8. Kapitel

Die Verfassungselemente im einzelnen

 

Diese in ihrer gegenseitigen Bezüglichkeit und konstruktiven Unentbehrlichkeit gezeigten Elemente bedürfen nunmehr der Darstellung im Besonderen.

 

A. Institutio — Monarchie

Ist das personale Moment für die Kontinuität eines Staates entscheidend, so drückt sich dies am schärfsten und folgerichtigsten in der Einrichtung der Erbmonarchie aus. Für dieses Königtum sind alle technischen Funktionen und Befugnisse der Verfassung sekundär, es repräsentiert die bleibende und vorgegebene Substanz des Volkes. Eben darum ist der Satz möglich „Le

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roi règne, mais il ne gouverne pas”. Er kann auch „gouvernieren”, aber das ist kein notwendiges Begriffsmerkmal der Monarchie. Er legitimiert die Regierung, braucht sie aber nicht selbst auszuüben. Die Regierung vollzieht sich, wie schon zweimal im anderen Zusammenhang entwickelt, vor ihm, nicht durch ihn, auch soweit er miteingreift. Er stellt ideell und sachlich den dauernden Bestand sicher; darum — und nicht auf Grund eines formalen zivilrechtlichen Titels ererbter Rechte ist er souverän. Die Monarchie kann auch ihrem Wesen nach nicht abgeschafft werden; man kann sich nicht seiner eigenen Substanz entledigen — wohl aber einer unfähigen oder mißliebigen Regierung. Dieses Wesens der Monarchie geht also über die bloße Repräsentation der formalen staatsrechtlichen Einheit hinaus, die auch ein Präsident wahrnehmen kann; dies ist nur aktuelle, nicht geschichtliche Repräsentation — König ist man auch in der Wahlmonarchie kraft Geburt und Salbung, nicht kraft Übertragung von Rechten. Sie ist Repräsentation im Wesen, nicht im Willen; und deshalb kann nicht eine beliebige Person diesen Posten ausfüllen, sondern eben nur der geborene König. Er ist dem Sinne nach nicht der Klügste und Stärkste, sondern der Weiseste und Edelste. Aber schon Möller van den Bruck hat gesagt, daß die Königlichkeit aus der Welt gegangen ist. Das Königtum lebt vom Opfer. Wilhelm I. konnte noch auf sein persönliches Glück verzichten, Eduard VIII. nicht mehr. Die Verknüpfung mit dem Volkstum als schöpfungsmäßiger und Fortpflanzungsgemeinschaft drückt sich auch darin aus, daß zum König eine Königin und eine Folge von Generationen gehört, während es ziemlich gleichgültig ist, ob ein Präsident eine Frau hat oder nicht. Mit dem Königtum verknüpfen sich die tiefsten menschlichen Dinge — Heroismus und Tragik, Genie und Wahnsinn heben ihr Wesen nicht auf — Friedrich der Große und Karl der Zwölfte, Lear und Richard III. — sie sind nur in einer sehr menschlichen Welt möglich. Der König als Leitbild und Prototyp eines bestimmten individuellen Volkstums repräsentiert die persönliche Weltordnung, die geschichtliche Einmaligkeit und Unableitbarkeit dieser Besonderheit und geht mit dieser und aller Besonderheit unter. Aber sicher sind niemals Menschen mit su uneingeschränkter Überzeugung der Übereinstimmung mit der Weltordnung gestorben als die Gefolgsleute, die im Kampfe für das edle Blut ihrer rechtmäßigen Könige fielen. Sie starben für etwas, was mehr war als sie selbst und als sie selbst jemals werden konnten, und woran sie zugleich tiefsten Anteil hatten. Noch heute sieht das demokratische Volk von England in dem Glanz seines Königshauses und seines Hochadels nicht das Protzentum reicher Leute, sondern die gesteigerte Darstellung seines eigenen Wesens und damit zugleich die Macht und den Glanz seines Reiches. Mit Devotion und Knechtsgesinnung hat dies gar nichts zu tun; wo es so ist und wo es so verstanden und verzerrt wird, ist dies nur ein Zeichen für das Absterben des monarchischen Gedankens. In dieser Beziehung liegt immer ein Doppeltes vor: eine substantielle Identität des Repräsentanten mit dem Repräsentierten,

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ebenso wie ein Abstand zwischen beiden. Es ist der Zauber des echten Adels, der wie der alte Stechlin bei Fontane ein besserer Sozialist ist als der offizielle Sozialdemokrat und sich doch von seinem Wesen nichts vergibt. Es ist eine Doppelschichtigkeit, die der Klügere, der bürgerlich Gebildete nicht erreicht, welche nicht das Wissen, sondern nur Substanz und Tradition gewähren.

