IV.

Aus dem Gesagten ergeben sich weitreichende grundsätzliche und praktische Folgerungen:

A. Grundsätzliche Folgerungen.

1. Das Problem der pol. Ger. ist mit juristischen Begriffsmitteln ohne theologische Kategorien phänomenologisch nicht zu erfassen. Die Rechtswissenschaft hat ihr rechtfertigendes Bewußtsein in der Theologie sich gegenüber, in der Philosophie nur so weit, als diese als Geschichtsphilosophie theologieförmig ist. Daraus erklärt sich die Kraftlosigkeit der akademischen Rechtsphilosophie. Es gibt keine autonome Rechtswissenschaft.

2. Pol. Ger. gehört in den Bereich des Machtproblems; sie macht eine saubere Trennung absoluter sittlicher und relativer religiös-politischer Pflichten erforderlich. Dies ist jedoch nur auf der Grundlage der Dialektik von Gesetz und Evangelium verständlich.

3. Pol. Ger. ist eine unvermeidliche staatliche Funktion. Aber politische Urteile sind nur insoweit legitim, als sie Maßstäbe echter geschichtlicher

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Entscheidung zum Ausdruck bringen. Die geschichtliche und metaphysische Verantwortung dafür kann niemandem abgenommen werden. Aber da ihr Zweck die Sicherung der gefährdeten und die Wiederherstellung der zerbrochenen Ganzheit ist, muß sie versuchen, mit dem geringstmöglichen Opfer der Ausschließung auszukommen. Das ideologische Schisma, an dem die kontinentalen Demokratien durch den fortgesetzten Bruch ihrer politischen Tradition leiden, macht eine legitime pol. Ger. fast unmöglich und kann nur durch Wiederherstellung einer echten Willenseinheit überwunden werden.

4. Die Kritik der Stufung politischer Urteilsgründe zeigt mindestens in der dritten Phase (Fall 6 und 7) das Hervortreten religiöser Kategorien. Damit ist die Grenze echter rechtlicher Möglichkeiten überschritten. Dem muß widerstanden werden. Diese Grenzüberschreitung hat zur Ausrottung ganzer Völker und sozialer Schichten in allen Revolutionen seit der französischen geführt. Sie bedeutet einen unbefugten Eingriff in Gottes Schöpfung ebenso wie eine Vorwegnahme des göttlichen Endgerichts.

5. Der Christ steht unter einem unbedingten persönlichen Herrschaftsanspruch. Er muß von da aus die politischen Gegensätze, die aufzuheben ihm verwehrt ist, entscheidend relativieren und jedem Versuch entgegentreten, die Herstellung bestimmter diesseitiger Zustände als ein absolutes Ziel menschlicher Bestimmung aufzufassen und von da aus politische Urteile als sittliche zu fällen. Schon die bloße Existenz der Kirche ist ein ständiger Protest gegen jeden solchen Versuch. Macht und Gesetz sind allein in Gott eins. Christus hat ihren Gegensatz in der Welt überwunden, indem er auch das Gesetz der Macht nicht aufhob, sondern im Opfertod erfüllte.

B. Praktische Folgerungen.

1. In der mittleren Stufe (Fall 4 und 5) besteht eine Reihe grundlegender konstruktiver Schwierigkeiten:
Entsprechend der geschichtlichen Staatspraxis vor der Epoche des bürgerlichen Rechtsstaates setzt sich heute zunehmend die Auffassung durch, daß für den Mißbrauch politischer Macht in mehr oder minder weiter Ablösung von den subjektivistischen Grundsätzen der strafrechtlichen Schuldlehre strafrechtlich gehaftet werde. Dieser Tatbestand muß noch genau durchdacht werden. Seine Durchführung scheitert im internationalen Bereich daran, daß es keine legitime Macht gibt, die diese Gerichtsbarkeit ausüben kann. Ein neutrales Gericht unter Einschluß der Beteiligten, d.h. in Wahrheit ein Gericht der gesamten Völkerrechtsgemeinschaft, hätte die Legitimation, besitzt aber nicht die faktische Macht; ein Gericht der Sieger hat die Macht, aber nicht die Legitimation.

