einer gewissen Bedeutsamkeit, die wegen dieser Bedeutung für die Öffentlichkeit und zur Gewährleistung ihres Rechtsbestandes in der Öffentlichkeit selbst eine gewisse Öffentlichkeit benötigen, werden vor Zeugen vollzogen, die auf Grund freier Bereitwilligkeit diesen Dienst leisten. Eine Zeugnispflicht

|116|

für diesen Dienst gibt es nicht. Eheschließungen, wirtschaftliche Rechtsgeschäfte von Bedeutung, letztwillige Verfügungen werden so gesichert. Dabei wird nicht ihr inhaltlicher Rechtsbestand durch das Zeugnis gesichert, sondern nur mit der Tatsächlichkeit des Vorgangs und seiner Ordnungsmäßigkeit seine Unanfechtbarkeit. Dabei und deshalb bedeutet das Zeugnis, die Zeugenschaft regelmäßig nur ein verhältnismäßig äußeres und zugleich ein ruhendes Wissen. Eine Verantwortung für den Bestand und Inhalt des Geschäfts hat nur der Richter oder Notar, vor dem der Akt vorgenommen wird: bei Fehlen einer solchen öffentlichen Form der Herr des Rechtgeschäftes selbst. Ruhendes Wissen ist das Zeugnis, will von dem so gesicherten Rechtsbestand unbefangen Gebrauch gemacht wird und nur im Streitfall auf die im Zeugnis verfügbare, aber nur formelle Klarstellung zurückgegriffen wird. So werden die Zeugen etwa einer Eheschließung später nicht mehr benötigt — selbst bei einer Anfechtung der Ehe kommt es auf ihr Wissen kaum je an. Beim Testamentszeugen kommt es auf die Bezeugung der Geschäftsfähigkeit und der Authentizität der Errichtung, sehr viel seltener auf die Interpretation des Inhalts an. Z.T. wird dem Zeugen der Testamentsinhalt gerade vorenthalten. Die Zeugen repräsentieren die Öffentlichkeit, auch wenn die Veröffentlichung bis zum Tode des Testierenden bewußt aufgeschoben wird. Sie ist durch sie schon hergestellt, auch im Vorgriff. Aber sie sind nicht veranlaßt, diese Öffentlichkeit aktiv herzustellen. Sie bezeugen rechtlich für die Öffentlichkeit und in der Öffentlichkeit bedeutsame Fakten, die nicht mehr aus der Welt zu schaffen sind. Aber sie propagieren sie nicht. Sie stellen nur die Öffentlichkeit der durch dieses Rechtshandeln bereits veränderten Rechtslage her, soweit sie sich nicht selbst bezeugt, wie es etwa die jetzt als Ehegatten auftretenden Eheleute selbst tun.

2. In einer ganz anderen Lage befindet sich der dingpflichtige Zeuge im streitigen Verfahren. Er wird vom Gericht zur Ermittlung des Sachverhalts, als Prozeßmittel herangezogen. Er ist zum Erscheinen und zur Aussage, zur Mitwirkung verpflichtet. Auch wenn er sich freiwillig stellt oder stellen läßt, erfüllt er eine Dingpflicht. Es wird durch die Stellung nur die Inanspruchnahme der Dingpflicht durch das Gericht provoziert. Das drückt sich darin aus, daß er, einmal aufgetreten oder auch nur benannt, nicht etwa nach Belieben sich ganz oder teilweise dieser Pflicht entziehen kann.

Auch die Partei im Prozeß, auch der Angeklagte kann für sich selbst Zeuge sein. Im älteren, noch stärker personalen Prozeßformen, ist dies ausdrücklich so geordnet, wie noch heute im angelsächsischen Recht. Aber auch wo Zeuge nur der „Unbeteiligte” ist, geschieht in der Einlassung der Partei zur Sache, in ihrem eigenen Sachvortrag eben auch ein Selbstzeugnis.

