Dombois, H.

Institutionen und Institutionenkritik

1969

|128|

Hans Dombois

Institutionen und Institutionenkritik

 

Wer heute zum Problem der Institutionen sprechen will, sieht sich einer schwierigen Lage gegenüber. Der Begriff der Institution ist ein gängiger. Er wird in den verschiedensten Zusammenhängen gebraucht. Gleichwohl hat er im allgemeinen Bewußtsein keine bestimmte, einigermaßen eindeutige Bedeutung gewonnen, an deren Verständnis man anknüpfen könnte. Es werden mit dem Begriff in unklarer Weise sehr verschiedene Sachverhalte verbunden. Es besteht auch nicht die Tendenz, hier zu einer gewissen Übereinstimmung zu kommen. Eher besteht umgekehrt die Neigung, gerade durch die Unbestimmtheit der Verwendung sich gleichsam Urteil und Meinung vorzubehalten. Man denkt an historische und soziale Institutionen, den Staat oder die Ehe, man versteht darunter aber auch den Inbegriff aller sozialen Organisationen usw. Unterschied und Widerspruch zwischen diesen Sinnbestimmungen wird nicht ausgeräumt. In diesem Vorbehalt der Unbestimmtheit aber drückt sich Kritik und Mißtrauen aus. Daß es so etwas wie Institutionen gibt, will und muß man allenfalls als unvermeidliche Tatsache anerkennen. Aber man ist mißtrauisch dagegen, daß diesem Sachverhalt mit einer bestimmten Auslegung auch eine bestimmtere und verpflichtende Bedeutung beigemessen wird. Man ist in Sorge, daß solchen Erscheinungen ein metaphysischer oder ideologischer Anspruch angeheftet und uns dann gleichsam übergestülpt wird, ja daß ihm eine Art religiöser Weihe zugesprochen wird, die man als unwahr und zugleich freiheitswidrig empfindet. So wird nicht eine bestimmte Auffassung des Problems, sondern schon die Einlassung auf das Problem von vornherein als fragwürdig betrachtet. Schon seine bloße Nennung kann Proteste hervorrufen.

Nun gibt es aber im wissenschaftlichen Bereich ein breites Feld der Institutionenforschung und der Institutionentheorie, welche die beobachteten Phänomene zu interpretieren versucht. Die allgemeine Soziologie wie die Völkerkunde und die Religionsgeschichte sind ohne eine intensive Beschäftigung mit dem Phänomen der Institution nicht mehr denkbar. Die spezielle soziologische Institutionenforschung hat eine

|129|

umfangreiche Literatur hervorgebracht, die sich in schulmäßige Richtungen gliedert und in ihren Verzweigungen kaum noch voll übersehbar ist. Schließlich gibt es, in Frankreich mehr als bei uns, aber mit beachtlicher Einwirkung auf die deutsche Gesprächslage, eine juristische Institutionentheorie, die sich in der allgemeinen Rechtslehre wie in der Verfassungstheorie als fruchtbar erwiesen hat. Es besteht also der sonderbare Zustand, daß ein breites Feld wissenschaftlicher Forschung, welches sich über mehrere große Disziplinen erstreckt, vom öffentlichen Bewußtsein verdrängt wird, obwohl Begriffe und Zusammenhänge aus diesem Bereich durchaus im Gespräch sind.

