II. Zur geschichtlichen Entwicklung

 

a) Die Ehedisziplin der altkirchlichen lateinischen Konzilien

Als nächster Schritt unserer Erwägung muß die Haltung der Kirche zum Scheidungsproblem durch die Phasen ihrer Geschichte verfolgt werden. — Zunächst eine Übersicht über die gemeinsame Basis der Alten Kirche. Diese fand im römischen Reiche und den wenigen unabhängigen Randgebieten nebeneinander eine große Fülle von Rechtstraditionen verschiedener Völker vor, so daß das römische Eherecht mit der Eingliederung der Gebiete nicht ohne weiteres überall für das Familienrecht wirksam wurde, also jüdische, griechische und zahlreiche weitere partikulare Rechtstraditionen fortbestanden.

Der Fortgang der Rechtsentwicklung in den beiden Reichshälften ist dann aber tiefgreifend verschieden. In der westlichen Reichshälfte gab es kaum noch eine folgerichtige und umfassend wirkende Gesetzgebung. Sie beschränkte sich mehr auf Einzelregelungen, die für unser Problem nichts austragen. Frühzeitig aber wurden große Reichsteile von germanischen Staatsbildungen beschlagnahmt, so daß sich die Kirche mit der germanischen Rechtstradition auseinandersetzen mußte. Die Grundsätze des römischen Eherechts sind in den germanischen Volkskönigtümern einschließlich der karolingischen Kirchengesetzgebung des ausgehenden 8. Jahrhunderts (Frankfurter Synode von 794) nicht übernommen worden.

Im Gegensatz zu dieser komplexen Lage in der westlichen Reichshälfte war in der östlichen durch die byzantinische Reichsgesetzgebung eine zentrale Staatsgewalt in monumentalen Kodifikationen wirksam. Diese Gesetzgebung in griechischer Sprache bedeutete weitgehend Rezeption und Fortbildung des spätrömischen Rechts. Eine direkte Auseinandersetzung mit einer positiven Gesetzgebung fand also allein hier statt. Andererseits wissen wir

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jetzt durch die Forschungen von Ritzer7, daß für die Ausbildung des kanonischen Eherechts der Ostkirche der Einfluß der außerhalb des Reichsverbandes stehenden armenischen Nationalkirche eine Art Leitfunktion ausgeübt hat. Nachdem dort eine umfassende Verkirchlichung des nationalen Eherechts stattfand, hat die byzantinische Großkirche den gleichen Weg beschritten. Dies gilt insbesondere für das Recht der Eheschließung. Seither ist die Eheschließung des Christen im Osten konstitutiv mit dem Handeln der Kirche verbunden, während die lateinische Kirche durchgehend beides getrennt hat. Hier werden die unterschiedlichen Interpretationen des Verhältnisses von Natur und Gnade unmittelbar institutionell und kirchenrechtlich relevant. Die Entwicklungen auf dem Gebiet des Eheschließungsrechts sind aber noch keineswegs entscheidend und präjudiziell für die Haltung der Kirche in Fragen der Ehescheidung. Hier muß das Verhalten der Kirche in beiden Teilen belegt werden, auch wenn die relativ frühen Aussagen aus dem 3., 4. und 5. Jahrhundert noch keine deutliche Differenzierung zwischen West und Ost erkennen lassen.

Die Haltung der lateinischen Kirche des Westens kann auf zwei Ebenen betrachtet werden, der patristischen Literatur und der Konzilsbeschlüsse. Ich gebe den letzteren den Vorzug, weil sie verbindlichen Charakter haben und den maßgeblich gewordenen Horizont jenseits subjektiver Auslegung und bloßen Theorien mit hinreichender Klarheit widerspiegeln. Die altkirchliche Auslegung kannte keinen formellen Biblizismus, wie er aus dem älteren Protestantismus bis heute nachwirkt. Insbesondere wurde nicht verkannt, daß das allgemeine Scheidungsverbot des Herrenworts und die Unzuchtsklausel nicht auf der gleichen Ebene stehen. Dabei bedeutete das Nebeneinander dieser beiden widersprechenden Aussagen eine gewisse Unsicherheit und Öffnung des Problems, die sich mehr unausdrücklich als ausdrücklich bemerkbar machten. Augustin hat ausdrücklich die Schwierigkeiten ausgesprochen, die er mit der Auslegung habe, sich aber der scheidungsfeindlichen Auslegung auch wieder angeschlossen. Als konziliare Texte kommen insbesondere in Betracht:
1. Elvira 306, Canon 8, 9 und 10
2. Arles 314, Canon 10
3. Vannes (um 465), Canon 2
4. Agde 506, Canon 25.


7 K. Ritzer, Formen, Riten und religiöses Brauchtum der Eheschließung in den christlichen Kirchen des 1. Jahrtausends (Liturgiegeschichtliche Quellen und Forschungen 38), 1962.

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1. Elvira 306

VIII. De foeminis quae relictis viris suis aliis nubunt.
Item foeminae, quae nulla praecedente causa reliquerint viros suos et alteris se copulaverint nee in finem aeeipiant communionem.
IX. De foeminis quae adulteros maritos relinquunt et aliis nubunt.
Item foemina fidelis, quae adulterum maritum reliquerit fidelem et alterum ducit, prohibeatur ne ducat; si duxerit, non prius accipiat communionem, nisi quem reliquit de saeculo exierit, nisi forsitan necessitas infirmitatis dare compulerit.

