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Kapitel VIII

Nebenfolgen des transzendentalen Kirchenrechts

1. Transzendentalität und Universalität

In den folgenden Abschnitten sind eine Reihe von Aspekten und Entwicklungslinien dargestellt, in welche die transzendentale Begründung des Kirchenrechts hineingeführt hat und in denen sie sich darstellt.

Bei transzendentalen Voraussetzungen ist die Allgemeingültigkeit der zu ziehenden Folgerungen unausweichlich. Wer diese Bedingungen der Möglichkeit annimmt, kann ihnen nicht in den Folgerungen widersprechen. Darauf beruht die Tatsache, daß die großen Konfessionen des lateinischen Christentums gerade auch kirchenrechtliche einen sehr hohen Grad verbindlicher Geschlossenheit erlangt haben, so unterschiedlich sich das im äußeren Bilde darstellt.

Die transzendentale Frage ist die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit, nicht nach materialen Prinzipien. Angewendet auf geschichtliche Tatbestände aber führt und verführt diese Frage dazu, dennoch solche Prinzipien als apriorische Voraussetzungen zu verstehen. Dem ist die Theologie in dem Maße erlegen, als sie zu historischen Fragen Stellung nehmen mußte, also kritische Unterscheidungen zwischen legitimen Bildungen und Verfremdungserscheinungen in Geschichte und Gestalt der Kirche durchführte.

Infolgedessen wurden im apologetischen Streit die transzendentalen Kriterien zu ursprünglichen Gegebenheiten. Zur Begründung der apostolischen Sukzession wurde der Apostel Petrus, der nirgends als Bischof bezeichnet und auch als Gemeindeleiter nicht belegt ist, dessen apostolische Autorität und Bedeutung eine ganz andere ist als die eines noch so bedeutenden Gemeindebischofs, der römischen Bischofsliste vorangestellt (Caspar). Der kritische Transzendentalismus ist also, wenn auch nur im formellen Sinne universal.

Wenn die Gemeinschaft mit dem römischen Papst die Bedingung der Möglichkeit legitimen Christentums im Vollsinne ist, ergibt sich daraus die exklusive Geschlossenheit aller daran hängenden institutionellen Bildungen. Dieser strikte Grundsatz ist schon durch seine Einfachheit außerordentlich wirksam. Er bietet dem Konsequenzbedürfnis von Fundamentaltheologen und Kanonisten hinreichend Grund, um ohne Rücksicht auf die Folgen im geistlichen und äußeren Leben der Betroffenen eindeutige logische Linien von sehr konkreter rechtlicher Verbindlichkeit durchzuziehen. Auch der einfache Mann kann sich an diesem Unterscheidungsmerkmal äußerst leicht orientieren und aus ihm immer von Neuem eine entscheidende Bestätigung seiner Glaubensgewißheit entnehmen. Die

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Tatsache einer solchen sichtbaren Einheit gewinnt so schon für sich allein Bedeutung.

Eben deshalb aber wird die römische Kirche mit ihrem Verhältnis zu denjenigen Kirchen nicht fertig, die ihr von der Ursprungstradition am nächsten stehen und gegen deren Legitimität sie am wenigsten einwenden kann, d.h. die gesamte orientalische Kirche, die griechische Orthodoxie.

Kein orientalischer Christ vermag intellektuell zu begreifen, was denn die römische Kirche seiner Kirche und ihm selbst durch die Aufnahme der Gemeinschaft zubringen könnte, da sie, die Orthodoxen, bereits in der ältesten und legitimsten Tradition stehen. Die Aufnahme von Beziehungen bringt nichts hinzu, was deren Existenz in irgendeinem Sinne erst zu begründen vermöchte — am allerwenigsten ihre kanonische Legitimität. Eine Union — welcher bisher in der Hauptsache der Jurisdiktionsprimat entgegensteht — würde an der Basis nichts ändern, wohl aber nach orthodoxem Verständnis wieder die Abhaltung ökumenischer Konzilien ermöglichen, also die dogmatische Fortentwicklung freigeben.

Mit anderen Worten: die Universalität der orientalischen Kirche, in der Form föderalen Konsenses selbständiger Kirchen auf dem Boden der apostolischen Tradition ist eine immanente, welche durch die pneumatische Identität des in ihnen überall gleichermaßen vorhandenen eucharistischen Vollzugs in der Gestalt der bischöflichen Autorität vorgegeben ist. Hier kann der eingangs von Kap. VI beiseitegestellte Immanenzbegriff ohne Mißverständnis benutzt werden.

Zwischen der immanenten und der transzendentalen Begründung der Universalität gibt es keine objektive Brücke der theologischen Logik und keine subjektive Brücke des Verständnisses. Dabei tritt eine seltsame Verschlingung des Problems zutage.

Die immanente Universalität der Kirche liegt historisch vor der transzendentalen. Letztere muß aber behaupten, daß sie ihr grundsätzlich und logisch vorangehe. Sie ist genötigt, mit diesem logischen Vorrang auch die unbeweisbare Behauptung einer historischen Vorgegebenheit zu verbinden.

Die transzendentale Universalität der Kirche manifestiert sich in einer völlig anderen Weise im Luthertum.

Seine vierhundertjährige Geschichte hat gezeigt, daß es von seinem eigenen Selbstverständnis her konstitutionell unfähig ist, eine sichtbare Konfessionskirche bis zu den logischen Grenzen der kirchentrennenden Merkmale zu bilden. Das zeigt deutlich, daß eine solche sichtbare Einheit auch in ihrem Entwurf nicht angelegt ist. Aber die Rechtfertigungslehre des Art. IV CA ist ein so zentrales wie umfassendes Programm, daß darin alles eingeschlossen werden kann. Die Konzentration auf diesen punctus stantis et cadentis ecclesiae — selbst in seiner äußersten Formalisierung auf das Bultmannsche „Daß” — begründet und erklärt zugleich, daß das

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Luthertum keine wesentlichen Spaltungen kennt. Es läßt keine unterschiedliche Auslegung seiner Voraussetzungen in dem Sinne zu, daß daraus verschiedene Kirchengemeinschaften mit gegensätzlichen Grundsätzen als Verzweigung entstehen könnten. Keine Kirche hat vermocht, Abtrennungen aller Art, die im Laufe der Geschichte immer irgendwo vorkommen, auf ein solches Minimum zu beschränken.

