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B. Die Kirche

 

I. Der katholische Kirchenbegriff

 

1. Zur Begriffsbestimmung

„Kirche” gemäß katholischer Lehre ist die „sichtbare” Gemeinschaft der Getauften1). Diese begrifflich bestimmbare Gemeinschaft stellt den „unsterblichen Leib Christi” dar. „Kirche” in katholischer Sicht findet immer, überall und allein in Christus ihren Ursprung. Sie gründet auf göttlichem Willensakt2).

„Tu es, Petrus, et super hanc petram edificabo ecclesiam meam” (Matthäus, 16, 18).

Die Aussagen zum „Begriff” der katholischen Kirche weisen durch die Zeiten eine bemerkenswerte Geschlossenheit auf. Sie mögen gegebenenfalls eine Seite der Kirche besonders ansprechen. Niemals aber widersprechen sie sich im Prinzipiellen. In jeder Begriffsbestimmung tritt der der katholischen Kirche eigene übernatürliche Wesenszug zutage: die Kirche als göttliche Stiftung, als das Reich Gottes auf Erden.

„Kirche” bleibt auch in der aspektmäßigen Gliederung in triumphierende, streitende und leidende Kirche3) die „eine” Kirche, von der Bellarmin sagt: „Nostra sententia est, ecclesiam unam tantum esse non duas”.4) — Bei Bellarmin erreicht die begriffliche Durchbildung der Aussage über Kirche eine Intensität, die in den Begriffsbestimmungen bis heute fortwirkt. Direkt auf ihn zurück geht das Erfassen der „Kirche” als

„Gemeinschaft von Menschen, welche durch das Bekenntnis desselben Glaubens, durch Empfang derselben Sakramente und unter Leitung von Oberhirten mit dem Papste an der Spitze, die ihre Sendung auf die Apostel zurückführen, das Reich Gottes auf Erden bilden”5).

Der Begriffsaufbau Bellarmins ist zu spüren in den Definitionen Algermissens6), unter denen diejenige „in kürzerer Form” lautet:

„Die Kirche ist der mystische Leib Christi, der von der Gemeinschaft der durch den Glauben und die Sakramente mit Christus als dem Haupte verbundenen Menschheit gebildet und durch die Gnade des Heiligen Geistes und den Dienst der kirchlichen Ämter, besonders des Oberhauptes als des sichtbaren Stellvertreters Christi, erhalten und zum Vollwachstum Christi ununterbrochen belebt wird.”7)

Ist der Blick stärker auf die Innenseite gerichtet, erscheint die katholische Kirche als


1) Koeniger-Giese, Grundzüge d. kath. KR u. des Staatskirchenrechts, S. 4.
2) Vgl. Holböck, KR I., S. 46, Liermann KR, S. 24.
3) Zur ecclesia triumphans und ecclesia militans: Hauck, Sohm und Tolstoi, S. 23, 24; vgl. Koeniger-Giese a.a.O., S. 4.
4) Zitiert nach Hauck a.a.O., S. 27, Anm. 77.
5) Holböck a.a.O., S. 45.
6) Hauck nennt sie „Die lückenloseste moderne Definition und ,Begriffsbestimmung der Kirche’”; Hauck a.a.O., S. 30.
7) Algermissen, Konfessionskunde, S. 59.

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„das in hierarchischer Ordnung lebende neue Gottesvolk zur Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden”8).

Eine Hervorhebung der institutionellen Seite führt zu dem Begriff der

„von Christus gegründeten vollkommenen Gesellschaft, in welcher und durch welche alle Menschen das ewige Heil erlangen”9).

Im katholischen Kirchenbegriff liegt die Tendenz zur Identifikation von Kirche und Reich Gottes10) und, durch den Gedanken der Hierarchie, der Zusammenfall von Kirche und Episkopat11) beschlossen.

„Kirche” als una sancta ecclesia catholica wird deckungsgleich dem „Christentum”, welches bedeutet, wie Brockmöller jüngst ausführt, „die Weiterführung der Menschwerdung Gottes, mit der ein ganz neues Leben in die geschichtliche Welt eingetreten ist”12).

Dieser Hinweis auf das „Werden” bedarf der besonderen Hervorhebung in der Ansprache Katholischer „Kirche”. Ihr Wesen macht drei tragende Pfeiler sichtbar: die Lehre, die Gnadenmittel und die oberste Gemeinschaftsleitung. Den Pfeilern entsprechend ist die „Kirche” historisch orientiert, dogmatisch festgelegt und institutionell verankert, um nicht zu sagen verkörpert13). Nun gehört zwar von der „Institution” her das „Rechtliche” zur Katholischen Kirche, das Kirchenrecht14) ist eines ihrer Wesensmerkmale, wobei aber zu bedenken ist, daß die drei Pfeiler untereinander gleiches Gewicht haben.

Die kanonistischen Formulierungen des katholischen Kirchenverständnisses schieben den „Begriff” stark in den Vordergrund. Sosehr indes „Kirche” in katholischer Schau begrifflicher Ausprägung fähig ist, sowenig darf die Begriffsfixierung zur Annahme eines starren Kirchenbegriffes verleiten, wozu Möglichkeit und Gefahr gerade dort gegeben sind, wo das Untersuchungsmaterial protestantische Auffassungen zum „Begriff” katholischer „Kirche” bietet15).

Die katholische Kirche bis zur Reformation kennt eigentlich einen ekklesiologischen Traktat nicht. Es gibt bis dahin in strengem Sinne keinen Kirchen„begriff”. Er bildet sich in der Frontstellung gegen die Auswirkungen der Reformation, besonders gegen die Vorstellung der „ecclesia invisibilis”. Wenn die Kanonistik sich bis heute hin vornehmlich des in der sog. nachtridentinischen Kontroverstheologie16) entwickelten Kirchenbegriffes bedient, darf dieser Sachverhalt nicht verdecken, daß verschiedene „Versuche und Theorien der theologischen Bestimmung der Kirche”17) in den


8) Eichmann-Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts, I. Bd., S. 26.
9) Holböck, KR I., S. 46.
10) Vgl. Hauck, a.a.O., S. 11.
11) Hauck behauptet eine „Polarität zwischen Episkopat und Kirche” (a.a.O., S. 22); an anderer Stelle spricht er von einer „quasi-Kreis-Ellipse, deren Brennpunkte unendlich nahe zusammengerückt sind”. — a.a.O., S. 28.
12) Clemens Brockmöller, Christentum am Morgen des Atomzeitalters, S. 30.
13) Vgl. Hauck a.a.O., S. 30, Lampert a.a.O., S. 19.
14) Die Systematik der Darstellung gebietet, das Katholische Kirchenrecht an späterer Stelle zu beleuchten.
15) Dazu d. Ausführungen Liermanns i.d. Brunotte-Festschrift d. Ev.-Luth. Kirchenzeitung 1956, 202 ff.
16) Der Titel des Hauptwerkes des Kardinals Bellarmin lautet bezeichnenderweise; „Disputationes de controversiis christianae fidei adversus huius temporis haereticos” (3 Folio-Bände), Ingolstadt 1589.
17) Vgl. die Darstellung von Koster, Ekklesiologie im Werden, S. 100-124.

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letzten Jahrzehnten auf katholischer Seite den Kirchenbegriff Bellarmins als in gewissem Sinne einseitig haben erkennen lassen. Die Übereinstimmung aller Erfassungskriterien liegt in der Corpus-Vorstellung. „Kirche” als „corpus Christi” ist gleichsam der immanente Gedanke aller katholischen Kirchenvorstellung, als solcher eben auch „im Endlichen” nur deskriptiv „bestimmbar” (wenngleich begrifflicher Aussage zugänglich) . . . ist somit ein gegenwärtig „Erst-Zu-Gestaltendes”18). Die ecclesia catholica fühlt sich als „corpus Christi mysticum”19), sie lebt aus den Tiefen des Mysteriums „Christus” und weist darin in jedem Augenblick allem Begrifflichen vorweg20) und über alles Begriffliche hinaus.

Diese sehr weitreichende Einschränkung gehört zum Verständnis der ecclesia catholica, wenn der katholische Jurist, weil der Kirchen„begriff” juristischer Ansprache fähig ist, heute formuliert:

„Die Kirche bleibt die relativ unveränderliche Heilsanstalt, die den Anspruch erhebt, den Menschen zu seinem ewigen Heil zu führen und die Hüterin des göttlichen und natürlichen Rechts, auch allen irdischen Gewalten gegenüber, zu sein.”21)

 

2. Katholisches Ganzheitsdenken

Der „Begriff” allein der Katholischen Kirche, so scharf abgegrenzt und exakt durchformt er sei, verschafft nur einen einseitigen Zugang zu ihrem Wesen. Vom Nur-Begrifflichen her ist also schwerlich zu verstehen, warum es „für Außenstehende so gut wie ausgeschlossen ist, irgendwelche Abweichungen oder gar Widersprüche bei den verschiedenen Definitionen des römisch-katholischen Kirchenbegriffs festzustellen”22).

Zum weiteren Verständnis des Wesens der Katholischen Kirche bedarf es des Blickes auf die katholische Gedankenwelt, auf das Denken, welches den lückenlosen Begriff hervorbringt.

Den Katholizismus kennzeichnet seine Fähigkeit, weit auseinanderliegende Punkte im Zusammenhang zu verstehen. Faktoren, die infolge der fortschreitenden Spezialisierung auf allen Gebieten von vielen nur noch antithetisch erfaßt werden können, wodurch Kontradiktion in der Form der Aussage und Isolation auch der kleinsten Lebensvorgänge die Folge sind, haben in der katholischen Sicht „ihren” Platz im Kosmos und sind dadurch in ihrer Zusammengehörigkeit bestimmt23).

Es handelt sich um eine ganzheitliche Schau, um ein auf das Wesentliche gerichtetes Denken. Dahinter steht eine für den katholischen Menschen festgefügte Hierarchie der Werte, die ihre Spitze in dem göttlichen Schöpfungsakt der „Kirche” hat. Das Reich des Erlösers (Joh. 18, 33-37)


18) Dazu Koster a.a.O., S. 154.
19) Vgl. Päpstliches Rundschreiben Pius XII., „Mystici corporis” vom 29. 6. 1943; Acta Apostolicae Sedis 35—1945—193-248.
20) Vgl. Koster, a.a.O., S. 156-158.
21) Hans Peters, Die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts, Leitsätze, S. 212.
22) Hauck, a.a.O., S. 19.
23) Bemerkenswerte Beispiele: Guardini, „Das Wesen des Christentums”; Paul Claudel, „Der Seidene Schuh”.

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wirkt als Prinzip der Weltgestaltung24). Die Welt, derart „gestaltet”, erschaut oder wenigstens vorausgesetzt, erlaubt keine andere Möglichkeit, als die Lebenserscheinungen in ihrer Vielfalt auf das Ganze bezogen zu sehen.

Hier können sich „Glaube” und „Werke” nicht gegenseitig ausschließen, sondern sie gehören zusammen. Ebenso spricht die Katholische Kirche jeweils von Gnade und Verdienst, Macht und Gnade, Liebe und Recht. Das ganzheitliche Leben führt hier zur sog. „Katholischen Synthese”25), der auch das vielerörterte Begriffspaar Staat und Kirche unterliegt.

Die katholische Sicht des Lebens erweist sich als universal.

„In ipse catholica ecclesia magnopere curandum est, ut id teneamus, quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est.” (Vincenz von Lerinum)26)

Die protestantische Seite vermerkt dazu: „Eine größere Weite ist nicht möglich.”27) Die Universalität verdichtet sich philosophisch in der „analogia entis”, jedoch nicht so, daß sie auf diesem Wege „das” Grundschema katholischen Denkens und Lehrens wäre28). Die analogia entis wird von katholischer Seite ihrem Wesen nach als dynamisch empfunden29). Das spricht für die Universalität katholischen Denkens und gegen die Annahme eines Einheitsdenkens.

Die Ganzheitsbeziehung hält die katholische Weltsicht offen für alle Lebensvorgänge30). Das Gediegene besteht hier in der Art und Weise, wie im Katholischen innerhalb des umgreifenden „Ja” zur Offenbarung der Raum offenbleibt „für alles, was erlösbares und erlöstes kreatürliches Denken sein kann”31).

Die Offenheit gestattet dem katholischen Denken nicht zuletzt ein tolerari posse32) (ohne deshalb im Prinzipiellen etwas aufzugeben). Es ist weit davon entfernt, ein Uniformitätsdenken zu sein. Der Raum katholischen Denkens vermag verschiedene Geistesströmungen nebeneinander zu beherbergen33). Die dem Außenstehenden durch vordergründige Erscheinungen leicht vermittelte Annahme „einer Vereinerleiung Gottes und der Kirche” im katholischen Denken34) wird seiner Eigenart nicht gerecht, weil hier Einheitsdenken mit Ganzheitsdenken verwechselt wird.


24) Lampert, Kirche und Staat, S. 38.
25) Vgl. dazu die teilweise sehr kritischen Ausführungen bei Leese, Religionskrisis des Abendlandes, S. 363 und 399.
26) Mirbt, Quellen, S. 9 Nr. 122.
27) Hauck, a.a.O., S. 23.
28) Vgl. die Auseinandersetzung bei v. Balthasar, Karl Barth, S. 266.
29) Reinhold Schneider FAZ 17. 7. 1954 Literaturblatt.
30) Sehr deutlich in der Sammlung von Michael Chinigo, „Der Papst sagt . . .” Lehren Pius XII.
31) v. Balthasar, Karl Barth, S. 269.
32) Vgl. die Allocutio Pius XII. vor dem V. Nationalkongreß der ital. Juristen v. 6. 12. 1953 {Herder Korresp. Januar 1954, S. 173-176) u. d. Weihnachtsbotschaft Pius XII. 1953 (Herder Korresp. Januar 1954, S. 167 ff).
33) Beispielsweise weist Edgar Alexander in dem groß angelegten Werk: „Kirche und Gesellschaft in Deutschland” nach, daß im vorigen Jahrh. den dtsch. kath. Raum eine ideenpolitische Spannung erfüllte zwischen dem sozial-philosophischen Denken der konservativ antidemokratischen Richtung des integralen Thomismus (Bayern, Österreich nach 1848) und der die demokratischen Theorien der Volkssouveränität vertretenden spätscholastischen Richtung des naturrechtlichen Realismus der Jesuiten (das Rheinland, Westfalen).
34) Leese, Religionskrisis, S. 361.

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Richtig verstanden, bedeutet der katholische Aspekt eine Ganzheitsschau im ureigentlichen Sinne der „Ganzheit”, „in der sich menschliche Einsicht und göttliche Offenbarung, Natur und Gnade auf wunderbare Weise zur Harmonie verbinden”35). Das von der Katholischen Kirche, auch offiziellerseits36), mit Nachdruck betonte Ganzheitsdenken bleibt, wie v. Balthasar ausführt, „offen und hat sogar die Tendenz, immer weiter zu öffnen”37).

In diesem Ganzheitsdenken der katholischen Kirche webt irgendwie — uns heute mehr Ahnung als Beweis — etwas von der ursprünglichen Ungeschiedenheit von Subjekt und Objekt.