Beide Formen der Zeugenstellung in ihrer Unterschiedlichkeit sind

|117|

auch von Bedeutung für die biblische Theologie und für das Kirchenrecht. Jesus ist immer der, um den es geht, er ist derjenige, von dem gezeugt wird. Scharf wird so die Rolle Johannes des Täufers von der Jesu abgehoben: er war nicht das Licht, sondern daß er zeugte von dem Licht (Joh. 1, 8). Im Prozeß Jesu läßt sich Jesus niemals dazu bringen, in eigener Sache Zeugnis abzulegen.29

Er gibt mit souveräner Dialektik alle Beweisfragen zurück. Den ihm mißhandelnden Knecht des Hannas fordert er auf, seine Beschuldigung zu beweisen. Er will auch nicht authentisch wiederholen, was er gesagt hat: er beruft sich auf das, was die Hörer als Zeugen aussagen können. Sie soll man fragen, obwohl, wenn es darauf ankäme, er ja viel besser sagen und vertreten könnte, was er gesagt und getan hat, als seine Hörer in ihrer doch nur sehr bedingten Verständnisfähigkeit gerade für die entscheidenden Dinge. Seine Souveränität ist von der Zeugnispflicht auch des in eigener Sache Aussagenden ausgenommen, so gewiß er Pilatus das Recht des Richters als von oben verliehen zuspricht.

Theo Preiß hat in einer Studie unternommen, das Johannes-Evangelium als „Prozeß Gottes mit der Welt” zu deuten.30

Dieser vollzieht sich sub contrario auch darin, daß die Welt Gott den Prozeß macht. Der christliche Glaubenszeuge ist rechtlich gesehen gerade nicht Zeuge, sondern in und außerhalb eines förmlichen Verfahrens Beschuldigter, Angeklagter, weil er Mächten und Ansprüchen dieser Welt die Achtung verweigert hat. Im Prozeß Jesu geht es um diesen selbst in der Gestalt eines ebenso menschlichen Angeklagten, der das Recht Gottes in seiner Person repräsentiert. Im Märtyrerprozeß bedient sich Gott des Angeklagten, um aus ihm im Prozeß mit der Welt seinen Zeugen zu machen. Dieser Zeuge ist ebensosehr als ein dem neuen Äon Zugehöriger ein gefreundeter Zeuge, ein Eideshelfer, wie der Zeuge einer inhaltlich aussagbaren Wahrheit. Elemente beider geschichtlichen Formen, beider Bedeutungen sind hier verbunden. Indem der Angeklagte Zeuge wird, wird das Gericht an ihm zum Gericht am menschlichen Gericht, das den Anspruch der Welt gegen Gott durchsetzen will. Der Märtyrer ist also nicht von sich aus kraft eigenen Entschlusses Zeuge, der diese Gelegenheit ergreift, sondern kraft Erwählung, durch die Inanspruchnahme für den Prozeß Gottes.

Auch der freie Zeuge wird erwählt und berufen, wird dessen gewürdigt, aber in einer ganz anderen Lage. Der freie Zeuge wird berufen, der Öffentlichkeit des Handeln Gottes als ein Mittel dieser Öffentlichkeit zu dienen. Ausgehend von dem Fall und dem Typus des freien Zeugen, der rechtserheblichen Tatsachen Öffentlichkeit verleiht und unter Benutzung dieses Rechtstypus und dieser Rechtsstellung transzendiert der biblische Zeuge den Begriff durch den aktiv-missionarischen Charakter seiner Inanspruchnahme. Das Wort „Ihr sollt meine Zeugen sein” hat einen zielgerichten Charakter, der von der Faktizität

|118|

ausgehend deren dynamischen und eschatologischen Charakter zur Geltung bringt.