Gibt es also keine Spaltungen der lutherischen Kirche in verschiedene Observanzen — weil es keine folgerichtig relevanten Unterscheidungsmerkmale gibt, die trennend wirken könnten —, so ergibt sich doch aus dem grundsätzlichen Minimalismus der Gestaltung zugleich auch eine typische Wehrlosigkeit gegen fremdkonfessionelle Einflüsse, jedenfalls nach der reformatorischen Seite. Das fast einzige entschiedene Stilelement, die nicht-kollegiale Personalität des Amtes wird durch andere Formen, wie das synodal-presbyteriale Prinzip überlagert und seine volle Ausbildung, etwa in Gestalt des Bischofsamtes, mit einer gewissen Intransigenz unmöglich gemacht. Daraus entstehen Missverhältnisse und Mißbehagen in und an den Unionskirchen. Die Rücknahme aber in die eigene Identität — die auf Grund des eigenen Minimalismus nicht zulänglich definiert werden kann — führt zu einer dem Luthertum selbst fremden Abschließung. So ist die einzige Spaltung des Luthertums — die zwischen Unions- und Konfessionsluthertum, — das Ergebnis nicht differenzierbarer eigener Merkmale, sondern der eingestiftete Formschwäche. Treten hier sozusagen noch einmal Gnesiolutheraner und Philippisten auseinander, so kommt nichts Überzeugendes heraus. Dies beleuchtet noch einmal die Unschlüssigkeit des kirchenrechtlichen Minimalismus (vgl. Kap. V).

In einer ganz anderen Weise stellt sich die Universalität der Kirche im Raum des Calvinismus dar. Auch hier begründet die transzendentale Struktur als solche einen inneren Zwang zur Einheit.

Daraus ist die Entschlossenheit zu erklären, mit welcher etwa der klassische französische Calvinismus auf seinen Nationalsynoden allen Anfängen des Independentismus Widerstand geleistet hat. Es wurde energisch ausgeschlossen, daß die einzelne Gemeinde vermöge der ihr innewohnenden Möglichkeiten und Qualitäten selbst die Maßstäbe ihrer kirchlichen Existenz setze.

Die Transzendentalität im Calvinismus unterscheidet sich nun freilich sehr deutlich von derjenigen des Katholizismus und des Luthertums, weil es ihr weder einen Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt noch zwischen äußerer und innerer Kirche gibt. Dies beruht darauf, daß der Calvinismus von seinem Ansatz er so spiritualisiert ist, daß noch nicht einmal in der Wurzel die für die anderen Konzeptionen so wesentlichen und schwierigen Gegensätze entstehen können. Unter der Prämisse des Erwählungsglaubens kann alles, was im Handeln der Kirche geschieht, nur exekutiven Charakter tragen, nur die Voraussetzung der Erwählung in Erinnerung bringen und die ethischen Forderungen mit aller Strenge

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durchsetzen. Der Stellenwert dieses Handelns ist für alle Beteiligten so eindeutig, daß für den Unterschied zwischen Innen und Außen kein Raum mehr ist. Die Härte etwa, mit welcher ein entschlossener Konfessionscalvinist, wie Erik Wolf, den Satz formuliert, daß „Geistkirche und Rechtskirche eins seien”, ist nirgendwo anders möglich, auch dort nicht, wo man den existentialen Charakter von Recht und Institution für Kirche und Christen noch so hoch ansetzt.

Aus der Voraussetzung, daß innergeschichtlich-konstitutiv gar nichts geschehen kann, ergibt sich eine grundsätzliche Ungeschicklichkeit des Calvinismus. Es vermag sich nur als die schlechthin gereinigte Form von Kirche zu verstehen.

Solange durch das Handeln der Kirche innergeschichtliche etwas zum Heile zu geschehen hat, solange ist immerhin noch eine kritische Auseinandersetzung, auch mit dem unbedingtesten Anspruch, ein Vergleich von unterschiedlichen Anforderungen und Auslegungen möglich. Diese virtuelle Relativierung aber ist im Calvinismus völlig ausgeschlossen. Er kann sich nur in anderen Formen christlicher Gestaltung gültig wiedererkennen oder sie als unschädlichen Zusatz verstehen oder er muß drittens alles Abweichende mit äußerster Härte verdammen. Diese Haltung ähnelt sehr dem Grundsatz des Islam, daß alles das, was dem Koran entspreche, außerhalb des Korans überflüssig, was ihm aber widerspreche zu verdammen sei.

Die dem Calvinismus eigentümliche Außergeschichtlichkeit führt zu der verwunderlichen Unbedingtheit, mit der die biblizisisch abgeleiteten Verfassungsformen für notwendig erklärt werden, zugleich aber zu der Unfähigkeit, sich selber als Konfession im historischen Sinne zu verstehen.

Diese Spielart des transzendentalen Kirchenrechts zeigt sehr entschiedene, weit durchgebildete Denkformen des Frührationalismus. Sie greift in gewisser Weise der vollen Ausbildung des philosophischen Rationalismus mit bemerkenswerter Folgerichtigkeit vor.

Im Gegensatz zu der geschilderten Spaltungsfeindlichkeit des Luthertums zeigt sich im Calvinismus eine Anfälligkeit für äußere Spaltungen. Die Zersplitterung des Holländischen Calvinismus, die zeitweiligen extremen Erscheinungen der gleichen Art in Schottland, die zahlreichen Verzweigungen des Calvinismus in amerikanischen Denominationen und der Zustand der Bremischen Kirche belegen dies. Die Gründe sind nach dem entwickelten klar; beide reformatorischen Konfessionen stehen sich in diesem Aggregatzustand sozusagen spiegelverkehrt gegenüber. Der radikalen objektiv-transzendenten Eindeutigkeit der Prämissen entspricht die Möglichkeit unterschiedlicher subjektiver Interpretation der Folgerungen. Es ist nicht nur eine nationale Eigentümlichkeit, wenn es heißen kann: ein Holländer ein Theologie (militia), zwei Holländer eine Denomination, drei Holländer eine Kirchenspaltung.

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Diese Universalität der großen Konfessionen des lateinischen Christentums bedeutet zugleich eine sehr wirksame Abgrenzung gegenüber allen anderen, außerhalb ihrer stehenden Kirchenformen, insbesondere gegenüber der sogenannten protestantischen Linken.

