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Dritter Teil

Soziologie des Staates — Elemente der Verfassung

 

7. Kapitel

System der Verfassungselemente

 

Die unverkennbare Beziehung der ständischen Entwicklung zur Verfassungsgestaltung zwingt zur Untersuchung des grundsätzlichen Verhältnisses zwischen jener politischen Anthropologie im materiellen Sinne zur Verfassungsgeschichte im formalen strukturellen Sinne.

Es macht den Reiz der englischen Geschichte aus, daß sie in ungebrochener Entwicklung die Rechtseinrichtungen des Mittelalters auf unsere Zeiten gebracht hat. Die insulare Lage Englands und der konservative Charakter seiner Bewohner haben dazu zusammengewirkt, das englische Verfassungsrecht zum Museum Europas zu machen. Wir sind gewiß von der liberalen Begeisterung für England als der Musterstaat durch nähere Berührung mit englischer Politik und Verwaltung geheilt worden; die rechtssystematische Bedeutung seiner Staatseinrichtung ist unbestreitbar. Man kann die Anatomie des Staates an diesem Beispiel studieren, mag man das lebendige Individuum lieben oder nicht.

Als die puritanische Revolution die Alleinherrschaft des Unterhauses proklamierte, brach sie damit die mittelalterliche Verfassungsentwicklung des Landes ab. Dieses Unternehmen ist fehlgeschlagen; was bei seinem Ende in der glorreichen Revolution von 1688 übrigblieb, war eine Verschiebung des Schwergewichts innerhalb der Verfassung. Wie in einem Parallelogramm der Kräfte hatten sich die Idee der Volkssouveränität und die älteren Formen gegeneinander auf der Mitte ausgeglichen. Dadurch ist die äußere Form der englischen Verfassung so erhalten geblieben, wie sie das Mittelalter gebildet hatte: in der Dreiheit von Königtum, Oberhaus und Unterhaus. Diese Dreiheit von Monarchie, Aristokratie und Demokratie ist nicht das Ergebnis von staatstheoretischen Spekulationen, auch nicht einer irgendwie gearteten Ständelehre. Sie ist auch kein angewandter Aristotelismus. Es ist dabei sehr merkwürdig, daß der platonischen Ständelehre sachlich die im vorigen Kapitel entwickelte anthropologische und subjektive, der aristotelischen Lehre von den Verfassungsformen die hier zu entwickelnde objektive Ständelehre und Verfassungslehre entspricht. Dieser Staatsaufbau is jedenfalls unmittelbar und zwanglos mit Folgerichtigkeit aus dem dualistischen Wesen des mittelalterlichen Staates hervorgegangen. Der Ausgangspunkt liegt in dem Dualismus zwischen König und Volk, der

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aber keineswegs nur dem Mittelalter allein eigentümlich ist. Ähnliche Erscheinungen finden sich, worauf Jellinek hingewiesen hat, im israelitischen Verfassungsrecht. Gerade er hat gezeigt, daß der doppelte Dualismus zwischen Königtum und Volk und zwischen Staat und Kirche die innere Voraussetzung für die Entfaltung gegliederter Verfassungen im Abendlande und damit zugleich für das höchste Maß der Entfaltung und des Schutzes subjektiv persönlicher Rechte gewesen ist. Eine Erforschung der religionspsychologischen Grundlagen des positiven Verfassungsrechts ist daher eine dringende Aufgabe, welcher die Staatsrechtslehre bisher ausgewichen ist.

Der Widerpart des Königstums, das Volk, gliedert sich nun in allen europäischen Staaten, genauer in allen Staaten auf dem Boden des Christentums in Stände, und zwar überall in drei: Adel, Geistlichkeit und dritten Stand, letzteren als die Gesamtheit der nicht besonderen und bevorrechtigten Gruppen. Daß der dritte Stand begrifflich nicht mit den Städten identisch ist, ist bereits ausgeführt worden. Wir finden also in diesen drei Ständen in der Tat Nährstand, Wehrstand und Lehrstand, ersteren als den Inbegriff der dem materiellen Erwerbe dienenden Volksteile wieder. Verfassungsrechtlich aber sieht das Bild ganz wesentlich anders aus: Gerade in dem stilreinsten und folgerichtigsten Beispiel Englands verbinden sich die privilegierten Stände des Adels und der Geistlichkeit zum Oberhaus: Als erstes Verfassungselement tritt beiden Häusern des Parlaments die Krone gegenüber. Das Königtum ist kein Stand: Auch Könige in der Mehrzahl sind niemals ein solcher. Königtum ist der Inbegriff des höchst Individuellen, des Einmaligen. Das alte deutsche Reich hatte einen Fürstenstand, niemals aber hat es in irgendeinem Betracht einen Königsstand gegeben; das wäre ein begrifflicher Widerspruch. Die klassische aristotelische Lehre von den drei Verfassungselementen hat in der englischen Verfassung eine einmalige Darstellung von vollendeter Reinheit gefunden: Sie ist aber höchstens nachträglich zur begrifflichen Rechtfertigung benutzt worden. Alle die Ständestaaten, die im Dualismus zwischen Fürst und Ständedreiheit stehenblieben, in welchem das Mittelglied des Oberhauses nicht ausgebildet wurde, sind durch die Notwendigkeit, diesen Dualismus im Interesse der Aktionsfähigkeit des Staates in den Krisen des 17. Jahrhunderts zu überwinden, zugrunde gegangen, während die englische Verfassung trotz des schweren Sturms der Cromwellschen Revolution wie ein großer gut gebauter Segler vor dem Kentern bewahrt blieb. Jene Dreiheit der Verfassungselemente in England ist im Grunde nichts weiter als die Pyramide der mittelalterlichen feudalen Hierarchie. Aber sie ist hier nicht durch den ständischen Dualismus gespalten, sondern intakt geblieben; in ihr hat sich nur der Schwerpunkt fortschreitend von oben nach unten verlagert.

