|11|

 

Einleitende Bemerkungen zur Fragestellung

 

I.

Das Recht als Gestaltung von Lebenswirklichkeit ist in dem vielschichtigen Umbruch unserer Zeit als solches zum Problem geworden. Das gegenwärtige Rechtsbewußtsein wird von dem Zweifel an der Möglichkeit gerechten Rechts schlechthin oder doch an der Möglichkeit seiner exakten Begründung beherrscht1. Die bestehende Automatik unseres Rechtsbetriebs vermag diesen Zweifel gewiß nicht zu beheben.

Daß der kulturelle Notstand unserer Tage nicht so sehr dem „äußeren” Mißgeschick politischer Katastrophen entspringt, als vielmehr aus der inneren Konsequenz bestimmter Züge unserer abendländischen Geistesgeschichte verstanden werden sollte, darüber ist in den letzten Jahren vieles gesagt worden. In solchem Hinblick erhalten der unbestreitbare Rangverlust2 und die wachsende Leere der Rechtsfunktion exemplarische Bedeutung: an dem Verfall rechtsbildender und -bewährender Kraft tritt die Ratlosigkeit zutage, die den in der Profanität lebenden, einst von seiner prometheischen Selbstmächtigkeit und seinem moralischen Eigenwert so beeindruckten „autonomen Menschen” des XIX. und XX. Jahrhunderts zunehmend befallen hat. Der Zynismus einer sich mit Ideologien ausstattenden Machtpraxis, wie wir sie im modernen Machtstaat aller Spielarten antreffen, ist indessen nicht wesentlich anders als die sich im Relativismus aussprechende Resignation das Kennzeichen dieser Entwicklung. In der Profanität versagt sich der Mensch der Begegnung mit seinem unbedingten Gegenüber, deren Frucht die Gewißheit und die Gestalt seiner Freiheit ist. Die von dem autonomen Bewußtsein gezeugte und aus dem Zweifel an der geschichtlichen Gegenwart der Wahrheit geborene Beziehungslosigkeit einerseits und aller totalitäre Zwang andererseits aber tragen zwillingshaft die Merkmale einer tief irritierten Seinsverfassung — eines jeweils konstitutionellen Defekts im existentiellen wie im eschatologischen Bezug des Menschen. Was zunächst als Vergewaltigung bestehender Ordnung erscheinen möchte, erweist sich bei näherer Betrachtung mehr als Auswirkung eines horror vacui. So hat das Erlebnis des totalitären Staates die bis dahin noch weitgehend latente Auszehrung aller Werte sehr leidvoll in das Zentrum gegenwärtigen Lebensbewußtseins gerückt.

Unter dem Eindruck des Mißbrauchs geschichtlicher Tradition und voll berechtigter Vorbehalte gegen den Staat als rechts setzende Macht sieht sich der Jurist als Richter wie als Wissenschaftler aufgefordert, nach Maßstäben zu suchen, an denen das positive Recht selbst gemessen werden kann. Denn sei es, daß man der Tatsache des „gesetzlichen Unrechts” aus dem Nachlaß des nationalsozialistischen

|12|

Gewalthabers gegenübergestellt wurde, sei es, daß man inmitten der durchaus nicht abgeschlossenen Auseinandersetzung mit den totalitären Neigungen und Kräften der Gegenwart nunmehr umgekehrt versuchen zu müssen glaubt, die Sphäre des Politischen in stärkerem Maße als bisher mit den Mitteln des Rechts zu bewältigen3, sei es, daß der für jede außergewöhnliche Lage so kennzeichnende Konflikt zwischen Gewissen und Recht nach einer überindividuellen Lösung verlangt: in jeder Hinsicht wird die Fragwürdigkeit einer im Zirkel des positiven Rechts befangenen juristischen Dogmatik erfahren.