2. Soweit trotzdem auf der Grundlage der faktischen Macht Verfahren durchgeführt werden, die infolgedessen immer dem Einwande des „Tu quoque” und der Parteilichkeit moralisch unterliegen, sollte beachtet werden, daß nur echtes politisches Handeln so gerichtet werden kann. Politisch handelt nur, wer die politische Entscheidungsfreiheit wirklich besessen und ausgeübt hat. Denn politisch handelt nur, wer frei, emotional aus einer geschichtlichen Zielsetzung handelt, nicht der, für den die Weiche durch die Vorentscheidung der Machthaber bereits gestellt ist. Er hat ebensowenig die Intention politischen Handelns wie der behandelnde Arzt die Intention unzüchtiger Berührung. Die Erkenntnisse der finalen Handlungslehre in der modernen Strafrechtstheorie können hier unbeschadet ihrer sonstigen Bewertung nützlich sein. Es gibt zwar ein Recht und eine Pflicht, die Ausführung krimineller Befehle zu

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verweigern, nicht aber eine Pflicht politischen Widerstandes. Denn die Frage, zu wessen Gunsten dann dieser Widerstand geleistet wird, ist keine absolute, sondern eine völlig relative. Der gefährliche Apparatcharakter des modernen Staates kann nicht dadurch aufgehoben werden, daß man nachträglich die einzelnen, in diesen Apparat zwangsläufig eingespannten Menschen haftbar macht. Denn ihm steht ja nur ein genau gleicher Apparat gegenüber. Solche Versuche sind nur auf Grund der oben grundsätzlich abgelehnten pseudoreligiösen Theorien von der existenziellen und Gesamtschuld möglich. Zur Ahndung krimineller Verbrechen reichen die Grundsätzen des allen Völkern gemeinsamen ordentlichen Strafrechts aus.

3. Die Fiktion, daß die obsiegende Macht die Souveränität schon vor ihrem Siege besessen habe und daß jeder Widerstand gegen sie von vornherein unrecht gewesen und damit unsittlich, keine freie politische Entscheidung gewesen sei, ist eine Folge der Zerstörung konkreter personaler Tradition und deren Ersetzung durch dogmatische universalistische Vorstellungen. Diese puritanisch-jakobinische Selbstgerechtigkeit ist im tiefsten Grunde unfrei und führt zu den unerträglichsten Ungerechtigkeiten. Sie macht die heilsame Bedeutung einer unverletzten — monarchischen wie demokratischen — Staatstradition und Legitimität sichtbar.

4. Die Versuche, den politischen Bestand der Demokratie mit den Mitteln der pol. Ger. zu schützen, leiden an einem inneren Widerspruch. Die liberale Demokratie kann folgerichtig nur Gewalthandlungen unter Strafe stellen, muß aber die politische Willensbildung in jeder beliebigen Richtung freilassen. Unternimmt sie es jedoch, einen gewissen Ideenbestand als tragende Grundlage sicherzustellen, so wird sie gezwungen, eine sehr fragwürdige politisch Dogmatik zu entwickeln, zeitbedingte geschichtliche Urteil zu prinzipiellen Erkenntnissen zu stempeln und zu kanonisieren. Dieser Versuch ist meistens unschwer gedanklich ad absurdum zu führen. Die römische Kirche ist der Selbstzerstörung durch die Inquisition nur durch die sehr vorsichtige jahrhundertelange Entwicklung ihres Dogmenbestandes und eine trotz aller Härten immer noch sehr vorsichtige Handhabung dieser ultima ratio entgangen. Aber auch sie hat immer den Einwand gegenübergestanden, daß der freie Akt des Glaubens nicht von Menschen gerichtet werden kann.