Diese Lage ist nicht ohne Beispiel und Zusammenhang. In den öffentlichen Auseinandersetzungen weltanschaulicher und politischer Natur wird im breitesten Maße mit dem Entwicklungsgedanken gearbeitet. Mit ihm werden historische, politische und soziologische Urteile begründet. Sie sind in popularisierter, häufig bis zum Klischee ausgewalzter Form in jedermanns Munde. Nur eines wird dabei verweigert: die Anwendung der gleichen soziologischen Gesichtspunkte und Methoden auf den Urteilenden selbst. Er selbst nimmt sich aus der damit gegebenen Bedingtheit grundsätzlich heraus. Er nimmt einen Standort in Anspruch, von dem er frei die Welt zu bewegen vermag, eben das, was jener antike Philosoph und Mathematiker nicht vermochte. Dabei ist dieser seltsam untaugliche Versuch doch nicht ohne einen gewissen Grund. Um ein Problem zu erfassen, muß man sich ernstlich auf es einlassen. Das kann man aber gewiß nicht mit dem Vorurteil tun, daß der erfaßte Sachverhalt letzten Endes doch nur bedenklich und belastend sei, keinen positiven Lebenssinn, keine zu respektierende Bedeutung besitze. Zur Kritik muß man also die Kraft haben, sich an den Gegenstand zu entäußern, ohne zugleich die Distanz zu ihm zu verlieren. Kritik kann sich nicht als bloße Verdammung und Enthüllung, sondern nur als dialektischere Prozeß vollziehen.

Dieses Problem zeigt sich schon bei Hegel und Marx. Um aus der Summe der Geschichte so bestimmte Schlüsse zu ziehen, wie sie es taten, mußten sie sich in extremem Maße auf diese Geschichte einlassen. Sie vermochten aber die gleichzeitig erforderte kritische Distanz nicht voll durchzuhalten. Sie mußten die Gelegenheit anerkennen oder aber die Tatsachen vergewaltigen. Dabei aber ist es ein grundlegender Unterschied, ob man als kritischer Denker außerhalb des Geschehens selbst und noch vor angestrebten Entwicklungen steht oder ob man bereits in der Macht ist.

|130|

In dem Maße, in dem der Kommunismus als praktische Anwendung Marxscher Theorien zur Macht kam, verzichtete er auf Verifizierung, auf Belegung und Beweis seiner historischen Begründung — allen scholastischen Parteitagsreden zum Trotz. Die geschichtsphilosophische Theorie konnte zum manipulierbaren Führungs- und Agitationsmittel werden.

In einer ähnlichen Lage befindet sich heute die unter uns gängige Institutionenkritik, weil und soweit sich Geschichte in einem wesentlichen Maße in Institutionen niederschlägt und abspielt. Demokratie sucht sich heute politisch-psychologisch neu zu begründen, und zwar durch eine umfassende Umwertung und Abwertung der Geschichte aller in konkreten Bildungen greifbaren Vorgegebenheiten. Der theoretischen Verschmelzung und Interpretation eines unabsehbaren Materials an Geschichte, Soziologie, Religionsphilosophie, Sozialpsychologie und Ideologiekritik, einem Maximum an Theorie steht die Reduktion eben dieses Materials auf ein Minimum negativer Wertungen gegenüber, in welche alles gefaßt wird: Patriarchalismus, Selbstzwecklichkeit der Macht, Autoritarismus, Repression. Damit wird eine Art Abstoßungseffekt bezweckt und ausgelöst, durch den man in die Zukunft vorangetragen wird. Die Geschichte ist nurmehr der Abtreter, an den man den Staub von den Füßen schüttelt: negatives Geschichtsurteil als Verhütungsmittel gegen unerwünschte erbkranke Fortpflanzung autoritärer Tradition — Geschichte als Pille.

Dieses System geistig-politisch-soziale Haltung wird von den verschiedensten Richtungen, von anpassungswilligen Reformern wie radikalen Protestlern, von den verschiedensten Trägern öffentlicher Meinungsbildung vertreten und hat bereits dominierende Stellung erlangt. Diese Haltung wird längst nicht mehr wirklich diskutiert und in Frage gestellt; sie ist nicht mehr Frage und offenes Urteil: gerade dies wird unterbunden, und kann wie der zur Macht gekommene Marxismus auf konstitutive Begründung verzichten, zumal jene umfassenden Theoriebildungen sich ohnehin Beweis und Widerlegung entziehen. Dieser Vorgang ist auch etwas wesentlich anderes als die vielgenannte zweite Aufklärung — trotz deutlicher Verwandtschaftsmerkmale: Die in der ersten Aufklärung festgehaltene Bindung an den Vernunftbeweis wird transzendiert durch den Willen zum existentiellen Neuentwurf. Der wesentlich antithetische und zugleich strukturfremde Charakter der evangelische Theologie der letzten 50 Jahre bringt hier manche gesinnungsverwandten Antriebe ein.

|131|

Die psychologischen Mittel sind übrigens ebenso einfach wie wirksam. Indem allem Bisherigen mit der Ambivalenz von Freiheit und Notwendigkeit jede echte Spontaneität abgesprochen wird, wird durch Ablehnung dieser Verfremdung und Repression eine positive Solidarisierung erzeugt und verstärkt.