Von dieser Erkenntnis aus ist erst eine Kritik der modernen Theorie des Ständestaates möglich und ihre Unfruchtbarkeit zu erklären. Das Unterhaus,

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die Gemeinen, repräsentieren die Gesamtheit als Ganzes, während im Oberhaus die besonderen Stände, Adel und Geistlichkeit, zusammengefaßt sind. Es sind die ordines besonderer Verpflichtung, des weltlichen und geistlichen Dienstes. Daraus ergibt sich schon, daß es nicht im modernen Sinne Berufsstände auf der Grundlage eines allgemeinen Berufsethos waren, an welchem in rein sittlichem Sinne auch der letzte Straßenkehrer teil hat. Die politische Funktion der Allgemeinheit, der Demokratie des Unterhauses, kann andererseits niemals durch besondere und gesonderte Berufsstände verfassungsmäßig wahrgenommen werden; diese Allgemeinheit kann sinngemäß immer nur eine und unteilbar sein. Die besonderen Funktionen der Aristokratie können ebensowenig von Massenständen auf Grund eines allgemeinen Berufsethos wahrgenommen werden, sondern nur auf Grund einer besonderen Auswahl, Verpflichtung und Disziplin. Damit ist der Grund aufgezeigt, warum alle korporativistischen Versuche nicht zu eigener politischer Tragfähigkeit gekommen sind.

Nirgends haben die politischen Funktionen der Aristokratie, der Elite einerseits, der Allgemeinheit der Demokratie andererseits, durch moderne korporative Formen abgelöst werden können. Diese sind überall Organe der politischen Führung und Wirtschaftslenkung geblieben, nicht politische Strukturelemente geworden. In der Verfassungsstruktur kommt also nicht die inhaltliche Bestimmung als Wehrstand oder Nährstand, sondern die formale Eigenschaft als Gesamtheit, Minderheit oder personales Element in Betracht. In der hierarchischen Verfassung der alten Monarchie fielen die formale Bestimmtheit als Allgemeinheit, Minderheit usw. und die materiale Bestimmtheit als Stand noch zusammen. Hinter dem heutigen Formalismus melden sich aber nunmehr wieder immer stärker die materialen Gruppierungen der Gewerkschaften und Interessenverbände. Es gelingt aber nicht, diese in eine verbindliche Ordnung, eine feste anerkannte Relation zueinander zu bringen, ohne sie autoritativ zu vergewaltigen.

Weil von unten her gesehen und aufgebaut, kein Wertungsprinzip und daher keine Gliederung möglich ist, ist der Inbegriff solcher Verbände nicht entscheidungsfähig und daher entweder nur beratend oder als Befehlsempfänger möglich. Der monistische Formalismus der Gleichheit, der noch von den Resten ständischer Gliederung gezehrt hat, ist nur ein Durchgangspunkt. Indem er das Äußerste von Einheitlichkeit erreicht hat, schlägt er in einen materialen (und materialistischen) Pluralismus widerstreitender Gruppeninteressen um, zwischen denen der Staat als Schlichter, Schiedsrichter oder schließlich Befehlender nicht entbehrt werden kann. Wer aber ist dann noch Schlichter, wer ist dann noch der Staat, wenn jede Transzendenz in der Staatsstruktur aufgehoben ist und die Transzendenz des Gesetzes sich als eine formale und jederzeit mißbrauchbare enthüllt hat? Diejenigen, die zuerst die Einheit von Form und Inhalt aufgelöst und dann sich der echen Transzendenz entledigt haben, sind dann in der Gefahr, um der

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Erhaltung des nackten Lebens, der Ordnung im formalsten Sinne willen sich der falschen Transzendenz des Cäsarismus zu ergeben.

Die Zusammenordnung der genannten drei Verfassungselemente ist auch heute noch, so schematisch das klingt, das Problem der Verfassungstheorie. Diese Erwägungen könnten als eine zwar von falschen geschichtlichen Vorstellungen gereinigte, aber doch nur sublimierte Form der Romantik angesehen werden, wenn nicht die gleichen Probleme auch in der modernen Verfassungstheorie nachweisbar wären. In dieser Theorie und jeder modernen entfalteten Verfassungsgestaltung spielt die Gewaltenteilungslehre Montesquieus noch immer eine wesentliche Rolle. In ihr sind als Verfassungselemente Legislative, Exekutive und Jurisdiktion als sauber zu trennende selbständige Teilfunktionen genannt. Sie müssen jedoch zu vollem Verständnis in gedanklicher Reihenfolge gesehen werden. Die Legislative gibt die Gesetze, die die Exekutive ausführt, deren Tätigkeit wiederum von der Jurisdiktion überprüft wird, so daß sich durch die sachliche Übereinstimmung von Gesetzgebung und Rechtsprechung, vor allem Grundgesetz und Rechtsprechung der geschlossene Kreis rundet. Der verbindliche Gedanke liegt in der Vorstellung, daß das gesamte politische Leben ein Inbegriff gesetzlicher Akte sei — oder sein soll. Das ist reine Metaphysik, über die als solche an dieser Stelle nicht zu sprechen ist. Das demokratisch gewählte Parlament als Repräsentation der Allgemeinheit ist als Legislative an die Stelle des monarchischen Souveräns getreten. Aber an der Legislative hat ein aristokratisches Element ebenfalls Anteil: In den verschiedensten Formen treten die Tendenzen zur Bildung eines Senates auf. In den Debatten um die Verfassung der IV. französischen Republik hat Bidault gegenüber radikalen Strömungen mit großer Entschiedenheit betont, daß noch keine Demokratie auf der Grundlage des Einkammersystems lebensfähig gewesen sei. Den Senat, beispielsweise in Frankreich, wählen jedoch qualifizierte Teile der Wählerschaft, gewisse Altersgruppen, ferner die Gemeinderäte und bestimmte Körperschaften. Der Gedanke der Bewährung, Verantwortung und Verpflichtung hat hier, wenn auch in sehr abgeschwächter und aufs stärkste verallgemeinerter Form Ausdruck und Anerkennung gefunden. Es ist der letzte Rest von Aristokratie, der als Gegengewicht gegen die Schwankungen des Massenwillens verwendet wird. In die Allgemeinheit sind also die geschichtlich besonderen Stände im Jahre 1789 eingeschmolzen worden, um dann in rudimentärer Form als Verfassungselement wieder aufzutauchen. Man könnte den Senat als die Repräsentation der Exekutive bezeichnen; in noch höherem Grade trifft dies für Staatenhäuser zu, welche in föderalen Staaten als Repräsentation der Bundesglieder an die Stelle des Senats treten. Eine Verbindung beider Gedanken ist im amerikanischen Senat vorhanden, in dem zwar keine Vertreter der Staaten als solche sitzen, dessen Mitglieder jedoch gleichmäßig nach der Zahl der Staaten und nicht nach der Zahl der Wähler gewählt werden.