Denn diesen Formen fehlt sämtlich diese transzendentale Universalität. Sie gehen zurück auf das Prinzip der immanenten Geistwirkung und vermögen darum in einer unvermeidlichen Subjektivierung jene Allgemeingültigkeit nicht mehr zu behaupten, geschweige denn in umfassenden Entwürfen sichtbar zu machen. Die bloße abstrakte Behauptung, daß jede Wahrheit allgemeingültig sei, reicht dazu nicht aus.

Die anderen Form von Kirchenbildungen außerhalb der großen Konfessionskirchen sind solche, die den untauglichen Versuch gemacht haben, in einer eigenen Form die Universalität der Kirche folgerichtig durchzubilden.

Mindestens ein sehr großer Teil der protestantischen Linken ist ein romantischer Regreß auf unvergessene frühkirchliche Traditionen — aber ohne die Kraft, Objektivität und Subjektivität wieder zu verbinden. Durchgängig aus dem lateinischen Christentum entstanden, stehen diese Bildungen — ob sie wollen und wissen oder nicht — hinter theologiegeschichtlichen Entscheidungen, die diesen Regreß unmöglich machen. Deshalb sind sie auch nirgend in der Lage gewesen, die umfassende geistige Verantwortlichkeit des Christentums in einer eigenen theologischen Konzeption zu übernehmen. Deshalb verbinden sich hier Frömmigkeitsformen mit evident unzulänglicher Theologie häufig mit geistig unselbständigen sozialen Schichten, — was nichts gegen die Echtheit ihres Glaubens aussagt.

 

2. Einheit, Einmütigkeit, Einförmigkeit

Luther und die Reformatoren haben mehr als einmal mit einem gewissen Stolz betont, daß sie einen umfassenden und positiven Lehrkonsens erzielt hätten und auf die Zwietracht der Katholiken hingewiesen, die deren Schwäche anzeige. Diese Meinung zeigt, wie wenig der in der Geschichte Handelnde die Lage wirklich übersieht. Wenige Jahre später, mindestens seit Trient, hätte diese Gegenüberstellung nicht mehr stattfinden können, und das Argument ist stillschweigend verschwunden. In Wahrheit handelte es sich um eine den Beteiligten selbst nicht bewusste, eingreifende geschichtliche Strukturveränderung, von der sie sämtlich betroffen wurden.

Karl Gerhard Steck erörtert in seinem Buch104 „Lehre und Kirche bei Luther” auch die durch Luther erfolgte Vereinheitlichung der Lehre. Sie wird nicht nur als neu, sondern auch als wohltätig bezeichnet. Er trägt kein Bedenken, die Offenheit und Differenziertheit des vorreformatorischen Katholizismus demgegenüber als Schwäche und Mangel zu betrachten.

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Verwunderlich und problematisch wird diese Aussage erst recht durch die These, daß diese Bewertung durch die Lehrvereinheitlichung bestätigt werde, die auch das Tridentinum herbeigeführt habe. Nachfolgend wird von der in der Scholastik gemeinten und erreichten Einheit in der Lehre gesprochen, die auf dem Element der Philosophie beruhe. Andererseits wird auch gesagt, daß das Tridentinum erst das erreicht habe, was die Scholastik angestrebt hatte. Der Gedanke, daß hier auf beiden Seiten das gleiche, womöglich gerade durch die Spaltung als solche hervorgerufene Phänomen vorliege, wird durch das Vorurteil gegen die katholische Position von vornherein ausgeschlossen, nicht einmal erwogen. Es wird nicht dargetan, inwiefern hier, wenn zwei dasselbe tun, es nicht dasselbe ist.

Steck kommt in seiner Schrift auch auf das Problem der Einheit der Kirche. Bei ihm wird sehr deutlich, wie sehr bei Luther die Evidenz und perspicuitas der Schrift, ihre Selbstausrichtung, ihre Einheit samt der Einheit der Lehre in dem mathematischen Punkt der Rechtfertigungslehre ineinanderhängen. An dieser Anschauung hängt dann auch die Auffassung von der einigenden Kraft der rechten Lehre (190). Aber eben an diesem wesentlichen Punkte wird die Aussage zugleich vieldeutig, unklar und unkritisch. Denn daß die hier in Rede stehende Einheit nicht eine (subjektiv-menschliche) Gesinnungseinheit oder Einheit eines (abstrakt-dogmatisch-objektiven Lehr-)Systems ist (188), liegt ohnehin auf der Hand und besagt nichts. Dabei sei diese Aussage nicht nur Ausdruck eines Sollens, sondern auch eines Seins (!) (190). Lehrvereinheitlichung als gemeinsames Merkmal einer theologischen Epoche ist gewiß nicht diese gemeinte, von der reinen Lehre geschaffene Einheit. So entleert sich der Begriff. Er verliert seine normative Kraft. Das Sollen wird zum Postulat; nach der Faktizität darf ernstlich nicht gefragt werden. Die Aussage wird angesichts der Entstehung einer zweiten reformatorischen Konfession schon zu Lebzeiten Luthers in sich geradezu unverständlich. Steck versetzt sich offenbar so sehr in diese Denkform, daß er diese sich aufdrängende Frage nicht einmal stellt. Im Gegenteil. Er beurteilt Schlatters bekannte Kritik als unreformatorisch und fordert uns auf, uns von einer solchen Tendenz beunruhigen zu lassen (166 Anm. 78). Mit welchen Recht und von welchen Kriterien her beurteilt Steck Schlatter im Zusammenhang des Themas Einheit der Kirche? Eine subtile theologische Abgrenzung wird damit verwechselt.

Die Entdeckung der Rechtfertigungslehre als Mitte der Schrift wird zu Recht als entscheidendes Widerfahrnis Luthers geschildert. Sicher ist hier Luther gefangen worden und hat sich nichts willkürlich herausgenommen, wenngleich an einzelnen Stellen des Römerbriefs die Übersetzung in bedenklicher Weise von dem systematischen Vorverständnis her überzogen ist.105 Die Einigkeit aber reicht gerade soweit, als dieses elementare Widerfahrnis transsubjektive Wirkung und geschichtliche

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Überzeugungskraft gewonnen hat. Wie man die so zentrierte Einheit des Verstehens zugleich als Einheit der wahren Kirche verstehen kann, bleibt unverständlich. Daneben haben Andere von anderen Zentralerfahrungen ebenso geschichtsmächtig andere Teile der Christenheit geeinigt. Aber eine Antwort auf die Frage nach der Einheit der Kirche ist dies evident deswegen nicht, weil dies gerade nicht die Antithese zur institutionellen Einheit unter Papst und Konzil ist. Die materialen theologischen Merkmale der Einheit können nur mit entsprechenden materialen Merkmalen, die institutionellen nur mit institutionellen verglichen werden.