Aber jede dominierende Haltung, jeder noch so neue Entwurf wird von der Wahrheit transzendiert, die er selbst nicht zu repräsentieren und einzuschließen vermag. Angesichts dieses Gesetzes braucht man nichts als Einzelnes zu verteidigen, sondern nur der Horizont eines Phänomens und Problems offenzuhalten. Wir müssen e,s je mehr heute die Entschlossenheit existentiellen Neuentwurfs gegen die Existentialien des Menschen, hier seine Institutionalität als Existential zu stehen kommt. Gerade eine positive Institutionentheorie wird ihr selbst immanente, legitime Gründe der Institutionenkritik und ihre Grenze herausbringen.

Begreiflicherweise kann ich in diesem Bereich immanenter Betrachtung nur einzelne Perspektiven herausnehmen und in Hauptlinien ausziehen:

1. Institution steht in einem historischen Gefälle. Es ist ihr mit dem Problem der Dauer mitgegeben. Enthält Institution das Moment der Ständigkeit, so ist es mit dem Begriff des status verbunden, ohne in ihm aufzugehen. Die einzelne Person besitzt in der Institution und vermöge der Institution einen bestimmten definierten Rechtsstatus mit Rechten und Pflichten. Institution ist überhaupt als ein Vorgang zu umschreiben, durch den jemand in einen solchen Rechtsstatus gelangt. Status ist ein relationaler Begriff, weil er das Vorhandensein anderer unterschiedlicher Rechtspositionen neben dem status je des Einzelnen voraussetzt. Nun hat die Soziologie früh bemerkt, daß sich gerade diese institutionelle Struktur geschichtlich durchgreifend gewandelt hat. So hat der englische Rechtshistoriker Maine den Prozeß dieser Umwandlung als Bewegung „vom status zum Kontrakt” bezeichnet. Er sagt:
„Wenn wir also das Wort Status, in Übereinstimmung mit dem Gebrauche der besten Schriftsteller, auf die Bezeichnung ihrer persönlichen Verhältnisse einschränken, und es vermeiden, den Ausdruck auf Verhältnisse anzuwenden, die in unmittelbarer oder entfernter Weise Ergebnis einer Übereinkunft sind, so können wir sagen, daß die Bewegung der fortschreitenden Gesellschaften bisher gewesen ist: eine Bewegung „von Status zu Contract.”

|132|

Diese Beobachtung ist regelmäßig dahin ausgelegt worden, es handele sich um einen unumkehrbaren Vorgang zur endgültigen Freisetzung individueller Entscheidungsbefugnis unabhängig von allen institutionellen Gegebenheiten, die damit endgültig in den Bereich der weichenden, sich ablebenden Traditionen verwiesen wurden. Jedoch muß man schon in diesem Zitat beachten, daß Maine den Bereich dieses geschichtlichen Gefälles sehr bestimmt begrenzt. Was Maine speziell im Auge hat, ist vielmehr die freie Disposition zwischen Gleichen über Güter und Handlungsverpflichtungen, die freie ökonomische und politische Bewegung. Sicher ist diese Bewegung als solche in der Ablösung älterer vorgegebener Institutionen endgültig und unumkehrbar. Indessen hat sich zur Enttäuschung aller Liberalen herausgestellt, daß diese Beobachtung nur eine Momentaufnahme war. Die Festlegung eines vorübergehenden Augenblicks, eines Durchgangspunktes zu neuen Bildungen. In diesem Sinne hat man heute gesagt, daß der Weg von Neuem und umgekehrt vom Contract zum Status gegangen ist und immer noch geht.