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Demokratie und Aristokratie haben sich zusammen in das Erbe der Monarchie geteilt. Damit ist eine eigentümliche Umkehrung des Systems eingetreten: An der Stelle des Monarchen versieht die Funktion der politischen Führung und Initiative das Parlament in der Form der Legislative; ihr dient wie bisher die Exekutive, der Inbegriff der besonders zum Dienst Verpflichteten. In diese Gruppe ist auch unversehens das Staatsoberhaupt gefallen, welches jeder wesentlichen Initiativfunktion theoretisch wenn auch nicht praktisch vollständig entkleidet worden ist. Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß selbst der Staatspräsident französischer Form trotz der äußeren Beschränkung seiner formalen Befugnisse eine sehr bedeutsame politische Funktion erfülle. Systematisch gehört jedoch der Präsident zur Exekutive; was er an politischen Initiativbefugnissen hat, hat er nicht wegen, sondern trotz der Grundgedanken des Systems, weil es eben doch nicht möglich ist, das Staatsoberhaupt derart vollständig zu neutralisieren. Zugleich wird damit klar, wie grundlegend der Unterschied zwischen amerikanischer und französischer Demokratie ist. Die amerikanische Präsidentschaftsdemokratie ist nichts weiter als eine Monarchie auf Zeit, in der das alte Schema, Monarchie, Aristokratie, Demokratie in demokratischer Gesamtform aufbewahrt und in diese übersetzt ist. Die Unableitbarkeit des Präsidenten und seine starke Initiativstellung zeigen dies an. Hier sind beide Häuser des Parlaments nicht in die königliche Stellung eingerückt, sondern in ihrer Kontrollfunktion verblieben, und zwar sinngemäß neben der Verfassungsgerichtsbarkeit. Auch hier steht wie immer neben der positiven Gemeinschaft das negative Gericht. Daraus ergibt sich zugleich die Erkenntnis, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit als Institution zur Sicherung des funktionalen Zusammenspiels der Verfassungselemente auf einer ganz anderen Ebene steht als politische, Verwaltungs- und ordentliche Gerichtsbarkeit. Soweit die politische Gerichtsbarkeit nicht lediglich staatliche Hoheitsrechte betrifft wie etwa in der Prisengerichtsbarkeit, hat sie den politischen Status einzelner Staatsbürger zum Gegenstande; die Verfassungsgerichtsbarkeit setzt diesen als Vorfrage der Aktivlegitimation voraus; es handelt sich um die Verfassungsrechte nicht einzelner, sondern von Körperschaften, Verbänden, Parteien und anderen Funktionsträgern. Sie repräsentiert die Souveränität des Gesetzes gegenüber allen Teilerscheinungen des Staates und gewährleistet wie der Monarch die Einheit der Verfassung.

In diesem Zusammenhang ist die Tatsache von Interesse, daß England als einziger aller demokratischen Staaten keine Verfassungsgerichtsbarkeit besitzt. Dies ist nicht die Folge des Umstandes, daß es keine geschriebene Verfassung besitzt, England besitzt keine geschriebene Verfassung, weil seine gewachsene Staatsordnung niemals rationalisiert, niemals nach abstrakten Prinzipien aufgebaut worden ist. Die Verfassungsgerichtsbarkeit fehlt vielmehr und kann fehlen, weil England noch ein Land von echter monarchischer Struktur ist, welches institutionell von dem a priori des Königstums her

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gedacht ist, welches die Staatseinheit verbürgt; im Gegensatz dazu sind die rationalen Demokratien a posteriori vom Gesetzesbegriff her konstruiert und suchen ihre Verfassungseinheit in der Wahrung ihrer formal-logischen Gesetzeseinheit.

Zur Monarchie steht die Demokratie in einem eigenartigen reziproken Verhältnis. Auf der einen Seite stellt die Monarchie den ruhenden, unablösbaren substantiellen Bestand im Gegensatz zu dem jeweils präsenten Willen des Volkes dar. Auf der anderen Seite steht die Monarchie in der Initiativstellung, der die ruhende und erst zu bewegende Masse und Substanz des Volkes gegenübersteht, welches immer der Führung bedürftig ist. Monarchie und Demokratie enthalten also jedes in sich den Spannungsgegensatz zwischen Substanz und Wille, der wiederum zwischen ihnen beiden, also in doppelter Weise besteht. In den Formen persönlicher Führung drückt sich dies in den von Ursprung an getrennten Ämtern des Königs und des Kanzlers aus, während die Volksgesamtheit die gleiche innere Spannung nicht in äußeren Differenzierung darzustellen imstande ist. Das System der soziologischen Elemente gleicht bildlich betrachtet einem Tonnengewölbe, dessen Rippen von den vier Ecken in der Mitte der Aristokratie und Exekutive zusammenlaufen oder besser zusammengehalten werden. Die innere Gegensätzlichkeit zwischen Substanz und Wille in der Volksgemeinschaft drückt sich in dem Gegensatz zwischen formaler und homogener Demokratie aus, der an späterer Stelle entwickelt werden muß.