Katholische „Kirche”, obwohl begrifflich unter gewissen Voraussetzungen fast bis ins kleinste bestimmbar, erscheint, lediglich vom Begriff her verstanden, dennoch verzeichnet, solange nicht die katholische Weltsicht gebührend berücksichtigt ist, in der die Begriffsaussage ruht. Wenn Adolf v. Harnack einmal schrieb:

„Die römische Kirche ist das umfassendste und gewaltigste, das komplizierteste und doch am meisten einheitliche Gebilde, welches die Geschichte, soweit wir sie kennen, hervorgebracht hat”38),

dann hat dieses Urteil heute wie vor fünfzig Jahren nicht an Aktualität eingebüßt. Aber Kompliziertheit und Einheitlichkeit sind weniger Begriffselemente des „Gebildes” als Ausstrahlungen des katholischen Ganzheitsdenkens, in dessen Geborgenheit der katholische Christ „Kirche” weiß und glaubt — katholische Synthese! — als „societas perfecta sibi sufficiens”39).

 

II. Das lutherische Verständnis der „Kirche”

 

1. Die „Kirche” bei Luther

a) Der Beweggrund Luthers

In die „societas perfecta” ist Martin Luther hineingestellt gemäß Herkommen und Ausbildung. Die Ecclesia Romana verbindet sich bis in seine Zeit in einer Form mit der sie umgebenden Welt zum Corpus Christianum, die uns heute voll nachzuzeichnen nicht mehr gegeben ist.

In dieser — noch! — ungeteilten Welt stellt Luther sein Leben lang die Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?” Alles, gerade das Unverstandene an Luther, sollte immer auf diese Frage zurückgeführt werden. Sie ist zuerst einmal eine persönliche Frage. Sie offenbart sodann ein zutiefst innerliches Verlangen. Sie enthält schließlich, heute auch von katholischer Seite kaum mehr in Zweifel gezogen1), ein rein religiöses Anliegen.

Die auf eine sich „persönlich” gestellte Frage gegebenen Antworten eines Menschen sind subjektiv. Der Umstand ist weder überraschend noch


35) Ritter, Luther, S. 257.
36) Vgl. Rede Pius XII. anläßlich der Kanonisation Pius X. vom 29. 5. 1954, Herder Korresp. Juni 1954; Bericht FAZ 31. 5. 1954, S. 4, Sp. 4.
37) v. Balthasar, Karl Barth, S. 269.
38) v. Harnack, Das Wesen des Christentums, S. 153.
39) Zur „Kirche als vollkommener Gesellschaft” vgl. Holböck, Handbuch 1. Bd., S. 34, 35; 48-54. Lampert, Kirche und Staat, S, 31, 32; mit dem dortigen Auszug aus der Enzyklika Leos XIII. „Immortale Dei”.
1) Vgl. das Werk von Lortz, Die Reformation in Deutschland.

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ungehörig. Es kann füglich in Zweifel gezogen werden, ob deshalb der Reformator als „wurzelhaft subjektivistisch”2) einzuschätzen sei.

Die Frage als Ausdruck innerlichen Begehrens beantwortet sich aus dem Innern. Luthers Inneres beherrscht ein erdrückendes Schuldgefühl. Für Luther steht fest, daß der „natürliche Mensch aus der Gnade gefallen sei”3). Sein Inneres zerreißen Anfechtungen. Die Anfechtungen, vielleicht der Schlüssel zu Luthers Wesen überhaupt4), sind mannigfacher Art und deuten auf eine Sensibilität hin, die dem modernen Menschen streckenweise, gelinde gesagt, als Verstiegenheit anmuten kann5). Jedenfalls geben sie Rätsel auf6).

Wie könnten die Antworten, mit denen Luther „hart an der Grenze der Verzweiflung vorbeikommt”7), anders sein, denn emotional! Der Verstand fördert die Anfechtungen mehr, als daß er sie zum Ausgleich brächte8). Im sog. Atomzeitalter brauchte diese Saite im „Menschen” Luther nicht fremd zu klingen. „Die Irrationalität ist Luther so sehr eine unveränderliche Gegebenheit, daß er jedes Fragen nach der Begrifflichkeit von Wesen und Tun Gottes von vornherein abweist”9). Ihm

„sind alle Artikel unseres christlichen Glaubens, so uns Gott durch sein Wort eröffnet hat, vor der Vernunft straks unmöglich, ungereimt, erlogen”10).

Drum gibt er aus dem Innern, nicht von der Vernunft her, auf die ihn quälende Frage die Antwort: Das Leben erneuert sich allein aus der Kraft des Glaubens11). Das sola fide Luthers in seiner Ausschließlichkeit besteht irrational12). Dies Faktum gilt es schlicht festzustellen, womit es weder „erklärt” noch „verstanden” ist.

Die Antwort auf die Grundfrage als religiöses Begehren erteilt Luther aus „seiner” Kirche. Könnte es anders sein? Ihm geht es darum, die vorhandene Kirche zu reformieren. Seine Antworten richten sich an die ecclesia una und erstrecken sich wegen der Ungeschiedenheit von Kirche und Welt eigentlich auf das Corpus Christianum. Luthers Antworten auf die religiöse Frage nach dem gnädigen Gott zielen auf eine innerkirchliche Erneuerung. Er ist in ihnen getragen von dem Bewußtsein, der ecclesia


2) Lortz, Geschichte der Kirche, S. 281.
3) Ritter, Luther, S. 269.
4) Vgl. die Untersuchung von Bühler, Die Anfechtung bei Luther, S. 19-68.
5) Etwa Luthers Vertrauen auf die Allmacht Gottes, vgl. Böhmer, Der junge Luther, S. 310.
6) die Psychologie u. Psychiatrie bislang nicht gelöst haben. Vgl. Bühler a.a.O., S. 30-34, insbes. Anm. 71.
7) Lortz, Geschichte der Kirche, S. 272.
8) Daher „spricht Luther ein ungeheures Wort des Mißtrauens in den Geist aus, in den Geist als ratio, als Vernunft.” Heer, Europ. Geistesgeschichte, S. 250.
9) Selle, Moderne Wandlung im Gottesbegriff, S. 54.
10) Entnommen Zeitwende, 1925, S. 108.
11) Damit ist bewußt nicht gesagt, daß Luthers Überzeugung Ansprechbarkeit für seine Umwelt besitze. Bezeichnenderweise stellt Ritter die rhetorische Frage: „Was kümmerte den gedrückten Handwerksgesellen, Arbeiter und Bauern die Lehre von der Rechtfertigung aus reiner göttlicher Gnade?” Ritter, a.a.O., S. 164.
12) Zum „sola fide” ist einmal zu bedenken, daß Luther die Hl. Schrift in sich für einheitlich hält. Meissinger sieht den Grundansatz insoweit als eine gutgläubige Fiktion an. (Meissinger: Die deutsche Tragödie, S. 134-135.) Zum andern verlangt die einseitige Orientierung an Paulus Berücksichtigung. Nach Leese besteht eine Aporie zwischen der Verkündigung Jesu, Pauli und Luthers (Leese, Die Religion des prot. Menschen, S. 275; vgl. Müller-Freienfels a.a.O., S. 175).

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catholica einen großen Dienst zu erweisen13), so wie es vor ihm Bernhard von Clairvaux (1091-1153) mit mehr und Hugo von St. Victor (1097-1141)14) mit weniger Erfolg taten und nach ihm Petrus Canisius (1521-1597)15) versuchte.

Luthers Antworten auf die Grundfrage können als „religiöse” Gedanken immer nur in der und an die „eine” Kirche ergehen. Ihre uns heute offenbare Spaltwirkung reicht unendlich viel weiter als in seinem Wissen, geschweige denn in seinem Willen steht16).

b) Aussagen zur „Kirche”

In dem abgesteckten Rahmen subjektiven, irrationalen, „Ort”-gebundenen Antwortens finden wir Luthers Aussagen über die „Kirche” vor. „Dieselbig Kirch wird allein genennet in der Schrift Christus Leib.”17)

Kirche und Christenheit sind ihm eins. Christenheit dünkt ihm „eine geistliche Versammlung der Seelen in einem Glauben”18). „Also heisset der Wörtlin ,Kirche’ eigentlich nichts anderes denn ein gemeine Sammlung.”19) Das Wesen der Kirche erschließt sich Luther maßgeblich vom 3. Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses her:

„Credo in spiritum sanctum. Sanctam ecclesiam. Sanctorum communionem.”20)

Immer wieder taucht bei Luther die Vorstellung der „communio sanctorum” auf. In der Streitschrift gegen Catharinus (1521) umschreibt er sie als „communio sanctorum, sancta fidelium congregatio”. Sie geht in den „Großen Katechismus” ein:

„Ich glaube, das da sey ein heiliges heufflein und gemeine auf erden eiteler heiligen unter einem heubt Christo, durch den heiligen geist zusammen beruffen, ynn einem glauben, synne und verstand.”21)

Die Häufigkeit der Figura „communio sanctorum” in Luthers Schau der Kirche läßt sich nicht übersehen. Und dennoch rechtfertigt der vielgestaltige Aussagemodus Luthers nicht, nun kurz zu behaupten, Kirche sei ihm „lediglich”22) communio sanctorum.

In der Catharinus-Streitschrift spricht Luther gleichzeitig von der „ecclesia abscondita”. Ähnlich heißt es in „De servo arbitrio” (1525):

„Abscondita est ecclesia, latent sancti.”23)

Demgegenüber steht das inzwischen fast „ver”zitierte Lutherwort:


13) Hauck, Sohm und Tolstoi, S. 18.
14) gegen dessen Schrift „De vanitate mundi” Innozenz III. Stellung nahm.
15) Vgl. Heer, Der tumbe Laie, S. 583.
16) Vgl. Ritter, Luther S. 210; Stählin, Erneuerung in Demut, Sp. 2: „Es ist nicht länger zu verbergen, daß Luther selbst sich . . . gegen diese Aufspaltung gewehrt hat.”
17) Dazu Oeschey, Luther und das Recht, S. 297.
18) Luther in der Schrift. „Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig” 1520.
19) Luther fährt hier fort: „. . . und ist von Art nicht deutsch, sondern griechisch”. (Zitiert nach Hauck, a.a.O., S. 42.)
20) Hierzu die zum Teil einseitige Einstellung bei Leese, Religionskrisis, S. 394-395.
21) ed. Joh. Meyer, S. 112.
22) Unter Bezugnahme auf die Schrift „Von dem Papsttum zu Rom”, Leese a.a.O., S. 395.
23) WA 18, 652.

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„Denn es weiß gottlob ein Kind von 7 Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und die Schäflein, so ihres Hirten Stimme hören, denn also beten die Kinder: „Ich glaube eine heilige christliche Kirche.”24)

c) Luthers „eine” Kirche

Die Vielfalt der Aussagen Luthers erschweren das Finden eines allgemein-gültigen „Ergebnisses”. Irgendwie erscheint ihm „Kirche” als eine Art Geistesgemeinschaft. Aber Luthers Kirche als geistige Gemeinschaft besagt weder Abstraktion noch Irrelevanz25). Für ihn gibt es „das Geistige nie und nimmer abstrakt, nie leiblos, sondern nur in seiner konkreten Verleiblichung und Inkarnation”26). Daher lehnt der Reformator die Kirche als civitas platonica zeit seines Lebens ab27). Es gibt für Luther nur „eine” Kirche28). Die Einheit lebt aus einer Einheit des Geistes29). Die „eine” Kirche bedeutet für Luther eine „Realität”30).

Es stimmt dann nachdenklich, Luthers reformatorische Tat „eine vollständige Neuschöpfung”31) zu nennen und aus Luther zu entnehmen, „für die Sinne sei die Kirche überhaupt nicht da”32).

Luthers eigenen Ansichten über „Kirche” eignet, wie Hauck darlegt, „etwas Schwebendes, nie ganz in die Wirklichkeit Eingehendes und in ihr Aufgehendes”33). Aber gerade darin bewahrt sich Luthers Verständnis der Kirche eine kaum meßbare Spannweite.

Eingeengt wird die Konzeption Luthers schon zu seinen Lebzeiten durch den Begriffsbehelf der ecclesia visibilis et invisibilis. Wenn auch Luthers Aussagen Ansatzpunkte für den Behelf bieten34), so kommt die neuere Forschung doch zu dem Schluß, daß sich ein zweifacher Kirchenbegriff bei ihm selbst nicht beweisen läßt35). Den Ausdruck „ecclesia invisibilis” greift die Reformationszeit jedoch als Kampfparole auf und läßt ihn schnell zu einem Schlagwort entarten36).


24) Art. Smalc III, XII; dazu Oesdiey, Fragen der Kirchenordnung, S. 192 — Maurer, ZEK Bd. IV/346 und Anm. 12: „Luther will die reine Glaubensgemeinschaft”.
25) Vgl. Hauck a.a.O., S. 143 und 247, der diese Kriterien auf die „sichtbare Kirche” (??) bei Luther anwendet.
26) Benz, Wittenberg und Byzanz, S. 171.
27) Vgl. Hauck a.a.O., S. 56 ff; Brundstäd, Die Kirche und ihr Recht, S. 6; Foerster, Sohm widerlegt, S. 326.
28) In der Leipziger Disputation gegen Eck — 5. 7. 1519 — weist Luther darauf hin, daß es unter den Artikeln von Johan Hus „echt christliche” gäbe, die Rom nicht verdammen könne. Er führt als Beispiel den Satz an: „Es gibt nur eine allgemeine Kirche.” (Vgl. Böhmer, Der junge Luther, S. 234.)
29) Vgl. Ritter, Luther, S. 208.
30) Eine theologische Aussage lautet: „. . . eine Kirche, immer dieselbe Größe . . . als eine Realität von unvergleichlicher Dynamis”, Förster a.a.O., S. 326.
31) Leese, Religion des prot. Menschen, S. 275.
32) Foerster, daselbst.
33) Hauck a.a.O., S. 39 — Lortz formuliert schärfer: „Luthers Kirchenbegriff ist dauernd unklar und schwankend geblieben”. (Geschichte der Kirche, S. 275.)
34) In Luthers Schrift „Resolutio super propositione XIII de potestate papae” (1519) heißt es: „Wo das Wort Gottes gepredigt und geglaubt wird, da ist die Kirche: darum heißt sie ein Reich des Glaubens, weil ihr König nicht gesehen wird, sondern ein Gegenstand des Glaubens ist. Sie (gemeint sind Eck u. a.) machen aus ihr . . . ein Reich sichtbarer Dinge”.
35) Gegenüber Seeberg haben sich Ansichten wie die von Rietschel und Scheel durchgesetzt. Vgl. Rietschel „Das Problem der unsichtbar-sichtbaren Kirche bei Luther”.
36) Vgl. Hauck a.a.O., S. 55, 56; ähnlich Otto Weber, Versammelte Gemeinde, S. 53.