Das große Beispiel dafür ist das Arbeitsrecht. Es erwies sich schnell als eine Fiktion, daß der Arbeiter und Angestellte in abstrakter Freiheit in der Lage sei, über sich und seine Arbeitskraft zu verfügen. Er konnte sich aus dieser Lage nicht zurücknehmen, eine auch nur vorübergehende Arbeitslosigkeit praktisch nicht aussitzen. Er war auch bei wechselndem Arbeitgeber auf die Ständigkeit der Arbeit und deren Sicherung angewiesen. In diesem Bereich des Arbeitsrechts mußte er sowohl einen bestimmten Stand der Vergütung wie auch seine Altersversorgung sicherstellen. Die konsequente Folge dieser Notwendigkeit waren Sozialversicherung, Tarifrecht und Arbeitsgerichtsbarkeit. Diese drei zusammen sicherten nunmehr dem Arbeitsnehmer der modernen Wirtschaft auch unter den wechselnden Bedingungen der freien Wirtschaft eine optimale Dauer und Höhe der Vergütung und eine Sicherung für den Fall der Invalidität. Dies alles aber war nur dadurch möglich, daß die auf die Zugehörigkeit zu einem Arbeitsverhältnis beschränkte soziale Rolle, die den übrigen Menschen frei ließ, in der gleichen Weise als status ausgebaut wurde, wie ehedem in den älteren Rechtsformen Lebensverhältnisse, die den ganzen Menschen ständisch umfaßten. Es liegt auf der Hand, daß es sich hier nicht um eine Verzerrung von Verhältnissen handelt, die in anderer Weise besser geordnet werden könnten, sondern um eine schlichte Notwendigkeit, die den Bedingungen der Industriewirtschaft gemäß sich vollzieht. Die einmal

|133|

gewonnene Freiheit der Disposition ist also eine Freiheit der Berufswahl, sie ist auch die Freiheit des Wechsels der Bindung, welche sich fortschreitend mit zunehmenden Alter sichtbar vermindert. Die gewonnene Freiheit besteht auch darin, daß diese Bindungen zwar ökonomisch existenzbestimmend sind und den Einsatz des Betreffenden für seine berufliche Aufgabe erfordern, daß sie aber ihre deutliche Schranke an dem Bereich seines übrigen Lebens haben. In dieser Pluralität der Bereiche, der Differenz zwischen beruflicher Arbeit und privatem Leben ist aber zugleich begründet, daß die neue Institution als Bindung niemals jenen religiösen Wert erlangen oder wiedererlangen kann, den die umfassende Berufsbindung ehemals besessen hat. Ganzheit der Inanspruchnahme und religiöse Bindung sind strukturgleiche Phänomene, die konvergieren. In der Pluralität von Beruf und Privatleben ist zugleich die Pluralität der Anschauungen, Positionen und freien Lebensgestaltungen mitgegeben. Wann immer also von neuer Institutionalität gesprochen wird, ist sie immer pluralistisch und säkular. Die Wirksamkeit eines solchen sozialen Systems jedoch beruht auf der Wirksamkeit eines ungeheuren Verbundsystems, eines Deckungssystems, in dem Wirtschaftspolitik, Versicherungsanstalten, Währung, Tarifwesen, Gerichtsbarkeit und vieles andere ineinandergreifen und indem zugleich das jeweils höchstmögliche Maß an ökonomischer Produktivität sich entfalten kann, ein Ansporn zu immer höherer Leistung besteht. Dieses neue System der Statusrechte ist nicht statisch, sondern progressiv. Diese soziale Struktur verbindet mit organisatorischen Bildungen reiner Zweckhaftigkeit bereits zahllose Statuspositionen, die teilweise rechtlichen, zum Teil tatsächlichen Charakter besitzen. Diese soziale Struktur weist bereits große Ähnlichkeiten mit dem spätmittelalterlichen Privilegienstaat auf, in welchem jeder einzelne unablösbare Vorrechte und Privilegien besaß, die er als wohlerworbene verteidigte. Diese Rechtspositionen aber haben die Tendenz, sich mehr oder minder unabhängig von den Zweckzusammenhängen, in denen sie entstanden sind, zu verselbständigen. Nicht nur die Behörden verteidigen ihre Kompetenzen, erweitern sich und vermehren sich nach dem Parkinsonschen Gesetz. Die ganze Gesellschaft vielmehr hat das Gefälle, sich statusrechtlich auf wohlerworbenen sozialen Besitzständen zu etablieren. Dieses System stützt sich auf Gegenseitigkeit. Man läßt die Besitzstände des Anderen unangetastet, wenn dieser einen selbst in Frieden läßt. Der Dschungel der eigengesetzlichen und zum Teil höchst mißbräuchlich gewordenen Statusrechte kann nicht mehr