Aus diesem Aufriß ergeben sich aber schon wesentliche Einsichten für das Verständnis moderner Verfassungsformen. Wo das traditionale und das persönliche Verfassungselement gleichermaßen erhalten sind wie in England, stehen König und Kanzler (Erstminister) nebeneinander. Wo das eigentliche traditionale Element aufgehoben ist, fließen beide mit dem Schwerpunkt auf dem Kanzleramt zusammen wie in Amerika. Wo beides aufgehoben ist wie in Frankreich, sind Staatsoberhaupt und Regierungschef bis zu dem überhaupt möglichen Maße in die Exekutive hinüberverlagert. Zugleich wird erkennbar, daß jede dieser Formen eine Verkürzung der früheren Form ist, in der jeweils ein weiteres Element der vollen Struktur abgebaut ist. Die französische parlamentarische Demokratie ist eine Degenerationsform der englischen im zweiten Grade. Dies wird durch ihre geschichtliche Entstehung aus dem Einfluß des amerikanischen Vorbildes verständlich. Die deutschen republikanischen Verfassungen von Weimar und Bonn stellen in der Fortentwicklung demokratischer Verfassungstypen keine eigene Form dar; sie stehen in verhängnisvoller Unentschiedenheit zwischen dem amerikanischen und dem französischen Vorbild.

Die klassische römische Republik, an der sich der ältere Republikanismus in Europa orientiert hat, war in ähnlicher Weise wie die Vereinigten Staaten eine kupierte Monarchie, in der sich Aristokratie und Demokratie in das Erbe der königlichen Gewalt teilen, und an die Stelle der Monarchie auf

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Lebenszeit das Jahreskönigtum der Konsuln trat. Hier bestand freilich eine Aristokratie des patrizischen Senats aus eigenem Recht; das Patriziat stand wie ein anderes Volk neben der Plebs. Abgesehen von der Ableitung der Staatsgewalt aus der einheitlichen Wurzel des demokratischen Gemeinwillens ist die amerikanische Verfassung unter bewußter Anlehnung an das römische Vorbild von einer kleinen Zahl klassische gebildeter Männer unter vorsichtiger Auswägung aristokratischer und demokratischer Elemente geschaffen worden — ein klassizistischer Schinkelbau, den die moderne technischen Architekten nicht nachzuschaffen vermöchten. Diese Männer waren zu lebensklug und geschichtskundig, um den primitiven Monismus des Einkammersystems und der jederzeitigen Ablösbarkeit der Regierung Raum zu geben. Aus diesem Monismus der Schwäche und der Staatsfeindschaft entsteht in einem bloßen Umschlag mit innerer Notwendigkeit der Monismus der Staatsallmacht, der Einheitspartei und der Unablösbarkeit der Regierung. Die Anhänger der parlamentarischen Regierungsform auf dem europäischen Kontinent ernten in Faschismus und Bolschewismus nur die faulen Früchte ihres eigenen Stammes. Die funktionale Gewaltenteilung ist nicht aufrechtzuerhalten, wenn nicht die verfassungsrechtliche Machtteilung mindestens zwischen Aristokratie und Demokratie, zwischen Senat und Repräsentantenhaus durchgehalten wird. Die Genialität der amerikanischen Verfassung liegt darin, daß sie dies unter voller Wahrung des demokratischen Grundprinzips vermocht hat. Eine ganze Reihe kluger Verfassungsbestimmungen hat dem Senat sein Schwergewicht in diesem System verschafft, aber keine mehr als die Ausschaltung des Repräsentantenhauses aus den ständigen Machtkämpfen der Regierungsbildung durch die Volkswahl des regierenden Präsidenten. Erst diese macht die verfassungsmäßige Machtverteilung zum Unterschiede von einer nur funktionalen Gewaltenteilung wirksam und vollständig. Die Bedeutung des amerikanischen Senats liegt vor allem darin, daß — mit demokratischen Mitteln — eine kontinuierlich arbeitende Körperschaft von politisch geschäftskundigen Männern geschaffen worden ist, die die Funktionen einer Aristokratie mit unbestreitbaren Erfolg wahrnimmt.1

Es fragt sich nun, ob ebenso wie der Senat auch das Moment der persönlichen Führung für die Kontinuität des Staates von wesentlicher Bedeutung ist, ob also alle drei Verfassungselemente als unabdingbare Momente erscheinen, deren Fehlen oder Verkümmerung zu Ausfallserscheinungen und Mangelkrankheiten führt. Jede menschliche Erscheinung bewährt ihre Lebenskraft und Gesundheit in ihrer Dauer und so ist die Frage nach den


1 Eine gute Verfassung sichert freilich immer nur die Existenz des eigenen Gemeinwesens als solchen, nicht die außenpolitischen Fähigkeiten der Staatsmänner. Man darf die amerikanische Verfassung nicht für die idealistische Verblendung Wilsons und Roosevelts verantwortlich machen, die so verhängnisvolle weltgeschichtliche Folgen gehabt hat.

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notwendigen Verfassungselementen beinahe identisch mit der an seiner Dauerhaftigkeit gemessenen Gesundheit des Staates.