Wer den institutionellen Charakter des Staates, einer besonderen geschichtlichen Existenz, eines Volkstums anerkennt, erkennt auch an, daß es einen Schöpfer dessen gibt. Aus dem einfachen Satze, daß der Schöpfer mehr ist als das Geschöpf, ergibt sich auch das Moment der Autorität; denn sie ist nichts weiter als Anerkennung der Urheberschaft. Die Anerkennung der Weisheit des Alters verknüpft sich hiermit notwendig wie das Prinzip der Tradition. Deshalb heftet sich die Monarchie an die älteste Familie, deren Ansehen auch zeitlich nichts vorangeht; so rangieren im demokratischen Amerika die Familien in ihrem Ansehen nach dem Datum ihrer Einwanderung — auf und womöglich noch vor der Maiflower. Es war mehr als eine Reminiszenz, wenn Bismarck wiederholt mit betontem Freimut aussprach, daß sein Geschlecht länger im Lange gesessen habe als die Hohenzollern, denen er diente; mit ähnlichen Gefühlen rebellierte der ostpreußische Adel gegen die Zerstörung seiner ständischen Freiheiten.

Aus diesen Gründen ist die Monarchie aus verfassungstechnischen Zweckmäßigkeitserwägungen nicht wiederherstellbar. Sobald man ihre Nützlichkeit zu beweisen unternimmt, beginnt sie schon zu sterben; man beweist auch nicht die Nützlichkeit seiner Ahnen. Sie wächst wie ein Baum, der, einmal gefällt, nicht zum Weiterwachsen gebracht werden kann. In dem großen Walde der europäischen Monarchien sind die meisten Bäume schon geschlagen, und es gibt keine Baumschule, in welcher sie nachgezogen werden — auch ist der Boden, der sie tragen könnte, ausgeschwemmt und verkarstet. Es gibt einen Royalismus notwendig und begrifflich nur als Treue gegen ein konkretes Fürstenhaus, nicht als universales ideologisches Prinzip. Bismarck, der seine republikanischen Neigungen freimütig bekannte, sprach im Sinne des echten Royalismus gegen den Romantiker Gerlach, wenn er sagte, er sei seinem König treu bis in die Vendée, aber gegen die übrigen empfinde er keine Verpflichtung. Das Königtum kann nicht rationalisiert und zur Idee verallgemeinert werden. Darin liegt seine Größe und seine Schwäche — aber zugleich diejenige jedes Royalismus, der mit heiliger Überzeugung für ein Stück und Abbild göttlicher Weltordnung kämpft.

Alle übrigen Formen personaler Führung sind Minderformen, rationalisierte Verkürzungen gegenüber der sorgfältig in langen Jahrhunderten ausgebildeten und gepflegten Kulturform der Erbmonarchie — daß die Diktatur auf einer völlig anderen Grundlage steht, braucht auch dort nicht betont zu werden, wo sie in Spätzeiten in der Form des Cäsarismus auftritt.