5. Pol. Ger. als unvermeidbare Funktion sollte demgegenüber in der klaren Erkenntnis ihrer zwei Aufgaben vollzogen werden.
Die erste ist die Haftbarmachung für Machtmißbrauch. Worin dieser besteht, ist a priori tatbestandsmäßig nicht festlegbar. Die Gefahr, daß hier der eine Machtmißbrauch durch den anderen bekämpft wird, ist vorhanden: ihr ist aber nicht durch die liberale Leugnung des Problems zu begegnen. Wo der Wille zu verantwortlichem und rechtlichem Handeln noch gegeben ist, kann eine solche Klärung sehr nützlich sein; wo er gänzlich fehlt, wie bei den Massenverurteilungen der Kriegsgefangenen in der Sowjetunion, sind solche Erwägungen selbstverständlich nutzlos.
Es kann nicht schaft genug betont werden, daß hier nur bei wirklicher Entscheidungsfreiheit und politischem Handlungswillen geurteilt werden kann. Die Folgerungen gehen völlig quer durch die bisherigen Maßstäbe.

Die zweite Funktion der pol. Ger. liegt in der Neuintegration. Insoweit schließt sie von vornherein im Gegensatz zur Haftung für Machtmißbrauch begrifflich jede Strafe aus. Die Sühneurteile der Spruchkammern, die entsprechende Urteile der Spruchgerichte auf Gefängnis oder Geldstrafe mit ihren grotesken Schuldkonstruktion sind von der Theorie der pol. Ger. aus

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völlig sinnlos und damit auch objektiv rechtswidrig. In diesem Rahmen können nur Einschränkungen der politischen Rechte verfügt werden (similis similibus). An Stelle einer fragwürdigen und im Grund immer trennenden, sich selbst zersetzenden ideologischen Dogmatik steht pol. Ger. auf der Grundlage eines geschichtlichen Urteils, dessen Rechtskraft sie gegen den illegitimen Versuch der Wiederaufnahme des Verfahrens verteidigt. Das gilt für den Schutz des Bestehenden wie des Werdenden.

Es kann sich dabei eigentlich nur um wenige präjudizielle und grundsätzliche Entscheidungen handeln. Diese aber können auch in der Demokratie nicht von einem zufälligen Gremium bewährter Parteigenossen der Regierungspartei, sondern von einer klugen und geistig scharf disziplinierten Elite gefällt werden. Der legitime Ort dieser Entscheidungen ist das Oberhaus oder die ihm entsprechende Verfassungseinrichtung, unmittelbar oder durch Delegation von Kommissionen. Das englische Oberhaus hat bis jetzt seine Funktion als Gericht nicht völlig verloren. Im übrigen kann — ähnlich wie in der Kriegsgerichtsbarkeit — über Haftung für politische Schuld nur von Männern entschieden werden, die in ähnlichem Rahmen Verantwortung zu tragen berufen gewesen sind.

6. Die ordentliche Gerichtsbarkeit vergibt sich nichts, wenn sie sich für solche Entscheidungen als durchaus inkompetent erklärt. Man könnte eher daran denken, ihr die Möglichkeit zu eröffnen, politische Beleidigungsprozesse, in denen der politische den strafrechtlichen Unrechtsgehalt weit übersteigt, an die pol. Ger. zu verweisen. Wohl aber ist die Zuziehung einer Anzahl höchstqualifizierter Richter zu einem solchen Gerichtshof erforderlich, um die Nüchternheit sachlicher Feststellungen und die Wahrung der Prozeßform sicherzustellen. Die Politiker sollten lieber, statt demagogisch den Richterstand zu verunglimpfen, im Staatsgerichtshof die ihnen selbst zufallende Verantwortung übernehmen; denn politische Gerichtsbarkeit ist politische Entscheidung und mit Gesetzesnormen nicht vorwegzunehmen. Daß dieser so gern und leicht beschimpfte, praktisch wehrlose Richterstand trotz aller politischen Eingriffe in seinem Kern intakt ist, zeigt sich am deutlichsten in der Tatsache, daß jedes System ihn auf seine Art politisch zu mißbrauchen versucht. Wer auch nur die geringste Kenntnis der Justiz besitzt, sollte das Maß der — milde gesagt — bitteren Ironie oder ironischen Bitterkeit kennen, mit welchem die Richter diese Angriffe als eine unvermeidliche Berufsgefahr auf sich nehmen.

