Joest, W.

Elternrecht in evangelisch-theologischer Sicht

1958

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Elternrecht in evangelisch-theologischer Sicht

 

Die heutige Diskussion über das Elternrecht bezieht sich auf das Verhältnis des Verfügungsrechts der Eltern einerseits, des Staates andererseits auf die Erziehung der Kinder. Das Feld, auf dem dieses Verhältnis zum Problem wird, ist vor allem die Schule. Es handelt sich demgemäß in den folgenden Ausführungen um eine grundsätzliche theologische Stellungnahme zu der Auseinandersetzung zwischen Elternhaus und Staat über die Reichweite der beiderseitigen Belange in der Gestaltung der Schulerziehung. Diese Stellungnahme erfordert eine Reihe von Vorerwägungen: und zwar erstens eine Besinnung auf das Wesen der Institutionen Familie und Staat überhaupt und ihr Verhältnis zueinander; zweitens von da aus eine Besinnung auf die Weise, wie jede dieser Institutionen ihrem je eigenen Wesen gemäß an der Aufgabe der Erziehung teilhat; drittens eine Besinnung über die Stellung, die die Schule als Erziehungsfaktor beiden Institutionen gegenüber innehat; erst dann können viertens Folgerungen für das Verhältnis der Belange beider Institutionen an der Schulerziehung gezogen werden.

Die Voraussetzung einer theologischen Stellungnahme zu diesen Fragen ist das christliche Verständnis des Menschen in seinem Gegenüber zu Gott, seiner geschöpflichen Bestimmung, seinem Widerspruch zu dieser Bestimmung und seiner Erlösung. Dies muß zunächst in einigen Sätzen angedeutet werden, weil sonst die Stellungnahme zu den bezeichneten vier Fragen unklar bleiben müßte. Vier theologische Voraussetzungen sind in unserem Zusammenhang hervorzuheben:

1. Wir sind als Menschen geschaffen mit der Bestimmung, in der Liebe Gottes zu leben und ihr mit glaubender Hingabe an Gott Antwort zu geben. Wir sind ebenso geschaffen mit der Bestimmung, als Menschen in mitmenschlicher Bruderschaft, in liebender und darum freier gegenseitiger Hingabe zusammenzusein. In dieser Hingabe wird oder würde „Jedem das Seine”, nicht in der Sorge um das eigene Recht, sondern aus selbstvergessener, gegenseitiger Zuwendung und Fürsorge. Dabei ist das zweite die Frucht des ersten: denn Kraft und Antrieb zu solcher gegenseitigen Zuwendung ist die Freiheit des Ich von sich selbst durch das glaubende Leben in der Liebe Gottes. In der Verwirklichung dieser geschöpflichen Bestimmung läge die Sinnerfüllung der Personalität des einzelnen Menschen ebenso wie die Sinnerfüllung der menschlichen Sozialität. Denn Person ist der Einzelne in Wahrheit nicht aus sich, sondern aus der Zuwendung Gottes zu ihm und aus seiner Berufung zur

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Antwort auf diese Zuwendung. Und eben damit ist er Person auch nicht für sich, sondern für den freien Selbsteinsatz in mitmenschlicher Gemeinschaft. Gemeinschaft andererseits ist in Wahrheit nur, wo Personen vor Gott verantwortlich und im freien und innerlichen Selbsteinsatz einander begegnen und füreinander dasind.

2. Wir finden uns aber faktisch allenthalben im Widerspruch zu dieser unserer Bestimmung vor — ein Widerspruch, der sich in seiner Tiefe freilich erst unter der Anrede des Wortes Gottes in Gesetz und Evangelium enthüllt. Dieser Widerspruch liegt seiner Wurzel nach in der Sonderung von Gott, dem Fernsein und Losgerissensein des Menschen aus dem Leben in der Wirklichkeit und Liebe Gottes. Dies bewirkt im mitmenschlichen Verhältnis, daß Gemeinschaft von innen heraus zerstört wird, daß an ihre Stelle innere Isolierung des einen vom anderen, Entfremdung des Menschen vom Menschen tritt und die Tendenz der Verdrängung des einen durch den anderen wirksam wird.

3. Dieser Widerspruch wird in seiner Wurzel nur geheilt durch Gott selbst. Denn da er in der Gottentfremdung des Menschen wurzelt, kann er nur so geheilt werden, daß Gott selbst wieder in die Mitte tritt und die Menschen mit sich verbindet und damit auch eine neue Verbindung der Menschen untereinander schafft. Dies ist geschehen dadurch, daß Gott in Christus dem Menschen in seinem Widerspruch nachging und ihn mit sich selbst versöhnte. Dieses Versöhnungs- und Heilungswerk wird unter uns wirksam durch die Verkündigung des Evangeliums, die der Kirche als ganzer und jedem ihrer glaubenden Glieder in seiner Weise aufgetragen ist. Solche Verkündigung kann aber niemals als zu genereller Befolgung zwingende Disziplin geschehen, sondern nur in der Freiheit, in der ein Mensch ihr glauben, ihr den Glauben aber auch versagen kann. Ein disziplinar erzwungener „Glaube” wäre weder Versöhnung und Gemeinschaft mit Gott, noch könnte aus ihm die Gemeinschaft der Liebe mit den Mitmenschen erwachsen, denn sie muß ihrem Wesen nach aus freiem oder besser: befreitem Willen sein. Das bedeutet also praktisch, daß Gott die Heilung des menschlichen Widerspruchs durch das Evangelium nicht generell und automatisch vollzieht, sondern sie durch das Wort, durch die Verkündigung in die Welt hineinwirken läßt in einem Werben und Warten, welche hören und sich rufen lassen. Die andere Seite davon ist, daß auch seit Christus und unter der Verkündigung des Evangeliums ein weiter Bereich bleibt, in dem Menschen im Widerspruch zu ihrer geschöpflichen Bestimmung verharren können und faktisch verharren. Keine menschliche Institution, auch nicht die Kirche, hat die Vollmacht, diesen Zustand durch generelle Maßnahmen zu beenden, weil sie ihn auf diese Weise gar nicht beenden könnte, sondern nur Schlimmeres, nämlich Heuchelei, an seine Stelle setzte. Der Raum, in dem Menschen nicht an das Evangelium glauben wollen, muß von uns her offen bleiben auf die künftige innere Überwindung ihres Unglaubens durch Wort und Geist Gottes hin.