|134|

rational gelichtet werden. Wirtschafts- und Sozialpolitik verlieren immer mehr an Bewegungsfreiheit. Ihre Immobilität droht systemimmanent zu werden, da grundlegende Notwendigkeit und zufällige Willkür, da Gebrauch und Mißbrauch nicht mehr in ausreichendem Maße geschieden werden können, so wie bei körperlichen Verwachsungen, deren Operation lebensgefährliche Komplikationen hervorrufen würde. Sie ist aber eine gradweise, keine absolute; sie muß immer wieder angegangen werden.

Wir haben schon zwei wesentliche Erfahrungen mit diesem Problem hinter uns. Das Chaos des mittelalterlichen Privilegienstaates ist aus zwingenden Gründen um des historisch-politischen Überlebens willen durch den absoluten Fürstenstaat abgelöst worden, der sehr vorsichtig den Privatrechtsstand seiner Untertanen schonte und nur langsam zur umfassenden Reglementierung des Lebens seiner Bürger vorschritt. Die moderne Gesellschaft hat den Absolutismus in der eigenen Epoche in Gestalt eines konsequenten Stalinismus und aller totalitären Systeme als abschreibendes Beispiel hinter sich. An diesem Versuch umfassender sozialer Neubildung und radikaler Ausschaltung egoistischen Eigenrechts wurde deutlich, daß damit das Institutionenproblem in gar keiner Weise gelöst, zugleich aber mit der Verbindlichkeit des Rechts, und zwar gerade der Statusrechte der Bereich des humanum, insbesondere die wesentlichsten Errungenschaften freier, rechtlich gesicherter Entfaltung des Menschen verloren gingen. Demgegenüber bleibt scheinbar nur
a) der Rückfall in einen neuen Absolutismus allen Erfahrungen zum Trotz,
b) die Flucht in Reservate des Personalen,
c) die Utopie einer von der Verbundwirtschaft unabhängigen, zugleich von der Selbstsucht des Eigenrechts freien Unmittelbarkeit sozialer Gemeinschaft übrig.

Die bei Maine vorsichtig vorbehaltene Unterscheidung zwischen Bereichen des Kontrakts und personaler Institution wird vollends nicht mehr wahrgenommen. Daß durch diese ganze Spannung die Bereiche personaler Institution ungleich weniger betroffen werden, sondern einen wenigstens relativen Ausgleich darzubieten vermögen, wird vermöge der Stärke der Spannung übersehen.

Wie kann man aber eine auch nur gradweise Lösung eines Problems denken, welches nicht aufgedeckt, sondern mit dem Pathos eindeutiger Alternativen verneint wird? Je heftiger man an diesem Stricke zieht,

|135|

desto fester zieht sich der Knoten. Man muß das kritische Bewußtsein ebenso wie die Macht stärken, um die Spannung zu lösen. Die Einsicht in die historische Problematik der Institutionen erfordert Bejahung und Kritik zugleich.