Die unmittelbar empfundene Nötigung, in der Rechtstheorie wie auch in konkreten Gerichtsentscheidungen4 einen „überpositiven" und darüber hinaus metajuristischen Rückhalt zu gewinnen, scheint, sofern man das Recht dem Nihilismus5 nicht preisgeben mag, eine neue Aufgeschlossenheit für das Naturrechtsproblem unabweisbar zu machen. Und so wird, obgleich die schon längere Zeit vernehmbare Rede von einer „Renaissance des Naturrechts”6 zunächst durchaus keinen präziseren Sinn hat, als die wachsende Einsicht in die Notwendigkeit einer Überwindung positivistischer Einseitigkeit und Enge zu bezeichnen7, in der Tat die spezifische Frage des alten Naturrechts erneut aufgeworfen: Können wir allgemeinverbindliche, d.h. über die geschichtlich-konkrete Situation hinaus gültige, inhaltliche Aussagen über die Gerechtigkeit machen — oder mit anderen Worten: gibt es zeitüberlegene materiale Maßstäbe rechtlichen Handelns, die nicht „nur” des Bekenntnisses, sondern systematischer Erkenntnis und Anwendung fähig sind?8

 

Die um die Jahrhundertwende neuerstehende Rechtsphilosophie war zunächst — mit Recht keinen Rückschritt hinter den Kritizismus Kants zulassend — als „Naturrecht mit wechselndem Inhalt”9 bei einem formalen Apriorismus stehengeblieben. Der Erforschung der transzendentalen Logik als Aufgabe der Philosophie entsprach im Bereich der Rechtsphilosophie die Herausbildung einer Methodenlehre, bei der die Frage nach den materialen Gehalten des Rechts unbeantwortet oder doch bewußt unentschieden blieb — eine „konstitutionelle Schwäche der Rechtsphilosophie”10, die nur solange nicht akut wurde, als die moralische Substanz des Liberalismus noch nicht ganz aufgezehrt war.

Wenn man sich heute — vielleicht mehr noch aus der praktischen Not, über den Gesetzgeber selbst urteilen zu müssen, als auf Grund ausgereifter theoretischer Besinnung — die Neubegründung einer materialen Wertordnung im Sinne des alten Naturrechts zum Ziel setzt, so werden die in dieser Richtung gemachten Versuche insbesondere dem derzeitigen Stand des Erkenntnisproblems gerecht werden müssen, sofern man die Wissenschaft vom Recht nicht in den vielberufenen „dogmatischen Schlummer” (Kant) zurücksinken lassen will.

|13|

Zwar ließ auch die neuere Philosophie zunehmend eine Abwendung von den Fragen der transzendentalen Logik, d.h. der Beschäftigung mit den rein formalen Grundlagen der Wissenschaft, und zugleich eine erneute Bemühung um die „Erforschung von Wesensgesetzlichkeiten” erkennen. Ganz eindeutig weist in dieser Richtung etwa alles das, was der Grundüberzeugung des Realismus11 wieder nahe steht, wie etwa die von E. Husserl begründete Phänomenologie und die von ihm beeinflußte Ontologie M. Schelers und N. Hartmanns. Aber soweit es sich hierbei um die erneute Hinwendung zu einer Metaphysik handelt, deren Anspruch zwar nicht mehr auf eine spekulativ geschlossene Seinssystematik geht, sondern als eine die natürliche und wissenschaftliche Erfahrung auswertende „Wirklichkeitslehre” (Heimsoeth) verstanden werden will, vermag sie doch nicht mehr an der unverlierbaren Einsicht in die schlechthin unaufhebbare Bedingtheit rationaler Erkenntnis durch die Bezogenheit auf das Subjekt der Erkenntnis vorbeizugehen. Die von dieser Einsicht ausgehende existentialistische Philosophie zeigt darum da, wo sie nicht im Subjektivismus steckenbleibt, vielleicht am eindrucksvollsten, daß die Entwicklung zu einer neuen „Metaphysik” drängt, die aber im Gegensatz zur alten den Hinweis auf die „Immanenz des Bewußtseins” nicht beiseite schiebt, sondern zu einer ihrer wesentlichen Grundlagen macht12.

Allgemeiner und vorläufiger noch darf wohl gesagt werden, daß nach dem derzeitigen Stand der Diskussion eine Wissenschaft, die das Allgemeine (als ein Gesetzmäßiges oder Seinsollendes) aufweisen will, zunächst die vom Neukantianismus in aller Schärfe herausgearbeitete Gegensatzstellung von „Kritik” und „Metaphysik” überwinden muß.

