Dombois, H.

Institution und Norm

1969

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Hans Dombois

Institution und Norm

 

I

Unser Gespräch hat bekanntlich seinen Ausgang von Erkenntnissen der Eherechtskommission genommen, welche ich in meinem Referat von 1953 (teilweise abgedruckt in „Recht und Institution”) formuliert habe. Vor und unabhängig von jeder theologischen Bearbeitung waren es bestimmte Strukturen, die sich im eigentlichen Sinne „zeigten”, die so hervortraten, daß man sie nicht wohl übersehen konnte. Ihrem inneren Sinnzusammenhang, ihrem Strukturgesetz sind wir zunächst verstehend nachgegangen — auf der Ebene der Phänomenologie. Wenn ich recht sehe, ist die Schlüssigkeit jener Darstellung für die Ehe auch in dem schwierigen Fortgang der Erörterung niemals durchgreifend in Frage gestellt worden. Dies ist auch nicht durch die Verschiebung der Betrachtung auf den Gesichtspunkt der Institutionalität des Menschen geschehen. Der Institutionscharakter der Ehe zeigt sich so als Struktur, daß sich sofort die Frage nach analogen Strukturen mit anderem Sachgehalt als Thema stellt. Der Strukturcharakter widersprach von vornherein mit hoher Evidenz der Annahme, daß es sich um eine singuläre Erscheinung handle. Der Versuch jedoch, diesen evidenten Strukturcharakter auf anderen Feldern zu verifizieren, ist den bekannten Schwierigkeiten begegnet. Diese lagen in zwei Richtungen. Bei einer mehr traditionellen Betrachtung, d.h. dem Versuch der Übertragung auf einen analogen zweiten Bereich, den des Staates, kamen wir zwar bei den erhebbaren Vorgängen personaler Zuordnung, nämlich bei Amt und Staatsbürgerschaft, zu ziemlich brauchbaren Feststellungen. Da sich aber das Staatsphänomen im ganzen nicht oder nicht mehr auf diese personale Elemente reduzieren ließ (das Wort in jedem Sinne Gebraucht), gerieten wir über die Problematik der, kurz gesagt, sekundären Systeme in das weite Feld der soziologisch-anthropologischen Institutionsforschung. Hatten wir für den Staat und andere analoge einzeln betrachtete Gebilde zu wenig, so hatten wir im Bereich jener soziologischen Betrachtung zu viel, jedenfalls so viel, daß das Phänomen seine Konturen verlor und sich in unbegrenzbare Perspektiven

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zu verlaufen drohte. Darin war zugleich das Problem des Verhältnisses von Jurisprudenz und Soziologie mit eingeschlossen, eine schon vor 30 Jahren durch die Smend’sche Integrationslehre in besonderer Weise dramatisch gestellte Frage.

Im Wissenschaftlichen Kuratorium der Studiengemeinschaft ist hier in dieser Woche die Frage behandelt worden, warum seit langem in den Studienkommission der Beitrag der Theologie nicht oder bei weitem nicht in dem notwendigen Maße geleistet worden ist. Offenbar handelt es sich weder um einen Zufall noch um ein persönliches Versagen der angesprochenen Gelehrten. Es scheint mir aber die Tatsache für unser Gespräch nicht unwichtig, daß wir in der Eherechtskommission die gleiche Erscheinung nicht oder jedenfalls in einem wesentlich geringeren Maße finden. Die im Zusammenwirken von Juristen und Theologen gewonnene Erkenntnisse haben sich hier nicht nur für die Ehe, sondern auch für das Gebiet des Kindschaftsrechts durchaus bewährt. Mag hier auch auf diesem wesentlich personalen Gebiet eine ältere Arbeitstradition der Theologie hilfreich geworden sein, mögen wir auch vieles dem überragenden methodischen Können Professor Schumanns verdanken: auf dem Gebiete des Personenrechts im engeren Sinne scheinen wir in etwa doch Boden unter die Füße bekommen zu haben, sagen wir vorsichtig mit der Gewißheit, mit der billigerweise von uns Aussagen erwartet werden dürfen. Daß auch hier erhebliche Probleme bestehen, bedarf keiner Erwähnung.