2. Man kann unser Problem neben der historischen Achse der Entwicklung institutioneller Probleme gleichsam auch nach der Breite beschreiben. Schelsky, den ich nur als Ausgangspunkt benutze, ohne mich an seine Anschauungen zu binden, sagte in einem bekannten Aufsatz:
„Unter einer Organisation verstehen wir die durch bewußte Methodik erreichte Koordination von Personen zur Verwirklichung bewußter Ziele oder Erfüllung von klar angebbaren Interessen. Die moderne Organisation beruht auf Zweckhandlung. Unter Institution ist sicher nur ein soziales Gebilde zu verstehen, dessen Dauerhaftigkeit und Stabilität tiefer begründet ist als auf dem planenden Zweckhandeln und dessen Funktion für das Leben der Gesamtgesellschaft fundamentaler und und unersetzbarer ist als die von der Veränderung bewußter Ziele und Interessen her schneller wechselnden Organisationsformen.”*
Er unterscheidet also Institution und Organisation sachlich wie qualitativ.

Vergleichen wir einmal zwei große Institutionen, die abgeschlossen vor uns liegen — etwa den französischen und den preußischen Staat des 19. Jahrhunderts. Beide umschließen eine Fülle von Organisationen, Ämtern, Verrichtungen, Verbänden, mit denen sie relativ gleichartige Aufgaben unter sehr ähnlichen Bedingungen erfüllen. Aber offenbar gehen beide darin nicht auf. Sie haben eine unverwechselbare Eigenart gerade in dieser Verwirklichung und nicht nur durch die vorgegebene nationale und historische Verschiedenheit. Der französische sous-préfet ist etwas völlig anderes als der preußische Landrat und so fort.

Es handelt sich vielmehr um einen geistigen Sinnzusammenhang, in dem das Ganze steht und mit dem es selbst identisch ist. Die Gegensätze zwischen Immanenz und Transzendenz haben gegenüber dieser Art geistiger Selbstverwirklichung keinen Sinn. Es ist deutlich, daß das Ganze von dem Funktionswert allein nicht vollständig definiert werden kann und daß die Zurückführung auf den Funktionswert zwar geeignet ist, etwa leer gewordene Bauelemente hinwegfallen zu lassen, das Stil- und Sinnproblem aber nicht lösen und bezeichnen kann.


* „Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar?”, in: Auf der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf-Köln 1968, S 262.

|136|

In diesem Zusammenhang gehört auch der staatsrechtliche Begriff des ordre public, das will sagen: eines geistigen, juristisch auslegbaren Gesamtzusammenhangs, in dem die einzelnen Ordnungsbestimmungen und politischen Satzungen eines Gemeinwesens so zu stehen kommen, daß sie dadurch ihren Sinn nicht verlieren, sondern gerade erst erhalten. Die Umkehrung und Karikatur dieses Phänomens ist die Ideologisierung, welche künstlich die freie Selbstverständlichkeit einer solchen Sinngebung durch ein gewaltsames Vorzeichen ersetzt.

Man könnte die heutige Bundesrepublik sozusagen als Institutionalisierung des 20. Juli verstehen. Was heißt das? In der Widerstandsbewegung trafen sich die bis dahin unübersteigbar geschiedenen politischen Gruppen, Rechts, Mitte, Links, Protestanten, Katholiken, Nichtchristen, ohne Aufgabe ihrer Besonderheit unter der Voraussetzung, daß ihr Miteinandersein in der Unterschiedlichkeit für wie wesentlich sei. Dies war gerade nicht das gemeinsame Nationalbewußtsein, welches Wilhelm II. beschwor, wenn er am 2. August 1914 keine Parteien, sondern nur noch Deutsche kennen wollte. Man erkannte sich in dieser Unterschiedenheit und zugleich in der Wahrnehmung gewisser fundamentaler Positionen verbunden, die dann später etwa in den Grundrechten ausgedrückt worden sind. Aber der Widerstand war nur der Bewährungsfall oder das Erkenntnismittel für einen Sachverhalt, der als Fortbildung des politischen Bewußtseins durch ihn provoziert, aber nicht begründet war.