Ich meine aber im Gegensatz zu dieser geschichtlichen Selbstrechtfertigung, daß es sich in der Tat um eine Veränderung des theologischen „Aggregatzustandes” gehandelt hat, der einerseits auf eine objektive, beide Teile betreffende theologie-geschichtliche Fortentwicklung, andererseits auf die psychologischen Konsequenz der Spaltung selbst zurückverweist.

Der Puritanismus hat bekanntlich dem „Merry old England” ein Ende bereitet, der Absolutismus Richelieus der alten Heiterkeit Frankreichs, Reformation und Gegenreformation zusammen einer sehr viel breiteren und offeneren Lebensform der Kirche.

Trotz Inquisition und dogmatischem Objektivismus stand in der vorreformatorischen Kirche eine für uns fast unglaubhafte Fülle unterschiedlicher Lebensformen und theologischer Auffassungen unverrechnet nebeneinander. In zahlreichen wesentlichen dogmatischen Fragen hatte sich zwar eine überwiegende Meinung durchgesetzt, aber keineswegs waren diese Fragen dogmatisch verbindlich entschieden. Diese unbefangene und trotz aller begrifflichen Subtilität noch irgendwie vorrationale Vielfalt ist wiederum noch etwas Anders als jene Komplexität, die durch die Stellung der päpstlichen Gewalt als eines Vorzeichens vor allem kirchlichen Leben ermöglicht wurde. Beides wirkte in der gleichen Richtung; beides ist später nicht mehr verstanden worden.

Erst die Aufdeckung der transzendentalen Denkstruktur hat mir eine Erklärung für die eingangs beschriebene seltsame Assoziation von Lehreinheit und Kircheneinheit geboten. Der vorausgesetzte transzendentale Grund ist in einem so radikalen Sinne die Bedingung der Möglichkeit der Existenz des Christen, daß dies sowohl stringenten wie exklusiven Charakter erlangt. Damit wird der Blick für die tatsächliche Begrenzung, das Vorhandensein anderer Konfessionskirchen irrelevant, der Blick auf die Einheit in jedem üblichen Sinne abgeblendet. Mutatis mutandis und nicht ohne gradweise Unterschiede gilt dies auch für die beiden anderen Konfessionen. So tritt auch die seltsame Tatsache hervor, daß der Katholizismus noch eher etwas mit einem Pneumatiker anfangen kann als gerade das Luthertum.106 Nicht das Pneuma, sondern das Wort ist die entscheidende Kraft. Je stärker der transzendentale Charakter die denkerische und psychologische Struktur bestimmt, desto mehr wird eine gewisse

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innere Konsequenz des theologischen Grundverständnisses aequivok mit Kircheneinheit. Diese Motivation tritt an die Stelle des tatsächlich einigenden Konsenses. Deswegen interessiert die begrenzte Wirksamkeit dieser Motivation nicht mehr. Man muß schon lange Theologie treiben, um diese verschlungenen, an Ideenrealismus erinnernden Gedankengang, für dessen Seltsamkeit die Theologen selbst offenbar unempfindlich sind, nachzudenken. Aber wie soll man ihn überhaupt verständlich machen?

Der Durchgang durch Reformation und Gegenreformation hat zu einer strengen Geschlossenheit, beinahe Uniformität der dogmatischen Lehren und des Lebensstiles geführt, die bis dahin unbekannt war. Sie erklärt sich weitgehend aus der Kampfsituation, bedeutet aber auch eine gefährliche Verschiebung. Man entging nicht dem schon oben beschriebenen Mißverständnis, als ob die oben beschriebene transzendentale Frage nach der Bedingung der Möglichkeit christlicher und kirchlicher Existenz ein materiales, transzendentes Prinzip der Gestaltung sei, welches alle Einzelheiten formen und regieren müsse. In diesem Sinne hat man dann später in immer fortschreitender Verengung von sogenannten „Ansätzen” gesprochen, aus welchen sich die unterschiedlichen Positionen der streitenden Konfessionen verstehen ließen. So entsteht allmählich eine Art idealistischer Konfessionsbegriff.

Nun hat die katholische Kirche trotz des einschneidenden Verlustes an Vielfalt doch wenigstens die Auffassung bewahrt, daß es verschiedene Formen christlicher Existenz geben könne und müsse, die in der Gestalt des Priesters, des Mönches, des Laien auch getrennt institutionalisiert sind. Die Frage, wie das geschieht, ist noch eine andere als die, ob es überhaupt für möglich angesehen wird.

Wir haben erst heute ein neues Verständnis für eine Pluralität in der Kirche gewonnen, die nicht eine willkürliche und sinnlose Anhäufung individueller Auslegungen und Verwirklichungen ist, sondern auch eine bezügliche Erscheinung ist, in der der Eine für den Anderen gerade durch seine Andersartigkeit etwas bedeutet.

Diese Mehrschichtigkeit ist in der reformatorischen Kritik weitgehend mißverstanden und in einer optischen Verkürzung auf die Frage der Werkgerechtigkeit und des Pelagianismus abgedrängt worden. Aus dieser Entwicklung ergaben sich eine Reihe einschneidender Folgerungen. Die bei beiden streitenden Teilen sich vollziehende Verfestigung und Objektivierung hat auf der reformatorischen Seite zur Ausbildung eines Einheitstypus von kirchlichem Leben und kirchlicher Haltung geführt. Es gab grundsätzlich und praktisch nur noch die versammelte Gemeinde der Hörer des Wortes. Alles, was in dieser Lebensform nicht aufgefangen werden konnte, wurde entweder unter dem Verdikt des Schwärmertums ausgeschieden oder in die Subjektivität oder wenigstens relative Separation gedrängt. Wesentliche Lebensäußerungen, wie Diakonie und Mission, wurden vom Leben der eindeutig territorial verfaßten Kirche