Der Verlauf der Verhandlungen in der Institutionenkommission dagegen scheint meine Bedenken gegen den wiederholt vorgeschlagenen Versuch zu bestätigen, das thema probandum an einem weiteren Untersuchungsobjekt, dem Eigentum, durchzuführen. Wir wären auch hier wahrscheinlich nach gewissen Anfangsergebnissen in ähnlicher Weise wie beim Staat in einen unüberschaubaren Problembereich hineingeraten. Nach wie vor besteht ein Spannungsbogen im Gesamtproblem zwischen der Institutionalität und den konkreten Institutionen. Es sei vermerkt, daß Professor Schumann in der Eherechtskommission schon vor Jahren als Arbeitsaufgabe für ein Konklave der Theologen das klassische Generalienproblem als Thema gestellt hat — das für uns gerade durch die Soziologie noch eine wesentliche Erweiterung erfahren hat.

Ich meine nun, daß wir einen bedeutenden Teil unserer Schwierigkeiten dem zu verdanken haben, daß wir unwillkürlich einer traditionellen Behandlung des Problems gefolgt sind. Diese Haltung war

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verständlich und naheliegend. Man braucht sie nicht eigentlich zu entschuldigen. Ganz von allein stießen wir auf die großen Grundbezüge, in denen der Mensch nun einmal steht, und wendeten uns ihnen gegenständlich zu. Andere Verstehensversuche wie etwa die lutherische Drei-Stände-Lehre sind ja auch nicht primär aus einer spekulativen Theorie entstanden, sondern enthalten einen großen Anteil konkreter Beobachtung vorfindlicher und sich aufdrängender Gegebenheiten. Hier ist dann mehr und mehr die Strukturform der Aussagen fragwürdig geworden, insbesondere das, was eine sogenannte Ordnungstheologie daraus gemacht hat. Wir durften in dem überraschenden Konsens von 1955 und dürfen heute noch sagen, daß wir mit der Aufdeckung des Vorgangscharakter, der Vorgang-Zustand-Einheit einen ganz grundsätzlichen Schritt aus jener älteren Betrachtungsweise herausgetan haben. So gewiß man nun mit Recht von „der Ehe” spricht, so gewiß die hier gemeinten Vorgänge und Verhältnisse Namen haben, die davon nicht wegzudenken, keine nachträglichen Abstraktionen sind, so gewiß haben wir nun doch zu schnell sozusagen singuläre Ganzheiten einander gegenübergestellt oder je für sich zu betrachten unternommen. Wir haben zu schnell — ich darf es hier etwas ungeschützt ausdrücken — sozusagen Hypostasen des Institutionsbegriffs bekommen und wundern uns, daß das dann nicht durchhielt. Andererseits haben wir das Beobachtungsmaterial nicht genügend ausgewertet. Es hat unserem Gespräch ein wenig die Faszination des vorfindlichen Rechtsphänomens gefehlt, das nach Verständnis verlangt. Wir haben mehr über die Institution als von der Institution geredet. Die entsprechende soziologische Leidenschaft kann uns daran erinnern, kann es aber nicht ersetzen. Ich halte daran fest, daß wir seit 1949/55 eine rechtstheologische Kommission sind und trotz nützlicher Hereinnahme soziologischer Problematik auf diese juristische Aufgabenstellung zurückkommen müssen. Wir gingen, wie gesagt, von einer doppelten Evidenz unserer Beobachtungen aus, der speziellen für den Bereich der Ehe, der generellen für einen breiten, aber nicht ausschließlich juristischen Bereich der Phänomene, standen also vor dem Problem der Übertragbarkeit der gewonnenen Grunderkenntnisse. Wenn die Beobachtungen für die Ehe auch nur auf einem anderen Bereich sich bewährten, war ja damit ein generelles Problem als solches gestellt. Neben und womöglich vor der generellen Erörterung, wie wir sie auch jetzt vorhaben, sollte aber eine Verbreiterung der phänomenologischen Basis selbst stehen.

