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Zweiter Teil

Teleologie des Staates

Zwecke, Funktionen und Stände

 

4. Kapitel

Die Staatszwecke: Machtzweck — Wohlfahrtszweck — Rechtszweck

 

Mit der Frage nach der Teleologie des Staates kann und soll nicht stillschweigend vorausgesetzt werden, daß der oder die Zwecke des Staates ein dessen ontologische Merkmale und Wesenheit transzendierendes Moment seien. Mit dem Begriff des Telos, des Ziels, ist der Staat in die Reihe der Erscheinungen irdischer Vergänglichkeit, der Zeitlichkeit eingereiht. Daß er ein ihn rechtfertigendes Jenseits besitze, ist damit noch nicht behauptet und bewiesen; ob er es besitzt, kann gerade erst im Laufe der Untersuchung geklärt werden. Gerade der Ertrag der ontologischen Betrachtung nötigt zur Vorsicht. In der Denkform zeitlicher Betrachtung hat der Staat wie ein Lebewesen Schöpfung, Entfaltung und Ende; auf der Ebene der reinen Ontologie dagegen kann man von dem Merkmal der zeitlichen Entwicklung ganz absehen und erkennt in seiner Unableitbarkeit, Ausschließlichkeit und Unaufhebbarkeit drei Seiten des gleichen Wesens, nicht als Phasen, sondern als gleichzeitige Ausdrucksformen derselben Erscheinung: der Eigenständigkeit des Staates als eines Gemeinwesens umfassender Art.

Der Begriff Staat ist freilich relativ jung und erst von der Renaissance ab nachweisbar. Er ist daher kaum als Frucht urtümlicher Erkenntnisse, traditionaler Weisheit zu werten. Als status rei publicae tritt er in der antiken Literatur nur gelegentlich auf. Status als Staat, ferner als „Stand”, als politisch-soziale Lage und besondere personenrechtliche Qualifikation, und schließlich als Zustand im Sinne der verfassungsrechtlichen Zusammenordnung politischer Faktoren sind drei Seiten desselben Begriffes. Der allgemeine Begriff Status steht seltsam schillernd zwischen den beiden letzteren. Er ist der Staat schlechthin, keine Relation, sondern ein personenartiges Ganzes. Von dem einen, dem Stand, unterscheidet ihn der Mangel an jeder speziellen inhaltlichen Bestimmung, wie sie Bauernstand, Ehestand oder jeder sonst denkbare Gebrauch des Begriffs enthält; von dem anderen trennt ihn seine einheitliche Personalität. Zugleich ist der Begriff des Staates jenen beiden anderen sachlich-inhaltlich eindeutig vorgeordnet. So erscheint der Begriff des Standes als die Entfaltung des Staates in der Vielheit und Besonderung politischer Gruppen, während die Verfassung nur seinen Aggregatzustand darstellt. Ihre Festigkeit oder Beweglichkeit, ihre Dichte oder Weite sagt über den verfaßten Inhalt nichts aus; auch sie ist insofern en quelque

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façon nulle. Beides zusammen deutet aber auf sein Wesen als umfassender Eigenständigkeit. Der sonst so reichen deutschen Sprache fehlt ein Wort, welches den Gesamtinhalt des lateinischen Wortes status in der Verbindung von Staat, Stand und Verfassung zusammenfassend wiedergibt.

Was der Staat so umfaßt und verfaßt, will er erhalten; unbefangen wie das Leben selbst will er sich selbst. Hierzu sagt Smend in seiner Schrift „Verfassung und Verfassungsrecht” (S. 45.):

„Der Staat ist nicht ein reales Wesen an sich, das dann als Mittel benutzt würde, um außer ihm liegende Zwecke zu verwirklichen, sondern es ist überhaupt nur Wirklichkeit sofern er Sinnverwirklichung ist; er ist mit dieser Sinnverwirklichung identisch. Er ist daher also nicht durch teleologische Beziehung auf außer ihm liegende Zwecke zu erklären und zu rechtfertigen, sondern in seiner Substanz als Wertverwirklichung zu verstehen.
Das leuchtet ohne weiteres ein für die Seiten des staatlichen Lebens, die unmittelbare Folgerungen seines Wesens als souveräner Willensverband sind. Machtvolle Herrschaft und Durchsetzung nach innen und außen wird man am leichtesten analog dem psychophysischen Leben des Einzelmenschen als eigenes Wesen des Staates gelten lassen. Weil der Staat auf seinem Boden der Herr sein muß, weil der vitale Machttrieb des Einzelnen durch Anteil an diesen herrschenden Gemeinwesen befriedigt und weil nur so ein Teil zugleich des aufgegebenen Sinnzusammenhangs der Kultur wirklich wird, — deshalb ist der Staat nur wirklich, wenn er im Inneren von rechtswegen und durch tatsächliche Unwiderstehlichkeit seiner Macht herrscht, und wenn er nach außen zu siegreicher Verteidigung imstande ist. a.a.O. (Anm. 1): Es ist deshalb ein angemessene Wesensausdruck eines jeden Staates, wenn er seine staatlichen und insbesondere militärischen Symbole mit Siegessymbolen verbindet und Anatole France übt nur mit halbem Recht seinen Witz an der Neigung jedes Heeres, sich für das erste der Welt zu erklären — für seine Aufgabe ist es seinem Sinne nach unüberwindlich und insofern das erste, zugleich ein nicht unangemessener Ausdruck der wesensmäßigen ,Unbesieglichkeit des Kulturnationen’. (Wieser, Gesetz der Macht, S 280, 293).”