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Die zweite genuine Form personaler Führung ist das Amt des Kanzlers, des Regierungschefs, des leitenden Staatsmannes. Er stellt nicht den ruhenden traditionellen Bestand sicher, sondern faßt die aktuellen politischen Kräfte des Staatswillens in seiner Person zusammen. Beide Formen sind gegeneinander nicht aufhebbar. Wo ein Kanzleramt mit sichtbarer und tatsächlicher Verantwortlichkeit nicht besteht, treten Günstlinge unverantwortlich an seine Stelle, wie in Frankreich vor Richelieu. Bismarck hat König Wilhelm I. vor seiner Amtsübernahme dargelegt, daß er nicht sein eigener Minister sein könne, und dieser war klug genug, dies einzusehen. Sein Enkel dagegen, der diese Einsicht nicht besaß, scheiterte daran und war seit dem Jahre 1908 ein politisch toter Mann, dem nur die politische Zwecklüge noch die Rolle eines Autokraten angedichtet hat. Daß der Minister die Verantwortlichkeit für die Entschließungen des Königs übernimmt, ist deshalb auch vom Standpunkt des monarchischen Staatsrechts völlig folgerichtig gedacht. Das Verhältnis beider läßt sich verfassungsgemäß nicht restlos umschreiben und gesetzlich rationalisieren. In kräftigen Monarchien kann der Kanzler fast zum Prügelknaben und Opfer werden, in parlamentarischen der Monarch zur repräsentativer Schattenfigur. Dazwischen liegt in den verschiedensten Formen die Wirklichkeit.

 

B. Consensus — Demokratie

Gerade das Beispiel der lebenskräftigsten Monarchie der Gegenwart, der englischen, zeigt sehr deutlich, daß auch die Monarchie auf der Grundlage eines ihr soziologisch polar entgegengesetzten Elementes, der Anerkennung der Allgemeinheit, auf der Grundlage des consensus beruht. Ohne diese fraglose Anerkennung kann sie auf die Dauer nicht bestehen. Eine Monarchie, die nicht Prinzip und Ordnung, sondern Gegenstand des Streites und der Diskussion ist, ist am Anfang ihres Endes. Das Unverfügbare kann sinngemäß nicht verfügbar gemacht werden.

Das Widerspiel der Monarchie, die Demokratie nun beruht auf dem Prinzip der Gleichheit, und zwar in doppelter Weise: Sie verlangt Gleichheit der Bürger unter sich und Gleichheit als Identität von Regierenden und Regierten. Beide Forderungen können in zwei systematisch entgegengesetzten Formen verwirklicht werden.

Entweder ist die Gleichheit der Bürger eine solche der gleichen Chance, eine formale Gleichheit der Freiheit der Betätigung und des Willens. Dann findet sie ihren politischen Ausdruck im freien Wettbewerb der Interessen und Bestrebungen und in der Repräsentation im Willen. Diese formale Demokratie erzeugt als ihren Prototyp den des Advokaten. Das ist wichtig in seiner eigentlichen Bedeutung zu erkennen. Der Advokat vertritt seinen Mandanten nach dessen Willen im Willen, nicht aus eigenem oder Amtsrecht. Aber er ist doch an der objektiven Gesetzlichkeit der geltenden Rechtsordnung

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geschult und orientiert. In ihrem Rahmen vertritt er die ihm anvertrauten Interessen und such sie mit ihr in Einklang zu bringen, als mit ihr in Einklang befindlich nachzuweisen. Der aus den verschiedenartigen Bestrebungen sich bildende Gesamtwille (volonté de tous) führt nach der zugrunde liegenden Auffassung theoretisch, mindestens aber praktisch, zum besten erreichbaren Ergebnis; denn jedes Ergebnis, das nicht auf der freien Übereinstimmung beruht, erscheint wertlos. So lohnt sich entweder das zugrunde liegende Vertrauen auf die endliche Harmonie, die aus dem freien Wettbewerb schließlich doch hervorgehen muß, oder der Mensch erkennt, daß nicht mehr an positiven Ergebnissen herauskommen kann, als an positiven Kräften vorhanden ist.