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II

Als Anhalt dafür darf zunächst die Beobachtung dienen, daß die Elemente personaler Institution (Amt und Staatsbürgerschaft) außerhalb des Bereichs der Ehe sich als resistent erwiesen haben, d.h. in unserem Sinne beschreibbar, aber auch durch den Strukturwandel des Staates nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Trotzdem bietet das Merkmal der Personalität zunächst nicht mehr als einen Richtpunkt oder Vormerkpunkt. Werden die gesuchten Erscheinungen vorzugsweise im Bereich personaler Zuordnungen sichtbar, so sagt dies über die Struktur solcher Vorgänge noch nichts direkt aus. In der Einheit von Vorgang und Zustand haben wir zunächst wesentlich formale Aussagen gemacht. Dieser Formalismus wurde aber schon in den Aussagen über die institutionelle Struktur der Ehe insofern überschritten, als von der Mehraktigkeit von Aussonderung und Zuordnung gesprochen wurde. Damit sind bereits materiale Aussagen gemacht. Ich brauche nur an das Verhältnis von eheschließendem Verlöbnis und Trauung zu erinnern, wobei auch das romanistische Verlöbnis in sich institutional interpretiert werden kann, da es jedenfalls nach unserer Rechtsanschauung ebenfalls einen personenrechtliche Status begründet. Die von uns erhobenen rechtsgeschichtlichen Daten (Sohm-Reicke) werden übrigens von Koschaker für den gesamten indogermanischen und vorderasiatischen Bereich grundsätzlich bestätigt. Es ist ersichtlich, daß diese Merkmale sowohl für die Ehe wie für die Amtsbestellung wie für den Vorgang der Naturalisation, also für Amt und Staatsbürgerschaft sinngemäß passen. Nicht erwogen wurde dagegen bisher, daß es sich auch im streng rechtlichen Sinne um causa-lose, psychologisch gesprochen, spontane Akte handelt, die unter keinem Titel, keinem Rechtsgrund gefordert werden können. Die Entscheidung zur Institution, die Ingangsetzung wie der Verlauf des Institutionsvorgangs können daher nicht einem Gerechtigkeitsurteil unterworfen werden. Damit scheint eine fundamentale Voraussetzung der abendländischen Rechtsphilosophie und Rechtssystematik in Frage gestellt, daß das Recht nämlich in seinem gesamten gedanklich darstellbaren Umfange auf die Gerechtigkeit ausgerichtet sei. Die Ausrichtung auf die Gerechtigkeit wird andererseits durch diese Feststellung für einen ungemein breiten Bereich des rechtlich Geforderten und Forderbaren grundsätzlich nicht berührt. Die Linie, die von der nikomachischen Ethik über die klassische Definition von iurisprudentia und iustitia im Doppelsinn

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von Gerechtigkeit und Rechtsprechung führt, ist damit von der Phänomenologie her in dem Sinne durchbrochen, daß ihr Ausschließlichkeitsanspruch in Frage gestellt wird. Die Frage, ob die so begründeten statusrechtlichen Zuordnungen Verpflichtungen erzeugen und implizieren, welche dem Gerechtigkeitsurteil unterliegen, ist eine grundsätzlich andere. Auf alle Fälle vermitteln der Gerechtigkeitsbegriff und die ihm zuzuordnenden Forderungsstrukturen keine Einsicht in das Wesen institutionaler Vorgänge. Die Gerechtigkeit ist institutionsblind. Solange die Jurisprudenz sich als die wissenschaftliche Erfassung der Axiomatik solcher Sollensstrukturen exklusiv versteht, ist sie also thematisch unvollständig, verfehlt sie eine wesentliche Seite ihres eigenen Bereichs — völlig unabhängig von theologischen, philosophischen, soziologischen Erwägungen. Das zeigt sich auch in den offenkundigen Mängeln der Theorie des Personenrechts. Deswegen habe ich schon vor langen Jahren in meiner Naturrechtsschrift eine Theorie der Statusrechte als Aufgabe bezeichnet. Es handelt sich auch nicht um technische Hilfskonstruktionen zur Ergänzung der bisherigen Rechtsdogmatik. Die dogmatische Unterscheidung von absoluten und relativen Rechten, über deren pädagogischen Nutzen zu reden wäre, verdeckt vollends die Tatbestände.

Die allgemeine Bestimmung, die wir im Vorgriff hier versuchen können, ist die Aussage, es handle sich generell um Akte freier Zuwendung. Die hier gemeinte Freiheit enthält das Moment nicht geschuldeter Wahl (sowohl aktiver Wahl wie der Bereitschaft sich erwählen zu lassen), die in der Entscheidung konkret wird; Zuwendung bedeutet die Statuseinräumung als davon unterscheidbaren Akt, der ebenfalls der Annahme bedarf. Vermöge dieser Generalbestimmung wird es zugleich möglich wie nötig, weitere Rechtsinstitute und Phänomene einzubeziehen: die Schenkung, die Erbeinsetzung, die Adoption und vor allem die in der Moderne aus der Rechtssystematik herausgenommenen Gnadenakte aller Art, die ehedem durch den Gedanken der Privilegierung deutlicher mit dem allgemeinen Rechtsgefüge verbunden waren. Die Vorgänge auch des Sachenrechts, für sich allein betrachtet, aber auch in der speziellen Form der kausalosen Rechtseinräumung (Grundschulden) lassen sich diesem Verständnis einordnen und von hier aus neu verstehen. Die hier beschriebenen Rechtsvorgänge tendieren deutlich nach der personenrechtlichen Seite, sind aber nicht in einem so eindeutigen Sinne auf personale Beziehungen gerichtet, als daß sie nicht zu einer Rückprüfung des hier verwendeten Person- und