Die besondere Lage eines Testamentszeugen liegt darin, daß er der Zeuge für die Willensbekundung eines Abscheidenden ist, der eben diese Kundgebung nicht weiter selbst vertreten und interpretieren kann. Das ist solange regelmäßig nicht besonders problematisch, als eben dieser Erklärungsinhalt formuliert und also unabhängig von der Zeugenüberlieferung objektiviert ist. Die Zeugenrolle beschränkt sich dadurch in der gewohnten Weise. Im Gegensatz dazu hinterläßt der Abscheidende, der den biblischen Zeugen gegenübersteht, keinerlei objektivierte Erklärungen und Dokumente, deren Authentizität die Zeugen lediglich zu bestätigen hätten. Im Gegenteil: hier wird alles ausschließlich durch die berufenen Zeugen selbst, nichts durch neutrale Berichterstatter berichtet. Diese Zeugen erzählen von dem Erleben, sie verfassen — keineswegs sofort als unmittelbare Gedächtnisprotokolle — Niederschriften oder diese entstehen wiederum auf Grund ihrer Aussagen im zeitlichen Bereich ihres Lebens. Ihre inhaltliche Treue wird lediglich von den Berichterstattern verbürgt.31 Aber der Inhalt des Berichtes selbst verbürgt seinerseits überhaupt allein ihre Zeugenschaft, ihre Erwählung zu diesem Dienst. Die Zeugen verbürgen den Inhalt des Testaments, das Testament verbürgt die Legitimation der Zeugen. Der Mangel einer authentischen Objektivierung seiner Worte und Handlungen ist offenbar von Jesus selbst gewollt. Die biblische Niederschrift und Berichterstattung widerspricht dem nicht. Aber sie löst auch diese Frage nicht, sondern läßt sie erst recht hervortreten. Sie schließt die apostolische Überlieferung ab und verhindert (weitere) Verschiebungen.32 Aber sie verläuft selbst in diesem Zirkel. Es liegt die Versuchung nahe, diesen geschlossenen Zirkel aufzubrechen. Dazu bieten sich beide Seiten gleichermaßen an. Von einer der Seiten wird dann deduziert. Entweder wird den Zeugen das Zeugnis als eine achtungsvoll zu bewahrende Leihgabe mitgegeben. Ihrer Vollmacht, ihrem Geistbesitz ist die Entfaltung der Überlieferung anheimgegeben, anvertraut. Oder es wird versucht, den Inhalt des Berichtes unabhängig von der Verbürgung für sich allein zu interpretieren, indem man hinter die Formung dahintergreift, die sie im Bericht erhalten hat. Die Zeugen sind nicht mehr erwählte Zeugen. Ihre Erwählung zu diesem Dienst besagt nichts mehr. Sie sind bedeutende, interessante, zuweilen auch verdächtige Schriftsteller. Ihre Geistbegabung, ihr Auftrag, ihre Verbundenheit mit dem Herrn, ihre Treue besagt nichts: es gilt von ihrem Wort nur, was auch unabhängig davon glaubhaft gemacht werden kann. Beides aber sind nicht nur objektiv verschiedene Methoden, sondern Blickrichtungen und Verhaltensweisen, die ein starkes Gefälle von eigener Kraft und Konsequenz in sich haben. Das eine führt zur alle Widersprüche harmonisierenden gedanklichen Expansion und schließlich zur Erweiterung des

|119|

Traditionsstoffes selbst. Die andere führt zur progressiven Reduktion, bei der alles sekundäre wie gefährlicher Atommüll beiseitegebracht wird, aber in der Reduktion die Willkür der Auswahl kräftig hervortritt.

Die Ableitung aus der nicht abgeschlossenen apostolischen Tradition ist die personalistische Linie, welcher die transpersonal-sachliche gegenübersteht, die nur im subjektiven Sinne und a posteriori ein personales Moment einbringt.

Dieser apostolische Zirkel bringt eine Fülle von kirchenrechtlichen Problemen mit sich.33

Der Vergleich und die Rückkontrolle dieser Erwägung mit der Exegese der biblischen Begriffe Zeuge, Zeugnis und Zeugnis-Ablegen ist höchst aufschlußreich.

Strahtmann34 behandelt im Artikel μάρτυς zunächst die außerbiblische Graezität. Er unterscheidet zwei Bedeutungen: die Ermittlung von äußeren, beobachtbaren Tatsachen und die Bekundung „ethischer Bewertungen, Äußerung sittlicher Überzeugungen, ja Ansichten”. „Dort werden Aussagen über objektive Vorgänge gemacht, hier werden Überzeugungen bekannt.” (481). Daß die fraglichen Wörter beide Bedeutungen umfassen, sei für ihre Geschichte von entscheidender Bedeutung (481). Der lukanische Gebrauch verbinde den Sinn des Tatsachenzeugen und den des Bekenners und Bekenntnisses. Beide begännen aber auch schon bei Lukas auseinanderzutreten. Für die johanneischen Schriften sagt er sodann:

„Der Verfasser des 4. Ev. und des 1. Joh. beansprucht zwar gewiß auch im historischen Sinne Zeuge, Augenzeuge des geschichtlichen Jesus gewesen zu sein. Aber für seinen Zeugenbegriff ist dies nicht in dem Sinne wichtig wie für Lk, nämlich als Beweismittel für die Geschichtlichkeit bestimmter Vorgänge, sondern in einem viel tieferen Sinne, nämlich als Begnadung mit der Möglichkeit, einen unmittelbaren Eindruck von der δόξα Jesu ὡς μονογενοῦς παρὰ πατρός πλήρης χάριτος καί ἀληθείας zu empfangen, von dem nun zu zeugen er nicht umhin kann. Von dieser doxa sieht der, der nur Augenzeuge im historischen Sinne ist, überhaupt nichts. Sie erschließt sich nur dem Glaubenden 1. J. 5, 9 f. Aber nicht nur dem Glaubenden unter den Augenzeugen im historischen Sinne, sondern jedem Glaubenden. Denn ὁ πίστεύων εἰς τόν ὑιὸν τοῦ θεοῦ ἔχει τὴν μαρτυρίαν ἐν αὐτῷ 1. J 5, 10. Darum können immer mehr Zeugen entstehen, d.h. solche, die, was Jesus war und bedeutete, bekennen.”

Nach dem eingangs Gesagten wäre es nun verfehlt, den Tatsachenzeugen dem  Rechtsbereich, dem Prozeß, den Überzeugungszeugen einem allgemeinen, wesentlich außerrechtlichen Bereich zuzuweisen. Denn das Auseinandertreten beider Zeugnisformen ist gerade Inhalt der diesbezüglichen Rechtsgeschichte. Der Rechtsbegriff des Zeugen muß den Querschnitt beider Formen erfassen. Das Eintreten des Überzeugungszeugen im älteren Prozeß ist nicht einfach eine willkürliche Option für eine

|120|

Partei, sondern schließt eine Stellungnahme zur Sache, zur Rechtslage mit ein, ohne daß dieser Unterschied zum Austrag kommt. Andererseits ist dieses Eintreten kein Akt „sittlicher Überzeugung, ethischer Bewertung”, sondern Ausdruck lebensmäßiger Verbundenheit, existentieller Zugehörigkeit. Jene idealistischen Begriffe verfälschen den Tatbestand. Um in diesem Sinne Überzeugungszeuge sein zu können, muß man demjenigen, für den man Zeugnis ablegt, zuvor verbunden sein; die Gemeinschaft muß gegeben und vorgegeben sein: mindestens ist dieses Zeugnis die Option für eine solche Gemeinschaft, sofern sie diesem Akte der Hingabe offensteht.

Der Exeget, der so zwischen rechtlicher Tatsachenbekundung und allgemeiner Überzeugungsaussage scheidet, deutet nicht nur die Rechtsgeschichte falsch, sondern er zeigt sich selbst in seinen Anschauungen, die ihm unproblematische sind, an einer bestimmten Stelle dieser Rechtsgeschichte, nämlich im Zeitalter des bürgerlichen Rechtsstaates, bürgerlichen Rechtsdenkens überhaupt, aber er verfehlt seine Sache selbst, eben weil er diese Problemlage aus einsichtigen Gründen verkennt.

Der biblische Zeugen- und Zeugnisbegriff ist in einem gewissen Sinne überhistorisch, weil er nicht einfach aus der Übernahme eines zeitgenössischen prozeßrechtlichen Begriff entsteht. Er enthält vielmehr, wie die Exegese zeigt, beide Elemente ungeschieden, zeigt aber ihr Auseinandertreten, und sogar eine einseitige Betonung des Überzeugungszeugen — freilich auf der Grundlage der als selbstverständlich vorausgesetzten historischen Tatsachen. In gewissem Sinne verläuft die Entwicklung des biblischen und später kirchlichen Zeugenbegriffs entgegengesetzt zur Rechtsgeschichte. Wird der rechtliche Zeugenbegriff immer personaler, sachlicher, objektiver, rationaler, so wird jener immer existentieller, im Quadrat der Entfernung von den historischen Tatsachen, welche gerade der johanneische Begriff eindeutig voraussetzt. Die Verbindung zwischen Tatsachenzeugnis und Überzeugungszeugnis aber kann und darf nicht gelöst werden. Sonst verlöre eben diese Entwicklung ihre Basis und ihr Gegengewicht. Ein gegenstandsloses Zeugnis als reines Bekenntnis zu einer außerhistorischen Person wäre die genaue Entsprechung zu der Versachlichung des Tatsachenzeugnisses in der Prozeßrechtsgeschichte. Es wäre genau das, was eintreten würde, wenn das Prozeßrecht heute im Siele des älteren Prozesses ein personales Eintreten für die Partei ermöglichte: nämlich eine nur noch willkürliche, parteiliche Option, nicht mehr ein Zeugnis. Wenn nicht beides auf alle Fälle zusammenbleibt, verliert sich der biblische Zeugnisbegriff überhaupt.