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Eine reinliche Scheidung in Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit entspricht nicht Luthers Vorstellung von „Kirche”. Man kann nicht sagen, daß bei ihm „die wahre Kirche immer eine unsichtbare Kirche sei”37); genau so wenig, wie der Umkehrschluß erlaubt ist, daß für Luther Kirche „sichtbar” sei. Seine Aussagen über „Kirche” in all ihrer Mehrdeutigkeit stellen eine Vergeistigung der „einen” Kirche dar. Die Aussagen sollten spirituell, nicht spiritualistisch verstanden werden38). Die „Vergeistigung” dessen, was „Kirche” heißt, ist das Typische bei Luther, eine Vergeistigung, die man rückschauend im Zusammenhang dahin interpretieren mag, daß Luther die „Einheit bis zur äußersten Konsequenz fortgebildet habe”39), die allerdings zwangsnotwendig die Kulmination einleitet.

Um durch vorhandene äußere Widersprüche zum Kern der Gedanken Luthers über „Kirche” vorzudringen, muß Klarheit darüber bestehen,

„daß sich die Gemeinschaft der Kirche für Luther wie für seine ganze Zeit noch von selbst verstand in einem Umfang, von dem sich die Gegenwart keine Vorstellung mehr macht. Was sich aber von selbst versteht, davon redet man nicht.”40)

Reden wir dennoch davon, so geschieht es, um deutlich zu machen, daß Luthers Tat in der Vergeistigung der „Kirche” besteht, die freilich die Begriffsdurchbildung völlig offen läßt (offen lassen muß!), aber getragen ist von dem Bestreben, den ursprünglichen sakramentalen Gehalt des Kirchenbegriffes in eadem sensu eademque sententia zu bewahren41).


37) So Ritter, Luther, S. 198: wenn auch unbestimmt gehalten, kommt die Formulierung von Bohatec dem Gedanken Luthers wenigstens nahe, daß für diesen „die Kirche in gewissem Sinne unsichtbar ist” (Staat und Kirche, S. 290).
38) Selbst die sehr vornehme Kritik von Lortz an Luthers Theologie kommt zu dem Schluß: „Luthers Kirchenbegriff wird rein spiritualistisch” (Geschichte der Kirche, S. 272 und 275). Dem stellt die Untersuchung die Auffassung gegenüber, daß es bei Luther hinsichtlich Kirche keinen „Begriff” gibt; denn (vgl. auch Lortz, S. 275) „die Kirche kann nur mehr eine rein innerliche sein”. Nicht-Begriffliches läßt sich nicht „spiritualisieren”, sondern ist spirituell.
39) Ritter, Luther, S. 117.
40) Meissinger, Der katholische Luther, S. 119.
41) Hingegen stellt Heer (Europ. Geistesgeschichte, S. 270) „die grundlegende, radikale lutherische Zerspaltung des Kosmos” fest.

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2. Die Kirche im Luthertum

a) Melanchthon

Schon zu Lebzeiten Luthers, erst recht aber nach seinem Tode, bemühen sich seine Anhänger, seiner Schau der „Kirche”, die rein geistig zu Verstehen ist und weithin bar des Begrifflichen bleibt, eine Begriffsverstrebung einzubauen.

Die Richtung der Entwicklung wird entscheidend bestimmt durch das Wirken von Philipp Melanchthon (1497-1560), den „praeceptor Germaniae”. Wo es sich um Formung der theologischen Aussagen Luthers handelt, wo die Umstände das Aufstellen von Glaubensgrundsätzen erfordern, da hat Melanchthon an der Redaktion entscheidenden Anteil.

Melanchthon ist von Hause aus Humanist; er, den eine einseitige Geschichtsschreibung zu leicht in den Schatten Luthers drängt, erweist sich als einer der bedeutendsten Wissenschaftler seiner Zeit und besitzt Konzilianz und beträchtlichen politischen Weitblick — letzteres Eigenschaften, die nicht gerade die Stärke des Wittenberger Kreises zu nennen sind42).

Die Forschung neigt zu der Annahme, daß bei ihm die Sichtbarkeit der Kirche eine große Rolle spielt. Wahrscheinlich war es ihm anders nicht möglich, die theologischen Aussagen Luthers über „Kirche” irgendwie begrifflich zu fixieren. Mag der Akzent in Rietschels Feststellung, daß „überhaupt die Sichtbarkeit ein grundlegendes Merkmal in Melanchthons Begriff von der Kirche sei”43), stark sein, es ist nicht zu leugnen, daß er, nach Bohatec, „von den Interessen an der sichtbaren Kirche ausgeht”44).

In der Apologie zur Confessio Augustana schreibt Melanchthon:

„Ecclesia . . . est principaliter societas fidei et spiritus sancti in cordibus.”45)

Man beachte sowohl in der lateinischen Satzstellung als auch in der Wortwahl das „principaliter”.

Melanchthon sucht „Kirche” aus der reinen Vergeistigung Luthers wieder in eine begrifflich tragbare Mitte zu rücken. Ja, er lenkt, so darf man mit Steck sagen, „zur Synthese von Philosophie und Theologie zurück”46). Auf diese Weise schafft er eine „humanistisch scholastische Dogmatik”47), die ohne eine begriffliche Durchbildung der Vorstellung „Kirche” auf tönernen Füßen stände. Die Begriffsformung bringt es mit sich, daß das Problem Sichtbarkeit-Unsichtbarkeit sich mehr und mehr in den Vordergrund der Betrachtung über „Kirche” schiebt.


42) Vgl. Benz, a.a.O., S. 94-128 „Die griechische Übersetzung der CA. aus dem Jahre 1559”, insbes. S. 100, 101; Meissinger, a.a.O., S. 194; Köhler, Huldrych Zwingli, S. 204-230 (Melanchthons Haltung beim Marburger Religionsgespräch). — Der Schwiegersohn Melanchthons, Kaspar Peucer, schreibt 1571 angesichts der engstirnigen theologischen Wirren u. Schulkämpfe der Wittenberger: „Er habe in seinen schlimmsten Träumen nicht eine so katastrophale Fehlentwicklung des Reformationswerkes vorhergesehen”. Benz a.a.O., S. 138, die lateinische Briefstelle S. 272.
43) Rietschel, Dogmengeschichte des Protestantismus, S. 311.
44) Bohatec, Staat und Kirche, S. 290; vgl. auch Hauck, a.a.O., S. 247.
45) CA VII und VIII (Apologie).
46) Steck, Ev. Lehrzucht, S. 123.
47) Heer, Europ. Geistesgeschichte, S. 254.

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Melanchthon steht am Anfang der lutherischen, vielleicht besser gesagt, der protestantischen Dogmatik48), in der er einen Ausgleich versucht. Seine Theologie gewinnt ihre vornehme Note durch einen „feinen erasmianischen Spiritualismus”49), der das Werk durchzieht. Dies hervorheben heißt aber einsehen, daß von hier aus die lutherische Theologie streckenweise zu einem rationalisierten Irrationalismus wird.

b) Die Confessio Augustana

Die Vermittlernatur Melanchthons zeichnet sich besonders in dem Werk ab, das für das Luthertum zum unerschütterlichen Glaubensfundament wird, in der Confessio Augustana.

1530 glaubt Melanchthon noch, während er auf dem Reichstag zu Augsburg die „neue Lehre” verficht, und Luther fern auf der Coburg weilen muß, eine Übereinstimmung mit der Römischen Kirche zu erreichen50). So heißt denn die eine Tendenz des dem Kaiser vorgelegten „Bekenntnisses”, sich so „altgläubig” wie möglich zu geben. Die andere Tendenz besteht darin, recht weit von den „Sakramentierern” (Zwingli, Butzer und ihren Anhängern) abzurücken51); das ergebnislose Marburger Religionsgespräch (2.-4. Oktober 1529) liegt noch kein Jahr zurück52).

Die Confessio Augustana ist als der „irenische Versuch eines Kompromisses”53) zu verstehen. Damit aber haften dem entscheidenden Glaubensdokument des Luthertums all die Vor- und Nachteile an, die zu jedem Kompromiß gehören. Das gilt ganz besonders von dem hier zu erforschenden Punkt, der „Kirche”54).

Der Kompromißcharakter wirkt sich dahin aus, daß die Confessio Augustana den Begriff „Kirche” nicht festlegt. Wir finden in ihr „nur ein gewisses umschreibbares Verständnis der Kirche”55) vor. In schärferer Formulierung ist mit Gollwitzer zu sagen:

„Die Augustana hat auf diese Fragen wohlweislich nicht mit der Erklärung geantwortet, die sich ihr anschließenden Gemeinden und Territorialkirchen seien die rechte Kirche Jesu Christi, sondern sie verwies auf ein Geschehen, in dem jeweils . . . die Kirche Christi geschehe: da, wo das Evangelium recht gepredigt und die Sakramente recht gereicht werden”56),


48) Lortz, a.a.O., S. 269.
49) Heer, a.a.O., S. 267.
50) Hauck, a.a.O., S. 40.
51) Vgl. Ritters Ausführungen, Luther, S. 222.
52) Die Wurzeln des Scheitern dieser „Konferenz” dürften nicht zuletzt im Allzu-Menschlichen zu suchen sein. Der sprachlich geniale, aber sensible Luther vermochte das „Sdvwyzer Dytsch” Zwingiis nicht zu ertragen. Vgl. Köhler, Zwingli, S. 16, 206.
53) Hauck, a.a.O., S. 40 und 50.
54) Zurückzugreifen ist für die Exegese immer auf die „editio princeps” der Confessio Augustana, die als „invariata” im Laufe der Jahrhunderte fast tabu-Stellung errungen hat. Die verschiedenen „variatae” der Augsburger Konfession — die erste von 1531 — begegnen mehr oder minder starken Vorbehalten, die in den nicht zu bestreitenden Korrekturen und Veränderungen begründet sind. Für die griechische Übersetzung vom Jahre 1559 hat Benz in seiner Untersuchung (a.a.O., S. 94-128) nachgewiesen, daß sie von Melanchthon stamme und der lateinische Text für diese Übersetzung „eine völlige Neuformulierung entscheidender Lehrpunkte” (a.a.O., S. 101) darstelle.
55) Hauck, a.a.O., S. 40.
56) Gollwitzer, Wollen wir lutherisch . . . . S. 55.

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ohne allerdings zu übersehen, daß dem „pure docetur et recte administrantur” in Artikel VII vorangestellt ist:

„Ecclesia est congregatio sanctorum.”57)

Erkennt man unschwer in „docetur et administrantur” den locus classicus Matth. 18, 20, dann gerät das Begriffliche in dieser Verbindung zur congregatio sanctorum vollends ins Fließen. Hauck zieht den Ausdruck

„congregatio sive communio vere credentium”58)

vor und spricht von der „Gemeinschaft der in der Heiligung Stehenden”59). Die Ausdrücke sind sicher wichtige Umschreibungsmerkmale; zur Anreicherung eines aus der Confessio Augustana zu entnehmenden Kirchen„begriffes” tragen sie nicht bei.

Kirche als „Begriff” bleibt in der Confessio Augustana offen. Darin mag es seinen Grund haben, daß die certitudo fidei im Luthertum zum articulus stantis et cadentis ecclesiae wird60) in Verbindung mit der als Doktrin (miß-)verstandenen „Invariata”61).

Auf dieser Grundlage gerät jede, weder von Luther noch von der Confessio Augustana herzuleitende „Begriffsbestimmung der „Kirche” ex origine in Gefahr, über ein iurare in verba magistri nicht hinauszukommen.

c) „Kirche” im Doppelaspekt

Das Luthertum steht vom Reformator her, nach dem es sich nennt, und vom Bekenntnis her vor dem Dilemma, etwas, was wesenhaft weder „Begriff” sein will noch sein kann, begrifflich zu bestimmen. Unter diesem Blickwinkel erscheinen die vielen Erörterungen zum „Doppelaspekt” der Kirche.

Ob von innerer und äußerer Kirche gesprochen wird, von einer engeren und weiteren Kirche, von der unsichtbaren und sichtbaren Kirche — im Grunde will die Theologie immer die „eine” Kirche in diesen Aussagen erreichen. Aber die Gefahr der Abwertung liegt in der Natur dieser Art Bilateralität. Die Gefahr ist um so größer, weil „Wert” und Begriffsintensität in umgekehrtem Verhältnis sich bewegen. Immer ist das Begriffsfähige das Minder-Wertige, das Nicht-Begriffsfähige das Höher-Wertige.

Die äußere Christenheit umschließt nach lutherischer Vorstellung die „innerliche” (Sic!) wie der Leib die Seele62). Die ecclesia invisibilis ist der Ausdruck der eschatologischen Hoffnung, während die ecclesia visibilis lediglich Gefäß und Werkzeug darstellt63). Näher als die Reduzierung des


57) Auch Art. VIII CA spricht von der „congregatio sanctorum”. Vgl. Maurer ZEK Bd. 4, S. 344: „Die congregatio sanctorum kann nur als personale Gemeinschaft der sancti verstanden werden.” — a.a.O., S. 347: „Personale Glaubensgemeinschaft”.
58) Hauck, a.a.O., S. 42.
59) Hauck, a.a.O., S. 43.
60) Vgl. Meissinger, a.a.O., S. 217.
61) Vgl. Jundt, Aspects du Luthéranisme, p. 68: „Le luthéranisme garde intégralement toute sa valeur et sa rectitude doctrinales”.
62) So wörtlich Förster, Sohm widerlegt, S. 329. Schlechterdings lassen sich aber nur Innerliches und Äußerliches, respective Inneres und Äußeres in jeweils derselben Ebene zueinander in Beziehung setzen.
63) Hauck, a.a.O., S. 24. Ob die Aussage, wie bei Hauck, für die Reformationszeit Gültigkeit hat, ist sehr fraglich; eher trifft sie für die Folgezeit zu.

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Doppelaspektes auf ein Form-Inhalt-Verhältnis kommen der „einen” Kirche bildliche Aussagen.

„Die Kirche ragt gleichsam aus dem Bereich ihres unsichtbaren Wesens herein in die Sphäre der Sichtbarkeit, wobei, ähnlich wie bei einem schwimmenden Eisberg, der Hauptteil unsichtbar bleibt und der sichtbare Teil, der über die Oberfläche ans Licht ragt, nur den Ort bezeichnet, wo die wahre Kirche zu finden ist.”64)

In verschiedenen Abwandlungen wendet man in einem anderen „Bild” das Beispiel zweier Kreise auf die „Kirche” an, derart, daß der kleinere (ecclesia invisibilis) dem größeren (ecclesia visibilis) konzentrisch eingelagert ist. Der größere Kreis ist nur in seiner Bezogenheit auf den inneren existent65). Das Bild gewinnt an Darstellungskraft, wenn man es dreidimensional, somit sphärisch, gestaltet. Statt von Kreisen ist von Kugeln, eventuell Ellipsoiden zu sprechen, um so mehr, da die größere nach lutherischer Auffassung, weil in ihr sog. Herzens- und Namenschristen zusammentreffen, ein corpus mixtum darstellt.

Es ist zu erwägen, ob man auf diesem Wege der sphärischen Vorstellung nicht noch einen Schritt weitergehen sollte. So wie die Erde als Gäoid, ließe sich „Kirche” im Doppelaspekt als „Ecclesioid” bezeichnen. Das hieße dann: „Kirche” ist nur und immer sich selbst gleich. Alle Rahmen der Vergleichbarkeit, der Bildlichkeit und Begrifflichkeit wären ein für allemal gesprengt!