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Personalitätsbegriffs nötigten. Für das Sachenrecht ist das von mir früher behandelte Problem der konstitutiven Korrelation von Person und Sache neu zu durchdenken.

Unzweifelhaft implizieren und erzeugen diese Akte freier Zuwendung Verpflichtungen desjenigen, der von der Zuwendung begünstigt wird. Auch kommen hier Vorgänge vor, welche eine einseitige Begünstigung enthalten, andere, in denen eine wechselseitige Zuwendung erfolgt. Rechtsdogmatisch bleibt wesentlich, daß diese Verpflichtung nicht der Inhalt, sondern die Folge des gemeinten Zuwendungsaktes ist. Primär wird ein Rechtsstatus eingeräumt, innerhalb dessen sich der Begünstigte frei bewegen kann. Es bleibt ein systematischer Unterschied gegenüber schuldrechtlichen Strukturen bestehen, in denen eben das Zusagen eines bestimmten Handelns der unmittelbaren Gegenstand des Rechtsvorganges ist. Hegel hat in philosophischen, nicht eigentlich rechtsdogmatischen Zusammenhängen diese Vermittlungsproblematik durchaus im Auge. Mag die wechselseitige freie Zuwendung in schuldrechtliche Strukturen leicht übergehen oder auf sie hin transparent sein, so sind doch deutlich statusrechtliche und schuldrechtliche Vorgänge zu unterscheiden. Dieser Unterschied kommt in der gegenwärtigen Dogmatik nicht mehr zur klaren Hebung. Alles was in unserem Zusammenhang normativ verstanden werden kann, beruht aber im strengen Sinne auf dem statusrechtlichen Zuordnungsverhältnis und kann von ihm nicht abgelöst werden. Es kann auch niemals selbst den Vollgehalt dieses Verhältnisses ausmachen. Sonst wäre das immanente Freiheitsmoment aufgehoben, die Freiheit, die durch die Zuwendung gewährt wird. Entgegen unserer Prämisse würde der statusrechtliche Konsens in den schuldrechtlichen Konsens übergehen. Dies wird etwa deutlich bei Schenkung und Erbeinsetzung. Sie begründen beide keine Erfüllungsverpflichtungen, wohl aber (personale) Dankbarkeitsverpflichtungen und Widerrufsrechte bei deren Verletzung. Schuldrechtliche Kontrakte sind im Gegensatz dazu solche, welche auf eine Erfüllung beiderseits gewollter Zwecke direkt ohne Herstellung eines diese Zwecke überschreitenden Zuordnungsverhältnisses ausgehen. Das Schuldrecht setzt das Rechtssubjekt voraus, läßt es aber zugleich in actu unberührt und klammert es prinzipiell aus.

Die Akte freier Zuwendung haben also die Struktur der Gabe. Ihr normatives Element liegt in der so geschaffenen und eingeräumten Rechtsrolle und Rechtsposition und impliziert in ihr Freiheit. Erfüllung bedeutet hier wesentlich Nichtverletzung des mit der Rolle