VIII. Über die Frauen, welche, nachdem sie ihre Männer verlassen haben, andere heiraten.
Ebenso sollen Frauen, welche ohne vorausgehenden Grund ihre Männer verlassen und andere geheiratet haben, die Kommunion nicht erhalten, auch nicht am Ende ihres Lebens.
IX. Über die Frauen, welche ihre ehebrechenden Männer verlassen und andere heiraten.
Ebenso soll einer christlichen Frau, welche ihren ehebrecherischen christlichen Mann verlassen hat und einen anderen heiraten will, verboten werden, dies zu tun; wenn sie aber dennoch geheiratet hat, soll sie die Kommunion nicht eher erhalten, bis der verlassene Mann aus dieser Welt geschieden ist, wenn nicht vielleicht die Notwendigkeit einer Krankheit Anlaß gegeben hat, es ihr zu gewähren.

Canon VIII ist darin bedeutsam, daß hier ausdrücklich die Entscheidung von dem Vorliegen eines Trennungsgrundes abhängig gemacht wird. Ganz analog verhält sich Canon IX in einer etwas anderen Situation. Der etwas längere Canon X, den ich hier nicht wiedergebe, fügt hinzu, daß die von einem Katechumenen verlassene Frau selbst getauft werden kann.

Alle drei Bestimmungen schränken deutlich den Anwendungsbereich des Scheidungsverbots ein. Canon X enthält eine aus der Missionssituation verständliche veränderte Anwendung des Privilegium Paulinum. Alle drei Canones beziehen sich ausschließlich auf Frauen. Daß dies nicht gleichzeitig für beide Geschlechter verordnet wird, zeigt, daß für die Männer die Begrenzungen noch weniger in Betracht kamen, weil ihr Recht, die Frau bei Vorliegen von anerkannten Gründen zu entlassen, weniger bestritten wurde, während das Eigenrecht der Frau der Regelung bedurfte.

 

2. Der Canon 10 von Arles ist methodisch besonders interessant. Er lautet:

„Ut is cuius uxor adulteraverit aliam illa vivente non accipiat.
De his qui coniuges suas in adulterio deprehendunt, et iidem sunt adolescentes fideles et prohibentur nubere, placuit, ut in quantum possit consilium eis detur, ne viventibus uxoribus suis, licet adulteris, alias accipiant.”

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Der Text ist, wie ersichtlich, sehr vorsichtig im pastoral-seelsorgerlichen Sinne gefaßt. Wie Mikat8 ist es mir unverständlich, wie etwa Joyce9 gerade aus diesem Beschluß ein Festhalten an der unbedingten Unscheidbarkeit herauslesen kann. Die Bedeutung des Textes scheint mir aber noch weiter zu gehen. Man muß mit Rücksicht auf die lateinische Sprachform den Text in deutsche Sätze auflösen. Er würde dann folgendermaßen heißen:

„Wenn jüngere Christen ihre Frauen beim Ehebruch ertappen, so sehen sie sich dem Verbot gegenüber, nach deren Verstoßung anderweit zu heiraten. Ihnen soll dann, soweit möglich, der Rat gegeben werden (oder der Rat gegeben werden, soweit möglich), nicht zu Lebzeiten ihrer verstoßenen Frauen andere zu nehmen, obwohl jene ja sich durch Ehebruch schuldig gemacht haben.”

Joyce hat insofern recht, als hier die Kirche die betrogenen Ehemänner trotz ihrer Unschuld mit dem Verbot der zweiten Heirat konfrontiert hat. Der aufgegebene Ratschlag ist jedoch kein striktes Verbot. Dieses Verbot wird durch die Formel „in quantum possit” wesentlich abgeschwächt. Diese Formel ist genau diejenige, mit der aufgrund einer älteren missionsrechtlichen Tradition in der Gegenwart das primär als divini iuris ausgelegte Verbot der Mischehe wegen Gefährdung katholischer Kindererziehung begründet worden ist. Die Überwindung der Mischehenfrage in unserer Zeit hat diese Formel als Vehikel benutzt und damit einen völlig anderen Horizont der Auslegung in Anspruch genommen. Damit fällt auf alle Fälle die Absolutheit. Mit Recht sagt Mikat, daß das Fehlen einer Exkommunikationsklausel eindeutig beweist, daß hier Variante Haltungen nebeneinander geduldet wurden, so gewiß die Kirche den primären Grundsatz als Richtpunkt behielt. Von einer ontologischen Interpretation des Ehebandes ist hier keine Rede. Die Vorstellung des vinculum in diesem Sinne ist hier noch gar nicht in Sicht.

Die Hervorhebung des adolescentes verweist darauf, daß man älteren Gemeindegliedern eher den Eheverzicht auferlegen konnte als jungen Leuten. Dies setzt freilich voraus, daß in den fraglichen Fällen eine einseitige Schuld vorlag, vermöge deren Eindeutigkeit der Eine im Unrecht sich aus der Ehe herausbegeben und den Anderen im guten Recht zurückgelassen hat. Diese Lage ist freilich nicht selbstverständlich. Sie ist, wie wir wissen, häufig trügerisch.


8 P. Mikat, Zu den Voraussetzungen der Begegnung von fränkischer und kirchlicher Eheauffassung in Gallien, in: Diakonia et ius, Festgabe für Heinrich Flotten, 1973, 1 ff.
9 G.H. Joyce, Die christliche Ehe, London 19482.

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Es setzt sich heute aufgrund forensischer Erfahrung die Tendenz deutlich durch, den Ehebruch als absoluten Scheidungsgrund in-frage zu stellen. Jene Haltung hängt also von dem Vorhandensein eindeutig judiziabler Schuldtatbestände ab, womöglich vom klassischen Tatbestand des Ehebruchs.

 

3. Vannes (um 465), Canon 2, besagt:

„Eos quoque, qui relictis uxoribus suis, sicut in euangelio dicitur excepta causa fornicationis, sine adulterii probatione alias duxerint, statuimus a communione similiter arcendos, ne per indulgentiam nostram praeter-missa peccata alios ad licentiam erroris inuitent.”