Vergleiche und Bilder zeigen, daß es bedenklich ist, von einem spiritualisierten Kirchen„begriff” des Luthertums zu reden. Genaugenommen handelt es sich um ein spirituales Kirchenverständnis; denn alle Aussagen der Theologie beweisen, daß „Kirche” nie ganz in einen Begriff „eingeht”. Die wahre Kirche „kann eigentlich gar nicht ,begriffen’, sondern nur ,geglaubt’ werden”66).

Die Janusköpfigkeit der „Kirche” erscheint an der Nahtstelle am anfälligsten. Wie kann verhindert werden, daß die Teile auseinanderklaffen? Die lutherische Theologie müht sich durch die Zeiten, die dünne Stelle mit Hilfe der notae ecclesiae — Wort und Sakrament — zu klammern67).

Aber die Klammer des Sakraments als „verbum visibile”68) verhindert nicht, daß die ecclesia visibilis et invisibilis, verstanden als zwei Eigenschaften der „einen” Kirche, als „Teile” auseinanderstreben. Bei näherer Umschreibung kommt es dahin, die sichtbare Kirche als „fehlbares Mittel”69) zu verstehen, gar als „Trübung und Verunstaltung der wahren Kirche”70).

Zur Sichtbarkeit der Kirche gehört auf Grund der imitatio Christi ihre Knechtsgestalt. Die äußere Kirche erscheint dann als das glanzlose höchst


64) Hauck, a.a.O., S. 51.
65) Vgl. die Ausführungen bei Leese, Religionskrisis S. 396.
66) Liermann KR., S. 6.
67) Vgl. Hauck a.a.O., S. 50, Leese a.a.O., S. 396-397.
68) Hauck a.a.O., S. 46.
69) Hauck a.a O., S. 55.
70) Brunstäd, Die Kirche und ihr Recht, S. 6.

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unvollkommene Abbild, als das verzerrte Spiegelbild der „eigentlichen” Kirche.

Es kommt zur Vernachlässigung der Außenseite der Kirche. Irgendwie richtet der lutherische Christ sein Denken und Trachten immer auf die unsichtbare Kirche als die „wahre” Kirche; denn „von der äußeren Kirche steht kein Wort im Neuen Testament”71). Nach den bekannten Worten Schlegels wird die „eigentliche” Kirche unter dem Vorwand der Erhabenheit aus der Welt „hinauskomplimentiert”72). Die Einflüsse des Pietismus und Quietismus auf das Luthertum haben viel dazu beigetragen, daß auf diesem Wege die „Kirche” — nun leider nicht mehr als „innere” und „äußere” geschieden! — landläufig zu einer Erbauungsanstalt für Frauen, Kinder und Greise abgesunken ist.

Die Entwicklung bietet ein Argument mehr, den Doppelaspekt der „Kirche” im Luthertum als Kirchenverständnis zu bezeichnen, nicht als Begriff. Hinwiederum wäre es unstatthaft, übersehen zu wollen, daß das Luthertum immer wieder versucht, die spirituale Hülle zu durchstoßen. Der Stoß erfolgt in Richtung auf das mandatum Christi73). Was der lutherischen Sicht der Kirche fehlt, wird im „Amt” geboten: Der Begriff. Das Amt wird dann die Stelle, an der unsichtbare und sichtbare Kirche zusammenkommen74). Alles spitzt sich hier auf die „Stellung” der „ministri verbi et sacramentorum, rite vocati” (CA XIV) zu. Die Begriffsdurchdringung des lutherischen Kirchenverständnisses vom „Amte” aus ist, ebenso wie mit Hilfe einer Verbindung des Amtsgedankens und der „Kirche” als soziologischer Gegebenheit, bislang über Ansätze nicht hinausgediehen.

„Kirche” in lutherischem Sinne trägt ein zwielichtiges Doppelgesicht. Das darin zum Ausdruck kommende Spannungsverhältnis zwischen Jenseits und Diesseits, zwischen Überwelt und Welt, bietet ein Merkmal des Selbstverständnisses des Luthertums. Die Spannung verträgt keinen „Begriff” und führt dazu, daß alle lutherischen Aussagen über „Kirche”, sofern sie sich dem Begrifflichen nähern, hart an der Grenze des Pleonasmus treiben.


71) Oesdiey, Fragen der Kirchenordnung (mit Bezugnahme auf Franz Rendtorff), S. 193.
72) Lampert, a.a.O., S. 38-39.
73) Sehr deutlich in der Theologie AFC Vilmars, 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts.
74) Vgl. von reformierter Seite dazu Otto Weber: Versammelte Gemeinde, S. 52. — Zum „Amt” weiterhin Brundstäd a.a.O., S. 23; Oeschey, a.a.O., S. 197.

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III. Das reformierte Verständnis der „Kirche”

 

1. Die „Kirche” bei Zwingli

Ähnlich wie für Melanchthon gilt für Huldrych Zwingli (1484-1531), daß „der Humanist aus seiner Gedankenwelt nicht ausgeschaltet werden darf”1). Auch Zwinglis Grundansichten stellen eine subjektive, spirituelle Sicht des Religiösen dar2), aber anders als bei Luther drängt das rationale Element darin zur Mitte. Gott deucht ihm „die oberste Ursach”, das „Ist”3). Von hier leitet sich seine „fein ausgebaute natürliche Theologie” her4).

Hinsichtlich des Verstehens der Kirche birgt sie eine Wandlung. Den größeren Teil seines Lebens hängt Zwingli an der Vorstellung der „Kirche” als einer besonderen Art der „Gemeinschaft”5). Ihr gehört jeder Gläubige an,

„nämlich hat er alle sin Zuversicht, hoffnung und trost zu got durch Christum Jesum, so ist er in der kilchen, das ist: in der gemeinsame aller frommen Christen.”6)

Die Kirche in dieser Periode Zwinglis stellt eine ungeschiedene Kirche dar, sie bedeutet die „eine” Kirche, deren Herr Christus ist, „das er ein ewig heil und houpt sye aller Gläubigen”7).

Was Zwingli hier „gemeinsame” nennt, sollte als spirituelle „Gemeinschaft” verstanden werden und scheint sich schwerlich, weder theologisch noch juristisch, mit „Gemeinde” gleichsetzen zu lassen.

Der Schritt zur „Gemeinde” und damit die Wandlung der Zwingli’schen Kirchenauffassung erfolgt etwa in den Jahren 1525/268). Nun gehen die Konturen geistlicher und weltlicher Bereiche ineinander über. Die gleichzeitig bei Zwingli stärker hervortretende Prädestinationslehre verfehlt ihren Einfluß nicht auf sein Kirchenbild. „Erwählung” wird in Zwingiis Sprachgebrauch synonym zu „Glauben”9).

Die „wahre” Kirche ist jetzt die Gemeinschaft der Erwählten, die den „Sinnen” in der „Gemeinde” wahrnehmbar wird. Die „ecclesia sensibilis”10) nach Zwingli bedeutet nicht die „wahre” Kirche:

„Ecclesia, quae eos quoque complectitur, qui se Christi nomine falso vendicant, non est sponsa Christi, neque de ista fit mentio in symbolo.”11)


1) Köhler, Huldrych Zwingli, S. 203.
2) Köhler a.a.O., S. 208.
3) Vgl. Köhlers Ausführungen a.a.O., S. 24-27.
4) Köhler a.a.O., S. 203.
5) Wenn Farner (Die Lehre von Staat u. Kirche bei Zwingli, S. 1) davon ausgeht: „Zwingiis Anschauung von der Kirche hat sich gebildet auf Grund seiner Rechtfertigungslehre”, dann kann die Vereinseitigung dieser Betrachtung in Zweifel gezogen werden; denn „der Humanist” Zwingli ist von Thomas sowie Pico della Mirandola (1463-1494) beeinflußt (vgl. Köhler a.a.O., S. 17-19 u. „Die Geisteswelt Ulrich Zwinglis” S. 14-18) und neigt nach Heer bisweilen zur Leugnung der Erbsünde (Heer, Europäische Geistesgeschichte, S. 694, Anm. 372, 25).
6) Corpus Reformatorum, Zwingli, Werk II 61, 23.
7) Corp. Ref., Zwingli Werk II 53, 31.
8) Vgl. Farner a.a.O., S. 3 ff und 130 ff.
9) Vgl. Farner a.a.O., S. 7, 8.
10) Nach Farner gebraucht Zwingli die Unterscheidung „invisibilis-visibilis” selten und erst sehr spät (Dezember 1529); Farner a.a.O., S. 5 Anm. 7.
11) Corp. Ref., Zwingli, Werk III 756, 1.

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In diese ecclesia sensibilis, in der gewissermaßen Weizen und Unkraut nebeneinander wachsen, stellt Zwingli die „Gemeinden” in engerem Sinne, die Kilchhöre (Kylchhöri)12) hinein.

Zur begrifflichen Ausprägung der ecclesia sensibilis qua „sichtbar-werdende” Kirche13) kommt Zwingli erst kurz vor seinem Tode in den Glaubensschriften „Ad Carolum Romanorum Imperatorem . . . fidei Huldricii Zwinglii ratio” vom 3. Juli 1530 und „Christianae fidei expositio” vom Juli 1531.

Das Gewicht der Aussage hat sich eindeutig auf die „Gemeinde” verlagert. Die Einzelgemeinde stellt eine personale Gemeinschaft dar14). Als Leibwerdung der wahren Kirche beansprucht sie, Kirche in vollem Umfang zu sein15).

In der ungefähren Gleichsetzung von Kirche mit „Gemeinde” als personaler Gemeinschaft16) bietet Zwingiis Auffassung an seinem Lebensende einen, wenn auch labilen, Kirchen„begriff”, in dem streckenweise Kirche und Stadtgemeinde randunscharf zusammenfallen.

 

2. „Kirche” bei Calvin

a) Die „verborgene” „Kirche”

Ist Zwingli der Altersgenosse Luthers, so gehört Jean Calvin (1509-1564) der folgenden Generation an. Der Generationsabstand findet sinnfälligen Ausdruck in der Tatsache, daß das Tridentinum ein Jahr vor Luthers Tode beginnt und ein Jahr vor Calvins Ableben endet. Eine Betrachtung der Gedankenwelt Calvins kann dieses historische „Ereignis” nicht nur als „Zufall” werten.

Die Ausgangsstellung für das Kirchenverständnis bei Calvin liegt kaum von der bei Luther und Zwingli entfernt. Auch hier zuerst einmal eine „Verinnerlichung”, auch hier im Ansatz spirituale Schau. Während aber Luther den gnädigen Gott sucht, ist Calvin darüber hinaus durchdrungen von der göttlichen Vorherbestimmung allen Seins. In dieser Grundüberzeugung wurzelt seine — streng analysiert, doppelte — Prädestinationstheorie und die Idee der Alleinwirksamkeit17)18) der Souveränität Gottes19).

Prädestination und Alleinwirksamkeit lassen sich von Calvins Kirchenvorstellung schwerlich trennen, zumal dann, wenn, wie Bohatec ausführlich nachweist, seine Aussagen im Ansatz weithin mit Luther übereinstimmen20).


12) Vgl. Köhler, Zwingli, S. 103-139.
13) Vgl.: Otto Weber, Versammelte Gemeinde, S. 52 u. Anm. 32; Farner a.a.O., S. 5, 6, 27 ff u. 130 ff. Der Farners Darstellung durchziehende Grundgedanke der „am Wort Gottes sichtbar werdenden Kirche” gleicht in eigentümlicher Weise dem Hauptgedanken Holsteins in seinem Werk „Grundlagen des ev. Kirchenrechts”.
14) Farner a.a.O., S. 27.
15) Farner a.a.O., S. 12; Jundt’s Feststellung über Wicliff, Hus u. Zwingli (a.a.O., p. 16), „La grâce, enseignent-ils, se réalisant dans les individus, l’église visible n’ a pas d’importance réelle”, trifft für Zwinglis II. Periode jedenfalls nicht zu!
16) Farner, a.a.O., S. 132 und die Anm. 2.
17) Bohatec, Bude und Calvin, S. 462.
18) Nicht Allwirksamheit, gegen die er in der „Institutio” Stellung nimmt. Vgl. Niesel, Calvin und die Libertiner, S. 66.
19) Bohatec: Staat und Kirche, Einleitung XIV.
20) Vgl. Bohatec: a.a.O., S. 277, 292-295.

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„Kirche” ist im Grunde immer Gemeinschaft von Gläubigen und besitzt als solche spiritualen Charakter. Wie bei Luther sollte hier weder von Sichtbar- noch Unsichtbarkeit die Rede sein. Für Calvin bleibt Kirche „ecclesia abscondita”, sogar in doppelter Hinsicht:

„Miro utroque modo latet intra gremium beatae praedestinationis et intra massam miserae damnationis.”21)

Die Seinsebene der Kirche erweist sich als transsubjektiv22). Das „extra se” des Wesens der Kirche erlaubt in Verbindung mit dem Erwählungsgedanken Calvin (nun anders als bei Luther) miteins einen objektiven Aspekt, ohne daß deshalb sogleich das Corpus Christi Mysticum in Frage gestellt würde. In der „Instruction de foy” von 1537 führt Calvin aus:

„Tous les éleus par le lyen de la foy sont conionctz en une Eglise et société et en un peuple de Dieu, duquel Christ notre Seigneur est le conducteur et prince et chief comme d’un corps.”23)

Es versteht sich, daß Calvins Verbindung „église et société” (gar „église et société et peuple”) begriffliche Formung der Kirche fördert, während Luthers fließende Vorstellung von der „communio sanctorum” (latent sancti!) sie erschwert. Das „comme d’un corps”, so sich Christi Seinsherrschaft in der „Kirche” erstreckt, gebietet geradezu ihre Begriffsbestimmung.

b) Das „corpus” Kirche

Die Corpus-Theorie Calvins bestimmt nachhaltig seine Aussagen über „Kirche”. Kirche, gesehen als „Körper”, gestattet einmal eine Ein- und Unterteilung; denn auch der Körper besitzt Glieder. Zum anderen verhindert sie eine Trennung der Teile, etwa des „Hauptes” von den Gliedern. Kirche besteht als organisches Ganzes. Folgt man Bohatec, dann liegt in der Durchsetzung des organischen Prinzips ein Wesenszug des Calvinischen Systems24).

Dazu darf allgemach bemerkt werden, daß die Corpus-Theorie bei Calvin nicht neu ist. Der Organismus als Bild des Weltzusammenhangs taucht schon bei den Griechen auf, die Scholastik kennt es und kaum hundert Jahre vorher wird es von Nikolaus von Kues (1401-1464) in meisterhafter Form auf das „Corpus Christianum” angewandt25).

Dessenungeachtet bedeutet die bis in letzte Feinheiten entwickelte Corpus-Theorie Calvins fürwahr einen genialen Kunstgriff in der Begriffsdurchdringung der reformatorischen Kirche. „Kirche” als „organischer” Körper umfaßt alles: das „corpus mysticum”26), die Erwählung, die verborgenen Teile, die „sichtbaren” Teile, das All . . . . . Und dann: Der „Organismus” lebt!