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4. Das bedeutet aber nicht, daß Gott den Menschen in diesem Raum, in dem er nicht mehr oder noch nicht glaubt, einfach sich selbst überließe. Täte er es, so würde das geschaffene menschliche Leben an seinem Widerspruch gegen Gott und den Auswirkungen dieses Widerspruches im mitmenschlichen Zusammenleben zu Grunde gehen. Dieses Leben wird aber auf die Entscheidung künftigen Glaubens hin in der Existenz erhalten. Gott tut dies, indem er allenthalben in der Menschheit gewisse moralische und soziale Bindungen wirksam bleiben läßt. Auch da, wo nicht Glaube aus Gottverbundenheit ist, läßt er solche Bindungen wirksam bleiben, durch die zwar nicht die Herzen der Menschen zu Glauben und Liebe erlöst werden — dies geschieht durch das Evangelium —, durch die aber die Hände so gebunden, bzw. die Auswirkungen des in den Herzen wurzelnden Widerspruchs so gehemmt werden, daß ein Leben in gewissen Ordnungsformen gegenseitiger Rücksichtnahme und gegenseitigen Zusammenwirkens möglich bleibt. Zu diesen Kräften gehören sowohl der Bereich persönlicher und gesellschaftlicher Moralität bis hinein in das Phänomen der Gewissensbindungen, als auch die „objektiven” Mächte des Staates und der Rechtsordnung. Solche Mächte heben die selbstsüchtige und selbstsorgende Isolierung der Menschenherzen auf sich selbst und voneinander weg in keiner Weise auf. Persönliche Moralität und „bürgerliche Gerechtigkeit” können ja geradezu zur Verfestigung und Verhärtung des ,cor incurvatum in se ipsum’ dienen. Aber sie setzen den das Leben zerstörenden Auswirkungen der Sünde Hemmungen. Sie machen uns nicht gut, aber sie kommen uns zugut, weil sie den Raum des Lebens offenhalten. Theologisch kann man das nur als ein Geschehen aus der Geduld Gottes begreifen, aus seinem Willen, menschliches Leben trotz der Sünde auf seine künftige Erlösung hin zu erhalten. Der Begriff des „Naturrechtlichen” für die auf diesem Erhaltungsgebiet waltenden Normen — dies sei in Parenthese hinzugefügt — ist fragwürdig, weil es sich weder um das ursprünglich Geschöpfliche noch um etwas aus einem Restbestand natürlicher Güte der Natur des Menschen Kommendes handelt, sondern um einen Bereich von Not- und Interimsordnung, deren Subjekt letzten Endes der Erhaltungswille Gottes, nicht eine irgendwie unverdorbene menschliche Natur ist.

 

I

Soweit die theologischen Voraussetzungen. Wir nehmen nun die erste der eingangs bezeichneten Fragen auf: Was ist Familie? Was ist Staat? Wie verhalten sich beide zueinander? Soviel jedenfalls muß der Theologe von vornherein mit Bestimmtheit sagen: Beide sind von Gott gestiftete Formen menschlichen Zusammenlebens. Für beide gibt es demnach einen Auftrag Gottes bezüglich dessen, was sie sein und wirken sollen. Dieser Auftrag bleibt über ihnen bestehen, ob er nun in dem konkreten Aussehen und Verhalten von

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Familien und Staaten erfüllt wird oder nicht. Ich übernehme gern den von Dombois gebrauchten Begriff der Institutionen für den Charakter beider Gemeinschaftsformen und schließe mich der von ihm und anderen erarbeiteten Erkenntnis über die Unverfügbarkeit des Grundrisses dieser Institutionen und deren relativer Beweglichkeit im geschichtlichen Vollzug an.

Unsere jetzt zunächst gestellte Frage richtet sich vor allem auf den unverfügbaren Grundriß, theologisch gesprochen: Was wollte und will Gott mit Familie und was mit Staat, und zwar immer und durch alle geschichtlichen Verhältnisse und Wandlungen hindurch? Denn bei aller Anerkenntnis der Einsicht, daß die Lösung von Fragen wie der unseren nach dem Elternrecht nicht in zeitloser Allgemeingültigkeit, sondern nur für eine je geschichtliche Lage gegeben werden kann, so wird diese Lösung eben doch die Übersetzung eines bleibend Gültigen in die jetzt so gegebenen geschichtlichen Umstände versuchen, sich also an einem bleibend Gültigen auch orientieren müssen.

a) Ehe und Familie ist mit der Schöpfung des Menschen gegeben und zugleich ihm aufgegeben. Denn die Menschen sind als Mann und Frau und also zum Vollzug von Ehe und Familie geschaffen. Sie sind damit in eine Grundform leiblich-seelischer Verbundenheit und wechselseitiger Angewiesenheit aufeinander versetzt — eine Form, die gleichsam eine konkrete Aufforderung zum Vollzug dessen gibt, was wir vorhin als geschöpfliche Bestimmung des Menschen bezeichnet haben. Sprachen wir in der ersten unserer theologischen Voraussetzungen von der Bestimmung zu mitmenschlicher Liebesgemeinschaft aus dem gemeinsamen Gehaltensein im Glauben an Gott, so darf man nun vielleicht sagen: Ehe und Familie in ihren verschiedenen Relationen — Verhältnis der Ehegatten zueinander, der Eltern zu den Kindern, der Geschwister untereinander — sind vom Schöpfer gesetzt als eine ursprüngliche und gleichsam nächstgelegene Form und Ubungsstätte zur Verwirklichung dieser Bestimmung; natürlich nicht als der einzige Ort ihrer Verwirklichung, denn mitmenschliche Bruderschaft soll ja nicht an den Grenzen der Familie haltmachen. Man wird auch nicht einmal sagen können, nach Gottes Willen solle die Liebe in der Familie stärker sein als zwischen Menschen über die Grenzen der familiären Zusammengehörigkeit hinaus. Man wird aber sagen dürfen: in Ehe und Familie ist vom Grundriß her, von der Stiftung her, eine natürliche Schule und Übungsstätte mitmenschlicher Liebesgemeinschaft gesetzt — nicht damit das, was hier eingeübt wird, hier eingeschlossen bleiben soll, sondern damit es von hier aus ausstrahlen soll in weitere Bereiche menschlicher Begegnung. Aber hier soll es zuerst eingeübt werden. Derartige Gedanken sind natürlich in der Bibel nicht etwa lehrmäßig expliziert. Aber es ist zu beachten, wie oft gerade die Ehe und auch das Vater-Kind-Verhältnis als Paradigma der Gemeinschaft mit Gott, mit Christus, gebraucht wird und von daher dann auch als Paradigma der in der Verbundenheit mit Gott begründeten mitmenschlichen Gemeinschaft. Die Glaubenden sind Brüder und