Dennoch können und müssen diese Erscheinungen in einem noch etwas abweichenden Sinne unter dem systematisch unabweisbaren Gesichtspunkte der Teleologie des Staates gesehen werden. Smend sagt selbst an späterer Stelle (a.a.O. S. 82f.):

„Mit innerem Recht setzt sich in den Staatszwecktheorien in immer neuen Wendungen immer wieder die alte Lehre von der Dreiteilung in Rechts-, Macht- und Wohlfahrtszweck des Staates durch. Sie ist staatstheoretisch unausweichlich, sie stellt sich aber auch immer mehr als rechtstheoretisch unentbehrlich heraus. Der Sinn großer Rechtsbereiche tritt nur so in das richtige Licht. Das haben vor allem James Goldschmidts Arbeiten zum Verwaltungsstrafrecht gezeigt. Denn ihr Grundgedanke ist doch der, daß neben dem Rechtswert als Beherrscher eines Teils des öffentlichen Strafrechts, vielmehr der öffentlichen Funktionen überhaupt, der ,Verwaltungswert’ als ein ganz anderes regulatives Prinzip für einen anderen Teil öffentlicher Funktionen, nicht nur des Strafrechts, steht. Dieser Verwaltungswert aber ist nichts wesentlich anderes als der sonst meist sogenannte

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Wohlfahrtszweck. Und neben diese beiden Werte und ihr Verhältnis tritt ein dritter, dessen Besonderheit gerade auch in der Projektion auf juristische Probleme deutlich wird. A. Wegener hat ihn überzeugend nachgewiesen in der Sonderart gewisser justizförmiger Funktionen, die sachlich aber nicht wie sonstige Justiz dem Rechtswert dienen, sondern der Machtdurchsetzung des Staates: Bestrafung bestimmter Kriegsverbrecher, Spione usw. ... Carl Schmitt hat in der Eigenart der Diktatur und ihrer Akte, in der tiefen Wesensverschiedenheit insbesondere der ,Maßnahmen’ des Artikel 48 der Reichsverfassung von den ,in einem spezifischen Sinne rechtlichen Normen und Akten’ des Staates aufgezeigt. Sein Bereich geht aber viel weiter: Es ist der Staat als beherrschender Wert, wie es Jellinek ausdrückt, seine ,Erhaltung und Stärkung’, ... die neben den Rechts- und Wohlfahrtswert (oder Verwaltungswert) als dritter gleichgeordnet tritt ...”

Damit haben wir den Anschluß an die Ausführungen über die eschatologische Souveränität gewonnen. Im systematischen Zusammenhang der drei Staatszwecke steht der Machtzweck logisch, nicht wertmäßig voran. Jedem „Wie” der staatlichen Existenz ist das „Daß” und „Ob” dieser Existenz grundsätzlich vorgeordnet. Aber es fragt sich damit auch von vornherein, bis zu welchem Grade es die anderen Werte verdrängen und beiseitestellen darf. Wenn ein radikaler politischer Ideologie wie Ernst Nikisch die Befreiung Deutschlands vom Joch des westlichen Kapitalismus und des Versailler Vertrages von der bedingungslosen Zusammenarbeit mit Sowjetrußland erhoffte, auf die Gefahr der völligen Zerstörung aller traditionellen und freien Kulturwerte, so zeigt dies am deutlichsten die ganze Problematik des Machtproblems, des Problems des „Ob”. Es wird fraglich, ob es Sinn hat, ein Leben zu erhalten, wenn es damit gerade seinen spezifischen Gehalt, seinen Wert, verliert. Die besondere Tragik der deutschen Existenz scheint darin zu liegen, daß es immer nur die Wahl zwischen dem „Ob” und dem „Wie” politischer Existenz, zwischen Einheit und Freiheit hat, daß ihm niemals beides als unangefochtener Besitz zuteil wird. Auch heute könnte Deutschland seine zerstörte Einheit nur wiedergewinnen, wenn es sich den Sowjets an den Hals würfe, aber um den Preis seines Wesens und jeder menschlichen Freiheit; und umgekehrt muß es selbst das Minimum dieser Freiheit mit dem Verzicht auf die Einheit erkaufen, zu deren Wiederherstellung die Westmächte außerstande, zum Teil auch gar nicht willens sind.