 

Nun ist aber bereits die Frage nach dem Naturrecht, so wie sie oben gestellt wurde, dem im Bannkreis der antiken Metaphysik stehenden Denken unterworfen. Demzufolge unterliegt — ob man nun mit der Naturrechtslehre die Erkennbarkeit absoluter, inhaltlicher Rechtsnormen bejaht oder mit dem Rechtspositivismus verneint — in jedem Falle auch die Antwort einer Grundvorstellung, nach der ein absoluter bzw. nur relativer Erkenntnis fähiges Subjekt einem ansichseienden und mit bestimmten inneren Gesetzlichkeiten ausgestatteten „Wesen” der Dinge als dem eigentlichen Gegenstand der Erkenntnis gegenübergestellt ist.

So überaus fruchtbar dieser Denkansatz — vor allem für das ganze naturwissenschaftliche Denken — auch immer gewesen ist und noch sein mag, er führt notwendigerweise zu einer Vielfalt von Antinomien, die gleichsam als Zerfallsprodukte des unaufhebbaren Zusammenhangs von denkendem Subjekt und „Objekt” nur Teilwahrheiten sein können, in denen gleichwohl das Sicherungsbedürfnis des Menschen endgültige Lösungen sehen möchte. Die Aufforderung aber, zwischen den im Verlauf der Abstraktion sich

|14|

ergebenden, gegensätzlichen Systemen oder „Weltanschauungen” eine Glaubensentscheidung zu treffen, würde an entscheidender Stelle die ganz unbegründete Preisgabe aller Rationalität verlangen und zudem eine schwere Inkonsequenz im Hinblick auf den Ausgangspunkt darstellen. Der Ausgangspunkt aber war die Absicht, durch Reduktion subjektiver Erkenntnis auf ihren objektiven Gehalt Kriterien zu gewinnen, von denen wir in der Verlegenheit der Wahl einen allgemeinverbindlichen, weil rational beweisbaren Rückhalt erwarten.

Wir sehen demgegenüber, daß der Versuch, durch ein von aller Subjektivität gereinigtes, im Gegensatz zum Glauben verstandenes Wissen der Lebensaufgabe Herr zu werden, schließlich in der Irrationalität von „Weltanschauungsentscheidungen” endet, oder aber in einer Skepsis, die sich mit Recht zur Verabsolutierung rationaler Teileinsichten nicht bereit findet. Toleranz ist dieser Lage gegenüber eine sehr schätzenswerte Haltung, aber keine eigentliche Hilfe.

Solange also die Rechtsphilosophie der antinomischen Struktur eines im verengten Sinne wissenschaftlichen Denkens verhaftet bleibt, wird die Suche nach der Gerechtigkeit aus dem circulus vitiosus Positivismus — Naturrechtslehre nicht herausgeführt werden können13, solange wird die Behauptung des reinen Rechtspositivismus als Preisgabe der Wahrheitsfrage, die Behauptung inhaltlich bestimmten Naturrechts als unkritisch und die Versöhnung beider Standpunkte als inkonsequent bewertet werden müssen.

Es kann daher nicht grundsätzlich klärend sein, wenn die Kritik des Rechtspositivismus bzw. der Naturrechtslehre sich einer Argumentation bedient, mit der zwar die Unzulänglichkeit der einen Lehre in Anbetracht der anderen zutreffend dargelegt wird, die aber nicht tief genug ansetzt, um zu zeigen, daß man einer Renaissance des Naturrechts eben nicht schon deshalb zustimmen kann, weil der Positivismus Unrecht hat und umgekehrt. Denn hier gilt die Strenge der Antinomie: sie kann nicht aufgelöst, sondern nur irrational entschieden oder aber im Denkansatz behoben werden.

Mit den oben angedeuteten Schwierigkeiten wird indessen das Problem der Wissenschaft überhaupt oder doch die Fragwürdigkeit eines bestimmten Ideals von ihr angerührt sowie die — um auf den Anfang des Gedankenganges zurückzuweisen — in unserer Skepsis aufbrechende, ureigentlich religiöse Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis des Unbedingten oder Wahren in unserer konkreten geschichtlichen Welt, kurz: die Gewißheitsfrage. Wir begegnen ihr im Zentrum des Naturrechtsproblems.