Wir bestimmen, daß auch diejenigen, welche nach Verlassung ihrer Frauen — außer im Falle des Ehebruchs, wie im Evangelium gesagt wird — ohne Beweis des Ehebruchs andere Frauen geheiratet haben, gleichermaßen von der Kommunion ausgeschlossen werden sollen, damit nicht die durch unsere Nachsicht übergangenen Sünden andere zu einer solchen irrigen Freiheit verlocken.

Vannes, deutlich an Arles angelehnt, geht jedoch sachlich weiter. Es fehlt die Begrenzung auf junge Männer und der ausdrückliche Hinweis auf das Verbot. Vielmehr wird gerade die Unzuchtsklausel in Bezug genommen und dabei auf die Frage des Beweises abgehoben. Wird also vor dem Bischofsgericht der Ehebruch bewiesen (und nicht nur wie bei der Verstoßungsscheidung einseitig behauptet), tritt die kirchliche Exkommunikation nicht ein.

 

4. Agde (506), Canon 25

„Hi uero saeculares, qui coniugale consortium culpa grauiore dimittunt uel etiam dimiserunt et nullas causas discidii probabiliter proponentes, propterea sua matrimonia dimittunt, ut aut illicita aut aliena prae-sumant, si antequam apud episcopos comprouinciales discidii causas dixerint et prius uxores quam iudicio damnentur abiecerint, a communione ecclesiae et sancto populi coetu, pro eo quod fidem et coniugia maculant, excludantur.”

Diejenigen Laien also, welche die eheliche Gemeinschaft wegen einer schweren Schuld aufheben oder schon aufgehoben haben, und welche keine einsichtigen Gründe für die Trennung vortragen, aus denen sie ihre Ehe auflösen, sollen, damit sie weder Unerlaubtes noch Ungehöriges beanspruchen, von der Gemeinschaft der Kirche und der Versammlung des Heiligen Volkes ausgeschlossen sein, wenn sie ihre Frauen verstoßen haben, bevor sie vor den Bischöfen der Provinz die Gründe der Trennung benannt haben und die Frauen durch Urteilsspruch verurteilt worden sind, weil sie (die Männer) dadurch den Glauben und die Ehen beflecken.

Der Canon von Agde erfordert ebenfalls den Nachweis des Scheidungsgrundes (vor dem Bischofsgericht), der hier nicht auf den

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Ehebruch beschränkt wird. Als culpa gravior wird hier freilich regelmäßig der Ehebruch anzunehmen sein. Eine weitere Ausdehnung im Sinne des germanischen Rechts ist hier nicht völlig auszuschließen, obwohl für die zitierten Bestimmungen im Ganzen genommen der Einfluß des weltlichen Rechts sicher noch nicht bestimmend ist.

Die starken Einflüsse des fränkischen Rechts liegen wesentlich später und erstrecken sich auf die merowingische und karolingische Zeit. Gleichwohl hat die Kirche zum Teil unter sehr schweren Konflikten gegen Willkürscheidungen gerade in Königshaus und hohem Adel Stellung genommen.

Unbestreitbar steht die durchgehende Haltung des römischen Stuhls in deutlichem Gegensatz zu der älteren und jüngeren Haltung der gallischen Synoden und der fränkischen Kirche. Beides hat nebeneinander gestanden. Von einer wirksamen Ausdehnung der römischen Obödienz kann damals noch nicht gesprochen werden, zumal Rom auch wieder von dem Schutz des fränkischen Reiches abhängig war und seiner Einwirkung auf die kirchlichen Verhältnisse damit Grenzen gesetzt waren, in der Zeit der angeführten Konzilien war ohnehin die Ausdehnung der römischen Jurisdiktion soweit noch nicht gediehen, wie auch die weitgehende Unabhängigkeit der afrikanischen Kirchenprovinz zur Zeit Augustins deutlich macht. Die Differenz kann also nicht primär auf außertheologische Momente zurückgeführt werden. Andererseits kann der römischen Haltung im Bereich der eigenen Jurisdiktion ein hohes Maß von Folgerichtigkeit nicht abgesprochen werden.

Ich befinde mich in der Interpretation der altkirchlichen Konzilsentscheidungen in wesentlicher Übereinstimmung mit Paul Mikat10. Es handelt sich also nicht um eine konfessionsbedingte Beurteilung.

Im Gegensatz zum Westen hat die Ostkirche die kirchenrechtliche Unterscheidung von taxis und oikonomia ausgebildet. Die strenge taxis des heiligen Rechts schließt die Scheidung aus, die geistliche Ökonomie (oder auch Epieikia, Billigkeit) läßt sie aus seelsorgerlich-geistlichen Gründen zu, schließt aber in der Liturgie der Trauung härteste Bußbekenntnisse ein11. Niemals hat die Ostkirche eine allgemeine begriffliche Aussage über die Scheidbarkeit der Ehe gemacht. Die Mißdeutung dieser Haltung der