Wenn wir die europäische Geschichte daraufhin überschauen, welche Staatsbildungen eine kontinuierliche, große Zeiträume in ungebrochener folgerichtiger Entfaltung überdauernde Lebenskraft bewiesen haben, so zeigen sich deutlich zwei Gruppen. Neben der staatsähnlichen römischen Kirche stehen die englische Monarchie, die Präsidentschaftsrepublik der Vereinigten Staaten als Gebilde von ausgesprochener Dauerhaftigkeit. Auf der anderen Seite sind die großen Staaten des germanisch-romanischen Kontinentaleuropa seit 150 Jahren in einem ständigen, mit revolutionären Brüchen durchsetzten Wechsel der Staatssysteme begriffen, Frankreich, Deutschland wie Italien und Spanien. Hingegen sieht es so aus, als ob Sowjetrußland unter dem Bolschewismus nach dem einen großen Umschlag von 1917 eine ebenso kontinuierliche, wenn auch von mancherlei Wandlungen begleitete Entwicklung vor sich hat. Es ist nicht ganz einfach zu erkennen und verständlich zu machen, welches vergleichende Dritte diese beiderseitigen Entwicklungstendenzen der Kontinuität und der Diskontinuität erklärt. Gerade die außerordentliche Unterschiedlichkeit der Erscheinungen erleichtert dies jedoch wiederum. Jener Gruppe kontinuierlicher Entwicklung, die so schlechterdings unvereinbare Gegensätze in sich birgt, ist die starke Ausbildung des persönlichen Elements, aber auch sonst nichts gemeinsam. Diese Einsicht führt zu weitreichenden Folgerungen. Die römische Kirche stellt als extreme Form eine grundsätzliche Identifikation von Person und Sache dar; alles was in ihr an Wesentlichem geschieht, ist priesterliches Amt, und dieses wiederum ist unverletzlich und substantiell unzerstörbar (character indelebilis). Umgekehrt geschieht in England alles der Form nach, aber nichts der Sache nach im Namen des Königs. Überall dort aber, wo sonst in Europa sich die Monarchie nicht der Sachentscheidung ebenso entäußert hat wie die englische, ist sie unter der Last geschichtlicher Entscheidungen in der Gegenwart zusammengebrochen, gleichgültig, ob sie sich auf die religiöse Autorität der römischen Kirche, auf die längste Tradition oder das sachliche Ansehen einer anerkannt hervorragenden und sozialfortschrittlichen Verwaltung stützte wie die preußisch-deutsche. Wenn in den nordischen Ländern und den Beneluxstaaten sich die Monarchie behauptet hat, so zeigt dies keine Durchbrechung dieses Erfahrungssatzes, sondern nur die Tatsache, daß diese Staaten heute außerhalb der eigentlichen geschichtlichen Entscheidungen relativ nur noch provinziellen Charakter tragen. Bezeichnenderweise ist als einzige dieser Monarchien die belgische gefährdet, nämlich diejenige, die zwischen Deutschland und Frankreich stehend eine eigene politische Entscheidung tragen mußte. Umgekehrt kann die verfassungsmäßige Monarchie auf Zeit, welche die Präsidentschaftsrepublik der USA darstellt, ihren Herrscher mit der Sachentscheidung wieder in sehr hohem Grade belasten, eben weil er nur auf Zeit bestellt ist

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und mit seiner Politik den Staat nicht grundsätzlich und auf unabsehbare Zeit festlegt.

Die Kontinuität des Sowjetsystems andererseits beruht darauf, daß hier eine starke persönliche Autorität dogmatisch richtunggebend wirken konnte, auch ohne formell die höchsten Staatsämter zu bekleiden. Sie unterscheidet sich vom System des Papsttums nur durch den durch dogmatische Gründe bedingten Verzicht auf die formelle Herausstellung des Machtträgers. In Wahrheit ist freilich die dogmatisch führende Persönlichkeit der Motor der Bewegung, der sie in der eingeschlagenen Richtung mit souveränem Verständnis steuert. Es ist deshalb eine geschichtliche Frage allerersten Ranges, ob das Konklave der roten Parteikardinäle imstande sein wird, nach Stalins Abgang eine entsprechend autoritär wirkende Persönlichkeit herauszustellen. Ganz wie die römische Kirche hat auch die rote Kirche in jedem Lande einen Kardinalprimas. Hier ist nun im umgekehrten Sinne wie in der römischen Kirche eine Identifikation von Sache und Person eingetreten; deshalb spielt theoretisch die Frage der Persönlichkeit keine Rolle.

Erstaunlicherweise und entgegen alle Dogmen der populären modernen Staatslehre ist also das personale Element entscheidend für die Kontinuität, obwohl es gerade der Inbegriff des Zufälligen und Vergänglichen zu sein scheint. Umgekehrt wirkt der scheinbar ewige Ideengehalt als letztlich doch verfügbar und wandelbar durch seine rationale Begrenzung eher trennend als verbindend, wirkt also als Belastung und Gefährdung. Je mehr der Sachgehalt eines Staates in einer Staatsprogrammatik verfassungsrechtlich, in einem Kosmos parteipolitischer Forderungen außerverfassungsrechtlich festgehalten und niedergelegt wird, desto stärker wird diese Gefährdung, desto stärker wird das komplementäre Element der Persönlichkeit ausgeschaltet. Es treten in eben dem gleichen Maße in der Form der Diktatur Mangelkrankheiten auf.

Schon im Bereich der Strukturbetrachtung sind also in der formellen Staatslehre drei notwendige Elemente nachweisbar. Von dieser Fragestellung aus stellt die amerikanische Verfassung eine Mittellösung dar, in welcher das persönliche Element durch die begrenzte Regierungsdauer nicht aufgehoben, aber gewissermaßen nach innen, nach der anderen Seite hin, das heißt, in Richtung auf die sachliche Integration verlagert ist. Die ständige Schwankungen, welchen Frankreich seit 1789 und Deutschland seit 1848 unterworfen ist, zeigen, daß die beiden Elemente wie Pendel ausschwingen. Nachdem mit der Monarchie das Zusammentreffen von Person und Gehalt aufgehoben ist, wechseln in immer schneller Folge die Versuche der verfassungsmäßigen Fixierung des Staatsgehaltes und der Ruf nach dem schöpferischen Anstoß der Persönlichkeit. Die Geschichte Frankreichs ist voll von jenen Schwankungen, und vor der Toren der vierten Republik meldet sich bereits wieder als Diktator Charles de Gaulle, mag man ihn nun mit

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Boulanger oder Napoleon III. vergleichen. Gerade das Unvollkommene und Unstete dieser Versuche kennzeichnet sie als Symptome einer schleichenden Krankheit, an der die parlamentarische Republik von Kindesbeinen an leidet.