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geschieden. Das kirchliche Diakonat, welches in der lutherischen Reformation bedeutsame Ansätze gefunden hatte, wurde sehr schnell den bürgerlichen Gemeinden überlassen. Dies hängt keineswegs allein mit dem Verständnis des Verhältnisses zwischen Kirche und (christlicher) Obrigkeit zusammen, sondern erklärt sich in wesentlichem Maße auch aus der Alleinigkeit und Einlinigkeit des Gemeindebegriffs, der wiederum auf dem Wort- und Verkündigungsverständnis aufruht. Soweit diese Aktivitäten im kirchlichen Raum verblieben, wurden sie Gegenstände des Handelns, welche einzelne Christen im freien vereinsmäßigen Zusammenschluß so verfolgten, wie auch bürgerliche Verbände die ihnen gemeinsamen Zwecke betreiben. Infolgedessen war beides nicht mehr primär eine Lebensform und Lebensäußerung eigener Art der Kirche, sondern ein Objekt des Handelns, in welchem die christliche Existenz selbst nur folgeweise zur Darstellung kam, dann sich aber wieder typologisch verselbständigte.

Der Mangel eines gedanklichen Ausgleichs zwischen der unbestritten zentralen Form der Gemeindekirche und den genannten Lebensrichtungen hat dann bis in die Gegenwart dazu geführt, daß oberhalb des konkreten Begriffs von Gemeinde, mit oder ohne parochialem Charakter, ein abstrakt-idealer Gemeindebegriff gebildet wurde, in welchen virtuell alle Gaben und Aufgaben der Kirche eingeschlossen wurden.

Sowohl die vorfindliche Einlinigkeit von Leben, Amt und Kirchenbegriff, als auch diese überhöhende ideale Abstraktion haben die konkrete Mehrschichtigkeit des Kirchenbegriffs verdeckt. Denn wenn die territoriale Gemeinde eben alles dies ihr Zugedachte subjektiv und objektiv niemals darstellen konnte, so war man in Verlegenheit, jene ideale Größe irgendwie zu konkretisieren. Eine Lösung dieses Problems setzt voraus, daß entschlossen die primäre und sekundäre Mehrförmigkeit der Kirche in Ansatz gebracht wird.107

Die Unifizierung wird wesentlich dadurch ermöglich, daß in der beschriebenen Weise in der Reformation der Klerus als militia und das Kirchenvolk als civitas auseinandergebrochen sind und sich in eigenständigen Lebensformen mit dem Anspruch auf Suffizienz verselbständigt haben.

Die Einsicht in diesen Sachverhalt kann naturgemäß von konfessionellem Selbstverständnis nicht hervorgebracht werden. Denn dieses muß von seiner eigenen Suffizienz ausgehen und kann die Parallalbildung gleichen Anspruchs in seine Betrachtung nicht einbeziehen, sondern sie nur ausschließen.

Die gleiche Entwicklung hat zu einer Deformation des Kirchenrechtsverständnisses geführt, welche von einer Ideologisierung nicht weit entfernt ist. Die getrennten Konfessionskirchen leben in einem beträchtlichen Maße auf dem Traditionsboden allgemeinen Kirchenrechts, welches aus dem Bestand der Kirche des 1. Jahrhunderts sich durchgehalten hat.

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Die an anderer Stelle behandelte begründunglose, durchgängige Ablehnung und Bestreitung eines allgemeinen Kirchenrechts erklärt sich aus dem psychologischen Bedürfnis, die existentielle Tatsache der Konfessionstrennung aufrechtzuerhalten, und um die Sorge, daß diese Identität in einer unberechenbare Weise in Frage gestellt werden könnte. Damit verbindet sich eine gepflegte Tradition des wechselseitigen Mißtrauens.

 

3. Transzendentalität und Zeit

Die hier aufgetretene kritische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit ist nicht primär eine philosophische, ein Schritt in der denkerischen Fortbewegung, in der der Philosoph sein eigenes Denken auf einer neuen Stufe hinterfragt. Trotz der Gleichheit der Denkform ist hier dieser Vorgang grundsätzlich praxisbezogen. Er wird erfordert durch die Notwendigkeit der Entscheidung in der Kirche, innerhalb eines verfaßten Gemeinwesens, in Lehre, Sakramentsverwaltung, Kirchenregiment. Der kritische Prozeß der Selbsthinterfragung und die notwendige Sachentscheidung fallen hier in eins. So wie ein Richter sich zu allererst fragen muß, ob er für eine Frage, die sich stellt, legitimiert und kompetent ist, so kann hier die denkerische Reflexion von der andrängenden Entscheidung nicht getrennt werden. Es handelt sich nicht um eine denkerische Vorwegnahme, aus der dann in der weiteren Folge mehr oder minder disponible Entscheidungen abgeleitet werden. Diese unmittelbare Verbindung von Theorie und Institution macht die Kraft aus, die diesem Vorgänge innewohnt und die die philosophische und auch spekulativ-theologische Besinnung als solche niemals erreichen kann. Wo beides auseinandergefallen und getrennt worden ist, ist es zugleich unendlich schwer, diese Verbindung in der Sache wie auch nur im Verständnis wieder herzustellen. Man wird an das erinnert, was Rudolf Smend in einem rechtstheologischen Zusammenhange über die Lage der heutigen deutschen Staatstheorie gesagt hat.108

Dieser unmittelbare Zusammenhang von Reflexion und Entscheidung wird bedingt durch den konkret-geschichtlichen und zugleich eschatologischen Charakter der Kirche. Wenn das, was hier geschieht und zu geschehen hat, in seinem Jetzt und Hier in irgendeinem Sinne Heilsbedeutung, d.h. eine eschatologische Dimension hat, so ist diese Verbindung sowohl festzuhalten als auch notwendig ein Vorgang in der Zeit. In der hier zu lösende Frage ist daher notwendig immer die Dimension der Zeit und damit die modi der Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteingeschlossen und gegenwärtig.