10 Siehe o. Anm. 8.
11 Zit. in: G. Gloege, Vom Ethos der Ehescheidung, in: Festschrift W. Elert, 1955, 335ff.

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orientalischen Kirche beruht wesentlich darauf, daß der positive Rechtsbestand des römisch-byzantinischen Scheidungsrechts nicht beachtet worden ist. Mangels dessen ist man generell und univok von Scheidung ausgegangen, die man am Ergebnis ablas. Dieses Scheidungsrecht war jedoch wie andere Rechtsordnungen zweiläufig. Einerseits gab es aufgrund des Konsensgedankens die freie Löslichkeit. Andererseits gab es eine Scheidung aus Realgründen, die enumerativ festlagen, für unsere Begriffe nicht sehr konsequent aufgeteilt in solche „cum” und „sine” damno. Es ging darum, wieweit mit einer Realscheidung eine Einbuße an Rechten, insbesondere Ehrenrechten verbunden war. Nun lag auf der Hand, daß die Konsensscheidung mit der biblischen Grundhaltung unvereinbar, ihr entgegengesetzt war. Infolgedessen hat auch die byzantinische Kirche kompromißlos und im frontalen Gegensatz nicht nur gegen die Gesetzgebung, sondern vor allem auch eine allgemein verbreitete Rechtsüberzeugung des gesamten Volkes Stellung bezogen. Sie hat dabei die größten Schwierigkeiten des Verständnisses und der praktischen Durchsetzung auf sich genommen. Daß diese Haltung keine relativierende Anpassung war, ergibt sich schon daraus, daß es über sie niemals Kontroversen gegeben hat, in der die Einen eine strengere, die Anderen eine mildere Haltung eingenommen hätten. Erst im 9. Jahrhundert ist es der Kirche gelungen, diesen Standpunkt auch gegen die kaiserliche Autorität durchzusetzen, vermutlich überhaupt nur, weil sich die römische Rechtstradition allmählich ablebte. Die von der Kirche kat’ oikonomian zugelassenen Scheidungen waren Realscheidungen aufgrund der anderen Linie. Hier machten sich die Tatbestände geltend, die auch das Konzil von Elvira verhindert haben, mit konsequentem Rigorismus vorzugehen.

Die immer wieder vorgetragene Behauptung, daß die Ostkirche sich der justinianischen Scheidungsgesetzgebung gefügt habe, beruht auf der Verkennung der Zweiläufigkeit des römischen Scheidungsrechts. Diese These ist leider auch aufgrund unzulänglicher Kenntnis der Tatbestände von namhaften evangelischen Autoren nachgeschrieben worden, insbesondere auch von Heiler. Eine Berichtigung dieser Vorstellungen und eine Rücknahme dieser, das Verhältnis der beteiligten Kirchen belastenden These scheint mir erforderlich. Dieses Ergebnis hätte bereits bei sorgfältiger Interpretation des Standardwerks von Zhisman12 über das Eherecht der orientalischen Kirche erhärtet werden können.


12 Zhisman, Das Eherecht der orientalischen Kirche, Wien 1864.

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b) Katholische Entscheidungen des 2. Jahrtausends und die reformatorische Position

Im Fortgang sind drei bedeutende Konzilsverhandlungen für die Haltung der orientalischen Kirche und das Verhältnis ihrer Konzeption zur lateinischen Lehre im besonderen Maße bemerkenswert.

1. Auf dem Unionskonzil von Florenz/Ferrara 1438/39 versuchte Papst Eugen IV. den Kaiser Michael Paläologos und eine Gruppe ostkirchlicher Theologen zum Widerruf der ostkirchlichen Lehre und Haltung zur Ehescheidung zu bewegen. Sie redeten sich zunächst mit ihrer mangelnden Amtskompetenz aus. Die Frage blieb ungeklärt bestehen. Weder bei der Annahme des Decretum pro Armenis für die armenische Union noch in den Konzilsbeschlüssen von Florenz ist eine Rücknahme der ostkirchlichen Position durchgesetzt worden.

2. Auf dem Trienter Konzil wurde ein Entwurf vorgelegt, in welchem die Lehre von der Scheidbarkeit der Ehe anathematisiert werden sollte. Darauf erhob der venezianische Konzilsgesandte Pallavicini den Einwand, daß diese Fassung Aufstände in den griechischen Besitzungen der Republik Venedig hervorrufen würde, da dort die orthodoxe Ehescheidung rezipiert sei. Daraufhin wurde der Text so abgewandelt, daß nicht mehr die Orthodoxen, sondern nunmehr die Reformatoren getroffen werden sollten13. Es ging um die Frage, ob die Scheidbarkeit der Ehe von den Reformatoren positiv dogmatisch gelehrt werde. Dies taten unzweifelhaft die Orthodoxen nicht, wenn sie neben der taxis kraft der geistlichen Ökonomie im Ausnahmefall die Wiederheirat zuließen. Es zeigte sich aber hier, in welchem Maße die ontologische Interpretation für die Haltung entscheidend geworden ist; gerade diese ontologische Interpretation mit ihren denkerischen und rechtlichen Konsequenzen ist in den differenzierten und vielfältigen Belegen der älteren Kirche noch nicht in Sicht.

3. Der dritte interessante Vorgang ereignete sich auf dem II. Vatikanischen Konzil, wo Erzbischof Zoghby mit dem schweizer Kardinal Journet eine kontroverse Debatte über die unterschiedlichen Traditionen in der Scheidungsfrage führte. Er sagte: Unsere Gemeindeglieder haben geheiratet, weil sie das Charisma der Enthaltsamkeit nicht haben. Wie kann ihnen die Kirche die zweite Ehe verbieten, wenn ihre Ehegatten sie böswillig verlassen!? Diese


[voor noot 13 zie hieronder]

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Argumentation deckt sich mit der altkirchlichen. Er wie die anderen unierten Bischöfe forderten die Anerkennung dieser Praxis, ja empfahlen der lateinischen Kirche eine Revision ihrer Grundsätze in dieser Richtung. Nach wie vor ist diese Haltung eine innerhalb der päpstlichen Obödienz anerkannte Variante. Ihr Geltungsbereich beschränkt sich nicht auf die von Rom unabhängigen Ostkirchen13.

Im Verhältnis der katholischen Kirche zu den reformatorischen Kirchen ist die bekenntnisrechtliche Lage unseres Problems merkwürdigerweise bisher niemals analysiert worden. Die einzige einschlägige Aussage in den lutherischen Bekenntnisschriften findet sich in Melanchthons Tractatus de potestate ac primatu papae in dem Abschnitt De potestate et iurisdictione episcoporum, welcher dem Artikel 28 der CA entspricht14. Die allgemeine Richtung der dortigen Aussagen geht gegen diejenigen Rechtsgrundsätze der katholischen Kirche, die durch das Neue Testament nicht gedeckt seien. In der Ziffer 78 das. wird kurz gesagt, daß es Unrecht sei, unschuldig Geschiedenen die Wiederheirat zu verweigern. Der nächste Absatz wendet sich gegen die Anerkennung der klandestinen Eheschließung und deren Ablösung vom Beispruch der Eltern.