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gegebenen Verhältnisses. Normative Setzung und schuldrechtliche Verpflichtung ohne vorausgesetzte Gabe der Rechtseinräumung dagegen gehen auf positive Erfüllung ohne Übernahme einer Rechtsrolle in der Zuordnung. Es bestätigt dies — unter Einschluß von Verzahnungen — die in der letzten Sitzung erhobene Dualität von Institution und Norm als zweier zu unterscheidender, wenn auch nicht vollständig zu scheidender Phänomenenkreise des Rechts. Indessen sind heteronome normative Satzungen wie frei übernommenen schuldrechtliche Verpflichtungen nicht wohl denkbar, ohne daß zuvor sich Rechtseinräumungen abgespielt haben, auch wenn sie als selbstverständlich vorausgesetzt und nicht mehr reflektiert werden. Eine logische und genetische Priorität der Institution vor der Norm dürfte — in Übereinstimmung mit einer beiläufigen Bemerkung von Herrn Picht im vergangenen Jahre — anzunehmen sein. Ich möchte die Bemühungen um ein sich aufdrängenden und nicht einfach zu leugnendes Phänomen nicht durch den Übergang auf einen sicherlich unfruchtbaren terminologischen Streit versanden lassen. Wer also den Normbegriff für eine Begriffsbestimmung des Rechtes allgemeinster Art nicht meint missen zu können, mag ihn beibehalten und etwa „fordernde” und „gewährende” Normen unterscheiden. Aber ich muß doch zugleich darauf hinweisen, daß eine wesentlich normative Jurisprudenz an der Erhellung solcher Erscheinungen erfahrungsgemäß durchaus uninteressiert gewesen ist. Die Sache selbst als Problem kann ich nicht preisgeben. Um einem bisher unbeachteten Gesichtspunkt zur Berücksichtigung zu verhelfen, kann und muß man ihn schon einmal in kräftigen Gegensatz zum Bisherigen stellen.

 

III

Haben wir nunmehr als rechtliche Phänomene eine statusrechtliche Gabestruktur und eine normative Anspruchsstruktur, so dürfen wir sie freilich nicht zu schnell als selbständige und getrennte Kategorien gegeneinander setzen. Gemeinsam ist ihnen zunächst auf alle Fälle, daß Gabe und Anspruch immer Gabe und Anspruch jemandes an jemanden sind, aus diesen isomorphen Relationen nicht herausgenommen werden können. Daß beide noch enger verbunden sind, ergibt sich aus der Interpretationsgeschichte des Gerechtigkeitsbegriffs. Die ars, die constans et perpetua voluntas suum cuique tribuendi ist sehr verschiedener Deutung fähig. Ist das suum als nur angefochtener Rechtsbesitz oder Anspruch schon dem Rechtssuchenden zugehörig, so

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hat der hier angerufene Richter nur das zu decken, herzustellen, was zu Unrecht angefochten oder verweigert wird. Er kann niemandem etwas geben, was er virtuell nicht schon besitzt. Rechtsspruch und Rechtsschutz sind nur ein zusätzlicher Aggregatzustand, der dem an und für sich gegebenen, im Urteil zu erkennenden Recht zu verleihen ist. Eine schöpferische Tätigkeit ist in diesem Richterspruch nicht enthalten; er hat lediglich noetische und konfirmatorische Bedeutung. Jener Satz kann freilich auch anders gedeutet werden. Wenn das suum ein tribuendum ist, welches eben erst durch den Richterspruch zukommen, so kann dies als zukommendes ein doppeltes sein, in einem paradoxalen Sinne, etwas was ihm als recht und billig zusteht, aber doch eben ihm erst in einer freien Mehrung seines Rechtsstandes hinzukommt. Auch dies gewiß nicht willkürlich, aber doch so, daß die Gerechtigkeit des Richters, d.h. die in seinem Sinne liegende Ordnung der Dinge die Entscheidung bestimmt. Läßt der Richter dem Kläger dies zukommen, so aus der Geneigtheit, um seiner eigenen, des Richters Ordnung Willen. Dann ist diese Gerechtigkeit freie Gabe, die den Rechtsuchenden erhöht oder fördert, freistellt, justitia salutifera. Diese geneigte Gerechtigkeit kann dann nicht gefordert werden, sie ist freie Gabe, die erbeten wird. Noch heute heißt der Antrag im Zivilprozeß in der lateinischen Terminologie petitum, Klagbitte. Insoweit ist die Gerechtigkeit nicht dem Sachgehalt des Streitverhältnisses immanent, weil ein anderes Rechtsverhältnis, dasjenige zwischen Partei und Richter hinzukommt, der gerechte Spruch diese Immanenz transzendiert. Erst eine völlige Ablösung des Rechtsverhältnisses der Parteien von deren Verhältnis zum Richter oder umgekehrt, eine völlige Funktionalisierung des Richteramts vermag eine radikale Immanenz des Gerechtigkeitsbegriffs zu begründen. Solange und soweit aber Gerechtigkeit noch als justitia salutifera und eben insoweit auch als freie Zuwendung verstanden werden kann, in der der Richter die Rechtsstände nach seinem Sinne ordnet, solange steht der Begriff der Gerechtigkeit noch nicht einfach auf der Seite der Forderungs-, Anspruchsstruktur.