Daß das so ist, läßt sich nun gerade an den Lösungen darstellen und ablesen, die das transzendentale Kirchenrecht offenbar nicht zufällig hervorgebracht hat. Den Einstieg zu dieser Betrachtung kann man am leichtesten von der historisch spätesten Form transzendentaler Dogmatik und

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kirchenrechtlicher Gestaltung nehmen, nämlich derjenigen des Calvinismus. Wie auch immer das Verhältnis der liberalen Theologie zur Dogmengeschichte zu beurteilen ist, so hat doch Harnack mit einem gewissen historischen Recht auf den Ausgang der Dogmengeschichte hingewiesen, den er mit dem Ende der reformatorischen Bekenntnisbildung meinte ansetzen zu können. So gesehen wäre die Lehrbildung des Calvinismus bis etwa einschließlich der Dordrechter Synode der Abschluß eines Prozesses, der aus inneren Gründen — jedenfalls auf Grund der gleichen Voraussetzungen — nicht weitergegangen ist. Denn gerade das zentrale Prädestinationsdogma hat eine kirchenrechtlich und kirchensoziologisch eminente Bedeutung. Durch die These, daß alle für das eschatologische Schicksal des Menschen entscheidenden Dinge bereits im Erwählungsratschluß Gottes vorweggenommen sind, gewinnt alles, was innergeschichtlich, und zwar gerade in der Kirche, geschehen kann, eine völlig veränderte Stellung als Folgeerscheinung, aber auch als Bewährung und Reflex dieser Vorgegebenheit. Dieser gesamte Entwurf steht also unter dem Vorzeichen einer bestimmten Vorvergangenheit. Es ist also nicht eine Vergangenheit, die abgetan hinter uns liegt, oder als Tradition weiterzugeben, aber auch abzuwandeln ist. Diese Vorvergangenheit hat im extremsten Sinne absoluten Charakter. Vorvergangenheit erscheint nicht in der Relativität der anderen Zeitmodi, sondern gerade als deren entscheidende Grundlage und Basis.

Ein gänzlich anderes Zeitverhältnis zeigt sich, wenn wir in die lutherischen Reformation zurückgehen.

Von den modi der Zeit steht im lutherischen Bereich derjenige der Präsenz eindeutig im Vordergrund. „Glaubst Du, so hast Du.” Was hier gemeint ist, kann in seiner Bedeutung ebensowenig überboten werden wie das scharfsinnig-radikale Dogma der Prädestination. Von da aus ergibt sich, daß alles notwendig, ja schlechthin entscheidend ist, was jetzt und hier zum Glauben führt und dem Glauben dient. Dagegen wird alles Vorausgehende und alles Nachfolgende notwendig zurückgedrängt. Der große Strom der lebendigen Tradition, in den man eintauchen soll, von dem man sich tragen lassen soll, ist letzten Endes, so respektabel er ist, doch nur als Vorbereitung auf dieses zentrale, ja aktuale Geschehen von Bedeutung. Alle nachfolgende Bewährung kann niemals zum syllogismus practicus verführen wie im Calvinismus. So kann es sich auch immer nur um die Erneuerung in der Präsenz, auf den Rückgang in die Präsenz, der bleibenden Taufe wie der geschehenden, zu hörenden Predigt handeln. Die „fides ex auditu” wird zum Zentralsatz. Das strenge Festhalten an Realpräsenz und dem Realcharakter der Hauptsakramente ist von diesem Präsenzprinzip zu verstehen, auch wann sich daraus ein gewisser Konflikt mit der Worttheologie als Theologie des hier und jetzt zu verkündenden und selbstwirksamen Wortes ergeben wird. Es braucht noch nicht einmal die Tradition abgewertet zu werden; sie bekommt von vornherein

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und ohne besondere Bemühung einen anderen Stellenwert, als sie je zuvor besessen hat, ja als ihr Begriff eigentlich besagt.

Am schwierigsten ist im weiteren Rückgang der Zeitmodus zu bestimmen, unter dem das der Reformation vorausgehende neukatholisch-scholastische System zu deuten wäre. Das reformierte Modell verweist auf die Einsicht, daß hier genau umgekehrt tendenziell der Blick auf dem liegt, was innerweltlich zu geschehen hat. Das Leben der Kirche und das des von ihr umgriffenen Einzelnen ist ein auf die Zukunft, auf das Ende hin final ausgerichteter und erstreckter Vorgang, dessen endgültige Ertrag sich einmal offenbaren muß. Aber entscheidend ist, daß mit Fleiß und Eifer dieser Weg in die Zukunft in tausend Akten der Frömmigkeit, in der Annahme der von der Kirche verwalteten und gespendeten Gnadengaben, der Teilnahme am Leben der Kirche tatsächlich gegangen wird. So gewiß etwa auf den Begriff des Gnadenstandes reflektiert wird, so bleibt doch dieser nicht; er muß Immer wieder erneuert werden und der ganze Gedanke steht in jenem umfassenden Zusammenhang. So gewiß es hier immer wieder die Versuchung der Pelagianismus gibt und immer wieder gegeben hat, und selbst wenn ein gewisses extrapolierbares Element davon als Tendenz wie Mißverständnis im katholischen System enthalten ist: den zentralen Antrieb, Intention und Struktur dieses Entwurfs trifft dieser Vorwurf nicht. Dabei trägt der neukatholische Entwurf im Übergang vom epikletischen auf das transzendentale Kirchenrecht zugleich mit seiner radikalen Neuheit doch auch transformatorischen Charakter. Das heißt: ein sehr großer, aber nicht mehr folgerichtig durchgeführter Bestand altkirchlicher Theologie und Verfassung wurde in den neuen Entwurf eingebracht. Auch wenn jener Traditionsbestand wie ein Steinbruch benutzt wird, so schränkt er doch zugunsten einer schwierigen Komplexität die Folgerichtigkeit dieses ersten transzendentalen Entwurfs bis zu einem gewissen Grade ein. Dies vorausgesetzt kann man sagen, daß hier der modus der Zukunft am deutlichsten in Wirksamkeit tritt. Auf diese Zukunft hin ist dann in der sichtbar verfaßten Kirche in ihre vielfachen und sinngemäß zu ordnenden Verrichtungen mit strenger Finalität zu handeln.

Dieses Ergebnis erscheint gegenüber der herkömmlichen Betrachtung paradox. Denn im katholischen System sieht man herkömmlicherweise eine statische Unveränderlichkeit, eine Ontologie der Qualitäten, ein metaphysisches System gleichbleibender Wahrheiten, und glaubt es von daher verstehen zu können. Aber dies sind, soweit sie tragend sind, doch nur Begriffsmittel, in denen die endzeitliche Bedeutsamkeit und die geistliche Qualität de anstehenden Fragen gegenüber der Veränderlichkeit und Sinnfälligkeit der Welt auszudrücken unternommen wird.