Die erstere Aussage ist insofern bemerkenswert, als sie die Spannung und Differenz zwischen dem allgemeinen Scheidungsverbot und der Wiederverheiratung nicht ausdrücklich nennt. Da die Aussagen ja eine biblische Grundlage voraussetzen, kann es sich also nur um eine Inanspruchnahme der sog. Unzuchtsklausel handeln. Diese aber wird hier einfach auf der gleichen Ebene praktiziert wie die übrigen Aussagen.

Dem steht die Haltung der katholischen Kirche gegenüber, welche eine durchgängige Unscheidbarkeit unter völliger Beiseitestellung


13 Canon 7 der Canones de sacramento matrimonii aus der XXIV Session des Konzils, Denzinger 971 ff, 977, wird wie folgt im Denzinger selbst kommentiert: „Haec forma damnationis electa est, ne Graeci offenderentur, qui scilicet contrariam praxim sequebantur, quamvis doctrinam oppositam Ecclesiae Latinae non damnarent. — De hoc canone PIUS XI („Casti connubii”, 31. Dec. 1930; AAS 22 (1930) 574) ita: „Quod si non erravit neque errat Ecclesia, cum haec docuit ac docet ideoque certum omnino est, matrimonium ne ob adulterium quidem dissolvi posse, in comperto est, reliquas tanto debiliores, quae afferri solent, divortiorum causas multo minus valere nihilique prorsus esse faciendas.”
14 Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, 19576 494/495.

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der Unzuchtsklausel vertreten hat. Die Schlüssigkeit des Gegensatzes entsteht also hier gerade dadurch, daß beide Teile die Frage nicht als Behebung eines Widerspruchs, sondern auf einer Ebene auslegen. Während die alte Kirche sich mit diesem Widerspruch ständig auseinandergesetzt und die relative Ungleichwertigkeit beider Aussagen nicht verkannt hat, gerät jetzt das Problem auf eine eindeutige Linie. Eine methodische Angleichung ist also die Voraussetzung des Gegensatzes. Formell enthält der Satz Melanchthons keine allgemeine Aussage über die Scheidbarkeit der Ehe. Die ursprüngliche Begründung der lutherischen Reformataren geht von der Annahme aus, daß bei Ehebruch oder absoluter Verlassung die Ehe gar nicht mehr bestehe. Wie weit das also Scheidbarkeit impliziert, wird auf diese Weise zur Doktorfrage. Die reformatorische Praxis geht zunächst von solchen Tatbeständen, sozusagen der „nicht-mehr-Ehe” aus. Das brutum factum deckt die Anerkennung der neuen Ehe, wenn auch nur für den als schuldlos Betrachteten, den Hinterbliebenen. Erst in der Fortentwicklung kommt es zur Entscheidung differenzierter Tatbestände und zum Ausspruch von Scheidungen wegen Unzumutbarkeit des ferneren Zusammenlebens. Beachtlich ist sodann der zweite Satz über die Fragen der Eheschließung, die von unserem Problem nicht getrennt werden können. Bekämpft wird die Anerkennung der heimlichen Ehe, also ein Mißstand, zu dessen Behebung sich auch das Trienter Konzil genötigt gesehen hat. Es geht hier um das notwendige Begriffselement der Öffentlichkeit. Nicht ganz klar und schlüssig sind die Ausführungen über die Beteiligung der Eltern. Es bleibt offen, ob es sich hier mehr um die Publizität und die gute Ordnung oder um ein positives, unabdingbares Recht der Eltern auf Zustimmung handeln soll, wie es Luther in sehr zugespitzten Äußerungen unter Berufung auf das vierte Gebot vertreten hat. Eine solche Auffassung hätte dann bedeutende Folgen für das Verständnis von Ehe überhaupt. Die Berufung auf das vierte Gebot ist in dem Zusammenhang zu sehen, daß Luther als Ersatz für die abgelehnte scholastische Naturrechtslehre eine Lehre von den Ordnungen entwickelt hat, die sich durchgängig auf die elterliche Gewalt auf der Grundlage des vierten Gebots stützt.

Die Gegenposition auf der katholischen Seite liegt in zwei Beschlüssen des Trienter Konzils. In einem besonderen Abschnitt aus der XXIV. Session wird in Canon 7 (lateinisch) die Lehre von der Scheidbarkeit der Ehe ausdrücklich verdammt. Es wurde schon erwähnt, daß dieses Anathema mangels einer solchen dogmatischen

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Aussage die Ostkirche nicht trifft, während man gegenüber der zitierten Position von Melanchthon die Anwendbarkeit weder einräumen noch klar bestreiten kann. Sodann aber wird in dem Decretum Tametsi von 1563 die klandestine Ehe verteidigt, gleichwohl aber die Eheschließung in facie ecclesiae nach kirchlichem Recht, also nicht iuris divini zur Gültigkeit verordnet. Der darin liegende Widerspruch konnte bisher auch in den Untersuchungen von Gertrude Reidick15 logisch nicht behoben werden.

Die dogmatische Lage des 16. Jahrhunderts beruht also auf der Übereinstimmung der Denkstruktur, der gemeinsamen Ausscheidung des in der biblischen Aussage und in der Sache selbst liegenden Spannungsmoments. Von dem Austrag dieses Spannungsmoments jedoch wird die Haltung der Ostkirche und derjenigen Teile der lateinischen Kirche bestimmt, die nicht unmittelbar der Haltung des römischen Stuhls gefolgt sind. Die geistigen Voraussetzungen jedoch für eine solche Austragung des Problems im grundsätzlichen Sinne auf einer Ebene sind erst zweifellos im zweiten Jahrtausend entstanden.