Für unsere Betrachtung ist aus diesem weiteren Zusammenhang wesentlich, daß es sich bei diesem Überzeugungszeugnis nicht um die menschliche Möglichkeit sittlicher Wertung, des Überzeugtseins oder sich Überzeugen-Lassens handelt, sondern, wie Strathmann im Gegensatz zu der Begrifflichkeit seiner ersten Bemerkungen selbst sagt, um

|121|

die „Begnadung mit der Möglichkeit, einen ,unmittelbaren Eindruck von der doxa Jesu...’ zu empfangen”. Es muß zuvor eine Verbindung geschaffen werden, die aber nicht in sich selbst verläuft, sondern die Bedeutung der Tatsachen erst erkennen läßt, die dann zu bezeugen sind, bezeugt werden sollen und müssen.

Der Zusammenhang zwischen diesem personalen Moment und dem historisch-inhaltlichen darf also nicht gelöst werden, wenn nicht gerade die eschatologische Zielrichtung preisgegeben werden soll. Das Verhältnis von Zeuge und Zeugnis ist daher von hier aus auch dem Kirchenrecht ein für allemal gestellt. Das stimmt damit überein, daß das Neue Testament an den personalen Typen des Boten und des Herolds wenig, um so mehr an ihrer Funktion interessiert ist, daß aber ein um so entschiedeneres Interesse am beauftragten und bevollmächtigten Zeugen, dem Apostel, besteht, in den das Problem des Zeugen sozusagen einmündet, in dem es seine Prägung und Verfassung erfährt.

Bei alledem ist der Begriff des Zeugen ein durchaus personaler. Der biblische Zeuge ist der Zeuge jemandes, der Zeuge des Herrn, für den er einzutreten hat. Dagegen ist der Vorgang der Bezeugung als solcher nicht von Interesse. Der Begriff der testificatio, den Luther und ihm folgen die lutherische Sakraments- und Ordinationstheologie ausgebildet und benutzt hat, um bestimmte, ihnen wichtige theologische Gedanken im Rechtsvergleich auszudrücken, entbehrt dieser Personalität, weil es hier wesentlich um den Vorgang geht, hinter dem der Zeuge zurücktritt. Dieser Begriff hat mit dem biblischen Zeugenbegriff nichts zu tun.

Diesen Tatbestand stellt Rudolf Bultmann in einer älteren Abhandlung „Kirche und Lehre im NT” 35 wie folgt dar:

„Kirche und Wort gehören also zusammen. Das Wort ist, was es ist, ja nicht durch seinen zeitlosen Sinngehalt, sondern als autorisierte, in der Tradition weitergegebene Predigt. Also wird auch umgekehrt das Wort durch die Kirche konstituiert. Man kann also nicht gegen einen Zweifel am Wort die Kirche ausspielen; denn sie wird selbst durch das Empfangen und Weitergeben des Wortes konstituiert. Aber man kann auch nicht gegen einen Zweifel an der Kirche das Wort ausspielen, als trüge dieses seinen Gehalt zeitlos in sich, und als gehöre nicht eben das Faktum, daß es hier und jetzt gesprochen wird, wesentlich zu ihm; es ist ja im Auftrag weitergegebene Anrede. Man kann nicht die Kirche gegen das Wort ausspielen, da sie ja durch das Wort konstituiert wird. Und man kann nicht das Wort gegen die Kirche ausspielen, weil dies seinen Sinn dadurch hat, daß es autorisierte Tradition ist.” 36

Bultmann sagt hier nichts anderes, als was der Jurist aus der Interpretation des hier in Rede stehenden Rechtshandelns auch sagen muß, wenn er den Vorgang ins Auge nimmt, um den es hier geht. Es macht dies sehr deutlich, wie radikal der Mensch auf den Glauben gestellt ist,

|122|

und daß er diese Glaubensforderung dadurch eben verfehlt, wenn er versucht, den apostolischen Zirkel aufzubrechen, indem er sich, mit Bultmann zu reden, gegen das Wort auf die Kirche, aber ebenso, wenn er sich gegen die Kirche auf das Wort beruft.