Was kann nun gegenüber solchen Forderungen der Institutionsbildung Institutionskritik bedeuten? Hier gibt es zwei gegensätzliche Möglichkeiten. Institutionskritik kann den radikalen Vorwurf bedeuten, daß jener über das Funktionale hinausgehende geistige Gesamtsinn verfehlt werde und verfallen sei, in einem grundsätzlichen und unerträglichen Sinne unterboten werde. Solche Kritik liegt nahe, wenn eine Wohlstandsgesellschaft sich in der Befriedigung ihrer Bürger zu erschöpfen scheint. Aber diese Kritik setzt auch voraus, daß man jenen besseren Gesamtsinn, seine Verwirklichung im Auge behält und den Prozeß institutioneller Integration nicht verneint. Häufig besteht darüber keine ausreichende Klarheit. Die Kritik ruft zwar das Bewußtsein der Unzulänglichkeit wach, verstelt aber gleichzeitig die Lage. Mit der unzulänglichen Erfüllung des Gesamtsinns zerstört sie zugleich jede mögliche Verwirklichung in ihrer nüchternen Verbindlichkeit. Gerade dies aber erzeugt den umgekehrten Fehlschluß, in dem bloßen Vorhandensein der Institutionen bereits Gewähr oder Beweis für ihre

|137|

Sinnerfüllung zu sehen und dies aus einer Destruktion der Kritik beweisen zu wollen. Die Verweigerung institutioneller Bindung und deren Entleerung zu nur äußerer Ordnung treiben einander. Da Institution Organisation in ihrer ganzen Äußerlichkeit einschließt, sich aber nicht in ihr erschöpft, kann weder die Beschreibung noch die Behauptung solcher Äußerlichkeit die Sache selbst treffen.

Institutionskritik kann aber auch aus dem Problem dadurch völlig mit der These heraustreten, daß es Institution jedenfalls heute trotz alles geistigen Anspruchs doch nicht mehr gebe, daß alles in einem Inbegriff von Zwängen aufgehe und verfremdet sei. Infolgedessen gebe es keine Differenz zwischen Institution und Organisation mehr, sondern nur noch das letztere in äußerster Entleerung. An die Stelle der Sinnerfüllung und Lebensbestimmung, deren Platz in dem vorigen Sinne Institution einzunehmen beansprucht, träte dann eine Art Transzendenz der Spontaneität, ein Mehr, ein unbestimmtes Irgendetwas, das dieses ganze Gefüge durchbräche und von außen neu gestaltete. Über den Inhalt dieser neuen Transzendenz könnte aber nie etwas ausgesagt werden, weil jede vorwegnehmende Aussage eine bestimmte Verwirklichung wieder auf die Ebene der Verfremdung in Organisation und Institution führe. Daß der Mensch bei jeder Gestaltung sich des Mittels der Institutionalisierung bedienen, und wenn man so will, in die entäußern muß, bleibt in jener Spaltung von Spontaneität und Verfremdung außer Betracht. In dieser Haltung ist die Tatsache wahr, daß der Mensch gerade in den äußersten, die höchste Leistung erzwingenden Anforderungen der modernen Gesellschaft nicht aufgehen will, kann und soll. Dieser tiefgreifende Antagonismus in Situation und Existenz aber wird gerade durch das negative Werturteil nicht aufgedeckt, sondern verdeckt. Die Wirklichkeit wird in ihrer Härte nicht angenommen, sondern durch ein vorweggenommenes Endgericht in Gut und Böse gespalten.

Die Auffassung hat die Fatalität einer Verfalltheorie an sich. Ihr ähnelt eine andere Variante, die, im ganzen sehr viel positiver, hier nur wegen eines gewissen Wahrheitsgehalts der Beobachtung vorgeführt wird.

Es ist die Anschauung, daß in der Moderne institutionelle Bildungen in einem sehr umfassenden Maße der Zweckrationalisierung verfallen seien, freilich ohne damit ihr Existenzrecht einzubüßen. Ihre geistige Potenz, die die bloße Funktionalität überschieße, werde nur hier und da trotz unmittelbarer Verbindung mit diesen fragwürdigen Gefügen