Wenn der Gegensatz von Naturrechtslehre und Rechtspositivismus nur als ein dialektischer Widerspruch erkannt ist, dann bleiben für den nach dem Recht Fragenden nur zwei Wege: man kann zur Lösung praktischer Rechtsfragen hinter dem abstrakten Problem zurückbleiben. In welchem Umfang das möglich ist und welchen erkenntnis-theoretischen Sinn ein solches Verhalten hat, wird zu

|15|

prüfen sein. Eine Lösung ist dies jedoch nicht, wenn nach dem Grund der Möglichkeit gerechten Handelns und Entscheidens als solchem gesucht wird. Eben dies aber ist der positive Sinn des Zweifels am Recht. Wo es also darum geht, diesem Zweifel zu begegnen, da ist uns als Frage aufgegeben, ob und wie die unsere Wertentscheidung lähmende Aporie des metaphysischen Denkens zugleich mit der diesem Denken zugrunde liegenden Fragestellung überwunden werden kann.

Der vorliegenden Arbeit wird es insbesondere um diese, von der gegenwärtigen Rechtsphilosophie aufzunehmende Vorfrage zu tun sein. Sie stellt sich damit eine die Praxis nicht unmittelbar berührende, sondern eine systematisch-kritische und in diesem Sinne die derzeit akuten Naturrechtsbestrebungen sichtende Aufgabe.

 

II.

In Ausführung des oben umrissenen Gedankengangs soll mit der vorliegenden Arbeit unter Zurückstellung der im einschlägigen Schrifttum zumeist vordringlich behandelten rechts- und justizpolitischen Fragen untersucht werden:
- ob die Behauptung einer gegenwärtigen Renaissance des Naturrechts in der gekennzeichneten, spezifischen Bedeutung dieses Wortes zutreffend ist;
- in welcher Weise die Begründung einer Naturrechtserneuerung gedacht wird und
- inwieweit die betreffenden Versuche grundsätzlichen Einwendungen, insbesondere erkenntnistheoretischer Art standzuhalten vermögen, oder ob nicht vielmehr die prinzipielle Unlösbarkeit des Naturrechtsproblems die Suche nach dem wahren Recht in eine neue, jenseits des Streits um Naturrechtslehre und Rechtspositivismus liegende Fragestellung drängt.

Das nach 1945 in Deutschland erschienene, zum Naturrechtsproblem ausdrücklich stellungnehmende Schrifttum ist hierzu zwar nach Möglichkeit vollständig durchgesehen und erfaßt worden14. Es wurde jedoch um einer stärkeren Konzentration auf die Fragestellung selbst willen darauf verzichtet, die große Zahl der mehr oder weniger grundlegenden Lösungsvorschläge im einzelnen zu berücksichtigen und die unter ihnen z.T. nur scheinbar bestehenden Gegensätze oder Unterschiede einzeln auszuhandeln.

 

Es wurde vielmehr versucht, die Grundlinien herauszuarbeiten, auf denen sich die Argumentation für die Neubegründung eines Naturrechts heute bewegt. Dementsprechend wurden auch nur die in diesem Sinne als besonders kennzeichnend erscheinenden Vorschläge für die Darstellung und Beurteilung des fraglichen Problems herangezogen.

Die Untersuchung wird gemäß der sich anbietenden Unterscheidung christlicher und profaner Naturrechtsbegründung in zwei

|16|

Abschnitten erfolgen. Einmal, um die theologische und philosophische Argumentation jeweils getrennt zu Wort kommen zu lassen, zum anderen, um die erkennbaren Grundpositionen beider Gruppen herausarbeiten und als solche abhandeln zu können.

 

Den derzeitigen Vertretern eines „christlichen Naturrechts15 ist gemeinsam, daß sie mehr oder weniger ausdrücklich und umweglos auf die antik-christliche (also die scholastische) Naturrechtsvorstellung zurückgreifen. Dies gilt von der katholischen Rechtslehre, die in der philosophia perennis in der Tat eine ununterbrochene Naturrechtstradition vorfindet, uneingeschränkt, während man auf protestantischer Seite — sofern man dem Naturrecht nicht ablehnend gegenübersteht — die scholastische Grundkonzeption von einem anderen Offenbarungsverständnis her zu berichtigen sucht.