Merkwürdig genug ist, daß hier in der historischen Folge die Zukunft vorangeht, die Gegenwart folgt und die grundlegende Vorvergangenheit erst am Ende sichtbar wird. Das Ganze gleicht einer monumentalen

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barocken Fuge, in der ein musikalisches Thema in allen denkbaren Varianten sinngemäß abgehandelt wird, bis es sich endlich in seinen Möglichkeiten erschöpft. Offenbar können diese Tonarten nur hintereinander entfaltet, aber nicht gleichzeitig gespielt und vernommen werden.

Im Calvinismus ist nichts, im Katholizismus ist alles Geschichte, — im Luthertum ist die Geschichte angehalten wie der Perpendikel einer Uhr.

Zugleich sind aber auch die Gemeinsamkeiten zu bedenken, die mit dem Thema gegeben sind. Sie sind für unsere heutige Betrachtung von besonderer Bedeutung, da offenbar diese große Komposition in ihrer Wirksamkeit und Bedeutsamkeit an ein Ende gekommen ist, so wenig damit etwas über ihren Rang und ihre Bedeutung ausgesagt ist. Daß wir nicht mehr barocke Musik schreiben können, sagt nichts über die Bedeutung der Bachschen Musik aus, die mehr ist als eine nur geschichtliche Phase. Um im Bild zu bleiben: die lateinische Christenheit, die die Kathedrale von Chartres, die Rembrandt und Bach hervorgebracht hat, braucht sich ihrer Diversität nicht zu schämen.

Eine ins Auge fallende und zentrale Gemeinsamkeit dieser drei Entwürfe liegt insbesondere in ihrem vertikalen Charakter. Die transzendentale Kritik ist hier eine Basisfrage. Aber sie erscheint hier in Bezug auf ein Verhältnis, das ohne Transzendenz nicht gedacht werden kann. Daß diese Transzendenz bis dahin ein Jahrtausend hindurch primär in der Immanent des zukommenden und zugleich innewohnenden Geistes gesehen worden ist, ist jetzt gerade durch den kritischen Charakter zurückgedrängt. Eine in diesem Sinne vorkritische Theologie kann einen immanenten Entwurf darbieten. Eine transzendentale Theologie reißt notwendig von ihrem kritischen Charakter Transzendenz und Immanent auseinander und führt daher zu einer im Begriff der Transzendentalität als solcher keineswegs enthaltenen Transzendenz mit der Folge, daß das Entscheidende und Notwendige in der Vermittlung von Transzendenz die Form der Autorität annimmt. Diese Autoritätsförmigkeit kann daher aus außertheologischen Gründen, aus der Annahme zeitbedingter Strukturen gerade nicht erklärt werden. Sie nimmt ja auch im Vergleich jener drei Formen extrem verschiedene Gestalt an. Auf der einen Seite steht die personale Autorität im katholischen System in einer Form vor uns, die im patriarchalischen Bischofsamt der alten Kirche niemals ausgebildet worden ist. Sie erfährt eine einzigartige Überhöhung in Gestalt des Primats, von der aus alle Legitimität abgeleitet wird. Genau umgekehrt besitzt im konkreten Handeln der lutherischen Kirche niemand Autorität, im strengen Sinne auch nicht das Amt — unbeschadet der Aussagen des Art. XXVIII der CA —: in diesem Artikel könnte man einen Einschluss altkirchlicher Herkunft finden.

Der herkömmliche Satz, daß die Kirche durch das verkündete Wort geleitet wird, schließt im strengen Sinne personale Autorität aus. Erst in der unvermeidlichen Folge, nicht im Ansatz, gibt es hier personale Autorität. Man kann den Umschlag aus der zentralen und grundlegenden

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Konzentration und Steigerung des personalen Autoritätsanspruchs im Papsttum in die prinzipielle Aufhebung der personalen Autorität nicht folgerichtig genug verstehen. Hierdurch kommt die ständige Überdeckung der konkreten Autorität und der Verfassungsprobleme im lutherischen Kirchenverständnis zustande.

Ganz anders stellt sich das Autoritätsproblem in der calvinischen Lösung. Führt die lutherische Konzeption durch die Notwendigkeit ständiger Verkündigung zu einer Verschmelzung aller Funktionen zu dem dazu notwendigen bezeichnungslosen Amt, so wird auf der calvinischen Seite, durch den Ausschluss des Bischofsamts, jede Wurzel personaler Autorität zugunsten kollegialer Entscheidungsformen beseitigt. Unter der grundlegenden Voraussetzung der Erwählungslehre handelt es sich nur noch darum, sich gemeinschaftlich und gegenseitig zu disziplinieren. Der Unbedingtheitsanspruch dieser Disziplinierung führt dann dazu, daß das Presbyteramt als zentrale Bildung in seiner Art wiederum in Autoritätsformen hereinwächst. Der Presbyterat ist mehr und Anderes als etwa die mutua consolatio der einander gleichgestellten Träger des ministerium ecclesiasticum von CA V und VII. Gerade die gegensätzlichen, untereinander unvereinbaren Autoritätsformen verweisen auf denselben Tatbestand, daß durch die Transzendentalität die in der Transzendenz begründete Autorität Gestalt gewinnen muß. Ihre Unterschiede entsprechen den verschiedenen modi der Zeit, die oben gegeneinander abgehoben wurden. Insofern ist auch die Ausbildung der Jurisdiktionshierarchie die notwendige Konsequenz aus den Voraussetzungen eines transzendental gewordenen Systems im Zeitmodus der Zukunft. Sie ist also keine willkürliche Erfindung, keine Anpassung oder Übernahme weltlicher Formen, auch keine ursprüngliche Stiftung, wohl aber ein theologisch folgerichtig begründetes System, das mit seinen denkerischen und geschichtlichen Voraussetzungen steht und fällt.

 

4. Wirkungsgrenzen der Transzendentalität

Zahlreiche auffällige Tatsachen der Kirchenrechtsgeschichte erklären sich im Horizont des transzendentalen Kirchenrechts mit klarer Schlüssigkeit. Diese bisher nicht aufgedeckte Denkform führt andererseits subjektiv zu einer Anschauung von Kirchenrecht, nach der alle Einzelsätze aus einer unterschiedlich gearteten, of als „Ansatz” bezeichneten Voraussetzung abgeleitet werden. Daraus ergibt sich dann das Postulat, daß alle Einzelsätze inhaltlich ebenso ungleich sein müssen, den vorausgesetzten Unterschieden unterliegen, auch wenn dies in concreto gar nicht belegbar ist.