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Schwestern in Christus; es gibt Väter und Mütter im Glauben. Durch die ganze Schrift hindurch ist gerade dieser Bereich unmittelbarster menschlicher Verbundenheit: Vaterschaft, Kindschaft, Bruderschaft, gebraucht, um die menschliche Gemeinschaft überhaupt in ihrer wahren, in Gott gründenden Bestimmung und Erfüllung zu bezeichnen. Das bedeutet aber nicht nur eine metaphorische Aussage über mitmenschliche Gemeinschaft überhaupt, sondern sozusagen rückwirkend zugleich eine Aussage über das, was hier zur Metapher dient: über Ehe und Familie als Institution. Diese kann darum metaphorice zum Paradigma wahrer Liebesgemeinschaft aus Glauben werden, weil sie realiter zur Einübungsstätte solcher Gemeinschaft bestimmt ist.

Nun ist gemäß unserer zweiten theologischen Voraussetzung natürlich zu sagen, daß wir unter dem Zeichen des Widerspruchs gegen Gott und unsere geschöpfliche Bestimmung, in dem wir uns faktisch vorfinden, Ehe und Familie in ihrer Bestimmung, Schule und Ubungsstätte der Liebesgemeinschaft aus Glauben zu sein, nicht erfüllen. Sie werden ja vielfach selbst, und gerade durch das enge Zusammengebundensein ihrer Glieder, zur Stätte der zerreißendsten menschlichen Konflikte. Und wo es dazu nicht kommt, wo sie in sich zusammenhalten, können sie sehr oft zur Pflanzstätte eines sich abschließenden Gruppen-Egoismus pervertieren, anstatt Quellort einer nach außen ausstrahlenden und sich weitergebenden Liebe zu sein. Was Ehe und Familie eigentlich sein sollen, können sie gemäß unserer dritten Voraussetzung nur werden, wenn der Glaube an das Evangelium in ihnen einzieht, wenn sie in Christus neu werden.

Aber die Institution Ehe und Familie ist auch unter dem Widerspruch nicht aufgehoben. Gott erhält ganz einfach durch unsere natürliche Organisation die Nötigung zum Leben in dieser Form, zum Durchgehen durch diese Form, aufrecht. Was immer die Menschen nun daraus machen, Gott erhält jedenfalls die in dieser natürlichen Verbundenheit und Angewiesenheit liegende Aufforderung zum Vollzug innerlich-persönlicher Liebesgemeinschaft aufrecht. Vielleicht kann man so sagen: Familie ist nun eine spezifische Grundform der Erinnerung an die Bestimmung zu dieser Liebesgemeinschaft, die von innen kommen sollte, die mehr ist als Zusammengehaltenwerden durch Recht und Gesetz. Diese Institution bleibt in das unter dem Widerspruch lebende Menschenwesen gleichsam hineingehalten als das, was zu seiner eigentlichen Erfüllung die Liebe verlangt, die letztlich nur aus dem Glauben, d. h. aus der Kraft Gottes, kommt. Nicht, daß nicht jeder Mensch, der mir begegnet, von Gott her gesehen diese Aufforderung zu solcher Liebe wäre, aber Ehe und Familie ist es in einer besonderen Weise als Institution.

b) Der Staat hat den Auftrag, eine die persönlichen Bindungen und Anliegen einzelner Menschengruppen übergreifende Ordnungsform menschlichen Zusammenlebens zu erhalten. Negativ ausgedrückt: er soll das Chaos der einander widerstreitenden und verdrängenden persönlichen Strebungen,

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übrigens auch der familiären Strebungen, bändigen, koordinieren. Dazu gehört in jedem Fall die Herstellung einer Rechtsordnung im eigentlichen Sinne, was sowohl die Setzung positiver Formen der Befriedung und des Interessenausgleichs als auch die Durchführung der Strafgerichtsbarkeit gegen Rechtsbrecher bedeutet. Zu der Ordnungsaufgabe des Staates gehört aber in differenzierten geschichtlichen Verhältnissen wie den unseren zweifellos auch bis zu einem gewissen Grade die Koordinierung der wirtschaftlichen Arbeitsprozesse und die Fürsorge für die geistigen und wissensmäßigen Voraussetzungen eines geordneten gesellschaftlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens. Zur Durchsetzung dieser Ordnungsaufgabe hat und braucht der Staat Macht. Er handelt durch Gesetzgebung, deren Befolgung durch potentielle und notfalls aktuelle Gewaltübung erzwingbar ist. Insofern wir ihn so und nicht anders kennen, setzt der Staat also den in Widerspruch zu seiner geschöpflichen Bestimmung gefallenen Menschen schon voraus, den Menschen, der nicht mehr in einer frei von innen kommenden Zuwendung zu seinesgleichen lebt deshalb, weil er in Gott und von Gott her lebt, sondern der sich selbst überlassen in einer egoistischen Zentrierung seiner Interessen lebt.