Niemand jedoch erscheint der Träger der Gerechtigkeit in reiner Heteronomie. Ist er auch unbedingt überlegen, so bezieht sich doch seine Überlegenheit auf die Seinen. Kondeszendenz ist die Bedingung der Möglichkeit der Gerechtigkeit. Die überwiegende Tendenz zur Förderlichkeit, die nicht den Tod des Unterworfenen wünscht, setzt eine — zuweilen verborgene — zugrunde liegende Identität, Identifikation, Solidarität voraus.

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Wir haben uns also mit dem Institutionenproblem nicht einfach grundsätzlich vom Gerechtigkeitsproblem abgelöst. Wir haben zwar die Begriffe der Gabe und des Anspruchs im formalen Sinne als Korrespondenzbegriffe vor uns. Aber es ist die Gabestruktur dem Begriff der Gerechtigkeit wohl im Gefälle des Bedeutungswandels, aber nicht grundsätzlich entgegengesetzt. Auch das Recht besitzt die Möglichkeit paradoxaler Bildungen der gnädigen Gerechtigkeit.

Im ganzen genommen finden wir institutionale Strukturen wesentlich im Personen- und Sachenrecht, Forderungsstrukturen im Schuld- und Strafrecht.

 

IV

Diese typologische Feststellungen stehen in zweifacher Weise in geschichtlichem Zusammenhang.

1. Es leuchtet ein, daß institutionale Akte freier Setzung eine quantitativ überragende Bedeutung in solchen Rechtsordnungen haben müssen, in denen die Welt noch nicht in einem dichten Gefüge vorfindlicher Rechte besetzt ist, sondern eben erst besetzt wird. Hier hat die freie Vergabung (auch als Lizenzierung, Privilegierung) ihren Platz. Wo solche Rechte bereits bestehen, muß notwendigerweise die immanente Gerechtigkeit bestehender Rechtsrelationen in zunehmender Dichte und komplizierter Verwicklung an Bedeutung gewinnen. Aber ebenso deutlich ist, daß eine Rechtsordnung solcher spontaner Zuwendungen nicht schlechthin entbehren kann, und daß sie im Personenrecht (Familienrecht, Mitgliedschaftsrecht, Amtsrecht) ihren hauptsächlichen Platz hat. Insofern steht die Kategorie der Gabe außerhalb der Geschichte, ist sie nicht aufhebbar. Gewissen Formen theologischer Rechtskritik oder kritischer Wertung des Rechts in der Annäherung an den theologischen Gesetzesbegriff, liegt die phänomenologisch unzulängliche Annahme zugrunde, es gehe das Recht grundsätzlich in der Immanenz und Interdependenz wechselseitiger Forderungen auf. Auf dieses Gefüge wird dann die Dialektik der Ususlehre angewendet. Diese Betrachtung bereitet dann einem juristischen Rationalismus den Boden, der einen geschlossenen Forderungszusammenhang (juristisch und ethisch in wesentlicher Analogie) annimmt, wie die klassische Physik die Undurchbrechbarkeit der Kausalgesetze voraussetzt. Solche Zusammenhänge können dann immer nur noetisch getroffen oder verfehlt werden. Neue Einsätze gibt es in ihnen nicht. Die zutreffende Erfassung personaler Rechtspositionen und personenrechtlicher

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Vorgänge wird um so schwieriger, je ausschließlicher der Gesamtzusammenhang des Rechtes in Forderungsstrukturen begriffen wird. Gerade die ethische Struktur solcher Auffassungen verhindert ein personales Verständnis.