Dementsprechend soll zunächst das dogmatische Grundgebäude der katholischen Lehre an Hand des 1947 in zweiter Auflage erschienenen Buchs von H. Rommen „Die ewige Wiederkehr des Naturrechts”16 in gebotener Kürze dargestellt werden, um damit die für die Begründung christlichen Naturrechts sachlich wie historisch wirksamen Grundvorstellungen aufzuweisen.

Der von Rommen vertretenen Auffassung soll anschließend die in dem Buch „Gerechtigkeit" unternommene Rechtsbegründung des Protestanten E. Brunner gegenübergestellt werden, da sie z.Z. der einzige ausführlichere Versuch einer evangelischen Gerechtigkeitslehre ist, für den der Begriff „christliches Naturrecht” in Anspruch genommen wird.

 

Die profane Rechtswissenschaft hinsichtlich einer Befürwortung oder Ablehnung des Naturrechtsgedankens zu untersuchen, ist uferlos, sofern man als Naturrechtslehre wie Bergbohm17 schon alles das anspricht, was über den Rechtspositivismus als Identifizierung von Recht und Gesetz, d.h. also über eine Lehre, die ausschließlich die Legalität des Rechtssetzungsaktes für das Recht konstitutiv sein läßt (sog. „Gesetzespositivismus”)18, hinaus will. Überhaupt handelt es sich bei dem so verstandenen Gegensatz um ein Rechtsgeltungsproblem19, das als Teilproblem des Verhältnisses von Recht und Sittlichkeit neben oder hinter dem eigentlichen Naturrechtsproblem liegt und hier nicht weiter behandelt werden soll20.

Daß bei dem im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts ausgefochtenen Kampf der sogenannten Freirechtsbewegung von einer Erneuerung des Naturrechts keine Rede sein kann, steht außer Zweifel, so sehr auch im einzelnen naturrechtliches Gedankengut in diesen Streit hineingeraten sein mag. Hier wurde der Angriff vor allem gegen das positivistische Dogma von der logischen Geschlossenheit oder Lückenlosigkeit der positiven Rechtsordnung geführt, der sich jedoch ganz im Bereich von Rechtsanwendungs- und Auslegungsproblemen hielt.

|17|

Zur Abgrenzung des hier behandelten Themas muß einleitend weiterhin gesagt werden, daß alles, was seit der Jahrhundertwende als „normative Rechtslehre” gegen den Positivismus als Behauptung, das Recht sei nur der juristische Ausdruck eines faktisch Gegebenen (sog. „juristischer Naturalismus”), Front gemacht hat, für die Frage einer Naturrechtserneuerung gleichfalls nicht unmittelbar in Betracht kommt21.

Denn der wiedererstandenen Rechtsphilosophie ging es zunächst nur um die Feststellung, daß das Recht als ein System von Sollensvorschriften oder Werturteilen ohne Bezug auf eine den Rechtscharakter begründende Rechtsidee bzw. auf außerhalb des positiven Rechtssatzes zu findende Werte ein lucus a non lucendo sei. Sei es nun, daß man im Anschluß an den Neukantianismus die Rechtsidee als absolut und rein formal verstand22 und ihre „wechselnden Inhalte” von anderen Disziplinen wie Ethik, Kulturgeschichte, Soziologie und Psychologie bezog, sei es, daß man mit dem Blick auf den objektiven Idealismus Hegels und Schellings der Rechtsidee selbst einen dialektisch bedingten, jedoch materialen und in der Kulturgeschichte sichtbaren Gehalt zusprach23, sei es, daß man — ohne auf eine einheitliche Rechtsidee besonderes Gewicht zu legen — bei der Bildung der Rechtsbegriffe konkrete, transpositive Gesichtspunkte in einer am Vorbild der Geisteswissenschaften orientierten, teleologischen Methode zu verarbeiten suchte24: in jedem Falle galt, bei aller inneren Gegensätzlichkeit dieses Abschnitts der Rechtsphilosophie25, die Positivität einer Norm als solche für ihren Rechtscharakter nicht mehr als allein ausschlaggebend.