Sahen wir in Ehe und Familie eine mit der Schöpfung des Menschen von Gott gesetzte Institution, so ist freilich auch der Staat eine von Gott gesetzte Institution. Aber so, wie wir ihn faktisch kennen, als den Staat, der durch erzwingbare Gesetzgebung handelt und handeln muß, können wir ihn nur als eine Notordnung Gottes verstehen, die jenen Widerspruch des Menschen zu seiner geschöpflichen Bestimmung bereits voraussetzt, die das ihm drohende Chaos aber hinsichtlich seiner äußersten Konsequenzen immer wieder ein Stück weit hintanhalten soll. Denn lebten die Menschen in jener Hingabe, in der jedem das Seine wird, nicht weil er es sucht und nicht weil es ihm garantiert wird von irgendeiner setzenden Instanz, sondern weil jeder aus selbstvergessener Fürsorge für den anderen lebt, dann bedürfte es des Staates, jedenfalls in der Struktur, in der wir ihn faktisch kennen, nicht: nämlich des Staates, der jedem das Seine zukommen lassen muß in einem durch potentielle und aktuelle Gewaltübung garantierten Interessenausgleich.

Der Staat wird also auf Grund dieser seiner Struktur von sich aus immer nur eine Gemeinschaft schaffen können, die weniger sein wird als diejenige Weise und Innigkeit der Gemeinschaft, zu der die Menschen von der Schöpfung her bestimmt sind und als diejenige Gemeinschaft der Agape, die aus dem Glauben an das Evangelium kommt und die im Reich Gottes vollendet wird. Während Ehe und Familie als Institution in dem, was ihnen aufgegeben ist, an diese eigentliche Gemeinschaft erinnern, wird der Staat nicht in demselben Sinne eine solche Erinnerung an die persönliche Liebesgemeinschaft sein können. Auf keinen Fall hat er den Auftrag und die Möglichkeit, Herzen zu wandeln und die Menschen zur Erfüllung wahrer, mitmenschlicher Bruderschaft zu erlösen, denn sie kann und darf nicht durch Gesetzgebung geschaffen

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werden wollen. Zu ihr kann nur die Verkündigung des Evangeliums rufen, und dieser Ruf muß in der Freiheit persönlicher Glaubensentscheidung gehört und befolgt werden. Evangelische Theologie muß also die Ideologisierung des Staates zu einer Menschenwandlungsmacht, zu einer Heils- und Erlösungsmacht, d.h. also auch: zu einer absoluten, die Gewissen formenden Erziehungsmacht, ablehnen, ob diese Ideologisierung nun unter aufgeklärtem, atheistischem oder unter irgend einem pseudoreligiösen Vorzeichen geschieht. Sie müßte im Zuge dieser Erkenntnis auch den „christlichen” Staat ablehnen, wenn das nämlich einen Staat bedeuten sollte, der seinen Gliedern Christentum verordnet und durch gesetzliche Maßnahme unausweichlich machen will.

Es bedeutet aber dies alles nicht, daß die Notwendigkeit des Staates gegenüber der Familie herabgesetzt werden soll. Die Familie kann — den Fall des Menschen in den Widerspruch vorausgesetzt — zur Erhaltung einer Ordnungsform menschlichen Zusammenlebens nicht genügen, so wesentlich auch ihr Dienst ist als Form der Erinnerung an die Bestimmung zu dem, das mehr ist als was durch Recht und Gesetz erzwungen werden kann, an die Bestimmung zur Liebesgemeinschaft. Die gemeinschaftszerstörenden Tendenzen sind zu groß, und die Familie selbst ist zu sehr vom Versagen und von ihrer eigenen Perversion zu einem Hort des Gruppenegoismus bedroht, als daß man nicht der Gesetzesordnung durch den Staat bedürfte. Beide Institutionen stehen also auf dem Standort, auf dem wir uns faktisch befinden (ob und was der Staat im Urständ wäre, ist eine spekulative und letztlich nicht beantwortbare Frage), eigenständig nebeneinander. Der Staat ist nicht aus der Familie abzuleiten und nicht durch sie zu ersetzen. Er kann auch nicht selbst etwas wie eine große Familie sein, sondern ist wesensmäßig anderer Struktur und in seiner Beziehung zu seinen einzelnen Gliedern von anderer Art als die Familie.

Umgekehrt kann aber auch die Familie nicht im Staat verschwinden, durch ihn ersetzt oder von ihm her funktionalisiert werden, sondern gerade weil wir im ganzen nur in diesem Interim, in dieser Notordnung, durch Recht und Gesetz leben können, muß das noch unter uns sein, was auch als Institution an die Berufung zu einer Gemeinschaft erinnert, die mehr ist als Gesetz und Befolgung von Gesetz.

 

II

Die zweite Frage lautet: in welcher Weise hat die Familie einerseits, der Staat andererseits teil an der Erziehung des jeweils heranwachsenden Geschlechtes?

a) Der Erziehungsauftrag der Eltern. Von einem „Auftrag” ist primär zu sprechen, nicht von einem „Recht”. Denn das, was Eltern durch Erziehung aus ihren Kindern machen wollen, steht durchaus nicht einfach in ihrer

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Verfügung, sondern unter dem Auftrag und Willen Gottes. Von einem „Recht” der Eltern in dieser Sache kann man erst da sprechen, wo sie in der Erfüllung dieses Auftrages von anderen Instanzen gehindert werden sollten; es handelt sich dann um das Recht auf Wahrnehmung ihrer elterlichen Pflicht gegenüber dieser Behinderung.