Der Satz „lieber tot als Sklav” ist als politische Maxime von einer seltsamen Zweischneidigkeit: Er ist vergleichsweise leicht für den einzelnen zu verwirklichen, schwer für die Nation, die in ihrem Bestande ja doch irgendwie überlebt, aber nur geschwächt um die aktive Kraft ihrer heroisch-pathetischen Vorkämpfer — und ihr bleibt doch auch im Elende noch die Hoffnung, einmal wieder in Freiheit das Gesetz ihres Lebens von neuem zu entfalten.

Aber geschichtliche Entscheidungen werden nicht frei nach ewigen staatstheoretischen Prinzipien, sondern unter dem harten Zwange getroffen, von

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zwei Übeln das kleinere zu wählen. Von jeher hat sich ein Volk eher der Unfreiheit unter eigenen Führern als den goldenen Kette einer trügerischen Freiheit unter fremder Herrschaft hingegeben. Der harte Zwang jedoch der Unterordnung aller Lebensfunktionen unter den einen Zweck der Aufrechterhaltung der politischen Existenz als solcher kann neben einer unerhörten Steigerung der Leistungen über eine mönchische Kargheit zu Verengungen und Verhärtungen führen, die allen spartanischen Lebensformen eignen. Bis zu einem gewissen Grade jedoch muß jeder Staat seine Kräfte für dieses „Ob” organisieren. Es ist unbillig, vom Standpunkt der bisher unangreifbaren Vereinigten Staaten und der insularen Lage Englands, dieses Moment verächtlich zu kritisieren, während andere Völker unter dem Druck ewiger Gefährdung in den Waffen schlafen müssen.

Machtzweck und Wohlfahrtszweck sind keine einander entgegengesetzten, einander ausschließenden oder einander übergeordneten Werte, sondern reziproke oder Grenzwerte. Macht bedingt Wohlfahrt und Wohlfahrt bedingt Macht. Ein Machtstaat, der spartanisch jede Wohlfahrt hintanstellt, verengt sich bis an den Rand der Verödung, ein Wohlfahrtsstaat, der eudämonistisch jedermann das Recht auf Glück zu gewährleisten unternimmt, verfällt der opferbereiteren Kraft des Gegners, dem gegenüber er sich schutzlos gemacht hat. Es ist kennzeichnend für die Gegenwart und ihr verengtes eingleisiges Denken, daß man immer nur das eine oder das andere tun zu können glaubt. Der Mensch der Arktis, der, in jeder Minute in schützende Pelze gehüllt, um seine karge Nahrung ringen muß, ist ebensowenig der Träger großer fruchtbarer Entwicklungen wie derjenige in den Tropen, in deren erschlaffender Hitze die Natur in ungeheurer Fülle ihre Gaben im Überfluß verschenkt. Auch dieser Überfluß des Lebens ist tödlich. Deshalb sind die großen Kulturentwicklungen von den Völkern der gemäßigten Zonen getragen worden — und oft sind Völker zugrunde gegangen, die von den kargen Hochländern in die reichen Niederungen herabstiegen.

Das duldende Überdauern der Fremdherrschaft ist ein ebenso gefährliches Unternehmen wie der heroische Widerstand um jeden Preis; die Chinesen haben die Mandschus eingeschmolzen und überwunden; die Russen scheinen aus der Tatarenherrschaft schwere dauernde Schäden und Wesensveränderungen davongetragen zu haben.

Macht und Wohlfahrt müssen in dialektischen Verhältnis verstanden werden, in welchem beide Elemente einander stützen und tragen, oder aber gegeneinander gekehrt und isoliert einander zerstören. Man kann beide Zwecke nur sehr bedingt und annäherungsweise mit Außen- und Innenpolitik gleichsetzen, obwohl eine gewisse Tendenz besteht und der Vergleich wenigstens etwas zum Verständnis beitragen kann.