21) Corp. Ref. Calvini op. 2, 679.
22) Vgl. Bohatec, a.a.O., S. 268.
23) Corp. Ref. Calvini op. 22, 57.
24) Vgl. Bohatec a.a.O., Einleitung XIV und XVII, S. 267.
25) Schultz, Die Staatsphilosophie des Nikolaus v. Kues, S. 32; sogar bei Luther findet sich die Vorstellung. Im Sendbrief „An den christl. Adel” schreibt er: „Wir werden allesamt durch die Taufe zu Priestern geweiht — sind alle ein Körper des Hauptes Jesu Christi. Christi hat nicht zwei noch zweierlei Art Körper, einen weltlichen, den anderen geistlich. Ein Haupt ist er und einen Körper hat er.”
26) Bohatec, a.a.O., S. 267, 268.

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Kirche als „Körper” ist nicht starr. Sie ruht nicht. Sie steht nicht als abgeschlossene Größe im Raum. Sie bewegt sich. Sie entwickelt sich in und aus Gott. Theologisch: Das regnum Dei27) „wächst”.

Indem Calvin „Kirche” als organische Einheit auffaßt, schafft er eine Brücke zwischen dem Verborgenen und Sichtbaren in der Kirche. Der Organismusgedanke ermöglicht eine Art Synthese von Statik und Dynamik. Auch wenn „Calvin28) nach 1539 eine entscheidende Wendung zur sichtbaren Kirchengemeinschaft nimmt”29), „hält" die Brücke, gehört zur Synthese eben auch die Dynamik. Trotz aller Betonung der sichtbaren Gemeinde, die Calvin schließlich fast30) mit der politischen Gemeinde identifiziert, versteht er Kirche als Organismus immer als die eine, die wahre Kirche, das Corpus Christi Mysticum.

c) Das „pneuma” Kirche

Die Dynamik der Kirche deutet auf das Pneuma hin. Den „Körper” Kirche durchhaucht der Geist Gottes. Bohatec spricht geradeswegs vom pneumatokratisch-organischen Prinzip Calvins31).

Da der Begriff des Pneuma die Untersuchung weiterhin beschäftigen wird, ist ein Ausblick auf das Verständnis des Pneuma erforderlich. Folgt man hier Daniélou, so sind die hebräische und griechische Auffassung zu unterscheiden32). Das Neue Testament versteht Pneuma als das biblische „ruah”: Gott als Macht in dem Bilde gewaltigen Windes. Das griechische Pneuma besagt Immaterialität in dem Bilde des Atemhauches.

Die Gräzisierung des Pneuma-Gedankens scheint in der Entwicklung seit der Reformation sich durchgesetzt zu haben. Das Verständnis des Pneuma reicht vom Geist Gottes33) über den Gottesgeist bis zur Gleichsetzung mit Hl. Geist. Aufschlußreich wird das Vorgehen Schoch’s34), der die Vokabel „pneumatisch” negiert, „weil sie dem Gebildeten nur noch in dem Sinne vertraut ist, in welchem ihn die Technik verwendet” (!), so daß er an ihrer Stelle von „geistlich” spricht. —

In der von Calvin als Körper verstandenen Kirche wirkt also der Geist Gottes, der die einzelnen in ihm zu einer organischen Einheit zusammenfügt35).

d) Die „Gemeinde” Kirche

In der Kirche als organischer Einheit findet sich so viel Begriffliches, daß Calvin von hier zu klar umrissenen Bestimmungen gelangen kann. Zu allererst versteht er sie als „Gemeinde”. Das organische Element verhindert von vornherein eine Abwertung der sichtbaren Seite dieser Gemeinde,


27) Bohatec, a.a.O., S. 272.
28) Ähnlich wie Zwingli.
29) Vgl. Bohatec a.a.O., S. 276 und 288.
30) ganz? „Dieu nous a unis en un corps”. Corp. Ref. Calvini op. 26, 70.
31) Bohatec a.a.O., Einl. XIV und S. 570.
32) Dazu Daniélou, Das Christentum u. die Religion, S. 400.
33) Vgl. dazu die Definition bei Hauck, a.a.O., S. 77.
34) Schoch KR, S. 15.
35) Bohatec a.a.O., S. 272, 274, 570.

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was nicht ausschließt, daß er die verborgene Seite gegebenenfalls überordnet36); aber in der Gemeinde als Körper sind beide Teile immer „eins”.

In der Vereinheitlichung erscheint die Gemeinde als communio praedestinatorum, als congregatio electorum37). Der Geist Gottes, der sich als das Gesetz des Alten Bundes für Calvin offenbart38), gestaltet die Gemeinde zur societas fidelium, societas corporis Christi, letztlich societas Christi39).

Sowohl in der „Gemeinde” als auch der „societas” präsentiert Calvins Kirchenauffassung einen „Begriff”. Die societas ist ihm weder ein Abstractum noch eine „societas perfecta”.

Der Rationalist40), der Realist und (seit seiner Rückkehr nach Genf 1541) wohl auch Skeptiker in Calvin lassen die societas perfecta nicht zu; er spürte, daß die absolute Vollkommenheit in den Grenzen des Begrifflichen zwar anzustreben, nicht aber zu erreichen sei41).

Gerade mit dieser Einschränkung erweist sich Calvins „Gemeinde” (communio, societas) als lückenloser „Kirchen”begriff42). Die Gemeinde „verkörpert” immer die „eine” Kirche, die Verbundenheit von Engeln und Menschen, von denen Calvins Worte lauten:

„Utrosque Christus in corpus suum coadunando Deo patri coniuxit, ut vera harmonia in coelo et in terra constaret.”43)

 

3. „Kirche” in reformierter Sicht

a) Die Anglikanische Kirche

Für das Betrachten des reformierten Kirchenverständnisses verhindert die Streubreite seiner Erscheinungsformen eine kompakte Darstellung, wie sie das Luthertum qua „confessio” erlaubt.

Eine Sonderstellung nimmt die Anglikanische Kirche ein. Trotz Beibehaltung der römisch-katholischen Riten und Zeremonien weist sie in ihrer Glaubensgrundlage — den 39 Artikeln — maßgebenden calvinischen Einfluß auf44), zeigt aber gleichzeitig Spuren der Anlehnung an die Confessio Augustana45). Gerade bezüglich des Kirchenbegriffes tritt letzteres in Erscheinung (Art. VII CA). Weder die 39 Artikel, noch irgendein offizielles Werk der Anglikanischen Kirche sprechen von der „unsichtbaren” Kirche, sondern es heißt in Art. 19:

„Ecclesia visibilis est coetus fidelium, in quo verbum Dei purum praedicatur, et sacramenta, quod ea quae necessario exigantur, iuxta Christi institutum recte administrantur.”


36) So wie etwa vergleichsweise das Gehirn bestimmte Muskeltätigkeit bewirkt, vgl. Bohatec a.a.O., S. 277 und Anm. 45.
37) Vgl. Hauck, a.a.O., S. 43.
38) Heer, Europ. Geistesgeschiohte, S. 374.
39) Dazu Bohatec a.a.O., S. 570.
40) Man verstehe diese Formulierung nicht falsch! Hinter Calvins Prädestinationsgedanken steht die Vorstellung von der verborgenen Tiefe, in der Gott waltet — eine Tiefe, in die schlechthin kein rationaler Gedanke (keine psychologische Beobachtung des Heute) hinabreicht!
41) Vgl. Bohatec, a.a.O., S. 301.
42) Wie sehr es Calvin um den „Begriff” der Kirche zu tun ist, zeigt sein Schreiben an Sadolet (1477-1544), abgedruckt bei Schüle, KR S. 63-65.
43) Corp. Ref. Calvini op. 51.151.
44) Heute glaubt man, aus der Veränderung der britischen Sozialstruktur auf eine zunehmende Stärkung der protestantischen Elemente in der Anglikanischen Kirche schließen zu dürfen. Vgl.: Schwächung des Anglo-Katholizismus, NZZ, 4. 11. 1953, Bl. 2.
45) Vgl. Wahl, Staatskirche und Staat in England, S. 35.

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Die Frage der unsichtbaren Kirche bleibt mithin offen. Auch Richard Hooker (1534-1600), der gegen Ende der Tudor-Epoche an der Verfestigung des anglikanischen Kirchengefüges durch sein Werk „Of the Laws of Ecclesiastical Polity” (1594-1597)46) großen Anteil hat, gelangt nicht zu einem eindeutigen Kirchenbegriff. Einmal ist die Kirche corpus mysticum und „a real body collective”47), zum anderen geht sie aus der Interpretation des Art. 19 als „sensibly known Company” hervor, von der er dann sagen kann:

„The Church is a visible society and body politic.”48).

Ohne sich also um Abgrenzung oder Einzäunung nach der Seite der unsichtbaren Kirche zu kümmern, formt man die ecclesia visibilis auf der Grundlage von Art. 19 zum Begriff — ein Eindruck, der durch Art. 20 und den „Amts”artikel 23 noch verstärkt wird.

b) Kirche als „Gemeinde”

Die Entwicklung des reformierten Kirchenverständnisses zeigt, daß die Begriffsintensität, wie sie bei Calvin vorherrscht, sich nicht hält. „Kirche” auch nach reformiertem Glauben „bedeutet” zu allererst ein Geschehen, ein Werden49). Es ist nicht so, als wenn die Fluoreszenz des Doppelaspektes invisibilis-visibilis für die reformierte Sicht keine Inzidenz habe50).

Der Akzent der reformierten Aussage über Kirche lagert indes auf der „Gemeinde”, ohne daß sie sich sogleich als „Begriff” verstehen ließe. Es besteht kein Zweifel darüber, daß die Bildung einer Anzahl von „Denominationen” im calvinistischen Bereich in der immer mehr zerfließenden „Gemeinde”vorstellung ihre Wurzeln hat51).

Die reformierte Kirche als „Gemeinde” orientiert sich maßgebend — streckenweise: allein — an der Schrift52). Die überragende Bedeutung des Scbriftprinzips überschattet das Bekenntnis. Die Kehrseite des Im-Einklang-mit-der-Schrift liegt in dem „Nonconformist” zu allen Lehren, Formeln und Bekenntnissen als constante Größen53). Reformierte Kirche als „Gemeinde” durchfließt zudem ein antimystischer Zug54) und eine verschieden starke Tendenz der Identifikation von sacramentum, Signum und symbolum55).


46) Zu Hooker: Lüdecke, Die englische Literatur, S. 49: Gottfried Michaelis, Richard Hooker als politischer Denker: Heer, Europ. Geistesgeschichte, S. 423.
47) Wahl, a.a.O., S. 49.
48) Wahl, a.a.O., S. 50.
49) Otto Weber, Versammelte Gemeinde, S. 10: „Kirche ist nichts Zuständliches, sondern ein sich stets erneuerndes Geschehnis”; S. 30: „ecclesia ,ist’ nicht, sondern ,findet statt’”.
50) Dazu Karl Müller, Sichtbare und unsichtbare Kirche (1925) in: Die Frage nach der Kirche, Barmen 1927, S. 5-47.
51) Vgl. Schüle KR, S. 55/56.
52) Zum Schrift-prinzip vgl.: Schüle KR, S. 56-62; Humburg, Wahrheit wider Irrlehre, S. 7; Schoch, Bücher zum NT, NZZ, 14. 7. 1953 Bl. 3, „Einzige Quelle und Norm (!) der christlichen Erkenntnis ist die Heilige Schrift.” (! hinzugefügt.)
53) Vgl. Otto Weber, a.a.O., S. 111.
54) Thurian, Joie du Ciel sur la Terre, p. 15, spricht vom „préjuge antimystique” und führt aus: „La pensée réformée absolument soumise à la parole de Dieu teile qu’elle est contenue dans l’Ecriture, a redouté et souvent empêché toute mystique.” Das gilt allerdings nicht für Calvin selbst, vgl. seine Straßburger Liturgie (1538-1541) p. 213 s.
55) Vgl. Vogel, Luth.-ref., heute S. 12/13.

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Auf diesem Wege erweist sich die reformierte Kirche als „Gemeinde” weithin als gefeit gegen jede Abwertung, gegen jenes peiorative Odium, das die ecclesia visibilis im Luthertum umgibt. Weltzugewandtheit und Diesseitsbejahung des Calvinismus finden insofern in dem Hervorheben der „Gemeinde” in den reformierten Kirchenaussagen Ausdruck.

Das alles entbindet nicht davon, das reformierte Verständnis der Kirche als „Gemeinde” begrifflich mit größter Behutsamkeit aufzunehmen. Aufschlußreich kann ein Wort von Martin Butzer (Buzer) (1491-1551)50), dem Straßburger Reformator, sein:

„Wir sind gott- und christgläubig, nicht kirchgläubig.”57)

Der Heidelberger Katechismus von 1562, obzwar er die Prädestinationstheorie nicht übernimmt, spricht in Frage 34 von der „auserwählten Gemeine”.

„Ecclesia” erscheint als „die als des Herrn Eigentum herausgerufene Gemeinde”58). Schriftbezogen59) wirkt die Gemeinde als allumfassendes Strahlungsfeld,

„corpus ipsius, et plenitudo eius, qui omnia in omnibus adimpletur.”

Allerdings darf aus der Betonung des Gemeindeelements im reformierten Kirchenverständnis keine Überbetonung konstruiert werden. Die heutige Ansicht neigt dahin, „ecclesia” als die Dreiheit „Versammlung-Gemeinde-Kirche” zu verstehen60). Alle drei Elemente haben für den „Begriff” der „ecclesia” substantiellen Wert61). In diesem Zusammenhang sagt Otto Weber:

„Die an einem konkreten Ort zu einer konkreten Zeit sich ,versammelnde’ ,Gemeinde’ ist wirklich die je konkrete Gestalt der ,Kirche’.”62)

Nach Schoch „zieht der reformierte Sprachgebrauch das Nomen ,Gemeinde’ dem Ausdruck ,Kirche’ vor; ein sachlicher Unterschied besteht aber nicht”63).

c) Der reformierte Kirchenbegriff

Versucht man die Aussagen reformierten Kirchentums über alle Erscheinungsformen hinweg zusammenzufassen, dann darf man das reformierte Kirchenverständnis, vom Calvinismus herkommend, im angelsächsischen Raum als Kirchen„begriff” werten, am stärksten ausgeformt in der Anglikanischen Kirche. Auf dem Kontinent ist nur zögernd „Kirche” in reformierter Auffassung als „Begriff” anzusprechen. Die Betonung der „Gemeinde” bildet das Hauptmerkmal. In der „Gemeinde” sind mancherlei


56) Nach Gollwitzer (Wollen wir heute . . . , S. 63) sind Butzers und Melanchthons Lehre von Calvins Abendmahlslehre „nicht wesenhaft” verschieden. Köhler stellt fest (Zwingli S. 191), daß Butzer seine Hinneigung zu Zwingli deutlich bekundete. — Jundt’s Feststellung (a.a.O. p. 63) über Butzer „II a developpé le Luthéranisme originel” ist abzulehnen, genau so wie (daselbst), „En formulant la notion d’une église visible . . . Bucer voyait en eile une association de fidèles pour la cure d’âme”
57) Sonntagsbl. für ev.-ref. Gemeinden, 29. 8. 1954, S. 3.
58) Humburg, Wahrheit wider Irrlehre, S. 5.
59) Eph. I, 23.
60) Otto Weber, a.a.O., S. 32 (mit Bezugnahme auf Karl Barth).
61) Weber a.a.O., S. 36-37.
62) Weber a.a.O., S. 39-40.
63) Schoch KR, S. 8.