Mit dieser auf die eigentliche Naturrechtsproblematik der Gegenwart erst hinweisenden Entwicklung war die Rechtsphilosophie der Wertblindheit des Gesetzespositivismus zwar schon entschieden entgegengetreten, ohne jedoch eine eindeutige Bestimmung des Rechtsinhaltes für möglich zu halten. Um die Naturrechtsfrage im engeren Sinne wieder zu einem vordringlichen Thema der Rechtsphilosophie werden zu lassen, bedurfte es erst der Erfahrungen, die die ganze Schwäche eines noch so entscheidungsmutigen Wertrelativismus einer ideologisch gestützten und legalisierten Machtpraxis gegenüber deutlich werden ließen.

Insbesondere gegen die Behauptung der Relativität aller Inhalte oder Werte, die den innersten Kern der positivistischen Lehre ausmacht, wendet sich aber der spezifisch naturrechtliche Versuch: durch wissenschaftlichen Nachweis einer immanenten Wesensgesetzlichkeit soll dem Recht ein unabdingbarer, weil von der „Natur der Sache” selbst vorgeschriebener Bestand an materialen Prinzipien gesichert werden, so daß dem Gesetzgeber neben der Legalisierung nur noch die individualisierende Ausgestaltung dieser Prinzipien als Aufgabe zukäme. Diese Ausgestaltung soll zudem — eben an Hand der übergesetzlichen „obersten Grundsätze des Rechts" — stets überprüfbar

|18|

und im Falle des Widerspruchs ohne Geltung bleiben im Sinne der Formel „Naturrecht bricht positives Recht”26.

Sieht man sich im Bereich der derzeitigen profanen Rechtslehre nach Bekenntnissen für eine Naturrechtserneuerung im zuletzt gekennzeichneten Sinne um, so wird die Vielzahl derer, die von einer Wiederkehr des Naturrechts zum Teil wie von einer unabweisbaren Tatsache sprechen, auf einige wenige reduziert.

 

Zur Verdeutlichung der bisher nur grundsätzlich bezeichneten Abgrenzung des Themas soll im folgenden noch auf eine Anzahl von hier nicht näher in Betracht kommenden Naturrechtsvorschlägen aus jüngster Zeit im einzelnen hingewiesen werden.

Neben den Abhandlungen rechts- und justizpolitischer Art müssen bei unserer Untersuchung auch die Äußerungen derer außer Betracht bleiben, die vom Standpunkt des Rechtshistorikers aus auf das auch heute noch lebendige, vor allem für die Ausgestaltung eines übernationalen Rechts fruchtbarzumachende Gedankengut der verschiedenen historischen Naturrechtslehren erneut hingewiesen haben wie H. Thieme und G. Boehmer27. Ihr Votum für das Naturrecht und gegen den Rechtspositivismus hat den Sinn eines konkreten Vorschlags zur Neuorientierung unserer mißbrauchten Rechtstradition, bietet jedoch keine Ansatzpunkte für das hier aufgeworfene methodische Problem der Naturrechtsbegründung.

Obgleich H. Mitteis, der sich mit seiner Schrift „Über das Naturrecht”28 sehr bestimmt für die Erneuerung des Naturrechts als „Ausdruck einer zeitlosen ewigen Idee” ausgesprochen hat, sich nicht auf den Nachweis von heute noch wertvollen Rechtserkenntnissen der historischen Naturrechtslehren beschränkt, sondern darüber hinaus in das rechtsphilosophische Problem der Naturrechtsbegründung selbst eintritt, sind auch seine Ausführungen für eine Beurteilung eben dieses Problems wenig geeignet. Denn abgesehen davon, daß er sich in einer nicht eindeutig zu bestimmenden Weise auf Kant beruft, leidet sein Aufsatz auch sonst an einer Reihe von Unklarheiten, die den systematischen Sinn seiner Stellungnahme bei der Kürze der Darstellung nicht sicher erkennen lassen29.

Es wurde bereits an früherer Stelle gesagt, daß diejenigen „Naturrechts”-Vorschläge, die zwar als solche bezeichnet sind, sich aber gleichwohl ausdrücklich oder doch der Sache nach nur zu einem formalen „Naturrecht” im Sinne Stammlers bekennen, für unsere Untersuchung gleichfalls nicht in Betracht kommen.