Was besagt dieser elterliche Erziehungsauftrag inhaltlich? Man wird zunächst sagen: die Hinführung des unmündigen Kindes zu leiblich, seelisch und geistig selbständigem Menschsein, zu äußerer Selbständigkeit, zur Fähigkeit, einen Beruf auszuüben, und zur inneren Selbständigkeit des verantwortlichen Menschseins in der Bejahung sittlicher Bindungen. Eine theologische Bestimmung des Erziehungsauftrages der Eltern kann aber bei dieser formalen Angabe nicht stehenbleiben, sondern muß sofort weiterfragen, „welcher sittlicher Bindungen?”, und kann dann im Sinne unserer ersten Voraussetzung nur antworten: der einen Bindung an Gott selbst, aus der alles andere in der rechten Weise gebunden und freigegeben wird. Denn verantwortliches Menschsein kann für uns nur heißen: Leben in der antwortenden Zuwendung zu der Liebe Gottes und der aus ihr entspringenden Verbundenheit und Liebe zu den Menschen. Der Erziehungsauftrag der Eltern hat also mit allem, was er sonst noch umschließen mag, von dem Schöpferwillen Gottes her darin seine Basis und zugleich seine Krönung, daß er Auftrag ist, den Kindern die Wirklichkeit, Herrschaft und Liebe Gottes zu bezeugen und sie zum Glauben an das Evangelium zu führen, indem die Eltern ihnen dieses durch ihr Wort und durch ihr eigenes Leben und Beispiel bezeugen. Das kann nicht heißen, daß sie die Kinder zum Glauben zwingen sollen: denn wie wir betonten, ist der Glaube ja das, was nicht erzwungen werden kann und darf — auch nicht in der Familie, auch nicht von den Eltern zu den Kindern hin. Wohlberatene Eltern werden gerade in dieser Sache am allerwenigsten einen disziplinaren Druck ausüben. Andererseits aber ist gerade im Eltern-Kinder-Verhältnis diejenige Institution gegeben, in der wie nirgends sonst durch Erweckung, durch persönliches Beispiel von Mensch zu Mensch gewirkt werden kann, ja deren wesensgemäßer Auftrag als Institution gerade in dieser Art des Einwirkens besteht. Darum kann gerade diese Institution als solche einen Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums haben — einen Auftrag, den als Institution sonst nur die Kirche hat.

Wenn nun aber, wie das oft der Fall ist, die Eltern selbst nicht im Glauben an das Evangelium leben? Auch dann bleibt als die eigentliche Spitze ihrer Erziehungsaufgabe der Auftrag, das Kind zu der letzten menschlichen Bindung zu führen, bestehen, und zwar daraufhin, daß sie dereinst selbst zum Glauben kommen und diesen Auftrag dann im Sinne des Glaubens an das Evangelium positiv erfüllen möchten. Der Raum dazu soll ihnen frei gehalten bleiben; er soll nicht dadurch besetzt werden, daß andere Instanzen sich der Erziehung der Kinder zu anderen Letztbindungen bemächtigen. Überspitzt

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ausgedrückt: es ist besser (letzten Endes auch für den Staat besser), die Kinder wachsen überhaupt unter dem persönlichen und unmittelbar menschlichen Einfluß ihrer Eltern oder anderer Menschen, die faktisch die Stelle etwa versagender Eltern vertreten, in ein Leben persönlicher, sittlicher Verantwortung und Gewissensbindung hinein, selbst wenn diese nicht oder noch nicht vom Evangelium bestimmt ist, als daß ihnen durch eine überpersönliche Instanz, die sich ihrer Seele bemächtigt, eine ideologische Letztbindung gleichsam aufgestempelt und zudiktiert wird — selbst wenn diese Prägung „christlich” wäre. Diese Struktur, daß Führung zu den innersten Belangen des Menschseins primär durch diese Erweckung von Mensch zu Mensch und in erster Instanz durch den elterlichen Einfluß geschehen soll, muß erhalten bleiben.

b) Die Belange des Staates an der Erziehung. Mit dem allen soll nicht gesagt sein, daß der Staat überhaupt keine Belange an der Erziehung des heranwachsenden Geschlechtes hat. Er hat bestimmte, von seinem eigenen Auftrag als Staat her gegebene, aber eben von daher auch begrenzte Belange. Ich würde dahin unter unseren heutigen Verhältnissen rechnen vor allem das Interesse, das der Staat haben muß an der Ausbildung der jungen Menschen zu denjenigen Fertigkeiten, die für ihr einstiges Mitwirken im Gefüge des allgemeinen Arbeitsprozesses notwendig sind. Darum hat sich ein Staat in früheren undifferenzierten Verhältnissen nicht kümmern müssen; heute muß ihm das ein Anliegen sein. Ferner gehört dazu das Interesse des Staates am Bekanntwerden der Jugend mit den objektiven Grundzügen der Kultur derjenigen Gemeinschaft, die der Staat zu ordnen hat, von der Beherrschung der Sprache angefangen bis hin zu Kunst, Literatur usw. Vor allem aber ist zu nennen das Interesse des Staates an der Erziehung der Jugend zur Achtung vor der Rechtsordnung, zu sozialer Disziplinierung und Verträglichkeit und zu einem wenigstens elementaren Verständnis der staatlichen Aufgaben und des politischen Lebens.

Nicht dagegen kann es die Aufgabe des Staates sein, in die persönliche Gewissensbildung und Gewissensbindung seiner Glieder erzieherisch einzugreifen, und etwa schon gar nicht, ihnen den Glauben an das Evangelium, noch weniger freilich einen anderen religiösen Glauben, beizubringen. Solches kann schon darum nicht die Aufgabe des Staates sein, weil er als Staat, auch wo er erzieherisch handelt, ja durch generelles Verordnen, durch Stellen unausweichlicher Weichen und Geleise handeln muß, und weil die berührten Dinge eben ihrem Wesen nach das sind, was nicht behördlich geordnet und verordnet, sondern nur menschlich erweckt werden kann. Darum gehören sie als die eigentliche Basis und zugleich Krone aller Erziehung von Haus aus in den Erziehungsauftrag der Eltern in ihrer unmittelbar menschlichen und persönlichen Verbundenheit mit den Kindern. Versagende Eltern können in dieser Aufgabe der Gewissensbildung wohl von anderen Menschen vertreten

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werden, die den Kindern persönlich begegnen, ihre Liebe und ihr Vertrauen gewinnen, ihnen so zu Vorbildern und Führern in den innersten Dingen werden. Das kann ein Verwandter, ein Pate, ein Jugendfürsorger oder irgend ein anderer Mensch, nicht zuletzt natürlich auch ein Lehrer, sein. Aber niemals kann der Staat als solcher diese Tiefendimension der Erziehung in seine Hand nehmen. Sie ist nicht behördlich institutionalisierbar; geschieht dies doch, so wird sie verdorben.