Oder aber — in der zweiten Form — ist die Gleichheit der Bürger eine inhaltlich materielle; so entsteht die homogene Demokratie der Nationen oder Klassen, die Demokratie der inhaltlich vorbestimmten Gemeinsamkeit. Weil diese vorgegeben ist, ist sie nicht wie die formale Demokratie in vollem Umfange verfügbar. Nur einer Minderheit wohnt das wache, geschärfte Bewußtsein der gemeinsamen Werte inne; in der materiellen Demokratie sind die Demokraten infolgedessen immer in der Minderheit. Das gilt für ihre jakobinisch-bolschewistischen wie für ihre faschistischen Formen. Ihr Prototyp ist nicht der Advokat, sondern der Kommissar, der Funktionär. Er nennt sich Beauftragter, ist aber in Wahrheit nicht Beauftragter des Volkes, sondern eines kleinen Gremiums bewußter Kämpfer, die die ziellose oder widerspenstige Masse führen. Die Gesetzlichkeit, in deren Namen er handelt, ist nicht die des Gesetzes in seiner formalen Transzendenz, sondern es ist die volle Immanenz des Wesensgesetzes der Gemeinsamkeit, die er vertritt oder zu vertreten vorgibt. Diese Einheit ist nicht eine formale vertragsmäßige Vergemeinschaftung gleichlaufender Interessen, sondern eine materielle oder Wesenseinheit. Ihr Ausdruck ist nicht die im Spiel der Kräfte erzeugte volonté de tous, sondern die volonté générale. Deswegen haßt auch die radikale Demokratie, Hitler so gut wie Stalin, den Juristen als den Vertreter einer außer ihr selbst liegenden formalen Gesetzlichkeit wie der Gläubige den gesetzestreuen Pharisäer. Die dominierende Rolle der Advokatur in der französische Demokratie ist bekannt; weniger bekannt ist die analoge Erscheinung im amerikanischen Repräsentantenhaus.

Jene soziologische Erscheinung der volonté générale, des consensus im engeren und speziellen Sinne, hat Spengler in seinen weltgeschichtlichen Perspektiven glänzend beschrieben, aber seine Erkenntnis durch die Eingliederung dieser Erscheinung in das von ihm konstruierte magische Zeitalter der abendländischen Kultur in ihrer allgemeine Bedeutung verdunkelt. Die Beziehung zu religiösen Gemeinschaftsbildungen besteht allerdings darin, daß der consensus nur dort auftreten kann, wo es sich um existentiell wesensmäßige, nicht lediglich rational-willensmäßige Bindungen handelt, wie es also gerade auf dem Boden religiöser Gemeinschaftsbildungen der Fall ist. In

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der Tat lebt die formale Demokratie vom Ethos der Gesetzlichkeit, die homogene vom religiösen oder pseudo-religiösen Pathos. Es ist hier jenes von Spengler zitierte Wort Mohammeds zu wiederholen: Mein Volk kann nie in einem Irrtum übereinstimmen. Es ist in der Tat keine soziale Einheit denkbar, in der sämtliche Mitglieder in der Verkennung ihrer Grundlage, ihres Lebensprinzips einig sind. Auch eine zerfallende Gemeinschaft findet immer noch wenigstens eine Minderheit, die in echter Erkenntnis ihrer tragenden Werte sich gegen die Zersetzung wehrt. Die Kategorien des Irrtums und der Wahrheit aber haben im Bereich der zweckhaft Begrenzten und subjektiv Verfügbaren keinen Platz, sondern nur dort, wo der Vergleich mit einem objektiv Vorgegebenen, dem Wesen, und zwar nicht des einzelnen, sondern der Gemeinschaft möglich ist.

Die Haltung der Vertreter der formalen Demokratie dem Problem der substantiellen Gleichheit gegenüber ist von Skepsis und Furcht gemischt. Skepsis gegenüber der Darstellbarkeit der volonté générale, Furcht vor ihren Erscheinungen sowohl wie vor den Folgen ihrer Vernachlässigung. Ihre Skepsis hat eine gewisse Berechtigung; die volonté générale ist in der Tat nicht mit voller Sicherheit erfaßbar, nicht voll rationalisierbar. Weder hohe qualifizierte Mehrheiten noch ein Vetorecht der Minderheiten noch sonst technische Lösungen im Stimmrecht bieten eine Gewähr für ihre Erfassung. Man kommt nicht darum herum: es geht nicht um eine quantitative Steigerung, sondern um etwas qualitativ Anderes, nicht um die Zustimmung möglichst vieler, sondern um die Lösung, die schlechthin überzeugt und einigt, um die Erfassung tieferer emotionaler Kräfte.