Hierher gehört der Beitrag ]. v. Kempskis30, der im Anschluß an Kant nur die formalen Bedingungen der Rechtswissenschaft aufweisen und die jeweilige inhaltliche Ausfüllung des Rechts den Sozialwissenschaften überlassen will.

Desgleichen plädiert etwa auch H. Lehmann in seinem Aufsatz über „Die Wirkungsstärke des Naturrechts”31 für eine Naturrechtslehre, die sich darauf beschränkt, die „förmlichen Ordnungsgedanken”

|19|

aufzuweisen. Echtes Recht müsse, so meint er unter Benutzung einer Formulierung Stammlers, der „Idee einer Gemeinschaft frei wollender Menschen” dienen32. Eine derartige Begriffsbestimmung sage über die „näheren inhaltlichen Ordnungsprinzipien” nichts aus. Diese seien im positiven Recht festzulegen und ergäben sich aus dem jeweiligen sozialen Ideal33.

Es ist bemerkenswert, in welchem Maße bis heute das rechtsphilosophische Denken dem begrifflichen Gegensatz „formal-material" verhaftet ist und wie häufig sich hinter dem weitgehend zum Schlagwort gewordenen Begriff des Naturrechts eine mehr oder weniger exakte Abart eines formalen Apriorismus verbirgt.

Die Tatsache, daß auch Gustav Radbruch, bis dahin einer der vornehmsten Vertreter des Rechtspositivismus, sich in den letzten Kapiteln seines Lebenswerkes dem Naturrechtsgedanken zugewandt hat, ist nur allzu kennzeichnend für die tiefe Erschütterung, die das liberale, immer weitgehender auf formale Sicherungen beschränkte Rechtsstaatsideal und die ihm adäquate positivistische Rechtslehre durch die Praktiken des totalen Staats erfahren hat, so sehr sich auch immer diese Rechtslehre bei Radbruch von einem indifferenten Relativismus unterschieden und bestimmten Kulturwerten verpflichtet gewußt hat.

Es hieße jedoch die Hinwendung Radbruchs zum Naturrecht überschätzen34, wollte man darin mehr als eben nur den Versuch eines ersten Ausblicks auf die verschiedenen Möglichkeiten einer sachgebundenen und damit der Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers stärker entzogenen Lösung des Gerechtigkeitsproblems sehen. F. von Hippel hat in seiner eingehenden Würdigung der Radbruchschen Rechtsphilosophie auf das Fragmentarische dieses Versuchs sehr deutlich hingewiesen35. Radbruchs Bekenntnis zu einem übergesetzlichen Recht, das in der Form unabdingbarer Grundrechte auch legalem Unrecht gegenüber als gültige Rechtsgrundlage wirksam sein soll, hat den Charakter einer gegen die positivistische Gleichsetzung von Recht und Gesetz gerichteten rechtspolitischen Forderung, dringt aber zu einer erkenntnistheoretischen Begründung naturrechtlicher Normen nicht vor36.

Diese Problemstufe erreichen erst die von ihm unter dem Titel „Die Natur der Sache als juristische Denkform" vorgetragenen Gedanken37. Aber wenngleich ihm hierbei auch der exakte Nachweis einer gesetzmäßigen Beziehung von Sein und Sollen oder von „Stoff” und „Form” als Ziel vorgeschwebt haben mag: zu einer systematischen Behandlung des Problems ist er nicht mehr gekommen. Der betreffende Aufsatz ist der Niederschlag vorläufiger Beobachtungen zum Thema, kann aber weder als Zeugnis noch als ausreichende Beurteilungsgrundlage für eine sich angeblich abzeichnende Erneuerung des Naturrechts dienen.

Einen Vorschlag eigener Art hat Walter G. Becker mit seinem Aufsatz „Die symptomatische Bedeutung des Naturrechts”38

|20|

vorgelegt. Becker unterscheidet sechs historische Spielarten des Naturrechtsbegriffs und fügt eine siebente, die des „symptomatischen Naturrechtsbegriffs” hinzu. Darunter versteht er den Inbegriff aller de lege ferenda entwickelten und zum Zwecke der „effektiven Rechtsbesserung” je verwirklichten Rechtserkenntnisse.