Das Regime Bismarcks war die Diktatur gegen die ideologische Herrschaft der Paulskirche und des Nationalvereins. An dem Gegensatz zu ihr, deren gefährliche Unfruchtbarkeit vor allem in den internationalen Beziehungen Bismarck zu betonen nicht müde wurde, hat er sich zum Politiker gebildet. Der Illusionismus des Nationalvereins würde Deutschland zwei- oder dreimal in einen europäischen Krieg verwickelt haben, wenn nicht besonnene Politiker älterer Schule vorhanden gewesen wären. Es ist Hitler vorbehalten geblieben, den demokratischen Illusionismus seiner nationalliberalen Großväter in die Tat umzusetzen. Die sonst fast unbegreifliche Tatsache, daß Bismarck nicht versucht hat, seinem System Dauer zu verleihen, findet in ihrem Diktaturcharakter ihre Erklärung. Die Diktatur Hitlers ist die komplementäre Reaktion auf die Weimarer Republik, die des tragenden Moments der Persönlichkeit nach französischen Vorbild ebenfalls entbehrte. Umgekehrt ist die Blässe und Farblosigkeit der Parteiprogramme der großen amerikanischen Parteien, die für den Europäer fast unverständliche Unterscheidungen sind, das entsprechende Beispiel dafür, daß das personale Moment in der Person des Präsidenten wie jedes Staatsgouverneurs wie überhaupt in der Gesamtstruktur des öffentlichen Lebens voll erhalten ist. Erst in der allerletzten Zeit scheinen sich die amerikanischen Parteien der versachlichten Grundstruktur des europäischen Parteiwesens — liberalisierte Konservative gegen gemäßigte Sozialisten — anzunähern. In England ist es lange Zeit in sehr ähnlicher, wenn auch nicht so weitgehender Weise gelungen, die Parteikämpfe des ideologischen Charakters zu entkleiden und sie auf eine fest umrissene aktuelle Programmatik zu begrenzen. Der Engländer bewältigte gewisse Aufgaben mit den Mitteln der einen oder anderen Doktrin, aber er band sich nicht an diese und entschied sich noch in erheblichem Maße frei. Die eine Partei führte diese, die andere jene Reform durch. Die Freiheit zur Sache wurde durch die Freiheit von der Ideologie und damit die Freiheit der persönlichen Entscheidung des Wählers für den zu Wählenden gewährleistet. Heute tritt auch in England der ideologische Charakter politischer Entscheidungen bereits stärker hervor. Das System droht dadurch blockiert zu werden, daß der übergroße Teil der Wähler in zwei annähernd gleichstarken Blöcken fest gebunden ist und echte und vor allem wechselnde Mehrheiten nicht mehr zustande kommen. Immerhin ist hier noch ein unangefochtener Bestand der Staatsgrundlagen vorhanden, während diese auf dem Kontinent mühsam in Verfassungsparagraphen zusammengeflickt und ausgehandelt werden, um nur die gröbsten Übergriffe der anderen Weltanschauungspartei auszuschließen. In diesem Sumpf arbeitet man sich aber durch Anstrengungen immer weiter hinein.

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An diese Stelle gehört auch eine Erörterung der staatstheoretischen Bedeutung des politischen Parteiwesens. Dieses als rationale Organisationsform ist eine späte Erscheinung in der Entwicklung des Staates und nur unter dieser Voraussetzung ein notwendiger Bestandteil des Staatsbegriffs und der Staatswirklichkeit. Eine Ausscheidung der politischen Partei zugunsten ständisch-statischer politischer Formen ist in der Gegenwart auch den radikalsten Gegnern des Liberalismus nicht gelungen und kann infolge der rationalen Grundlage des gegenwärtigen Staatslebens nicht gelingen; auch Faschismus und Bolschewismus haben Begriff und Wirklichkeit der politischen Partei nicht aufheben, sondern dem Parteiwesen nur eine andere Struktur und Bedeutung geben können.

In den älteren, personhaft-familiären Verhältnissen junger Völker ist die Königswahl als zentrale politische Entscheidung so sehr Gesamtakt, daß Einstimmigkeit verlangt wird, genau wie bei den meisten Entscheidungen genossenschaftlicher Verbände. Die Bindung ist so eng, daß die Minderheit moralisch gezwungen ist, sich der Mehrheitsentscheidung nicht nur zu fügen, sondern sich ihr bereits im Entstehen positiv anzuschließen. Der Vorgang ist ein so stark existentieller, daß eine Spaltung eintritt, wenn diese Art der Einstimmigkeit nicht erreichbar ist. Dieses System ist nur sehr schwer im Sinne moderner Mehrheitsentscheidung rationalisierbar. Wenn und weil der Übergang zu rationalen Formen nicht gefunden wird, entsteht der Mißbrauch des liberum veto auf dem polnischen Reichstag. Hier wird formal noch im Sinne der alten genossenschaftlichen Einstimmigkeit, sachlich aber gegen ihren Sinn gehandelt, der zugleich eine brüderliche Verpflichtung zum guten Willen einschließt.

In der vorzugsweise in England vollzogenen Entwicklung des Parteiwesens fließen Adelsfraktionen und Religionsparteien als bewegende Kräfte zusammen. Sie werden allmählich in die Form einer bestimmten Verfassung hineingezwungen. Der Begriff der politischen Partei im modernen Sinne bedeutet eine sachliche Fortentwicklung beider. Denn die Glaubensentscheidung und die Zugehörigkeit zu einer Religionspartei ist eine einmalige und dauernde, die Zugehörigkeit zu einer Adelsgruppe ist ein Ausfluß traditionaler Zusammenhänge und willkürliche Machttendenzen. Das politische Parteiwesen setzt jedoch die volle Verfügbarkeit der Gegenstände ihrer Entscheidung und deren zweckhafte Sachlichkeit voraus. So drücken sich auch im Parteiwesen allmählich mit innerer Notwendigkeit die Strukturelemente des Staates aus. In der inneren Ökonomie eines politischen Gemeinwesens stehen sich die natürlichen, schöpfungsmäßigen, partikularen, traditionalen, institutionellen Momente auf der einen, die rationalen, allgemeinen, fortschrifttlichen, eschatologischen auf der anderen Seite gegenüber. Diese Einheit ist häufig unter dem Bilde eines Pendels verstanden und dargestellt worden; dieser Vergleich hinkt wie alle Vergleiche insofern, als es sich ja um eine geschichtliche Fortbewegung handelt, in der das Pendel nie ganz auf