Die Fortbildung der reformatorischen Praxis hat sich dann nicht auf die Fälle beschränkt, bei denen eine objektive, sozusagen massive Zerstörung der Ehe in dem angeführten Sinne angenommen werden konnte. Für die Entwicklung und Beurteilung dieser Praxis ist das viel zitierte Wort Luthers über die Weltlichkeit der Ehe am wenigsten geeignet, vielmehr irreführend. Denn er selbst und die übrigen Reformatoren in ihrer maßgeblichen Beratungspraxis haben die ihnen zufallende kirchliche Verantwortung für diese Probleme übernommen, weil in den konkreten Fällen davon die kirchliche Wiederverheiratung abhing. Kirchenrechtlich ist das Problem nicht als weltliche, sondern als gemischte Angelegenheit behandelt worden, sowohl durch die gemischten fürstlichen Konsistorien wie im Bereiche der oberdeutschen und schweizer Städte durch gemeindliche Ehegerichte, in denen ebenfalls Magistrate und Pfarrer zusammenwirkten. Dogmatisch ist die Ehe später, um 1650, sogar als „causa mixta” definiert worden16. Bei alledem ist der biblische Generalgrundsatz niemals aus dem Blick gekommen.


15 G. Reidick, Der Vertragsschließungsakt als äußeres Zeichen des Ehesakraments, ungedr. Lizentiatendiss. der Kath.-theol. Fakultät der Universität München, München o.J.
16 Vgl. K+E, Teil III, Ziff. 10.

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c) Fortentwicklung in der Moderne

Die Fortentwicklung der reformatorischen Scheidungspraxis ist insofern unanfechtbar, als zwar die Maßstäbe in analoger Anwendung deutlich subjektiviert wurden, die Ergebnisse aber denjenigen entsprachen, die auch der CIC für die Trennung von Tisch und Bett anerkennen mußte (Can. 1128ff). Sind die anzuerkennenden Trennungsgründe auf beiden Seiten praktisch die gleichen, so bleibt für die Aufrechterhaltung der Ehe der zunehmend abstrakter werdende Gedanke des unzerstörbaren Ehebandes als Postulat übrig. Eine interessante Spannung hat sich im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt. In den dort überall erlassenen kirchlichen Lebensordnungen, die für die Gewährung oder Versagung der kirchlichen Trauung maßgebend sind, wurde der Charakter der Wiedertrauung als Ausnahme mit einer bis dahin so nicht vorhandenen Bestimmtheit ausgesprochen, veranlaßt durch das im Kirchenkampf erstarkte Kirchenbewußtsein. Es ist nicht zu leugnen, daß dieser Grundsatz in der Praxis sich anders darstellt, so daß die Versagung eher eine Ausnahme darstellt, wobei allerdings ein sehr großer Teil geschiedener evangelischer Ehepaare bei Wiederverheiratung die kirchliche Trauung nicht beansprucht.

Mein Versuch, die Entwicklung in Skandinavien und Holland zu erfassen, hat keinen vollen Erfolg gehabt. Im Ganzen kann man die Tendenz feststellen, den Zerrüttungstatbestand als solchen anzuerkennen und daraus für die kirchliche Haltung Folgerungen zu entwickeln. Frühzeitig und selbständig hat die Kirche von England für die bürgerliche Entscheidung eine vergleichbare Haltung eingenommen und sorgfältig begründet. Diese Erkenntnisse und Haltungen führen überall zu seelsorgerlichen Folgerungen für die kirchlichen Entscheidungen bei Wiederheirat.

Für die Fortschreibung unserer Frage ist die Tatsache interessant, daß sich der Widerspruch zwischen kirchlicher Auffassung und weltlichem Recht im 19. und 20. Jahrhundert für die katholischen Zivilrichter soweit ermäßigte, als das bürgerliche Recht mit dem Schuldgrundsatz immerhin die sittliche Verantwortung der Partner für das Scheitern der Ehe zum Maßstab nahm. Nunmehr hat sich aber in der allgemeinen Erkenntnis durchgesetzt, daß sowohl der absolute Scheidungsgrund des Ehebruchs, wie alle übrigen Störungsgründe unter dem Gesichtspunkt der Schuld nicht zulänglich judiziabel sind, obwohl massive Fälle des Aus- und Einbruchs in die Ehe immer wieder vorkommen. Daher haben die

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Familienrechtskommissionen beider Kirchen in Deutschland der Einführung des generellen Zerrüttungsgrundsatzes mit nahezu übereinstimmender Begründung zugestimmt17. Dies hat für unsere Betrachtung die Bedeutung, daß die schon in der Unzuchtsklausel durch die Gemeindetheologie unternommene Begrenzung der Orientierung an grundlegenden realen Tatbeständen nicht nur bürgerlich, sondern auch geistlich und kirchenrechtlich unzulänglich und unbrauchbar ist. Dies stellt bis zu einem gewissen Grade auch die Haltung der orientalischen Kirche in Frage, die primär bis heute von solchen Realtatbeständen ausgeht und sich differenzierten Tatbeständen, wie dem Element der Individualisierung und Emanzipation, noch nicht zu stellen veranlaßt war. Die Dualität des Problems, der Widerspruch zwischen dem Herrenwort und die ebenso geistlich relevante wie äußerlich reale Tatsache der objektiven Ehezerstörung steht erst jetzt in voller Klarheit vor uns.