Die eine praktische Möglichkeit ist also die mechanisch möglichst weitgetriebene Annäherung an die Zustimmung aller, die andere ist die des Plebiszits. Der Sinn des vor allem in der Schweiz so außerordentlich häufig angewandten Plebiszits ist nicht der, untergeordnete und technische Sachfragen, wie den Bauplatz eines Schulgebäudes zur Entscheidung zu stellen, sondern Entscheidungen über Grundsatz- und Richtungsfragen herbeizuführen, für die auch eine sachkundige und verantwortungsfähige Volksvertretung nicht voll legitimiert ist. Das sachliche Plebiszit ist aber an die Formulierung gebunden und bedeutet wegen der darin liegenden Möglichkeiten zur Verschiefung der Fragestellung in größeren Verhältnissen meist nur den Übergang von einer Methode der Verfälschung des Volkswillens zu einer anderen. Diese Gefahr besteht im wesentlich geringeren Maße beim Personalplebiszit. Die Entscheidung für oder gegen einen Mann ist von unmittelbarer Ehrlichkeit. Es macht die tiefempfundene Unehrlichkeit des kontinentalen und insbesondere des deutschen Parlamentarismus aus, daß nicht wenige Persönlichkeiten auf Grund von Fraktionsbestimmungen sich in maßgebenden Stellungen befinden, welche in freier Volkswahl kaum eine Chance hätten, gewählt zu werden. Die beachtlichen Bemühungen der Deutschen Wählergesellschaft, diese Dinge ins Bewußtsein zu bringen,

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stehen in der Gefahr, ins Technische des Wahlrechtsproblems abzusinken; eine vorzugsweise technische Auffassung des Problems bedeutet jedoch eine Gefährdung des grundsätzlichen Verständnisses.

Das Personalplebiszit, welches in den Wahlrechten der angelsächsischen Länder eine so entscheidende Rolle spielt, ist auf dem Kontinent durch Napoleon III. und angeblich durch Hitler in Verruf geraten, obwohl letzterer ja nicht durch das Plebiszit, sondern durch Organisation und Wahlen und schließlich durch Rechtsbrüche zu Macht gelangt ist. Der Zerfall der nicht mehr tragfähigen volonté de tous gab ihm den Vorwand für ihre Ausschaltung zugunsten der angeblich von ihm vertretenen volonté générale. Gerade aber darin zeigt sich, daß es sich um eine echte Desintegrationserscheinung handelt, ein Gegeneinander zusammengehöriger Elemente, nämlich freier Entscheidung und existentieller Bindung. Es gelingt nicht mehr, volonté de tous und volonté générale zur Deckung zu bringen; in den Verfassungen und Wahlrechten der angelsächsischen Demokratie gelingt es noch, weil deren politische Grundlage noch unzerstört ist. Die Formen der angelsächsischen Demokratie stellen sich auch unter diesem Gesichtspunkt als echte Mittellösungen heraus: Die volonté générale ist soweit als möglich rationalisiert, die volonté de tous soweit als möglich zusammengefaßt und emotionalisiert.

Nach dem Gesagten dürfte klar sein, daß es sich bei dem Problem der Demokratie nicht um dasjenige der Identität von Regierenden und Regierten — denn eine solche ist ja in Wahrheit überhaupt nicht möglich —, sondern um das Problem der Identifikation handelt. Die Identifikation im Willen ist verhältnismäßig leicht herzustellen und ebenso zu berichtigen; um so schwerer ist die Identifikation im Wesen, in der Substanz. Das britische Volk vermag in seiner ungebrochenen Tradition als demokratisches Gemeinwesen seine monarchische Form zu bewahren, weil es die Dynastie als eigenes Fleisch und Blut empfindet, weil es sich im Wesen vom Königtum repräsentiert fühlt. In der Monarchie ist in einem in Verfassungsbestimmungen nicht definierbaren Maße mit der Kontinuität auch die materielle Tradition gesichert. Außerhalb der monarchischen Tradition versucht sich der liberale Demokrat mit dem Gesetz, mit der Verfassung idealistisch zu identifizieren, der er eine Art von Heiligkeit zu geben trachtet, ohne doch verdecken zu können, daß dieses blasse Ideal kein Fleisch und Blut besitzt. Diese Selbsttäuschung ethischer Frömmigkeit zerreißt mit rauher Hand in der Gegenwart die homogene absolute Demokratie. Es ist sehr wichtig zu verzeichnen, daß auch in solchen Ländern, die von faschistischen und kommunistischen Bewegungen verschont sind wie Schweden die Demokratie in steigendem Maße die Tendenz zeigt, auch die eigenen Verfassungseinrichtungen auszuhöhlen und in ihrer Wirksamkeit in Frage zu stellen. Gegenüber dem Willensausdruck der homogenen Demokratie, gegenüber der Realpräsenz der volonté générale können transzendente formale Gesetzlichkeiten sich nicht