|138|

in signifikanten, vollmächtigen Trägern wieder sichtbar, sozusagen im Einzelfall und in der Einzelperson. So könnte man etwa Persönlichkeiten wie Kennedy und Johannes XXIII. deuten, die, mit den legitimen Mitteln alter und befestigtere Großorganisationen an die Spitze gekommen, trotzdem in einer einzigartigen Weise deren Gesamtsinn verkörperten und zugleich in einen hohen Anspruch transformierten. Die ungeheure Faszination, welche beide Männer über ihre eigenen Bereiche hinaus auf die gesamte Menschheit ausgeübt haben, zeigt die Bedeutung ihres Auftretens. Dabei ist es wesentlich, daß die Traditionen dieser Großverbände, die entgegen jeder Prognose Charismatiker an die Spitze gebracht haben, unbestritten und intakt waren. Es stellt sich die Frage, ob Gebilde, deren Gefüge gerade durch Institutionskritik tiefgreifend gebrochen ist, noch die Chance besitzen, solche Gestalten hervorzubringen, die jedenfalls ganz deutlich einen transformatorischen Sinn besitzen, eine Repräsentanz, die die Repräsentierten fordernd vorwärts reißt. Institutionskritik, die nicht eindeutig auf die Sinnerfüllung von Institutionen abzielt, verstellt möglicherweise gerade, woraus sie sich in hohem Maße legitimiert, die Chance für das Charisma.

Es zeigt sich auf alle Fälle, daß die hier mögliche und nötige Kritik unzulänglich ist, solange sie an diesem oder jenem gegenständlich haftet, genauso wie heute weniger denn je eine theologische Auseinandersetzung sich in dem Streit um die gegenständliche Wahrheit dieser oder jener isolierten dogmatischen Aussagen bewegen kann. Auf einem so engen Felde kann die Auseinandersetzung über Institutionen gar nicht geführt werden. Argumentationen dieser Art sind nicht mehr als das bloße Fußvolk von Stimmungen, eine Art politisch-ideologisches Kanonenfutter, welches von der Strategie nichts ahnen kann, die mit ihm gemacht wird. Daher ist auch mit einem gewissen moralischen Pathos, mit einem progressiven Pharisäismus sittlicher Entrüstung über die Mängel von Menschen, Verhältnissen und Dingen, so wirksam Moralismus immer ist, so unendlich wenig gewonnen. Je dichter das System einer unteilbaren Welt wird, je mehr praktisch und moralisch alle Vorgänge interdependent werden, desto radikaler nimmt sich der Mensch aus den gleichen Zusammenhängen heraus, die sowohl seine moralische wie seine ökonomische Existenz ausmachen und bestimmen. Seine Rationalität aber reicht nicht aus, um ihm diese Antinomie einsichtig zu machen. So steht er in der härtesten Zerreißprobe. Gerade durch seine volle Subjektivität und Mündigkeit wird er zugleich in tragischer

|139|

Weise nach den Gesetzen des objektiven Geistes Objekt dieser Gesetze. Dies zeigt sich in drei Aspekten. Die geschilderte Bewegung zerstört selbst alle Kräfte und Formen des Ausgleichs und der Vermittlung, die ihr eigenes Leiden heilen oder mildern könnten. Der soziologisch aufgeklärte und entwicklungsgeschichtlich denkende Mensch spart sich selbst aus den Gesetzlichkeiten aus, mit denen er operiert. Und in einer Lage, die er selbst als offen versteht und offenhalten will, weigert er sich selbst, konstitutive Widersprüche in der Existenz selbst anzuerkennen und durchzutragen, Offenheit zu ertragen.

Unsere Zeit ist in ihrer Härte und Zerrissenheit in vieler Hinsicht wahrhaftiger als andere Epochen. Sie weigert sich, sich etwas vorzumachen oder vormachen zu lassen. Aber das Gebot der unbedingten Wahrhaftigkeit, welches schon einmal eine kulturkritisch-romantische Bewegung aufstellte, ist noch keine Gewähr für die Annahme der Wirklichkeit. Die Aporetik unserer Zeit fordert Offenlegung, Übernahme und Vermittlung. Es geht um weit mehr als um die äußere Existenz: es geht um die Wahrheit, und eben dies fordert von uns, die ganze Wahrheit aufzunehmen und uns damit zugleich in die Wahrheit des Nächsten zu stellen.