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den alten Punkt zurückkehren kann. Davon abgesehen aber ist das Bild sehr treffend. Ein Pendel kann nur funktionieren, wenn es auf der einen Seite einen festen Aufhängepunkt besitzt, auf der anderen Seite frei schwingt. Das Parteisystem setzt also einen festen Punkt jenseits des Streits in Gestalt eines Grundstocks von Überlieferungen und Überzeugungen voraus, der nicht angetastet werden darf. Es ist dasselbe, was vordem die genossenschaftlich-gemeinschaftliche Verbundenheit war, die den Mißbrauch des Rechts durch eine korrespondierende Verpflichtung ausschloß. Diese Gemeinsamkeit drückt sich meist äußerlich gesehen in der Anerkennung oder Nichtanerkennung der Verfassung aus; dies kann aber zu dem Irrtum verführen, daß es sich nur um die Fragen der Spielregeln handele: in Wahrheit handelt es sich um die der Verfassung zugrunde liegenden und in ihr niemals vollständig ausdrückbaren gemeinschaftsbildenden Werte. Jener Irrtum ist aus einer Anschauung entstanden, die in der Weltgeschichte selbst ein logisch-dialektisches Spiel der Vernunft und des vernünftigen Wettbewerbs der Diskussion sah.

Nur unter der Voraussetzung einer solchen Basis ist ein Ausschwingen, ist eine Ablösung der Parteien in der Regierungsverantwortung ohne Vorbehalt und Ressentiment möglich. Nur die Staaten, in denen dies möglich ist, sind als intakte zu bezeichnen; es sind heute nur noch die angelsächsischen und die skandinavischen.

Ist aber der Aufhängepunkt nicht mehr vorhanden, so muß das Pendel notwendig an der anderen Seite festgelegt werden, damit es nicht ins Bodenlose fällt. Es tritt dann eine mehr oder minder ausdrückliche Monopolisierung, eine Einengung des Kräftespiels auf bestimmte Gruppen ein, welche andere wiederum ausschließt.

Die Zerstörtheit dieses Systems zeigt sich sehr deutlich in der Neigung fast aller französischen Parteien, sich als „links” zu bezeichnen, fast ohne Rücksicht darauf, ob überhaupt eine Rechte vorhanden ist und was sie für Ziele hat; ebenso ist kennzeichnend der Wunsch der Parteien des Bonner Bundestages, möglichst sämtlich in der Mitte oder links zu sitzen. Links und Mitte sind relative Begriffe, die ohne ein Rechts ebensowenig Sinn haben, wie umgekehrt; in einem solchen System geht die Rechte um wie der ruhelose Geist des gemordeten Königs im Hamlet, der seine Sünden im Fegefeuer büßt und die Lebenden schaudern macht.

Jene Monopolisierung tritt entweder in der liberalen Form der Blockbildung, der großen Koalition, oder in der totalitären, der Einheitspartei, auf. Beide Systeme sind dadurch gezwungen, alle Probleme in ihrem eigenen Schoße auszutragen; dadurch erlangen sie unvermeidlich einen institutionellen Charakter. Alle Anliegen, die bei ihnen kein Gehör finden, haben dann keine Aussicht mehr auf Berücksichtigung, weil der Block seine Herrschaft mit der Bewahrung der Verfassung gleichsetzt und bis zu einem gewissen Grade sogar mit Recht. Dadurch wird der Block zu einer zäh verfilzten

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Einheit, deren Undurchdringlichkeit auch harmlose Gegner in die grundsätzliche Opposition treibt. Für die deutsche politische Entwicklung wäre es von unschätzbarem Werte gewesen, wenn 1924 eine Einigung über die Schlesische Reichsreform möglich gewesen wäre. Ganz unabhängig davon, inwieweit die Verfassung tatsächlich geändert wurde, hätte ein solche Einigung in Wahrheit erst eine Basis für ein loyales politisches Zusammenleben geschaffen und jene falsche Gleichsetzung von Koalition und Staat beseitigt. Die Starrheit des deutschen Parteidenkens hat das verhindert. Der umgekehrte Weg, um jeden Preis einen vollen Regierungswechsel zu verhindern, hat durch die Unmöglichkeit, jemals zu einer echten Rechtsregierung zu kommen, sehr viel zur Radikalisierung beigetragen.

Diese Dinge haben sich in der Gegenwart noch wesentlich vertieft und verschärft. Frankreich, Westdeutschland, Italien, die großen Länder mit zerstörter Staatstradition, leben von den Blockbildungen der „dritten Macht”. In ihr finden liberale und sozialistische Kräfte ihren Schnittpunkt und Ausgleichspunkt in dem ausgleichenden statischen Denken des römischen Katholizismus. Während zur Zeit der Reformation der Staat die zerstörte Kirche schützte, gibt es heute nicht die offizielle Kirche, aber das politisch organisierte Kirchenvolk dem zerstörten Staate eine Notordnung, die erst ein politisches Zusammenleben ermöglicht, während rechts und links die Parteien deutlich die Merkmale einer politischen Glaubensgemeinschaft ausgebildet haben. Das Parteiwesen nähert sich in seiner Fortentwicklung wieder seinem Ausgangspunkt, der Religionspartei — und zugleich der um die Macht kämpfenden Adelsgruppe. In dem totalitären Einheitsparteiwesen des Faschismus und Bolschewismus wird die Wahl wieder aus der rationalen, freien Entscheidung zum Gesamtakt einer homogenen, existentiell gebundenen Gemeinschaft. Die Zwangsmäßigkeit und Kunstlichkeit solcher späten, mechanistischen Formen wird dabei sehr deutlich sichtbar, die sie als Produkt von Desintegrationserscheinungen kennzeichnet, die gewaltsam überwunden werden sollen. In Wahrheit werden die Entscheidungen in den blutigen Machtkämpfen der herrschenden Oberschicht ausgefochten, die sich nicht mehr mit dem Schwerte, sondern mit der ideologischen Denunziation bekämpfen und ausrotten. Die politische Gerichtsbarkeit, welche Lehnsuntreue ahndet, wird zur Inquisition auf der Grundlage rationalistischer Dogmatik.1