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behaupten. Die fast überall in Europa zu verzeichnende Tendenz zur Antastung der richterlichen Unabhängigkeit durch Presse und Parlament liegt in der gleichen Linie. Eine verfassungsmäßige Selbstbeschränkung wird objektiv sinnlos. Die Verfassungsentwicklung erweist sich also von der Entwicklung des Substanzbegriffs abhängig. Am sichtbaren Ende einer langen verfassungsgeschichtlichen Entwicklung tritt im Substanzproblem ein lange Zeit gleichsam unterirdisch strömendes Element wieder auf, das wir am gedanklichen und geschichtlichen Beginn des Staates scheinbar verlassen hatten. Damit ist ein Moment erreicht, welches den Rahmen der formellen Staatslehre bereits überschreitet. Wohl aber muß festgestellt werden, daß auf Grund gewisser metaphysischer Voraussetzungen alle, auf Grund gewisser anderer nicht mehr alle Elemente eines entfalteten Staatsbegriffs darstellbar sind.

Die Untersuchung endete auf der Ebene der Ontologie am Schlusse des 3. Kapitels mit der Frage nach dem den Staat letztlich rechtfertigenden höchsten Wert, seiner Geltung und Herrschaft. Von der Identifikation mit einem solchen, und zwar gleichviel welchem höchsten Wert hing es ab, ob der konkrete Staat die vollen Merkmale der Souveränität aufweist und verwirklicht. Am Ende der soziologischen Untersuchung steht entsprechend die Frage nach der Identifikation seiner Repräsentanten mit einem inhaltlich substantiell bestimmten Gehalt, einem nicht transzendenten, sondern immanenten Wert. Beide Fragestellungen ergänzen sich daher, aber führen beide über den Rahmen der Staatslehre selbst hinaus, die ohne diese metapolitische Grundlage nicht mehr ist als ein hohles Gerüst, eine logische formale Schale.

 

C. Ordo — Aristokratie

Zwischen Monarchie und Demokratie steht die Aristokratie als verbindende Zwischenstufe, aber mit wesentlichen Unterschieden, die sie zugleich in grundsätzlichen Gegensatz zu beiden stellen. Weder Monarchie noch Demokratie, weder König noch Volk können genau genommen im Staatsleben etwas Wesentliches selbst tun. Der König hat die Initiativstellung, eine Funktion von höchster schöpferischer Bedeutung, aber er ist zugleich auf die Menschen angewiesen, die seine Pläne durchführen. Das Volk kann als ultima ratio bejahen oder verneinen, aber es kann nicht planmäßig handeln. Auch jede Initiative aus dem Volke heraus ist an das Vorhandensein von dauernden oder zeitweiligen Führern gebunden. Der Zwang, sich eine Führung zu schaffen, ist die ewige Enttäuschung aller idealistischen Revolutionäre, die nach dem Siege plötzlich sehen, daß sie an Stelle der alten verhaßten Bonzen nur neue eingetauscht haben, nicht besser, ebenso menschlich und fragwürdig, und meist mangels Tradition, Sachkunde und Sauberkeit nur noch schlimmer. König und Volk brauchen als Exekutive ihres Willens immer eine Dienerschicht. Alle Elite, alle Aristokratie wird allein durch den