2. Eine zweite geschichtliche Dimension unseres Problems hat bereits Max Weber in seiner Rechtssoziologie aufgezeigt. Die von ihm formulierten Erkenntnisse scheinen mir rechtshistorisch einwandfrei. Sie sind aber in der Grundsatzdebatte noch nie beachtet worden, obwohl sie bereits seit 40 Jahren vorliegen. Nennen wir die erste von ihm genannte Form Personalkontrakt, die zweite Leistungskontrakt, so trägt die erstere entschieden institutionale Züge. Ein solcher Vorgang ist übrigens sowohl zwischen Gleichen wie zwischen konstitutiv Ungleichen denkbar. Wenn mann also durch den Personalkontrakt „jemand jemandes” wird, so handelt es sich darum, daß man sich entweder einseitig oder wechselseitig in einen personalen Rechtsstand instituiert oder instituieren läßt. Der volle Gehalt wird erst durch das Gegenbild des Erfüllungskontraktes sichtbar. Wie schon oben entwickelt, wird jetzt der Rechtsstatus der Parteien vorausgesetzt. Vermöge dieser vorausgesetzten und im Rechtsakt selber nicht in Mitleidenschaft gezogenen Rechtsfähigkeit des Rechtssubjektes vermag dieses sich zu verpflichten. Warum diese Fragen heute in den Blick treten, läßt sich zeigen. Es handelt sich nicht nur um eine spätere Frucht des Historismus in der Soziologie, sondern auch um moderne Erkenntnisprobleme. Wenn der Erkennende vom Gegenstand der Erkenntnis nicht abgelöst werden kann, dann auch der Handelnde nicht vom Gegenstand seines Handelns — auch nicht im Recht. Die Problematik ist also nicht notwendig verbunden mit Elementen magischen Weltverständnisses, in dessen Zusammenhang Weber sie mit Recht sieht. Freilich ist auch hier zu vermeiden, solche Zusammenhänge ohne genauere Interpretation zum Schlagwort werden zu lassen.

Die zweckhafte Direktheit des Erfüllungskontraktes, in welchem von dem Beteiligten personal ganz abgesehen werden kann, hat dieser Form die fruchtbare Ausbreitung ermöglicht. In ihr kann die immanente Gesetzlichkeit der Verkehrswirtschaft zur vollen Entfaltung kommen. Sie hat auch — soziologisch gesehen — eine Entlastungsfunktion. Gleichwohl ist zu bemerken, daß die romanistische Tradition des 19. Jahrhunderts und das bürgerliche Rechtsdenken zu einer fast emphatischen und zuweilen geradezu ideologischen Überschätzung der Bedeutung schuldrechtlicher Strukturen geführt hat. Auf alle Fälle

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fällt so die Rechtswelt auseinander in autonom übernommene Vertragsnormen und heteronom gesetzte öffentlich-rechtliche Normen. Das souveräne Subjekt solcher Normsetzungen steht grundsätzlich immer außerhalb des so geschaffenen Normgefüges. Es ist einerseits im Souveränitätsbegriff unbindbar, auf der anderen Seite entsteht das Problem des Schutzes eines Personkerns.

Der systematische Aufbau der Zivilrechtssysteme macht den Unterschied deutbar. Das klassische sogenannte Gaius-Schema, das wohl sehr viel älter ist, welches aber über die humanistische und romanistische Tradition bis in den CIC von 1917 durchgetragen hat — personae-res-actiones besagt: es gibt eine persona im Rechtssinne nur, insofern sie Subjekt einer res ist, also in einem Rechtsstande, ursprünglich als Bürger, Markgenosse der römischen Gemeinde, steht. Eine res gibt es aber nur insofern, als es die res jemandes ist. Persona und res konstituieren sich gegenseitig. Erst danach gibt es ein Recht der Rechtsverfolgung und der Rechtsänderung. Das BGB dagegen ordnet: Personenrecht, Schuldrecht, Sachenrecht. Die an sich existente Rechtsperson verpflichtet sich kraft ihrer Rechtsfähigkeit und erfüllt diese Verpflichtungen durch Verfügung über ihren sachenrechtlichen Besitz. Dieser ist für ihre Rechtspersonalität selbst ohne Bedeutung, er ist reines Objekt. Allen sachenrechtlichen Rechtsverhältnissen wird regelmäßig eine schuldrechtliche Causa vorgeordnet, das Sachenrecht völlig in den Kreislauf des schuldrechtlichen Verkehrsrecht eingegliedert. Familienrecht und Erbrecht gewinnen im Verhältnis dazu keinen eigenen dogmatischen Standort. Der Typus der freien Zuwendung ist jedoch für das gesamte Personenrecht, aber auch für die personalen Elemente des Staatsbegriffs, Amt und Staatsbürgerschaft unablösbar, unentbehrlich, weil insofern hier jene notwendigen freien Neueinsätze bestehen. Wir würden sonst auch auf eine echte Verstehensmöglichkeit verzichten. Aber auch dem verkehrsrechtlichen Leistungsvertrag wachsen überall dort, wo das Verhältnis auf wiederholte Leistung und eine gewisse Dauer abgestellt ist, wieder institutionsrechtliche Elemente zu, ohne welche diese Verhältnisse nicht verständlich sind. Es handelt sich dabei in keiner Weise um den romantischen Versuch, eine Rechtswelt rein personaler Bezüge zu konstruieren. Gerade die Ausbildung des modernen Arbeitsrechts ohne jede Verbiegung seines funktionalen Charakters zeigt, daß der schuldrechtliche Leistungsvertrag notwendig erweitert werden muß zum industriellen Arbeitsvertrag, aus welchem auch ohne formelle Vereinbarung Fürsorge- und