Bei dem Begriff des symptomatischen Naturrechts handelt es sich somit nur um ein empirisches Auswahlprinzip. Die nach seiner Auffassung jeweils zur Geltung zu bringenden Rechtsinhalte sind das Substrat historischer Rechtsanschauungen und somit positiver Art39. Vergleichshalber verweist Becker auf das Billigkeitsrecht bei Aristoteles, die Entwicklung des jus gentium und des englischen common law, ohne jedoch mit seinen Ausführungen einem Dezisionsrecht das Wort reden zu wollen. Mit dem eingangs definierten Naturrechtsbegriff hat dieser Lösungsvorschlag nichts zu tun und soll daher im folgenden gleichfalls nicht näher erörtert werden.

Nicht viel anders als Becker will E. Erbe40 ein „Naturrecht” aus historisch bewährten Rechtsgrundsätzen entwickeln: „Wem sich der Schluß aus dem Gewordensein auf Norm und Wert verbietet, dem kann doch der Einblick in die überzeitlich verbindliche Geltung eines Grundsatzes dessen kategoriale Gültigkeit enthüllen . . . Die Überlieferung ist im Einklang mit unserem heutigen Wissen weiterzuführen . . . Wir bekennen uns damit zu einem empirischen Naturrecht — mit den Worten des Rechtsphilosophen Georges Renard — à contenu progressif41.” Auch der Vorschlag Erbes kann, wie aus den wenigen Andeutungen ersichtlich, gleichfalls nicht als Beitrag zur Erneuerung des Naturrechts im oben definierten Sinne verstanden werden.

Als ein solcher ist — wie schon eingangs gesagt wurde — nur alles das anzusprechen, was die Begründung streng allgemeinverbindlicher materialer Rechtsprinzipien zum Ziel hat.

In dieser Richtung weisen etwa die Äußerungen von O. Veit und neuerdings auch von K. Larenz42, wobei jedoch Veit mehr eine „aprioristische Ethik”, also die Herausarbeitung allgemeinverbindlicher Rechtswerte, Larenz hingegen mehr die immanente Struktur der sozialen Lebensverhältnisse, also die mehrfach erwähnte „Natur der Sache” als Grundlage des zu entwickelnden Naturrechts im Auge hat. Beide Äußerungen sind jedoch zu wenig ergiebig, als daß sie für eine Abhandlung der in ihnen angeschnittenen Probleme näher in Betracht gezogen werden könnten.

Im Bereich der profanen Rechtsphilosophie hat sich in letzter Zeit wohl am stärksten H. Coing für die Neubegründung eines Naturrechts eingesetzt. Coing versucht, in Anlehnung an die moderne, phänomenologisch orientierte Ontologie — insbesondere unter Hinweis auf M. Scheler und N. Hartmann — durch eine Koordinierung apriorischer Rechtswerte (der durch bestimmte „Ergänzungswerte” substantiierten „Rechtsidee”) einerseits und den erkennbaren Seinsgesetzlichkeiten des sozialen Lebens (der

|21|

sogenannten „Natur der Sache”) andererseits „oberste Rechtsgrundsätze” mit dem Anspruch überzeitlicher Geltung zu gewinnen. Hier geht es in der Tat um das volle Anliegen einer Naturrechtsbegründung im hier gemeinten Sinne des Begriffs.

Überblickt man die häufig überschätzte Zahl der derzeitigen Befürworter einer Naturrechtserneuerung, so ist festzustellen, daß sich (ausgenommen die Beiträge speziell christlicher Observanz) die von ihnen angebotenen Lösungsvorschläge im wesentlichen auf die auch von Coing verwendeten Grundgedanken reduzieren lassen, sofern man eben alle diejenigen Vorschläge außer Betracht läßt, die nur ein formales „Naturrecht” mit wechselndem Inhalt oder aber überhaupt ein „relatives Naturrecht” im Auge haben.

Da uns in Coings Entwurf einer neuen Rechtsontologie die für unsere Untersuchung wichtigen Elemente der derzeitigen Argumentation für das Naturrecht relativ vollständig vorgeführt werden, soll er der im Rahmen dieser Arbeit versuchten Darstellung und kritischen Beurteilung des profanen Naturrechtsdenkens unserer Zeit zum Vorwurf dienen.