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Gedanken des Dienstes zusammengehalten und gerechtfertigt. Der Verfall des Adels setzte ein, als er ausgangs des 15. Jahrhunderts seiner politisch-kriegerischen Dienstfunktion beraubt und zur ökonomischen Beschäftigung gezwungen wurde. Er erhob sich wieder zu politischen und sozialen Leistungen, soweit er in den Dienst des neuen absoluten Fürstentums oder in England in den Dienst der Parlamentspolitik gestellt wurde. Abgelebt hatte sich nur die ältere Form der Politik und Kriegsführung, und dieser Änderung wurde der Adel gezwungen sich anzupassen. Im Grunde freilich wußte der Absolutismus mit einem freien Adel nicht viel anzufangen. In Frankreich und Spanien wurde er weitgehend zur politischen Untätigkeit verdammt, in Preußen in den Heeresdienst gezwungen, aber damit zugleich aus seinen weitreichenden überstaatlichen Beziehungen herausgerissen und in seinem Blickfeld gefährlich eingeengt. Der englische Adel erlangte seine große Wirksamkeit im 18. Jahrhundert durch die Entmachtung der Krone.

Monarchie und Demokratie sind also in erster Linie nicht Funktionsträger, sondern legitimierende Prinzipien. Dabei hat die Monarchie die Wirkungsmöglichkeit der Einzelperson vor der Demokratie noch voraus; diese ist wie die Rechtsprechung im Schema der Gewaltenteilung en quelque façon nulle, da sie auch immer nur von der Initiative der einzelnen leben kann. Es ist daher ein grundsätzlich sehr richtiges Bestreben der amerikanischen Demokratie, die Urabstimmung der Wähler für die Aufstellung der Wahlkandidaten unangetastet frei zu halten und diese Auswahl nicht den Cliquen der Parteimaschinerie zu überlassen. Damit ist wenigstens das Maß der Spontaneität gerettet, zu dem auch in modernen und größeren Verhältnissen die Demokratie fähig ist.

Wie in einer Tropfsteinhöhle bilden sich nun notwendig von oben und von unten Funktionär-Hierarchien. Dies tritt zunächst am deutlichsten im Dualismus des Ständestaates hervor; hier gibt es Beamte des Fürsten und solche der Stände, ja sogar unter Umstände zwei Heere und getrennte Gebiete. Dieser unerträgliche Auseinanderfall der Staatsgewalt mußte freilich zwangsläufig überwunden werden. Eines der wenigen Rechtsinstitute, in der diese Doppelung zu fruchtbarer Wirkung vereint war, ist das Amt des preußischen Landrats gewesen. Dieser war in der Regel nicht ein von außen geschickter Bürokrat, sondern ein angesehener und angesessener Mann aus dem Kreise, der vom Kreistag dem König oder vom König dem Kreistag präsentiert wurde und der Wahl bedurfte. Hier verband sich Vertrauen von oben und unten. Diese Konstruktion wurde bereits gefährdet, sobald das Amt des Landrats zum Sprungbrett für eine Verwaltungskarriere wurde, wogegen sich Bismarck in richtiger Erkenntnis heftig gewehrt hat. Formell wurde diese altständische Einheit eigentlich erst 1933 aufgehoben, als der Nationalsozialismus die Landräte einseitig zu Vertrauensleuten der Staats- und Parteiführung ausbildete. Damit war die Einheit zerschlagen, auf welcher die Fruchtbarkeit und das Ansehen des Amtes beruhte. Dies ist

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nun gegenwärtig in der freien Landratswahl mechanisch in das Gegenteil umgekehrt worden. Der Erfolg ist, daß der Einfluß der Regierung auf die Durchführung der Gesetze und ihrer Richtlinien in Frage gestellt ist. Die Regierungskoalition ist infolgedessen gegen die demokratische Theorie bestrebt, durch Einschränkung der freien Wahl von Landräten aus den Oppositionsparteien und Sicherung der Wahl koalitionstreuer Landräte die Einheitlichkeit und Schlagkraft der Verwaltung wenigstens einigermaßen sicherzustellen. Diese Einzelfrage ist von ziemlich grundsätzlicher Bedeutung. Der dialektische Gegensatz zwischen Führung und Volk tritt hier als unausweichlich und unaufhebbar in den Gegensatz zwischen Gesamtwillen und Teilwillen wieder hervor.