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Begriffsansätze gegeben. „Gemeinde” ist der Begriffsbestimmung fähig, und doch vermag diese Begriffsbestimmung reformierterseits für die als Gemeinde verstandene „Kirche" nur bedingt in die Wirklichkeit einzugehen; denn die ecclesia reformata fühlt sich immer irgendwie auch als ecclesia errans, und „reformatum” meint eigentlich keinen analysierbaren Tatbestand, „sondern einen unanschaulichen Sachbezug: nach Gottes Wort reformiert” . . . . . 64)

Der in obiger Amplitude gegebene, auf das Gemeinde-Prinzip aufbauende reformierte Kirchen„begriff” findet seine Schranken dort, wo ihn die Devise — zwar nicht Lehrsatz, aber typisch reformierte Formel — in sie verweist:

„Finitum non est capax infiniti.”

 

IV. Hie Bekenntnis — Hie semper reformanda
(Vergleichende Betrachtung zu I-III)

 

1. Die Dynamis protestantischen Kirchenverständnisses

Eine vereinfachte Gegenüberstellung der verschiedenen Aussagen über „Kirche” kann zwischen dem mehr statischen Begriff der katholischen Kirche und dem mehr dynamischen Verständnis der „Kirche” evangelischerseits unterscheiden. Sobald wir Einzelheiten auf diesem theologisch sehr umstrittenen Gebiet vergleichen, entscheidet über die Schlußfolgerungen die Einsicht, daß Vergleiche nur immer bis an die Grenze führen, wo das Unvergleichliche beginnt.

Es erscheint unzweckmäßig, die Kirchenvorstellung der Reformatoren gewaltsam über den Leisten der Sichtbarkeit-Unsichtbarkeit zu schlagen. Luther, Zwingli und (wenn auch in schwächerem Maße) Calvin leben noch in der „Ganzheit” Kirche und meinen schließlich in allem die „eine” Kirche. Dabei wächst das Verständnis Luthers aus rein spiritueller Schau, während dasjenige Zwinglis Einsprengsel politischer und das Calvins organisatorischer1) Art aufweist.

Auf diese Weise finden wir bei Luther eine in Einzelheiten sich stark widersprechende, stets vibrierende Kirchenvorstellung und gelangen über Zwingli bei Calvin zu einem fast festgefügten Kirchen„begriff”. Dahinter tun sich die Geisteswelten Griechenlands und Roms auf.

Die Annahme der „einen” Kirche als Grundgedanken der reformatorischen „Kirche” soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Luther vorschwebende Bild „Kirche” stärker auf die eigene Person bezogen ist2), während Zwingli und besonders Calvin „Kirche” auf ein Gemeinsames — an einem Kollektivum, welcher Art auch immer — ausrichten. Sicherlich enthalten Luthers Gedanken zur „Kirche” Kerne einer Aufspaltung der Zusammenhänge3). Aber es sind eben Kerne, deren zerstörerisches Werk der


64) Herrenbrück, Bezirksbruderbrief 1954 Nr. 18 Anhang, S. 1.
1) Um nicht schon an dieser Stelle den Ausdruck „juristisch” zu verwenden.
2) Vgl. Lortz, Geschichte der Kirche, S. 281.
3) Vgl. Stählin, Erneuerung in Demut, Sp. 4.

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von ihnen getriebenen Wurzeln erst in der Folgezeit kraftvoll Diesseits und Jenseits, Leib und Seele, Wissen und Glauben auseinandertreibt. Nun entschwindet die Hierarchie der Werte, von denen Luther selbst sich noch getragen weiß.

Zwingli und besonders Calvin mühen sich, im Kirchenbegriff Auseinanderstrebendes wieder zusammenzuführen. Nicht, daß auch ihr „Begriff” der Kirche den einzelnen nicht auf sein Gewissen verwiese, aber ihre Kirche als „Gemeinde”, als „societas Christi” sucht raumgreifend Gegensätze auszugleichen, Verschiedenheiten zu vereinen und die sich auflösende Werthierarchie neu zu gestalten.

Das Verständnis der „einen” Kirche entspringt bei Luther einem mehr irrational-individuell eingestellten Denken, bei Zwingli und Calvin einem mehr rational-kosmisch gelagerten Denken. In Luthers Kirchenverständnis steckt ein Hang zur Diskordanz, in dem Kirchenbegriff Zwinglis und Calvins lebt die Neigung zur Konkordanz. Suchen wir die Ansichten der beiden letzteren zu unterscheiden, so stoßen wir auf eine pneumatisch-charismatische „Kirche” bei Zwingli und eine pneumatokratisch-organische „Kirche” bei Calvin. Und es ist, als öffne sich in dem „κρατεῖν” eine ganze Welt, die Calvin von allen anderen vor ihm und nach ihm trennt. —

Die Vielzahl begrifflicher Umschreibungen für das evangelische Verständnis der „Kirche” darf nicht verschleiern, daß für Lutheraner und Reformierte „Kirche” ein Geschehen darstellt. Die Schriftbezogenheit trägt „die Dynamik des in der Hl. Schrift gegenwärtigen apostolischen Zeugnisses”4) in das Kirchenverständnis hinein. Von hier aus läßt sich, obzwar nicht „erklären”, so doch darlegen, daß „der eigentliche Protestantismus als solcher in ständiger Bewegung”5) verharrt.

Das begriffliche Fixieren des evangelischen Kirchenverständnisses bewahrheitet Barions Ansicht6), daß Kirche um so schwieriger einzuordnen sei, je strenger man sich — bei Vernachlässigung der historischen und soziologischen Kriterien — an die dogmatische, sacramentale Bedeutung der Ecclesia bindet, da diese nur im Singular existiert, während eine Berücksichtigung der historischen, soziologischen, gar juristischen Aspekte die eingängige Auffassung7) „der Kirche als ein plurale tantum” nährt8).

Das dynamische Kirchenverständnis bietet in lutherischer Sicht keinen Festpunkt. Die Umschreibungen und Bilder finden im Bereiche der lutherischen Schau keine Stelle, die die „Anlandung” als begrifflichen Niederschlag ermöglicht. Dieses Sprachbild aus dem Wattengebiet hilft zu vergegenwärtigen, was lutherische „Kirche” besagt: So wie das Watt — nicht mehr Wasser und noch nicht Land — im Werden begriffen . . .

Dieses lutherische Kirchenverständnis erzeugt keinen Kirchen„begriff”, umkreist ein Ideal. Wenn das Luthertum „die unsichtbare Gemeinde” — „die Gemeinde der Heiligen” — „den Hl. Geist” — „den erhöhten Herrn”


4) Gollwitzer, Wollen wir heute, S. 64.
5) Jaspers, in einem Brief an Bultmann, abgedr. im „Merkur” (Stuttgart) Juni 1954.
6) Barion, Die Begrenzung des Kirchenrechts, S. 18-19. Barion verwendet an jener Stelle, durchaus berechtigt, den Ausdruck „Kirchenbegriff”, den die Untersuchung hier mit Bedacht nicht übernimmt.
7) Barion, a.a.O., S. 19.
8) Vgl. CIC can. 1070 § 1, 1099 § 2.

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als synonym zu ecclesia zu verstehen wagt, spüren wir darin etwas von dem Ideal „Kirche”. Ideal ist nicht weniger die „Heiligungsgemeinschaft”, die lutherisches Denken der kath. „Heilsanstalt” gegenüberstellt9). Das Ideal erweist sich ineins — so wie das Watt durch die Gezeiten fortwährender Veränderung unterworfen ist — als kritisches Prinzip, daß jede „Form” der Aussage über „Kirche” immer wieder in Frage stellt10). — Hier ist eine gewisse Übereinstimmung mit dem besonderen Bewußtsein der griechisch-orthodoxen Kirche als einer „überweltlichen, überräumlichen, unmittelbar in die Überwelt hineinragenden Gemeinschaft von Gläubigen” zu ahnen11).

„Kirche” in lutherischer Sicht mangelt es mithin begrifflich an der Identität. Alles ist im Flusse. πάντα ῥεῖ Identisches kann es im ewigen Flusse nicht geben. Im Luthertum lebt ein heraklitisches Kirchenverständnis.

Das dynamische Kirchenverständnis auf reformierter Seite verfügt über einen Festpunkt. Die reformierte „Kirche” besitzt Identität in der „Gemeinde”. Der lutherischen Ansicht, von der sichtbaren Kirche stehe kein Wort im Neuen Testament12), stellt die reformierte Auffassung entgegen, daß das Neue Testament den Begriff der unsichtbaren Kirche nicht kenne13).

„Kirche im Sinne des Glaubens ist die Gemeinschaft der Gläubigen an einem Orte oder in der ganzen Welt, auch die Vollzahl aller Erwählten hienieden und der Seeligen im Himmel, die Einheit vieler, die teilhaben an der Erlösung.”14)

Bei allen Einschränkungen, die die Betrachtung reformierter Kirchenschau erbracht hat, erlaubt die Vorstellung der Kirche als „Gemeinde”, von einem reformierten Kirchen„begriff” zu sprechen. Es ist einzuräumen, daß die Gemeinde „Kirche” als Angelpunkt der Begrifflichkeit zu Zweifeln berechtigt. Soweit wir sehen, vermag das reformierte Kirchenverständnis das Element „Gemeinde” als Begriff nie völlig zu negieren15). Allerdings drängt die quirlige Substanz „semper reformanda” in der „ecclesia reformata” die Gemeinde zuweilen an (über?) die Grenze begrifflicher Auflösung. In solchen Augenblicken gehen das reformierte Prinzip des „semper reformandum” und das kritische Prinzip des Luthertums ineinander über16). Indessen ist der Soupcon nicht zu unterdrücken, daß diese sublime Form des Ineinanderaufgehens nur dem kontinental europäischen


9) Vgl. Haudc a.a.O., S. 43.
10) Vgl. Hauck a.a.O., S. 39.
11) v. Rautenfeld, Orthodoxie und Bolschewismus, StdG 1949 Heft 11, S. 12. Allerdings versteht sich die „rechtgläubige Kirche” Rußlands heute auch, gemäß einer Erklärung des Patriarchen Alexej, als „die Gemeinschaft aller Arbeitenden und der Hort aller die Wahrheit des Glaubens Suchenden.” Vgl. Sementowsky: Das Dritte Rom. NA 1954/233.
12) Vgl. oben S. 30, Anm. 71.
13) Otto Weber, Versammelte Gemeinde, S. 48.
14) Schoch KR, S. 8.
15) Die Konzeption K. Barths ist an anderer Stelle zu berücksichtigen.
16) Nur in derartigen — seltenen! — Augenblicken besteht in nuce ein „protestantisches” Prinzip. — Nach Tillich „kann das protestantische Prinzip durch keine Definition festgelegt und durch keine historische Religion voll ausgeschöpft werden . . . Es enthält den göttlichen und menschlichen Protest gegen jeden absoluten Anspruch, der für eine bedingte Wirklichkeit erhoben wird, auch dann, wenn dieser Anspruch von der protestantischen Kirche selbst ausgeht.” (Tillich, Der Protestantismus, S. 210). Der zweite Satz ist unseres Erachtens ein Ausfluß des „semper reformandum”, nicht lutherischen Kirchenverständnisses!

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Denken „vollziehbar” sei, während der calvinistische Weltprotestantismus die Begrifflichkeit der „Gemeinde” im Kirchenverständnis nie in Zweifel ziehe. Die Tiefe wird sichtbar: Im reformierten Kirchentum können Zwinglianismus und Calvinismus theologisch eben auch „sehr verschiedene Größen” sein17).

 

2. Das „Bekenntnis”

Indem das lutherische Kirchenverständnis sich wesensmäßig von Festpunkten freihält, die eine Begriffsbildung erlauben, fühlt es sich gehalten, auf anderen Wegen eine Verfestigung der Kirche zu erreichen. Die fehlende Begrifflichkeit erheischt geradezu gebieterisch vom Luthertum, die Identität dessen, was „Kirche” bedeutet, zu wahren. Sie weist die Rolle der Wahrung vor allem dem Bekenntnis und — in schwer abschätzbarem Maße — dem Amt zu. Von hier aus erklärt sich z.T. die alles überragende Stellung des Bekenntnisses.

Es ist schwierig bestimmbar, ob das Bekenntnis als Mittel anzusehen ist, oder ob ihm der Rang einer Institution gebührt. Jedenfalls stellt das Bekenntnis in lutherischer Sicht ein „konstitutives Ereignis dar”18). Das Versteifen auf das Bekenntnis bestimmte schon den Ausgang des Marburger Religionsgespräches von 152919). Seitdem hält das Luthertum unbeirrt an der „Rechtgläubigkeit” fest, die es mit einer fortschreitenden Dogmatisierung erkauft hat20). Das Luthertum hat den nachreformatorischen Satz geprägt, der seine Bekenntnisverhaftung eindrucksvoll enthüllt:

„Gotts Wort und Luthers reine Lehr
vergehen nun und nimmermehr.”

Das Bekenntnis ist die Verkörperung „reiner Lehre” geworden. Darum „wird in der lutherischen Lehre eine Theologie der Bekenntnisschriften immer wieder geschrieben” . . .21)

Die reformierte Kirche hält zwar das Bekenntnis nicht für bedeutungslos22), aber es kann ihm keinen konstitutiven Charakter zuerkennen. Die Gemeinde muß vermöge des „semper reformanda” jedes Bekenntnis in Frage stellen und kann es tun, da der reformierten Kirche der Gemeindebegriff essentiell ist. Eine Dogmatisierung Calvins hat es, wie Gollwitzer ausführt, „im reformierten Bereich per nefas gegeben”23) — eine Aussage, die sich beliebig auf Zwingli, Butzer, Farel, Knox (selbst auf Cranmer und Hooker) erweitern läßt.

Das Luthertum kann Friktionen zwischen Bekenntnis und Amt nicht Vermeiden, sobald es auch das Amt für konstitutiv erklärt24). Aufschlußreich wirkt es, wenn im Luthertum heute einer Überbewertung des Amtes mit dem Hinweis, unter Aufnahme des reformierten Gemeindegedankens,


17) Niemöller, JK 1952, 475.
18) Brunstäd, Die Kirche und ihr Recht, S. 24.
18) Vgl. Köhler, Zwingli, S. 199 und 206.
20) Jundt a.a.O. p. 62: „C’est la doctrine qui a maintenu l’unité du lutheranisme.
21) Joachim Beckmann, KiZ, Literaturbeobachter August 1952, S. 134.
22) Vgl. Herrenbrück, Bezirksbruderbrief Nr. 18, Anhang S. 2.
23) Gollwitzer, Wollen wir heute, S. 68.
24) Brundstäd, a.a.O., S. 23-24, 27-28.

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entgegengetreten wird, Amt oder Gemeinde nicht gegeneinander zu prinzipalisieren, da keines von beiden vor dem anderen da sei25).