Vergleichen wir nun abschließend den Anteil des Staates an dem Komplex Erziehung mit dem Erziehungsauftrag der Eltern, so kann gesagt werden: der Anteil des Staates an der Erziehung ist dem der Eltern gegenüber zeitlich und auch sachlich sekundär, sofern sich das staatliche Interesse an der Erziehung nur auf eine relativ äußerliche Schicht des Wissens und Verhaltens beziehen kann. Dagegen scheint es nicht richtig, zu sagen: der Erziehungsauftrag des Staates sei dem der Eltern subsidiär, der Staat sei also nur ein untergeordnet ausführendes Hilfsorgan der elterlichen Erziehung. Die Belange, die der Staat an der Erziehung hat, sind vielmehr eigenständig gegenüber denen der Eltern. Sie wurzeln in dem eigenen Auftrag, den der Staat hat, haben ihre eigene Dimension und ihr eigenes, aber auf einen bestimmten Sachbereich begrenztes Recht.

 

III

Die dritte eingangs bezeichnete Frage lautete: Welche Stellung hat die Schule als Erziehungsfaktor gegenüber den bisher besprochenen Institutionen ,Eltern und ,Staat’? Da ich nicht Fachmann auf dem Gebiet der Pädagogik und der Fragen der Schulerziehung bin, kann ich dazu nur sehr kurz und ungefähr etwas sagen. Zunächst wird man jedenfalls feststellen müssen: „Schule” ist keine Institution, keine Gottessetzung desselben Ranges und derselben Unausweichlichkeit, wie Familie und Staat dies sind. Es kann nie Menschen geben ohne Eltern und Familie und zumindest im Bereich der Sünde auch nie Menschen ohne irgend etwas wie eine staatliche Rechtsordnung. Wohl aber kann bzw. konnte es Menschen geben ohne Schule. Die Schule ist eine unter bestimmten geschichtlichen Verhältnissen erwachsene und unter diesen Verhältnissen nun allerdings auch unentbehrliche Hilfseinrichtung und als solche freilich für uns eine geschichtlich-aktuelle Notwendigkeit von hohem Rang und Wert.

Weiter scheint folgende Einsicht wichtig zu sein: als diese Hilfseinrichtung kann die Schule weder den Erziehungsbelangen der Eltern noch denen des Staates einseitig subsidiär zugeordnet werden. Der Lehrer ist nicht einfach der Beauftragte der Eltern. Er ist in ganz bestimmten Bereichen seines erzieherischen Tuns der Helfer der Eltern, jedoch nicht einfach ihr Funktionär. Er ist aber der inneren Struktur seines Berufes nach auch nicht einfach Funktionär

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des Staates, wenn er auch unter unseren heutigen Verhältnissen in den meisten Fällen Staatsbeamter ist. Vielmehr ist der Lehrer ein Helfer, der in die Erziehungsbelange beider Institutionen stellvertretend mit eintritt. Damit soll nicht gesagt sein, daß Schule nur Hilfsinstitut zur Unterstützung einerseits der elterlichen, andererseits der staatlichen Erziehungsbelange ist. Sie hat zweifellos noch eine beiden gegenüber eigenständige Funktion, deren Bereich hier mit dem Begriff „Bildung” (im Unterschied zu „Erziehung”) angedeutet sein mag. Hinsichtlich von Erziehung im engeren Sinne aber ist sie Hilfseinrichtung, und zwar in bezug sowohl auf die elterlichen als auf die staatlichen Erziehungsbelange.

In der Schulerziehung handelt es sich ja einerseits um sachliche Wissens- und Fertigkeitsvermittlung, um Vermittlung elementarer Teilnahme an den Gütern der objektiven Kultur, um Bildung sozialer Disziplinierung und staatsbürgerlich-politischen Verständnisses; andererseits aber auch um persönliche Charakterbildung, um ein menschliches Erwecken persönlicher Verantwortung, Überzeugung und Lebensform. Je mehr es sich um den zuerst genannten Bereich handelt, um so mehr wird im schulischen Erziehungshandeln die objektive Vorschrift, der Lehrplan, das Gesetz mit seinem Zwang zu Unterordnung hervortreten; je mehr es sich um den zuletzt genannten Bereich handelt, desto wichtiger wird das persönliche Verhalten und Vorbild des Lehrers sein, desto mehr wird sein Einwirken auf die Kinder als Mensch zu Mensch im Vordergrund stehen. Charakteristisch für das komplexe Gebilde der Schulerziehung scheint m.E. jedenfalls zu sein, daß in ihr beides eine wesentliche Rolle spielt und spielen muß.

 

IV

Wir kommen zu den Folgerungen für die Belange der beiden Institutionen, des ,Staates’ wie der ,Eltern’, an der Schulerziehung. Aus den bisherigen Gedanken ergibt sich zunächst ganz allgemein, daß sowohl der Staat als die Eltern berechtigte Belange an der Form der Schulerziehung haben. Diese Belange beziehen sich auf ganz verschiedene, nicht aufeinander reduzierbare Dimensionen dessen, was in der Schule geschieht. Sie können daher weder in der einen, noch in der anderen Richtung einander untergeordnet werden. Sie müssen vielmehr gegeneinander ausgewogen werden und einander Raum lassen. Dazu wird die konkrete Abgrenzung je nach der Situation immer neu gesucht und gefunden werden müssen. Gewisse allgemeine Richtlinien lassen sich aber doch wohl formulieren.

a) Der Staat, so wurde gesagt, hat den Auftrag, unter den Menschen — ob sie nun in einer inneren Bindung des Glaubens leben oder nicht — eine äußere Form des Zusammenlebens aufrecht zu erhalten, und zwar durch Gesetzgebung, der alle eingeordnet werden, unbeschadet ihrer Willigkeit oder

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Unwilligkeit. Im Rahmen dieses Auftrages scheint es klar zu sein, daß der Staat unter den heutigen Verhältnissen wirklich die Aufgabe hat, sich um die Mitteilung eines gewissen Maßes an Wissen, Fertigkeiten, sozialer Disziplin und politischem Verständnis an die heranwachsende Generation zu kümmern. Darum übt er mit Recht zunächst den gesetzlichen Zwang zum Erwerb einer elementaren Schulbildung überhaupt aus.