Die Praxis der orthodoxen Kirche wird dann von innen heraus in Frage gestellt, wenn die Kirche bürgerliche Ehescheidungen formularmäßig ohne jedes Eingehen auf den konkreten Tatbestand für die Wiederverheiratung als ausreichend anerkennt. Ein solches Verfahren wurde von Professor Vogel/Straßburg für die heutige orthodoxe Kirche von Griechenland belegt. Der Gedanke der geistlichen Ökonomie hebt sich dann selbst auf. Zugrunde liegt dieser Haltung nicht so sehr die Abhängigkeit der Kirche von der Staatsgewalt, als vielmehr der Verlust des Trennungsbewußtseins.

Im Ganzen betrachtet befindet sich hier die katholische Kanonistik in einer schwierigen Lage, die wir alle in einem gewissen Umfange teilen, auch wenn wir die Verantwortung für ihre Begrifflichkeit nicht tragen, welche zusätzliche Schwierigkeiten hervorgebracht und die Dinge verschärft hat. Bis in die Gegenwart hat die Kanonistik sich mit großer Subtilität auf die Interpretation des Ehekonsenses gerichtet und beschränkt. Die Frage seiner Gültigkeit, der Nichtigkeit, Anfechtbarkeit, Unvollkommenheit beschäftigte Theorie und Gerichte um so mehr, als eine Scheidung ausgeschlossen war und ist. Daraus ergab sich eine außerordentliche Verengung, weil auf diese Weise der Gemeinschaftscharakter der Ehe und die ganze Fülle ihrer Lebenswirklichkeit de iure außer Betracht gelassen werden muß.

Diese Lage wurde auf den letzten internationalen kanonistischen Kongressen in Rom besonders deutlich.


17 Vgl. K+E, 345ff.

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Auf dem von der päpstlichen Reformkommission berufenen Kongreß von 1968 trugen Vertreter der Erzdiözese New York die ganze Summe der Bedenken und Einwände vor, die längst gegen die aus dieser Problemstellung erwachsenen Rechtsprechung der Rota Romana entstanden waren. Diese Kritik fand den Beifall des größten Teils der Teilnehmer aus zwanzig Ländern. Die zuständigen anwesenden Kardinäle haben sich freilich nicht geäußert. Nach dieser Darstellung ging jedoch der Sprecher zu eigenen Vorschlägen über, die darauf hinausliefen, mangels Entscheidbarkeit dieser Fragen solle man die Aufrechterhaltung der Ehe in das Gewissen der Partner stellen. Dies erregte Betretenheit und Verwunderung; niemand konnte sich das als eine zulängliche Lösung zu eigen machen. So gewiß auch unser Kreis! Es kennzeichnet aber die Schwierigkeit und sachliche Verlegenheit.

Ein vergleichbarer Vorgang spielte sich auf dem kanonistischen Kongreß der Universität Rom ab (1970). Dort wurde eine Arbeitsgruppe für kanonisches Eherecht gebildet. In dieser Gruppe kam es zu weitreichenden Aussagen über den Begriff des amor matrimonialis in Anlehnung an gewisse Konzilstexte. Es entstand die Meinung, als könne man die Schwierigkeiten des Konsensproblems und der Scheidung durch Entwicklung von Maßstäben auf dieser Basis lösen. Die Aussagen der durchgängig zölibatären Teilnehmer nahmen emphatischen Charakter an. Als einziger Verheirateter und Nichtkatholik war ich genötigt, Wasser in diesen Wein zu gießen und auf die Realität der Ehe zurückzulenken.

Eine Rückbesinnung auf die konziliaren Texte hätte zu anderen Auffassungen geführt. Die Konstitution „Gaudium et spes” bietet in Caput I des II. Teils eine wesentlich neue Lehre von Ehe und Familie. Sie überwindet rationale, um nicht zu sagen rationalistische, an Zweckkategorien orientierte Vorstellungen. Sie läßt den Gemeinschaftscharakter der Ehe in seiner Vielschichtigkeit neu hervortreten. Im Gefüge dieser Aussagen ist der dritte Abschnitt (GS 49) dem „amor coniugalis” gewidmet. Dieser gehört in die Ehe hinein. Er ist aber weder ein logisches noch ein rechtliches Apriori für Ehewillen und Konstituierung der Ehe. Es würde den Sinn der konziliaren Neubesinnung und dieses Abschnittes verkehren, wenn an die Stelle einer final bestimmten Objektivierung eine, die Wirklichkeit und Verbindlichkeit der Ehe unterlaufende Subjektivierung einträte.

In der von mir gegründeten Heidelberger Kirchenrechtlichen Arbeitsgemeinschaft haben zwei führende Jesuiten, Professor Peter Huizing und Professor Joh. Gerhartz (Provinzial der niederdeutschen

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Provinz) sowohl die Schwierigkeiten einer widerspruchsfreien und folgerichtigen Anwendbarkeit des Unscheidbarkeitsgrundsatzes wie der systematisch-theologischen Auslegung ohne Abschwächung deutlich gemacht. Den von Gerhartz eingeführten Begriff des „bonum commune” als Entscheidungskriterium kann ich allerdings weder als Jurist noch als Theologe in meine Erwägungen einbeziehen18.

Ein namhafter deutscher Familienrechtler, Professor Müller-Freienfels/Freiburg, hat in einem Buch19 der katholischen Kirche den Vorwurf gemacht, die Ehe entgegen der römisch-rechtlichen Tradition des außerrechtlichen Ehekonsenses verrechtlicht zu haben. Er übergeht damit freilich die umfassende Tradition der Rechtsehe in allen anderen Völkern. Diese Haltung stammt aus der Tradition der liberalen Theologie. Aber derselbe Autor — Mitglied der Familienrechtskommission — hat doch gerade angesichts der neuerlichen Infragestellung der Ehe als solcher keinen Zweifel darüber gelassen, daß er die Rechtsverbindlichkeit der Ehe für sich betrachtet und als ein Essentiale des Menschen in einem entscheidenden Kernbestand nicht in Frage gestellt wissen will. Auch dies gehört zur geschichtlichen Situation.