Am schwierigsten ist daas Verhältnis des dritten Staatszwecks zu jenen beiden zu bestimmen. Das Recht ist der Ausdruck und Niederschlag derjenigen präjuristischen Wertsetzungen, derjenigen Wertvorstellungen, auf

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denen die politische Gemeinsamkeit beruht, auf die sie gegründet wurde und gegründet bleiben muß. Jede Gemeinschaft kann nur mit den Mitteln erhalten werden, mit denen sie geschaffen wurde; diese sind ihr Gesetz. Welche Werte dies sind und sein können, interessiert hier nicht. Aus jenem Grund aber ist nach dem Worte Montesquieus die Jurisdiktion immer „en quelque façon nulle”, sie besitzt nicht wie jene sozusagen Fleisch und Blut, nur einen abgeleiteten, keinen Eigenwert und kein Eigengewicht. Auffälligerweise findet Carl Schmitt in seiner Verfassungslehre keinen Schlüssel für den unbestimmt empfundenen hintergründigen Tiefsinn dieses Wortes. Das Rechtsbewußtsein, um dessen Verwirklichung es hier geht, stellt gewissermaßen den Pegelstand jener beiden dar. In Ebbe und Flut ist immer ein Meeresspiegel da, aber seine Höhe ist verschieden. Er läßt keine Unebenheiten zu, nicht die Behandlung des Gleichen als ungleich. Sein Gesetz bewirkt, daß keine Welle der Gewalt sich über ihn erhebt, ohne daß ihr ein Wellental der Unterwerfung auf dem Fuße folgt. Der Spiegel besitzt keinen Maßstab und Gehalt, der den des Meeres überschreitet. Dieses Gesetz gilt für alle Menschen innerhalb des Staates wie für alle Völker, die miteinander in Gemeinschaft treten. Mit der Frage transzendent-hierarchischer Ungleichheit oder immanenter Gleichheit hat diese Frage nichts zu tun, um jedes Mißverständnis auszuschließen; es handelt sich immer um das Gesetz derjenigen Einheit, innerhalb deren dieser Ausgleich des Rechts erfolgt. Nicht um die inhaltliche Gleichheit der Rechte, sondern um die Allgemeinheit der Rechts- und Sittenordnung geht es hier. Wir haben andere Wertbegriffe, als der feudalen Gesellschaftsordnung zugrunde lagen; aber wir können ihr nicht für ihre Zeit den Rechtscharakter kraft allgemeiner Anerkennung abstreiten. Solche Versuche werden freilich bei der unbeschränkten Naivität politischen Denkens immer wieder gegenüber früheren oder fremden Rechtszuständen versucht. Der Rechtswert als Gegenstand staatstheoretischer Darstellung muß also von jedem denkbaren Staatsgehalt, von jeder materialen Staatsidee begrifflich getrennt werden. Der Rechtscharakter hört nicht dort auf, wo ungleiche Rechte vorhanden sind, sondern wo der eine sich nicht mehr an das gleiche Gesetz gebunden hält, dessen Respektierung er von dem anderen fordert; das ist das Kennzeichen aller Willkürherrschaft, daß sie sich selbst vom Gesetze des Staates ausnimmt. Auch unterschiedliche Rechtsstellungen haben ihren Rechtscharakter in der Gegenseitigkeit der Rechtsunterworfenheit, in der Zweiseitigkeit des Rechts. Wenn damit der inhaltliche Charakter des Rechts als Mutualismus, als formale Gegenseitigkeit, gekennzeichnet wird, so ist das durchaus kein Beweisgrund gegen diese Auffassung. Die Frage, wieweit aus der Natur des Menschen ein unabdingbarer materialer Gehalt des Rechtsbegriffs gegeben ist, gehört systematisch nicht in die Staatslehre, sondern in die Rechtslehre. Das Recht steht hart zwischen den verschiedenartigsten denkbaren materialen Gehalten und der nackten Gewalt der Willkür, nicht als formale Größe, sondern gerade

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als echter Grenzwert. So ergibt sich auch in der systematischen Struktur der Staatszwecke eine doppelte Dialektik, eine solche zwischen Machtwert und Wohlfahrtswert als materialem Gehalt untereinander, und zwischen ihnen beiden als materialen Gesamtinhalt des Staatszwecks und dem Grenzwert des Rechts. Dieses aber steht mit dem flammenden Schwert an der Grenze des wohlbebauten Gartens sozialer Kultur, um den ringsherum die räuberische Wüste der Gewalt lauert.

Dennoch steht jede denkbare Rechtsordnung unter dem kritischen eschatologischen Maßstab der Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit, die nach dem Schriftwort die Völker erhöht und ihnen langes Leben verheißt, und die zeitliche Gerechtigkeit unter dem der endzeitlichen. Die Dialektik zwischen dem Recht und dieser jedes Recht transzendierenden Gerechtigkeit gehört der Rechtslehre an. Gerechtigkeit ist für das Recht das Gleiche wie das Recht für den Staat: nicht das Erste, sondern das Letzte.