Die Stellung des Bekenntnisses liefert weitere Unterscheidungsmerkmale für das dynamische Kirchenverständnis. Sie gibt der lutherischen Kirche ein traditionalistisches Gepräge26), demgegenüber die reformierte Kirche okkasionalistisch wirkt. Während das Luthertum die Tendenz zeigt, sich als Konfessionskirche abzukapseln, durchsteht die reformierte Kirche in konfessionsloser Inkonsistenz den Lauf der Zeiten.

 

3. Die Fragwürdigkeit der Konfessionsunterschiede

Die Analyse des Kirchenbegriffes hat bis hierher zu einer Konfrontation von Statik auf katholischer und Dynamik auf evangelischer Seite geführt. Nichts wäre nun gefährlicher, als diesen Unterschied zu perhorreszieren! Vermöge der „Offenheit” katholischen Ganzheitsdenkens läßt sich die Statik des katholischen Kirchenbegriffs nicht zu Starrheit, gar zu Indolenz stempeln. Ebensowenig hilft die Parole vom spiritualisierten Kirchenbegritf des Protestantismus weiter; denn das heraklitische Kirchenverständnis des Luthertums bewahrt seine Eigenart gerade in der Nicht-Begrifflichkeit, während in dem dynamischen Kirchenbegriff der Reformierten wenigstens streckenweise (Calvinismus) die „statische Linie” vermutet werden darf.

Trotzdem bleibt die wesenhafte Verschiedenheit zwischen Kirche als Seiendem und Werdendem bestehen. Aber die Auseinandersetzungen im Christentum zeigen, daß man es nicht überall mit dem Hinnehmen des Faktums gut sein läßt. Das gilt für Katholizismus und Protestantismus, trifft indessen weit stärker auf die Verhältnisse im evangelischen Bereich zu. Die Sicherheit, wie sie noch 1925 Hermelink dargetan hat:

„die konfessionelle Sonderung auf dem Gebiete unseres reformatorischen Glaubens als gottgewirkte Tatsache zu bejahen”27),

ist einer Unruhe gewichen, deren Fragen und Zweifel an der Gemäßheit verschiedener evangelischer „Konfessionen” gerade vom Kirchenverständnis her oft neuen Auftrieb erhalten.

Angesichts der zunehmenden Materialisierung bekennen evangelische Kreise im Bezug auf das historische Entstehen des Unterschiedes „lutherisch-reformiert”, daß

„wir weithin nicht einmal um die Fragestellung der Alten wissen”28).

Der Stand der heutigen Entwicklung bedingt die Ansicht:

„Eine formelle Verpflichtung auf den ganzen Inhalt der reformatorischen Schriften (z.B. ptolomäisches Weltbild, Verbalinspiration) kann kein ehrlicher Mensch ohne Vorbehalt übernehmen.”29)

Man gibt von theologischer Seite zu bedenken, daß wir heute wohl nicht einmal die Frage verstünden (auch wenn wir sie „wüßten”), auf die unsere


25) Aus einer Stellungnahme der Ostzone, Denneberg/Fenrich, „Amt und Ämter” JK 1952, 140.
26) Die „großzügige Formfreiheit”, die Hauck (a.a.O., S. 40) für die evangelische Auffassung feststellt, trifft für das Luthertum weniger zu.
27) Hermelink, Stockholm und die Frage des Gesamtprotestantismus, Zeitwende 1925, S. 23.
28) Vogel, Lutherisch-reformiert, heute, S. 11.
29) Simons, Religion und Recht, S. 217.

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Väter zur Reformationszeit so schmerzlich getrennte Antworten fanden30).

Die Lage im evangelischen Bereich zeigt, wobei besonders die Richtung der sog. „Bekennenden Kirche” in Deutschland hervorzuheben ist, daß der casus confessionis (sofern er überhaupt gesetzt wird!) den evangelischen Menschen jedenfalls vor völlig andere Entscheidungen stellt, als wie sie in dem Unterschiede „lutherisch-reformiert” beschlossen liegen31). Für das Zustandekommen der „gemeinsamen” Barmer Theologischen Erklärungen vom Mai 1934 weist Karl Barth nach:

„Die Vorstellung, daß wir eigentlich und ernstlich nur in unserer Eigenschaft als Lutheraner, Unierte oder Reformierte wahrhaft. . . . . . in der Kirche als Kirche und für die Kirche handeln könnten, war unserem Kopf und unserem Herzen, unserer Theologie wie unserem Glauben gleich fremd.”32)

Eine Rückkehr zu lutherischer oder calvinistischer „Haltung” hält Jaspers für unfruchtbar33). Die Unterschiede zwischen dem lutherischen und reformierten Kirchenverständnis — gar die Pflicht, sie als ein Getrenntsein zu manifestieren — sind heute weithin umstritten34). Dies alles sind Zeichen, läßt sich mit Gollwitzers Worten fortfahren:

„daß vielen . . . das bisher so fraglos behauptete Recht der konfessionellen Tradition, in der sie lebten, fragwürdig geworden ist.”35)

Fragwürdig erscheinen die Unterschiede zwischen der lutherischen und reformierten „Kirche”, nicht gemessen an dem Maßstab irgendwelcher -ismen, sondern wie Vogel darlegt, „eben von der Wahrheit her, um die es den Reformatoren ging”36).

In der Auseinandersetzung um die Frage „lutherisch-reformiert” schimmert zuweilen die Auffassung durch, daß sie als „theologische Differenz”37), als ein Unterschied theologischer Auffassungen zu werten sei, „aber eben nicht als ein kirchentrennender Unterschied”38). Eine Untersuchung des evangelischen Kirchenverständnisses kann an diesen Gedankengängen nicht vorbeigehen, auch wenn sie nur ein weiteres Element der Instabilität beitragen und die begriffliche Unterscheidung von lutherischer und reformierter „Kirche” mehr erschweren denn erleichtern. Die Annahme der „Reformabilität kirchlicher Bekenntnisse”39) bewirkt, in der bisher gepflogenen Einteilung in evangelische Konfessionskirchen überhaupt „eine problematische ecclesiastische Daseinsform”40) zu erblicken.


30) Eine Bemerkung, die sich auf die Kirchenspaltung überhaupt, nicht nur auf das lutherisch-reformierte Verhältnis bezieht. Asmussen, zitiert nach dem Rhein. Merkur, 12. 3. 1954, S. 8, Sp. 4.
31) Vgl. Vogel a.a.O., S. 17-25.
32) Barth, Barmen, in „Bekennende Kirche”, S. 12.
33) Jaspers in einem Brief an Bultmann, abgedruckt im „Merkur” (Stuttgart) Juni 1954.
34) Vgl. Weerdas Gedankengänge nach dem Bericht „Ein bedeutsames Konfessionsgespräch” (ohne Verfasser) KiZ, 1952, S. 269.
35) Gollwitzer, a.a.O., S. 53.
36) Vogel, a.a.O., S. 4. — Die wissenschaftliche Überlegung führt sich an diesem Punkt ad absurdum, wenn man der schon zitierten Ansicht (vgl. oben S. 3, Anm. 21) zustimmt, daß der moderne Wahrheitsbegriff kein Wahrheitszeugnis mehr abgäbe.
37) Herrenbrück, JK 1953, S. 482.
38) Muth, KiZ S. 79 Sp. 1. Jahrg. 1954; vgl. die jüngst von Barth vorgenommene eindeutige Relativierung der Gegebenheiten verschiedener „Kirchen” KD IV, 1, S. 753-765 (Barth vorher schon in: „Die Theologie und die Kirche”, S. 286).
39) Gollwitzer a.a.O., S. 56.
40) Herrenbrück, Bezirksbruderbrief Nr. 18, S. 5.

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Wenn aber heute ein verschiedenes Kirchenverständnis bei Lutheranern und Reformierten von der „Wahrheit” her fragwürdig wird, dann kann eine wissenschaftliche Betrachtung eben der „Wahrheit” zuliebe nicht der Frage entraten, ob die Fragwürdigkeit nicht auch das Verhältnis zwischen katholischem Kirchen„begriff” und evangelischem Kirchenverständnis ergreife. Die Frage stellen, heißt für eine juristische Betrachtung weder Antwort zu geben, noch zu fordern. Ihr ist Genüge getan, sie aufzuwerfen.

Es gibt heute monasterische Tendenzen im reformierten Bereich, die von einer tiefen Durchdrungenheit von der wahren Katholizität der christlichen Kirche zeugen41). Von anderer Warte stellt Gogarten fest, daß die dem alten konfessionellen Gegensatz zugrunde liegende Frontstellung — Paulus gegen jüdisches Gesetzesdenken; Luther gegen katholische Werkgerechtigkeit — heute geschichtlich überholt sei42).

Es fehlt aus dieser Sicht also dem Gegensatz Katholische „Kirche” — Evangelische „Kirche” an der Sinn-Gemäßheit. Ihre theologische Ausdeutung auf eine fehlende Schrift-Gemäßheit hin streift einen der heikelsten Punkte gegenwärtigen christlichen Denkens.

Angesichts der Gegenüberstellung von „Kirche” als Reich Gottes auf Erden und Gemeinschaft (resp. Gemeinde) aller Gläubigen fließen die „Unterschiede” hinüber und herüber, wenn Meissinger fragt:

„Ist denn so ein gewaltiger Unterschied zwischen katholischer und lutherischer Liebestätigkeit, zwischen katholisch-christlicher und lutherisch-christlicher Ehrbarkeit?”43)

Irgendwie webt in den hier berührten Fragen nach „Kirche” etwas, wie es Meissinger ein anderes Mal feinsinnig anspricht, von „einer schöpferischen Liebe zu der einen vielleicht spät künftigen Kirche”44).

Nun verdient zwar in der Darstellung evangelischer „Kirche” die Bestrebung, das unterschiedliche lutherische und reformierte Kirchenverständnis anzugleichen und auszugleichen, der Beachtung. Ein überbewerten als Faktum erschiene verfrüht. Viel eher ist zu sagen, daß in letzter Zeit eine reculierende Bewegung zunimmt. Aus dem begriffsfreien Kirchenverständnis des Luthertums erklärt sich, daß es jeder Fragwürdigkeit gegenüber im Bekenntnis Halt sucht. Der Hang zum Festhalten am Bekenntnis verhärtet die herausgestellten Unterschiede zwischen lutherischem und reformiertem Kirchenverständnis. Der Hang kann für das evan-gelische Christentum als „gefährliche Tendenz seiner Teile, Kirche zu werden”45), einen „innerprotestantischen Konfessionalismus”46) begünstigen. Nicht zu übersehende Rückbildungstendenzen47) verlangen von einer juristischen Behandlung des evangelischen Kirchenrechtsproblems, sich über


41) Die Liturgie der reformierten „Brüder von Taizé” sieht in den Stundengebeten die Fürbitte des Priors für den Primas Galliae, den kath. Erzbischof v. Lyon, vor. Dazu Beckmann, Die Gemeinschaft von Taizé, Rhein. Merkur 1953 Nr. 26, S. 16.
42) Dazu das Buch Gogartens, „Der Mensch zwischen Gott und Welt”.
43) Meissinger, Der kath. Luther, S. 229, wobei der Nachsatz folgt: „— und fügen wir der Vollständigkeit halber hinzu: zwischen katholischer und luther. Muckerei?”
44) Meissinger a.a.O., Vorwort, S. 1.
45) JK 1954, S. 41, 42.
46) Kloppenburg, JK 1954, S. 92.
47) Vgl. Gollwitzer, Wollen wir heute, S. 65, 66.

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die aus dem heraklitischen Kirchenverständnis lutherischerseits und dem vermöge der „Gemeinde” dynamischen Kirchen„begriff” reformierterseits ergebenden Unterschiede im klaren zu sein. Daß über allen guten Willen hinweg Unterschiede vorhanden sind, hat die Weltkirchenkonferenz von Evanston 1954 erneut bestätigt48). Wenn in deren Abschlußbericht keine Einigung darüber erzielt wurde, ob „Christus als die Hoffnung der Welt” auf das hic et nunc der gegenwärtigen Welt zu beziehen sei oder auf den Jüngsten Tag49), dann wird darin auch die Verschiedenheit zwischen der in der Gemeinde sich evolutionierenden „Kirche” reformierten (in engerem Sinne: calvinistischen) Verständnisses und der stärker eschatologisch empfundenen „Kirche” lutherischen Glaubens sichtbar.

 

4. Das Skandalon

Für das evangelische Kirchenverständnis — die lutherisch-reformierte Differenz unterstellt — ist „Kirche” eine Gemeinschaft von Gläubigen und als solche ein Geschehen in Christus. Damit wehrt „Kirche” jeden Drang himmelstürmender Reformernaturen. Mit Christus ist der Einbruch des Ewigen in die Zeit erfolgt! Neben Christus, neben „Kirche” als Leib Christi, gibt es kein neues „Ereignis”. Man kommt über Christus nicht hinaus50).

Man wäre geneigt, von hier aus dem evangelischen Kirchenverständnis eine gewisse Statik zu implizieren, und um den „Begriff” Kirche wäre es sogleich besser bestellt. Die betonte Schriftbezogenheit evangelischen Kirchenverständnisses erlaubt diesen Weg nicht. In der Aussage der „Schrift” sind überall Mysterium und Tremendum zugegen. Sie umgeben das σκάνδαλον Christus —

„Nos autem praedicamus Christum crucifixum; Iudaeis quidem scandalum, Gentibus autem stultitiam” (1. Cor. 1, 23) —

in Übertragung das σκάνδαλον „Kirche”.

Die Vorstellung des Skandalon lenkt den Blick der Bestimmung evangelischer „Kirche” auf eine neue Richtung in der protestantischen Theologie, die mit dem Namen Bultmanns verknüpft ist. Ganz abgesehen davon, daß Bultmann als Lutheraner überzeugt ist vom radikal Bösen im Menschen — im Gegensatz zu der von der Katholischen Kirche schon seit Tertullian vertretenen Auffassung: anima naturaliter christiana51) — wirkt sein Anliegen, daß das Wort Gottes als ein den Menschen anregendes Wort auch verstanden werde, auf das Kirchenverständnis. „Entmythologisieren" besagt bei Bultmann im wesentlichen nichts anderes als den Mythos in zeitgerechte (zeitverhaftete?) Begriffe transponieren. Diese Art „existentialer


48) Dazu Bericht FAZ, 27. 8. 1954, S. 5 Sp. 4-5: Hermann Sauer, Ende und Umbruch der prot. Welt, PAZ 11. 8. 1954, S. 8.
49) Richtig verstanden, widersprechen sich die beiden Ansichten nicht, denn die eschatologische „Hoffnung” hat mit chronologischer Zukunft nichts gemein, sondern bedeutet ein „Auf-Uns-Zukommen”.
50) Auf katholischer Seite Daniélou a.a.O., S. 396.
51) Zu Tertullian vgl. Heer, Europ. Geistesgeschichte, S. 17; zum Traduzianismus Tertullians vgl. v. Aster, Geschichte der Philosophie, S. 123, 124.

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Interpretation” kann zwangsläufig die evangelischen Vorstellungen von Kirche nicht unberührt lassen. Indem hier die Gottessohnschaft, die Jungfrauengeburt, gar die Auferstehung nicht als historische Ereignisse gesehen werden, sondern als Mythen der Urgemeinde, welche ihren Wert in dem ihnen zugrunde liegenden Gehalt für den im Glauben Hörenden besitzen52), dürfte in der Ausformung dieser Gedankengänge das evangelische Kirchenverständnis weiter vom Begrifflichen abgedrängt statt ihm angenähert werden.