 

d) Thesen zur Geschichte

Im Ganzen betrachtet vertrete ich im Ergebnis folgende Doppelthese:

1. Die Behauptung, daß die lateinische Kirche des Westens von den frühen Anfängen an die Unscheidbarkeit der Ehe in einem Sinne vertreten und zu verwirklichen gesucht hat, die mit der heutigen Vorstellung des kanonischen Rechts über absolute Unscheidbarkeit kommensurabel ist, ist durchgreifend zu bestreiten. Eine dafür erforderliche theologische und rechtliche Begrifflichkeit fehlt in den Konzilsentscheidungen und der Literatur durchaus. Jene Behauptung ist vielmehr eine Rückübertragung von Begriffen und Vorstellungen, die seit der Scholastik ausgebildet und dann bis in die Gegenwart mit subtiler Konsequenz durchgebildet und verfolgt worden sind. Der Versuch dieser Rückübertragung bestimmt einen großen Teil der einschlägigen älteren Literatur und


18 Abgedruckt in: Le lien matrimoniell, Strasbourg 1970, 127ff, 198ff.
19 W. Müller-Freienfels, Ehe und Recht, 1962, 362; vgl. Dombois, K+E, 245 ff.

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wird erst in der neueren Zeit Schritt für Schritt berichtigt. Mit dieser Tendenz war der Versuch verbunden, die bruchlose Identität der lateinischen Entwicklung von den frühesten Zeiten nachzuweisen und die Haltung der Ostkirche als einerseits partikular, andererseits situationsabhängig darzustellen und sich damit im ökumenischen Bereich in die Vorhand zu bringen. Um diese Aussagen Mißverständnissen zu entziehen, kann man zugleich positiv sagen: der apostolische Stuhl hat in der Frage der Ehescheidung durchgehend eine von Einschränkungen und Rücksichten unabhängige Stellung durchgehalten. Diese aber deckte sich keineswegs auch nur annähernd mit der Ausdehnung der römischen Obödienz, etwa für den Bereich des lateinischen Patriarchats. Erst im zweiten Jahrtausend sind sowohl die institutionellen wie die begrifflichen Voraussetzungen geschaffen worden, um diesen Grundsätzen Anerkennung zu verschaffen. Aber gerade der Leitgedanke des Konsensbegriffs20, eine der weitreichendsten und konsequentesten Antizipationen der Rechtsgeschichte, hat entscheidend zum Zusammenbruch der als Instrument unentbehrlichen bischöflichen Ehegerichtsbarkeit geführt und damit für große Teile der Kirche einen der Gründe zur Reformation gebildet. Jene Konsequenz hatte etwas von einem Pyrrhus-Sieg an sich.
Die unvermeidlich gewordene und praktisch vernünftige Abhilfe durch Einführung der Trienter Formpflicht ist in ihrer theologischen Legitimität von einer starken Konzilsminderheit — 55 Bischöfen unter Führung des Erzbischofs Castagna von Rossano, des nachmaligen Papstes Urban VII. — bestritten worden. Diese Formpflicht hat als erneute Antizipation das Modell für die Ausbildung des staatlichen Standesamtswesens gebildet und zur Säkularisation der Ehe nicht weniger beigetragen als die orthodoxe Verkirchlichung der Eheschließungen in den reformatorischen Kirchen. Denn die auch nur rein formelle Abhängigkeit des Eheschlusses vom öffentlichen Amt war unschwer auswechselbar, nachdem sie ihre Rechtsbasis in der Gemeinüberzeugung eingebüßt hatte. Höchstens der Weg der Säkularisation ist ein verschiedener gewesen; der Streit darüber trägt nichts aus.

2. Dabei hat die Ostkirche in der methodischen Unterscheidung zwischen Taxis und Ökonomie eine kirchenrechtliche Formel gebildet, während die lateinische Kirche die Konflikte mehr pragmatisch gelöst hat. Die wirkliche Differenz besteht also in Wahrheit


20 Vgl. K+E, 304 ff, 318 ff.

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zwischen der Alten Kirche überhaupt und der Ehelehre der hochmittelalterlichen Kirche, die über die scholastische Tradition bis in die Gegenwart tradiert worden ist. Der Sachdifferenz liegt ein unterschiedliches Wirklichkeitsverständnis voraus. Erst die Auftragung und Eintragung in einen Zusammenhang ontologischer Interpretation konnte die Begrifflichkeit hervorbringen, die diesen Gegensatz konstituiert. Abgesehen von der philosophischen Problematik scholastischer Generalien liegt die Bedenklichkeit dieser Position darin, daß damit personalen und pneumatischen Tatbeständen die Durchgängigkeit der Gesetze der klassischen Physik unterlegt wird. Eine Inanspruchnahme dieser Grundsätze müßte daher diese beiden Belastungen in Rechnung stellen und für sich selbst die Frage aufwerfen, auf welcher denkerischen Basis sie steht. Gerade dann, wenn man für den eingangs beschriebenen Tatbestand ein ontisches Element, welches ontologischer Interpretation zugänglich ist, nicht ausschließen will, so steht dieses doch im Zusammenhang wie im notwendigen Gegensatz zu Elementen, die auf dieser Ebene nicht erfaßbar sind - und damit fällt der Anspruch der Durchgängigkeit, über die Geschichtlichkeit der Tatbestände hinaus ist auch der Horizont der Erkenntniskritik, die Hinterfragung der Begrifflichkeit unabweislich geworden. Was wir hier denkerisch versäumen, würde sich in unbewältigten praktischen Fragen, wenn auch leicht am falschen Ort und in mißverständlicher Form wieder bemerkbar machen.