7. Während die Rechtswissenschaft schweigt, schaffen Politiker in vollkommen naiver Unschuld, ohne Klärung der Voraussetzungen und Folgen politische Straf- und Verfahrensgesetze. Sie vollziehen dabei mit lehrreicher Folgerichtigkeit die psychologischen Reaktionen, die je nach der Stärke des politischen Pathos in der oben geschilderten Schichtung mehr oder minder tief greifen. Diese schöne Unbefangenheit mitten in erschütternden geschichtlichen Entscheidungen, die primitive Zwangsläufigkeit dieser psychologischen Vorgänge, die simple List, mit der die Unvernunft diese angeblich so bewußten und aufgeklärten Männer überwältigt, gehört zu den seltsamsten Schauspielen auf dem großen Welttheater. Von dieser blinden Naturkraft des Hasses aber hat das Schicksal von Hunderttausenden unbescholtener, tüchtiger und ehrliebender Menschen, ja mehr noch, die Markierung des geschichtlichen Schicksalsweges der Nation in die Zukunft abgehangen und hängt noch weiter ab. Die Summe der in Jahren von der ordentlichen Gerichten gegen echte Rechtsbrecher verhängten Strafen ist gering gegen die Tragweite der neuerdings von politischen Gerichten aller Art verhängten Maßnahmen. Zugleich korrumpiert die Vermischung von politischen und sittlichen Urteilen die Moral des Volkes und untergräbt die dringend der Schonung und Pflege bedürftige Autorität der

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Gerichte. Alles dies zusammengenommen sollte Grund genug sein, mit dem sinnlosen Umsichschlagen innezuhalten, sich endlich mutig zu den notwendigen Maßnahmen zu bekennen, ihnen den zukommenden Rang einzuräumen und dafür ebenso entschlossen den Geist des Hasses und der subalternen Niedertracht, der parteipolitischen, konfessionellen und klassenkämpferischen Mißbrauch dieser Dinge aus den Parlamenten, der Presse und der politisierten Bürokratie zu vertreiben.

Ein Verwaltungsrichter äußerte den Gedanken, wir ständen hinsichtlich der pol. Ger. an derselben Stelle wie z.Zt. Gneists, als dieser die Schaffung einer gesonderten Verwaltungsgerichtsbarkeit trotz aller Anfeindungen und Mißverständnisse vertrat. Die Eigentümlichkeit der pol. Ger. scheint mir diesen bestechenden Gedanken zu widerlegen, aber vielleicht kann er doch zu einer grundsätzlichen Besinnung der Öffentlichkeit und einem Erwachen der Rechtswissenschaft helfen. Wir können unserer Forderungen in zwei Punkten zusammenfassen:
a) Pol. Ger. muß in ihrer Unausweichlichkeit und zugleich in ihrer geschichtlich-politischen Verantwortung erkannt und bejaht werden.
b) Pol. Ger. muß aus ihrer eigenen Struktur verstanden und in sauberer Trennung von der ordentlichen Gerichtsbarkeit vollzogen werden.

Nur so, nicht auf Grund falscher rechtsstaatlicher Analogien kann pol. Ger. davon bewahrt werden, durch die dämonische Kraft des Hasses zu einem Instrument der politischen Selbstzerstörung zu werden.