Über vages Andeuten möglicher Aus- (oder Rück-?)wirkungen auf das evangelische Verständnis der Kirche kann die Untersuchung nicht hinausgehen, da die Beurteilung der sog. „Entmythologisierung” noch stark schwankt53). Jaspers erblickt in ihr eine Mischung von „Aufkläricht und Orthodoxie”54). Von anderer Seite glaubt man in der Entmythologisierung die „Dürftigkeit unseres Zeitalters”55) zu erkennen.

Jedenfalls ist aus dem heutigen evangelischen Verständnis der „Kirche" als Geschehen in Christus das „Skandalon Christus” nicht zu lösen, das als entmythologisierter „Bestand” bei Bultmann letztlich übrigbleibt; bei Gogarten (wiewohl aus ganz anderer Richtung kommend) entsteht am Skandalon der christliche Glaube56).

 

5. Zur Paradoxie

Das Skandalon führt zum ehernen Kern allen Christentums, an dem es teil hat: dem Geheimnis, daß Gott Mensch geworden ist. Alle christlichen Aussagen fließen aus und münden letztlich in diesem Geheimnis. Seine begriffliche Durchdringung besteht darin, daß, soweit die christliche Lehre einen Gottes„begriff” bejaht, der echte Gottesbegriff stets echter Person-Begriff ist, eine Wirkung des Geheimnisses, welche auch die protestantische Theologie im Fragen nach „Kirche” weder übersehen, noch geringschätzig abtun sollte.

Weil nun evangelische „Kirche” sich als Gemeinschaft bzw. Gemeinde von Gläubigen versteht, deren Haupt Christus ist, erreicht die Betrachtung evangelischen Kirchenverständnisses einen wichtigen, wenn nicht den wichtigsten Anhaltspunkt auf dem Wege zum „Kirchen”recht in dem in diesem Geheimnis gegebenen Paradoxon, welches das biblische Geschehen von Anbeginn durchzieht.

Es beginnt recht eigentlich damit, daß gemäß dem Schöpfungsbericht der erste Tod in der Welt ein Mord war (1. Mose 4, 8)57). Immer wieder hält die Bibel ein Paradoxon bereit, in der erhabensten Form im Kreuz Christi, dem christlichen Paradoxon ohnegleichen, „der absoluten Transzendenz in aller Immanenz”58).


52) Bultmann, Neues Testament u. Mythologie, Beiträge zur Ev. Theologie, Bd. 7, 1941.
53) Ablehnend verhalten sich die reformierten Kreise. Auch die Bischofs-Konferenz der Vereinigten Lutherischen Kirche v. 30. 9. 1953 hat sich gegen Bultmann ausgesprochen.
54) Vgl. dazu Jaspers/Bultmann, Die Frage der Entmythologisierung, München 1954.
55) Erhard Kästner, Gleichnis und Verkündigung, FAZ 3. 10. 1953, Feuilleton Sp. 2.
56) Gogarten, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit.
57) Schütz, Europa, S. 12.
58) Schönfeld, Grundlegung der Rechtswissenschaft, S. 482.

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Wie die Bibel erbringt auch das Christentum in seiner Entwicklung stets aufs neue das Paradoxon. Es hat den Anschein, als habe in frühchristlicher Zeit Tertullian das Paradoxon für die einzige jeweils adäquate Aussageweise christlicher Lehre gehalten. Das frühchristliche Axiom „forma nascendi causa moriendi” wird ihm zugeschrieben59). Er selbst sagt: „Credibile est, quia ineptum est . . . certum est, quia impossibile est.”60)

Luthers Gedankengänge, nicht zuletzt seine Ausführungen über „Kirche”, aber auch die der anderen Reformatoren, werden teilweise nur unter dem Auspiz des Paradoxons verständlich. Seile hat Luther einmal in der Weise interpretiert, daß für ihn die Offenbarung Gottes in der bleibenden Unoffenbartheit göttlichen Wesens bestanden habe61).

In der gegenwärtigen Theologie ist die Rede von der „abgründigen Paradoxie der Offenbarung Gottes”62). Nach Reinhold Schneider stellt das Gesetz63) des Evangeliums „die radikalste Umkehr aller Begriffe” dar64). Mithin fallen Gegensätze und Unterschiede, ohne die der Mensch das Leben sich nicht vorstellen — „nicht denken” — kann, angesichts des auf Christus weisenden Wortes „Ecce homo”65) (Joh. 19, 5).

Wo alle Anhaltspunkte, Einteilungen und Grenzen, die unser Denken ausmachen, aufgehoben sind, bedeutet Glauben ein Annehmen des Offenbarten über alles rationale Denken hinaus66). Soweit dieser Glaube das evangelische Verständnis der „Kirche” trägt, sollte der Jurist einschränkend die Einsicht verwerten, daß der Glaube immer „ein äußerstes Wagnis”67) bleibe. Jede Aussage der protestantischen Theologie über „Kirche” vermittels Negation des Begrifflichen — führe sie zur „Kirche” im lutherischen Bekenntnissinne oder zur ecclesia semper reformanda — ist wissenschaftlich ein „Wagnis”, was die Anwendung eines Satzes von Tillich veranschaulicht:

„In jedem tiefen Zweifel liegt ein Glaube, nämlich der Glaube an die Wahrheit als solche, sogar dann, wenn die einzige Wahrheit, die wir ausdrücken können, unser Mangel an Wahrheit ist.”68)

Die Bezogenheit auf Christus in der protestantischen Theologie erlaubt das Paradoxon, daß „der, der Gott ernstlich leugnet, ihn bejaht”69).

Für einen großen Teil der gegenwärtigen protestantischen Theologie wird das Wesen Gottes nur in der Paradoxie faßbar70). Das gilt für die


59) Vql. Josef Nielen, Epiphanie FAZ 24. 12. 1953, S. 1 Sp. 5.
60) Vgl. zu Tertullian Haucks Ausführungen, a.a.O., S. 21, die dortigen Quellen und Anm. 44; Seile a.a.O., S. 61 — Für die Beurteilung Tertullians sei ein Satz von Heer beigetragen: „Tertullian prägt zum ersten Mal jene verführerischen, glanzvollen und gefährlichen Antithesen, die alle richtig und alle falsch sind, an deren Pathos und „Rhetorik” sich die Intelligentsia aller Jahrhunderte berauschen wird und von denen sich schwer sagen läßt, wie weit sie „Literatur”, existentielles Denken, essentielles Glauben in sich tragen.” (Heer, a.a.O., S. 17).
61) Selle a.a.O., S. 54.
62) Bornkamm, Sehet, welch ein Mensch, FAZ 7. 4. 1955, S. 1 Sp. 4.
63) „Gesetz” hier jeglicher juristischer Terminologie entkleidet.
64) R. Schneider in einer Literaturkritik zu Przywara. FAZ 17. 7. 1954, Literaturblatt Sp. 5.
65) Bornkamm daselbst.
66) Tillich, Nach einem Bericht von Christian Lewalter, Der Gott der Philosophen (über einen Vortrag Tillichs). Die Zeit, 15. 10. 1953, S. 3 Sp. 1.
67) Ritter, Luther, S. 254.
68) Tillich, Der Protestantismus, S. 15.
69) Tillich, daselbst.
70) Vgl. Haucks Ausführungen zu Luthers Darstellung der potestas clavium a.a.O., S. 65, 66. — Selle a.a.O., S. 52: „Die Gottheit ist schlechterdings durch unsere Denkformen nicht erreichbar.”

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Erfaßbarkeit — in approximativer Übertragung — des Wesens der Kirche in evangelischem Verständnis nicht weniger. Die Bedeutung des Paradoxons für „Kirche" nach evangelischer Auffassung nimmt in dem Maße zu, in dem diese Auffassung sich dem Begrifflichen entzieht, in dem sie in spiritueller Schau zerfließt.

Das Paradoxon äußert sich in dem souveränen Anspruch auf Ausschließlichkeit, soweit die katholische, die lutherische und die reformierte Kirche ihn jeweils als corpus Christi erheben71). Das Paradoxon besteht in der Gegebenheit, daß für die katholische Kirche, genau so wie für die lutherische und reformierte Kirche, das Heilandswort, „ut omnes unum sint” (Joh. 17, 21)72), unumstößlicher Glaubensinhalt ist. Das Paradoxon gehört zur „Kirche”, vereinfacht verstanden als Gemeinschaft, die nicht von dieser Welt ist (Joh. 18, 36) und sich doch in ihr entfaltet73).

Eben diese letzte Erscheinungsform des Paradoxons fordert dort, wo die evangelische Sicht der „Kirche” eine begriffliche Verfestigung nicht erlaubt, sich darauf zu besinnen, wie vielfach von katholischer Seite aufgezeigt, daß „Kirche” zwar nicht von dieser Welt „ist”, aber eben doch in dieser Welt besteht74). Das rein spirituelle Verständnis der Kirche, das dem Luthertum eigen ist, wie auch die Vorstellung der ecclesia semper reformanda entheben den evangelischen Christen, gerade in der Frage nach eigenständigem Kirchenrecht, nicht der Feststellung:

„Zwar ist das Reich Gottes nicht von dieser Welt, aber die Kirche ist nicht das Reich Gottes, und seit Konstantin ist sie Weltkirche.”75)

Darin liegt eine Antinomie evangelischen Kirchenverständnisses.

Das Paradoxon ist aus den evangelischen Aussagen über „Kirche” nicht zu lösen. Ob wir lutherischerseits Kirche als spirituale Gemeinschaft der Gläubigen vorfinden oder reformierterseits „Kirche” irgendwie gemeindebetont, mit den vorhin dargelegten Einschränkungen als „Begriff”, antreffen, so oder so gelangen wir früher (im Luthertum) oder später (bei den Reformierten) an einen Punkt, wo es scheint, daß das „Begreifen” evangelischer „Kirche” in ein Glauben übergehe, ohne daß wir abrupt dort ein Aufhören des Begreifens konstatieren sollten.

Wir dürfen und müssen erkennen, daß das Paradoxon allgemein der christlichen Aussage, ganz besonders dem evangelischen Verständnis der „Kirche”, zugehört. Die Einsicht in die Paradoxie in der „Kirche” darf jedoch nicht zum Verzicht auf eigenes Denken verleiten — eine Tendenz, die, wiewohl weder „reformatorisch” noch „protestantisch” im eigentlichen Sinne, vermöge einseitiger Beleuchtung des Wesens der Paradoxie in der protestantischen Theologie zu Zeiten irrlichtert. Theologischen Hypothesen, die das menschliche Denken als antichristlich abstempeln, und nur ein nebuloses „Glauben” gelten lassen, vermag die Untersuchung nicht zu folgen. Eingeräumt sei, daß der Einfluß der Gegenwart, ganz einfach auf


71) Lampert, Kirche und Staat, S. 24.
72) Vgl. den Schluß der Botschaft Pius XII. aus Anlaß der Tausendjahrfeier Augsburgs 1955, Herder Korresp. Juli 1955.
73) Scharp, Abschied von Europa, S. 52j vgl. dazu Joh. 18, 33-37.
74) Vgl. Lampert a.a.O., S. 38.
75) Meissinger a.a.O., S. 181.

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Grund der Massenproduktion auf allen Lebensgebieten (man denke an die Wirkung von Telefon, Film, Radio und Fernsehen) den Bestrebungen förderlich ist, eigenes Denken suspekt zu machen. Wo aber eine Absage an das Denken erfolgt, hört der Bereich der wissenschaftlichen Betrachtung auf. Die sancta simplicitas wird zur Einfaltspinselei.

In dem Bemühen, evangelische „Kirche”, wenn nicht zu „bestimmen”, so doch zu umschreiben, ist die Hervorkehrung des „Glaubens” in eine tragbare Mitte zu rücken. Der „Glaube” bleibt zutiefst — das „Wagnis” sinkt zu sekundärer Erscheinung ab — immer, wie es die Katholische Kirche durch die Jahrhunderte unverwandt dargetan hat, opus Dei (Joh. 6, 29)76).

Der Glaube an Gott, der Glaube an „Seine” Kirche als opus Dei birgt den Ausgleich. Das opus Dei vereint vermeintliche Gegensätze — Glauben77) und Wissen, Glauben und Denken, ecclesia invisibilis et ecclesia visibilis — ohne daß darum die gegebene Paradoxie aufgehoben würde. Das Zusammenfallen der Gegensätze in Gott (Christus) — transformativ also auch in der „Kirche” als „Gemeinde” der Gläubigen in Gott — ist denkmöglich. Die tiefe Bedeutung des Koinzidenzprinzips des Nikolaus von Kues liegt ja gerade darin, daß es sich hier, vor allem der Schrift „De coniecturis” zu entnehmen, um ein Denkgesetz handelt78), nicht etwa um ein Seinsgesetz! In Gott ist die Gewißheit wie die Wahrheit. In Gott trifft alles und jedes, was gegeneinander steht, zueinander. Kann es eine schlichtere, aber auch geeignetere Aussage über Gott geben als die, daß „alles darinnen sei”? Richtig verstanden, besagt die „Concidentia oppositorum” des Kusaners den Ineinsfall der Gegensätze (opposita)79).

Die evangelische Auffassung von „Kirche” als einem Geschehen, einem Werden, weist über alles, teils krasse, antithetische Herausstellen von Innen und Außen, von Kern und Hülle, von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit hinaus in der Betonung, das Geschehen umfasse immer die ecclesia una, im letzten auf die Koinzidenz. In diesem Sinne darf die Untersuchung, die Kirchenfrage abschließend, feststellen: Die Paradoxie ist der „Kirche” in evangelischem Verständnis — lutherisch einer heraklitischen Gemeinschaft; reformiert, in schwankender Verfestigung, einer Gemeinde — wesenseigen.


76) Joh. 6, 29: „Respondit Iesus, et dixit eis: Hoc est opus Dei, ut creditatis in eum quem misit ille.”
77) Definition von naturwissenschaftlicher Seite: „Glauben heißt dabei natürlich nicht, dies oder jenes für wahr halten, sondern Glauben heißt immer: Dazu entschließe ich mich, darauf stelle ich meine Existenz” (Heisenberg: Das Naturbild der heutigen Physik, 1955, S. 45).
78) In einer Darstellung der „Docta ignorantia” (1440) sagt Goergen nach Erläuterung des Kusanischen Begriffspaares des absolut Größten und absolut Kleinsten: „Damit ist die Koinzidenz der Gegensätze gegeben, die auf dem Wege des reinen Denkens gefunden wird” (Goergen: „Nicolaus Cusanus — der Philosoph der Konkordanz” in: „Hochland" 1940, S. 111) — „Erkenntnisprinzip” (a.a.O., S. 114).
79) Zu den Ausführungen über Nic. v. Kues: Goergen, obige Schrift, „Hochland”, S. 106-116. Heer: Europ. Geistesgesch., S. 216-219. v. Aster: Geschichte der Philosophie, S. 178. Schultz: Die Staatsphilosophie des N. v. Kues, S. 31-41. Petzelt: Nicolaus v. Cues, S. XI-XXXVIII.