Die Exekutive ist also in Monarchie und Demokratie gleichermaßen fast alles — aber zugleich auch gar nichts: Denn sie ist nichts aus sich selbst, nichts aus eigenem Recht. Die Schwäche und der Grundirrtum des preußischen Staatsdenkens lag in dem Versuch, König und Volk gleichermaßen zu verbeamten. Die Folge war, daß beide ihrer politisch legitimierenden Funktionen beraubt wurden. Dies hat theologische Ursachen, die hier nicht interessieren. Der so oft gerühmte Satz, daß der König der erste Diener des Staates sei, hat viel dazu beigetragen, den Staat zu einer selbstgesetzlichen Maschinerie zu machen. Die typische Verwechslung von guter Verwaltung und guter politischer Führung rührt daher. Bethmann-Hollweg war ein ebenso hervorragender Verwaltungsbeamter wie ein schlechter Politiker. Die vollendete Technik des Staatsdienstes ersetzt nicht die politische Produktivität, je sie führt noch nicht einmal auf sie zu, so sehr Sachkunde vonnöten ist und so verheerend das Ignorantentum der Demagogen ist.

In jedem System besteht also ein Zwang zur Elitebildung; aber diese bildet sich nicht frei als eine Gemeinschaft der Qualifizierten, sondern kristallisiert sich an den Notwendigkeiten und Leistungen des Dienstes. In ihr kehrt ebenso unausweichlich der ursprüngliche Dualismus der Staatswirklichkeit wieder. Auch bei Ausschaltung aller personaler Führungsformen ergibt sich der Gegensatz zwischen dem föderalen Aufbau von unten und der Vertretung des Gesamtwillens von oben. Da dieser notwendig nur einer ist, tritt er als solcher an die Stelle der Monarchie. Erst deren Fortfall zwingt zu unitarischen Bewegungen der Massen. Andererseits ist eine extreme Föderalisierung annähernd gleichbedeutend mit der Auflösung des Gemeinwillens. Frankreich, das klassische Land der Theorie der volonté générale hat jenen Föderalismus radikal vertilgt, den es als demokratisch Deutschland aufzuoktroyieren trachtet. Das Gleichgewicht von Einheit und Föderalismus ist ebenso unerläßlich wie zwischen Persönlichkeit und Gemeinwillen, zwischen institutio und consensus, zwischen Willen und Substanz.

Das besondere Merkmal aller Elitebildung liegt darin, daß diese das Bewußtsein der Gesamtheit repräsentiert und fortbildet. Der Elite gehört an, wer in der Lage ist, sich bewußte Rechenschaft über die gemeinschaftsbildenden

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Werte zu geben, in ihrem Bewußtsein zu leben. Sie ist damit im eigentlichen Sinne der Träger der geistigen Fortpflanzung, in deren Rahmen die geschichtlichen Gegensätze ausgetragen werden.

Aus der nur entscheidungsfähigen, aber nicht handlungsfähigen, gewissermaßen gliedlosen Gesamtheit wachsen wie gezeigt immer Schichten von Funktionsträgern hervor. Die Formen dieser Elitebildung sind sehr verschiedene, aber doch unter gemeinsamen soziologischen Begriffen beschreibbar. Sie steigen zwar aus der Gesamtheit wie aus einem Mutterboden hervor, aber mit der Folgerichtigkeit der Pflanze wachsen sie geradlinig nach oben dem Lichte zu. Das Licht, dem sie alle zustreben, ist stets ein höchster Wert, das über ihnen steht wie der Himmel über der Erde. Was seinen Inhalt ausmacht, ist freilich denkbar verschieden. Aber keine Geschichtsphilosophie der Immanenz entgeht dem soziologischen Gesetze der Transzendenz, auch nicht die radikalste. Die Entwicklung dieser Gehalte vollzieht sich nach inneren Gesetzen, deren Darstellung der Gegenstand des besonderen Teils dieser Arbeit ist.