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Treupflichten erwachsen. In ganz partiellen Rollen als Teilnehmer an öffentlichen Verkehrseinrichtungen, als Kunde einer Bank usw. entstehen in durchaus funktionalen Verhältnissen doch institutional interpretierbare Zuordnungen, die in den Leistungsvertrag eingebettet sind.

Wir entfernen uns damit noch weiter von der Betrachtung einzelner benennbarer und darum auch einigermaßen isolierbarer Institutionen und nähern uns der Aussage von der Institutionalität des Menschen. Institution wäre so gesehen engagierte Spontaneität, sich zuwendende Freiheit, weil freie Zuwendung. Diese Spontaneität ist von ihrem Gegenstande und Gegenüber nicht ablösbar. Nur insofern sie sich zuwendet, tritt sie in Erscheinung.

Ich möchte meinen, daß erste von hier aus die eigentliche Kritik und Kontraposition zur Naturrechtslehre zu bestimmen ist. Diese Lehre setzt ein metaphysisches a priori des Menschen, zu dessen Eigenschaften und Akzidentien die Sozialität, Rationalität, Freiheit gehört. Sie impliziert deshalb auch notwendig einen Gerechtigkeitsbegriff,der im beschriebenen Sinne immanent zu interpretieren ist. Das transzendente Moment, welches in der distributiven Gerechtigkeit angelegt ist, kommt deshalb nicht mehr zur vollen Wirkung. Dadurch aber werden notwendig alle Rechtsinhalte vergegenständlicht. Dieses Subjektverständnis schafft ein entsprechendes Objektverständnis. Die engagierte Spontaneität, etwa in der Ehe, kann rechtlich nicht mehr schlüssig konstruiert werden. Dies zeigt sich insbesondere in der ungeklärten Vieldeutigkeit des Konsensbegriffes. Der Fehler dieser Anschauung kann jetzt auch juristisch-konstruktiv gezeigt werden. Aber eine Rechtskritik, die das Recht immer nur als das verfügbare Äußere verstehen will, beruht auf den gleichen, nur weniger deutlich entfalteten Voraussetzungen. Die Institutionenlehre, aufgebaut auf dem Rechtsphänomen der freien Zuwendung, bedeutet also sowohl die Kritik des naturrechtlichen wie des bürgerlichen Rechtsdenkens wie einer spiritualistischen Rechtskritik. Sie macht, wie mir scheint allein, personale Rechtsverhältnisse überhaupt verständlich, die auch in funktionalen Zusammenhängen in hohem Maße wirksam werden können. Prof. Wolf hat gelegentlich außer der Ehe auch die Kirche ohne nähere Erläuterung in unserem Sinne als Institution bejaht. Es handelt sich wohl im letzteren Raum nicht nur oder nicht in erster Linie um die Kirche überhaupt und im Ganzen, als um das Geschehen in der Kirche. Die gemeinsame Dignität dieser Phänomene liegt wohl darin, daß es sich hier in Eherecht, Kindschaftsrecht, aber auch im geistlichen Geschehen in einem dezidierten

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Sinne um die Menschwerdung des Menschen handelt. Ich habe nach Möglichkeit vermieden, die theologischen Bezüge direkt aufzuweisen, obwohl sich dies nicht vollständig vermeiden ließ. Der theologische Kontext ergibt sich für die Teilnehmer des Gesprächs fast von selbst. Mir ging es zunächst darum, im eingangs bezeichneten Sinne den Beobachtungsbereich und die Gesprächsgrundlage zu verbreitern.

Wir werden bei alledem das explizite Verhältnis von institutionellen und normativen Elementen nicht einfach zu bestimmen vermögen. Das volle Recht autonomer wie heteronomer Normsetzung und die vorzugsweise Beschäftigung damit beruht freilich darauf, daß nicht jeweils und immer auf diese Grundlagen zurückgegangen werden kann und muß. Sowohl die phänomenale Gleichwertigkeit freier Zuwendungsakte mit den normativen Erscheinungen wie die prinzipielle Vorgängigkeit institutionaler Strukturen sollte aber nicht bestritten werden.