Die innere Dialektik des Parteiwesens ist also einer Zersetzung, einer Desintegration anheimgefallen. Das Gleiche aber gilt, wie vorher gezeigt, für das Verhältnis des Parlaments zum personalen Element des politischen Lebens, zur politischen Führung. Das Parlament als repräsentative Einheit aller politischen Möglichkeiten eines Gemeinwesens hat ebenso seine Struktur verloren wie die Verfassung als Ganzes. Nun ist die Idee des Parlaments


1 Vgl. die Schrift des Verfassers „Politische Gerichtsbarkeit”.

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als eines geschlossenen, alle Funktionen des Staates aus sich erzeugenden Kreises das Produkt einer bestimmten Metaphysik, die hier ebensowenig interessiert wie an anderen Stellen dieser Arbeit; denn diese beschränkt sich bewußt auf eine strukturelle Untersuchung immanenter Gegebenheiten. Es genügt also hier zu zeigen, daß eine bestimmte Form der Demokratie eine bestimmte Stufe in der Abwandlungsreihe reiner Verfassungstypen darstellt.

Der kontinentale antipersonalistische und antitraditionale Parlamentarismus ist also das Produkt einer Scheidung von Person und Sache, einer Auseinandersetzung, einer Desintegration zweier wechselbezüglicher Elemente, die nunmehr in der Isolierung sich gegenseitig ablösen und zerstören. An die Stelle des Ineinander ist ein Gegeneinander, an die Stelle des Miteinander ein Nacheinander getreten. Indem die Diktatur hinter dem Parlament einherhinkt wie eine Lokomotive hinter dem Zuge, sind die Dinge verkehrt, statt daß die schöpferische Antriebskraft der Persönlichkeit vorangeht.

Wenn nun in der Gegenwart die Monarchie sich nur durch Entäußerung von der Sachentscheidung hat behaupten können, durch die Belastung mit ihr zerstört wurde, so kann dies zwei gegensätzliche Gründe haben: entweder ist die Monarchie in der Gegenwart schwächer geworden oder die Last der sachlichen Entscheidung größer. Beides trifft zugleich zu. In der Tat ist die praktische Tragweite politischer Entscheidungen in den letzten 50 Jahren in eben dem Maße gewachsen wie die technische Beherrschung der Natur und die Dichte der sachlichen Verflechtung aller Lebensbeziehungen. Wenn die Unterschrift von Truman, Stalin und Attlee unter das bloße diplomatische Provisorium von Potsdam 1945 genügt hat, um 15 Millionen Menschen aus ihren rechtmäßigen Wohnsitzen zu vertreiben und 700 Jahre Geschichte Ostdeutschlands zu vernichten, so besitzen diese demokratischen Politiker — von Hitlers Ausrottungspolitik ganz zu schweigen — mehr praktische Macht als irgendein Selbstherrscher seit den Zeiten Dschingis Khans — und die praktischen Wirkungen ihrer Entscheidungen unterscheiden sich auch in nichts mehr von denjenigen eines solchen Herrschers. Mit der praktischen Möglichkeit derartiger Maßnahmen scheint jedoch auch eine bisher für unmöglich gehaltene Bereitschaft zu solchen Entscheidungen entstanden zu sein. Diese Steigerung der tatsächlichen Staatsmacht und die Bereitschaft zu ihrer Anwendung geht mit der fortschreitenden Ablösung monarchischer Staatsformen und traditionaler Gehalte Hand in Hand und parallel. Nicht die Verminderung der Staatsmacht, sondern ihre Vermehrung ist das Merkmal ihrer Rationalisierung. Gerade die französische Revolution hat die Allmacht des Staates nicht aufgehoben, sondern nur in andere Hände gelegt.

Das Bild wäre jedoch unvollständig, wenn wir es nicht zugleich auch unter dem Gesichtspunkt der Diskontinuität betrachteten. Zum menschlichen Leben gehört ebenso wie die Sicherung des Fortbestandes auch die ständige Erneuerung. Diese Diskontinuität wird in der Monarchie durch den

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Generationswechsel gesichert. Der König lebt nicht nur repräsentativ, sondern er stirbt auch repräsentativ — und dies ist mindestens ebenso wichtig. Sein Tod schließt eine Epoche unwiderruflich ab; er kann nicht wiederkehren wie ein gestürzter Oppositionsführer. In einer tragischen Verkettung der Dinge haben die letzten beiden wirklichen Monarchen Europas, Kaiser Wilhelm I. und Kaiser Franz Joseph I., das höchste Alter erreicht, zu lang gelebt für ihre Thronfolger, die imstande gewesen wären, ihren Reichen neue Formen zu geben.

Das Volk dagegen lebt gerade dadurch diskontinuierlich, weil niemals von ihm gesagt werden kann: le peuple est mort, vive le peuple. Seine Generationen gehen ewig fließend ineinander über. Vergangene Fehler und zukünftige Hoffnungen, Böses und Gutes liegt ewig ungeschieden nebeneinander. Darum kann es heute Hosianna und morgen Kreuzige rufen. Hierin liegt viel mehr, als es eine oberflächliche Volksverachtung hat wahrhaben wollen. Es kann so sein, weil es der Urgrund ist, aus dem alles emporsteigt und in den alles zurückkehrt — und sei es auch erst in der Gleichheit des Todes. Nicht allein vor Gottes Thron, sondern schon im Tode und vor dem Gesetze des Volkes sind wir gleich. Deshalb ist das Volk in einem letzten Betracht jenseits von Gut und Böse. Die Entscheidungen und Gestaltungen sind noch in ihm beschlossen und erscheinen angesichts seiner ständigen realen Präsenz zurücknehmbar, während die Monarchie streng an das Gesetz gebunden ist, wonach sie angetreten. Dieser Widerspruch zwischen Geschichte und Geschichtslosigkeit, zwischen Gebundenheit und Führung, der nur wenige und seltene Weichenstellungen gegeben sind, und der Willkür des souveränen Volkes ist eine der tiefsten Tatsachen des geschichtlichen Lebens. Aber kein Verfassungssystem, weder noch der Absolutismus der Führung noch der Absolutismus des Volkes vermag diesem Widerspruch auszuweichen oder ihn ein für allemal zu lösen.