Da die Nötigung zu sozialer Verträglichkeit, zu gegenseitigem Auskommen und Zusammenwirken der verschiedenen Schichten des Volkes zu dem echten Auftrag des Staates gehört, erscheint es weiterhin gerechtfertigt, wenn der Staat zumindest als Regelfall den Besuch einer öffentlichen Grundschule verlangt, in der die Kinder aller Schichten einander begegnen. Eine grundsätzliche Privatisierung des Grundunterrichtes kann ich unter den heutigen Verhältnissen nicht für richtig halten, womit nicht gesagt sein soll, daß es nicht im Bereich der Höheren Schule, der ohnehin nicht alle zustreben und wo dann ohnehin eine Differenzierung nach verschiedenen Bildungsrichtungen eintreten muß, und in gewissen Ausnahmen vielleicht auch schon in der Grundschulbildung, auch Privatschulen geben kann.

Der Staat hat ferner ein m.E. unbestreitbares Recht, für das gesamte Schulwesen — sei es öffentliche oder private Schule — Richtlinien zu geben, die sich auf den sachlichen Wissensstoff und seine Übermittlung beziehen, wozu im weiteren Sinne auch die Prüfung der Lehrer hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Befähigung gehört.

b) Die Eltern, so wurde ausgeführt, haben den Auftrag, ihre Kinder zur letzten Bindung persönlichen Menschseins hinzuführen. Das bedeutet: sie haben von Gott den Auftrag, sie — biblisch gesprochen — „in der Zucht und Vermahnung zum Herrn” zu erziehen, zum Glauben an das Evangelium zu führen. Auch wo sie das faktisch nicht tun, weil sie selbst in diesem Glauben nicht leben und ihren Auftrag an den Kindern nicht als einen Auftrag Gottes verstehen, muß ihnen in der Erziehung der Kinder ein innerster Raum zugestanden bleiben, in dem sie eines Tages diese eigentlichste Möglichkeit und Pflicht der Erziehung ergreifen könnten. Dieser Raum soll nicht durch eine weltanschauliche Zwangserziehung anderweitig besetzt werden. Noch einmal sei betont: das heißt auch, daß dieser Raum nicht durch eine staatliche Zwangserziehung zum Christentum besetzt werden darf. Formal gesprochen bedeutet das also: es muß den Eltern um ihrer eigentlichsten Verantwortung für die Kinder willen die Freiheit bleiben, über die weltanschauliche, ethische oder religiöse Beeinflussung der Kinder nach ihrem eigenen Gewissen zu entscheiden. Sofern die Schulerziehung sich auch auf dieses innerste Gebiet erstreckt, müssen also Wege gegeben sein, daß die Eltern hierin nicht einfach von Vorschriften des Staates abhängig sind, sondern ihre Gewissensentscheidung darüber, welchen Weg die Kinder geführt werden sollen, zur Geltung bringen können.

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c) Wenn wir zum Schluß fragen, was dies alles praktisch bedeuten könnte, so möchte ich beispielshalber das Problem des religiösen Bekenntnisses in den Vordergrund rücken, an dem faktisch ja die ganze Frage des Elternrechtes erst brennend wurde. Wir müssen uns dabei vor Augen halten, daß die Situation des deutschen Volkes, so wie sie gegenwärtig gegeben ist, in dieser Frage des religiösen Bekenntnisses in einer doppelten Gebrochenheit steht: nämlich zunächst in dem ererbten Bruch zwischen den verschiedenen christlichen Bekenntnissen, und sodann in dem zu jenem ersten quer laufenden Bruch zwischen einem bewußt christlichen — evangelischen oder katholischen — Volksteil einerseits und einem dem christlichen Glauben entfremdeten Volksteil andererseits. Dieser letztere dürfte zahlenmäßig weitaus der stärkere sein, worüber die Tatsache nicht hinwegtäuschen darf, daß die meisten glaubensfremd Gewordenen formal noch einer der christlichen Kirchen angehören.

Unter der Voraussetzung dieser Lage fragen wir also nun: wie und in welcher Form sollen die Ansprüche des Staates an die Schulerziehung mit den ganz anders gearteten der Eltern zum Schnitt gebracht werden gerade in diesem Brennpunkt der religiösen Erziehung} Klar ist, daß die von einer Staatsreligion bzw. einer total alles Menschliche umfassenden Staatsideologie beherrschte Schule abgelehnt werden muß, — sei es, daß diese Schule einen zur Weltanschauung erhobenen Säkularismus und Atheismus predigen würde, sei es, daß sie eine bestimmte Form des christlichen oder eines anderen religiösen Glaubens oktroyieren würde.

Nun kann aber der weltanschauliche und religiöse Faktor aus dem Bereich der Schulerziehung nicht einfach ausgeschaltet werden. In welcher Form soll er in ihm Eingang finden, ohne zugleich zu einem Moment des staatlichen Anordnens in der Schule zu werden und damit der verantwortlichen Entscheidung der Eltern entzogen zu sein? Ganz im groben seien zwei Möglichkeiten gegenübergestellt, die beide z.Z. innerhalb des deutschen Schulwesens vorkommen, beide ihre Vorzüge und Bedenken haben und zwischen denen dem Theologen eine apodiktische Entscheidung schwerfällt:

Erstens: eine Gemeinschaftsschule, die von den Angehörigen aller Konfessionen und weltanschaulichen Richtungen besucht wird und deren Unterricht in allen wissenschaftlichen Fächern religiösen Fragen gegenüber neutral gehalten wird, wobei aber die Möglichkeit getrennten Religionsunterrichtes für die Kinder verschiedener Bekenntnisse, bzw. die Möglichkeit der Vermeidung jeglichen Religionsunterrichtes für die Kinder derjenigen Eltern, die eine religiöse Erziehung nicht wünschen, gegeben ist.

Für diese Lösung könnte sprechen, daß in ihrem Rahmen die Kinder verschiedener Bekenntnisse und Richtungen von vornherein einander kennen und in einer gemeinsamen Lebensform miteinander auskommen lernen. Daß dies geschieht, kann ein so stark gemischtkonfessioneller Staat wie der unsere,

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dem daran liegen muß, daß seine Glieder trotz verschiedener Weltanschauungen und Bekenntnisse zu bürgerlichem Zusammenhalt erzogen werden, als ein nicht unberechtigtes staatliches Anliegen an die Schulerziehung geltend machen. Dem Anliegen der Eltern, die Kinder nicht einer fremden weltanschaulichen Beeinflussung unterwerfen zu müssen, wäre durch die Regelung bezüglich des Religionsunterrichtes wenigstens in einem Mindestmaß Genüge getan. Das Bedenkliche dieser Lösung liegt in der abstrakten Auseinanderreißung von religiöser und religiös völlig neutraler wissenschaftlicher Erziehung. Die Frage erhebt sich: kann die Schulerziehung, abgesehen vom Religionsunterricht, so völlig neutral und nur sachlich-wissenschaftlich sein? Ja, soll sie es sein? Gewinnt nicht auch die Schulerziehung höheren Wert, wenn sie ein Ganzes, und zwar von den tiefsten Gewissensbindungen und persönlichkeitsformenden Motiven her ein Ganzes bildet?

Wenn man diesen Bedenken den Vorrang gegenüber den staatsbürgerlich-soziologischen Vorzügen der ersten Lösung gibt, dann ergibt sich als zweite Lösung: den Eltern verschiedener Bekenntnisse soll die Möglichkeit offenstehen, ihre Kinder in bekenntnisbestimmte und in ihrer ganzen erzieherischen Tätigkeit entsprechend ausgerichtete Schulen zu schicken. Das Korrelat dazu muß freilich sein, daß religiös gleichgültige Eltern auch die Freiheit behalten, ihre Kinder in religiös unbestimmte Schulen zu schicken. Solche müßte es also unter Verhältnissen, wie den bei uns faktisch gegebenen, in jedem Fall neben den Bekenntnisschulen auch geben. Zur Begründung dieser Forderung soll nachher noch einiges gesagt werden. Zunächst ist zu dieser zweiten Lösung hinzuzufügen: die berechtigten Belange des Staates an der Schulerziehung müssen bei ihr in der Form gewahrt werden, daß der Staat, abgesehen von dem Zwang zum Schulbesuch überhaupt, über die wissenschaftlich-sachliche Seite des Schulbetriebs auch der verschiedenen Bekenntnisschulen eine gewisse Kontrolle behält. Er muß nach dieser Seite hin Lehrstoff und Lehrpläne bis zu einem gewissen Grad koordinieren können und muß auch das Recht behalten, nur solche Lehrer zuzulassen (auch an Privatschulen), die einer Prüfung ihrer wissenschaftlichen Befähigung genügt haben. Die Vorzüge und Nachteile dieser zweiten Lösung sind die umgekehrten wie bei der ersten und brauchen darum nicht nochmals erörtert zu werden. Eine generelle Entscheidung für eine dieser beiden Lösungen fällt schwer.

Es bleibt noch ein Wort zu sagen zu der Forderung, daß auch den religiös gleichgültigen Eltern auf jeden Fall die Möglichkeit offen bleiben soll, für ihre Kinder den Religionsunterricht zu vermeiden, bzw. sie in eine bekenntnisunbestimmte Schule zu schicken. Diese Forderung kann von der Seite des Theologen vielleicht zunächst überraschen. Aber gerade sie ist für den evangelischen Theologen jedenfalls theologisch begründet. Inwiefern? Haben denn Eltern ein natürliches oder göttliches Recht, ihren Kindern das Innerste und Wesentlichste der Erziehung, die Führung zum Glauben, vorzuenthalten

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und ihnen also auch eine entsprechende Schulmöglichkeit vorzuenthalten? Sie haben das gewiß nicht. Ihr Erziehungsauftrag lautet von Gott her in jedem Fall, nicht so zu handeln. Tun sie es doch, so tun sie Unrecht. Aber der evangelische Theologe muß hinzufügen: es muß ihnen die Freiheit bleiben, dieses Unrecht so lange zu tun, bis sie aus innerem Überwundenwerden durch das Wort davon ablassen und zur rechten Erfüllung ihres Amtes an ihren Kindern kommen. Das heißt nicht, daß solche Eltern und ihre Kinder einfach dem Bereich ihres Unglaubens überlassen bleiben sollen. Die Kirche in ihren Pfarrern und in ihrem allgemeinen Priestertum mit dem Verkündigungsauftrag, den jedes ihrer Glieder hat, hat die Pflicht, sich um die Glaubensfremden zu kümmern und ihnen, wo und wie immer sie sie erreichen kann, den Glauben und damit dann zugleich auch ihren göttlichen Auftrag an ihren Kindern zu bezeugen. Dies soll und muß durch die öffentliche Predigt und, wo diese nicht hinreicht, durch Seelsorge, Besuche und persönliches Gespräch geschehen. Grundsätzlich unmöglich aber scheint es mir zu sein, daß die Kirche darin den Staat zu ihrem Arm macht — daß also der Staat solchen Eltern auf dem Verordnungswege, bzw. durch die Tatsache, welche schulischen Möglichkeiten er gibt und verweigert, eine religiöse Erziehung unausweichlich macht. Es würden damit nicht nur Gleichgültige mechanisch überrannt, sondern in manchen Fällen doch auch irrende Gewissen vergewaltigt werden. Denn es könnte ja sein, daß es für manche Eltern die Sache einer freilich sehr irregehenden inneren Überzeugung und Gewissensentscheidung ist, ihre Kinder nicht christlich erziehen zu lassen. Auch das irrende Gewissen muß Raum behalten. Das ist die Kehrseite der geistlichen Freiheit und Freudigkeit, ohne die der Glaube nicht Glaube sein kann. Verkündigung und Annahme des christlichen Glaubens muß im Medium der persönlichen Freiheit geschehen. Im Falle der Hinführung unmündiger Kinder zum Glauben heißt das zunächst und bis die Kinder zu eigener Entscheidung herangereift sind: im Medium der Freiheit der Eltern, sich in persönlicher Verantwortung zu entscheiden, ob und zu welchem Glauben sie ihr Kind selbst führen und durch die Schulerziehung führen lassen wollen.