Verfolgt man diese Auffassung anhand der konkreten Tatbestände weiter, so zeigt sich allerdings, daß die jeweiligen Voraussetzungen des transzendentalen Kirchenrechts zwar einen großen Bestand des Kirchenrechts

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und der Kirchenverfassung überaus wirksam beeinflussen und verändern, daß sie aber nicht vollständig durchgreifen. Ihr Wirkungsbereich endet an Schichten, die in einem anderen Sinnzusammenhang stehen.

Die im Bilde gesprochen vertikale Wirkung des transzendentalen Kirchenrechts trifft auf horizontale Schichten vorfindlicher Grundlagen. Jede der aufeinanderfolgenden Konzeptionen ist mit der vorausgehenden durch konkrete Traditionselemente konstruktiv verknüpft. Es handelt sich um weit mehr als um Restbestände, die mit einer gewissen Inkonsequenz mitgeschleppt werden. Vielmehr sind die Systeme durch eine Art Überlappung miteinander verzahnt. Subjektiv sind die Träger der Neubildungen keineswegs traditionsfeindlich, sondern Berit, bei den Umbildungen ihnen unanstößig erscheinende frühere Bestände zu übernehmen. Aber die subjektive Einstellung zur Tradition ist nicht eigentlich entscheidend. Sie erleichtert zwar Übergang und Verknüpfung. Die gleiche Verknüpfung läßt sich jedoch auch dort zeigen, wo der Traditionsgedanke ganz zurücktritt.

Das transzendentale System des Neukatholizismus übernimmt bewußt altkirchliche Elemente in der apostolischen Sukzession der Bischöfe, aber auch in dem Vorortsprinzip in der Verbindung des Primats mit der römischen Gemeinde.

Eine ähnliche Überbrückung zeigt sich beim Übergang aus der Papstkirche in die Kirche des Augsburgischen Bekenntnisses. Hier werden zwar apostolische Sukzession und Hierarchie abgestoßen. Es bleibt jedoch das personale Amt, wenn auch aller konkreten historischen Merkmale entkleidet. Dessen strenge Personalität ermöglicht den bruchlosen Übergang aus der älteren in Pfarrgemeinden gegliederten Territorialkirche in die neuen lutherischen Kirchenverbände. Die Tradition des gemeindlichen Amtspresbyterats bleibt unangetastet.

Ein ähnlicher Übergang ist vom Luthertum auf den Calvinismus zu verzeichnen. Die strenge Beschränkung auf das singuläre und zugleich personale Amt des je Einzelnen wird zugunsten der Pluralität der Personen in Gestalt des Kollegialitätsprinzips abgewandelt. Aber auch diese in doppeltem Sinne pluralen Ämter bleiben personale. So sind die Formen des personalen Amtes in spezifischen markanten Stilformen abgewandelt; das Prinzip der Personalität bleibt erhalten. Keine dieser Bildungen ist daher so integral, wie sie sich selbst versteht und verstehen muß. Dies zu verkennen und im eigenen oder vor allem im fremden Lager als Inkonsequenz zu verdammen, verkennt die innere Notwendigkeit dieses Sachverhalts.

Unterhalb dieser traditionellen Querstruktur liegt jedoch noch eine weitere Schicht, bis zu der die Transzendentalität nicht durchschlägt. Es ist die Identität und der Inbegriff der Verrichtungen, die zusammengenommen das Handeln aller Beteiligten in der Kirche ausmachen. An anderer Stelle wurde schon dem naiven Mißverständnis entgegengetreten,

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als würde in den getrennten Kirchen wegen ihres verschiedenen Kirchenverständnisses auch fundamental oder mindestens in der Hauptsache Verschiedenes getan. Tatsächlich deckt sich das Handeln der Ämter, wie insbesondere die Aufzählungen in den Ordinationstexten ausweisen, in relativ hohem, ja weit überwiegenden Maße. Es gibt nur gewisse Ausschläge oder Abstriche. Eine solche Steigerung und Erweiterung bedeutet insbesondere der Opfergedanke, der weder zuvor noch später so ausgebildet wird. Ein deutlicher Abstrich, eine Einschränkung ist die Ausschließung einer Konfekten, mit der Person des Amtsträgers verbundenen Schlüsselgewalt im Calvinismus im Gegensatz auch zur lutherischen Kirche (CA 28). Diese weitgehende Identität der Verrichtungen kann nun freilich nicht so extrapoliert werden, daß man sich darauf in funktionaler Betrachtung beschränkt und alle übrigen Probleme der Gestaltung und Ordnung beiseite stellt. Das wäre etwa so, wie wenn man die Gesundheit eines Lebewesens in seiner Skelettierung suchte. So wie es eine Aufblähung von Gestaltungen gibt, so gibt es auch eine Auszehrung. Die abstrahierende Form dieser funktionalen Reduktion ist eine bei nur begrifflicher Betrachtung dieses Handelns nachfliegende Selbsttäuschung, die mit dieser Vergegenständlichung den sozialen Charakter verkennt.

Aus der Erkenntnis, daß die Transzendentalität des Kirchenrechts in ihren noch so verschiedenen Formen nicht bis auf den Grund durchschlägt, ergibt sich ein gewisses Wahrheitsmoment der sonst unzulänglichen, weil nur relativierenden branch-Theorie. Diese ist ein biologisches Bild, welches der Geschichtlichkeit des Prozesses der aufeinanderfolgenden Entstehung unterschiedlicher Formen keinen Ausdruck verleihen kann. Aber seine Teilwahrheit liegt darin, daß wie bei den Zweigen eines Baumes der Stamm der gleiche ist. Diese Substruktur ist daher auch kein archaischer Rest, der von allein zurücktritt oder sich in eine vielleicht notwendige Unbewußtheit verliert. Vielmehr begrenzt diese Erkenntnis die Tragweite der Neubildungen, welche die kritische Reflexion im Leben der Kirche zu erzeugen vermocht hat. Der radikale denkerische Anspruch vermag sich selbst nur als umfassenden zu begreifen, seine eigenen Grenzen und Wirkungsmöglichkeiten selbst nicht zu reflektieren. Der darin liegende Apriorismus erweist sich also als ein wesentliches und unvermeidliches Hilfsmittel der neuen Interpretation und neuen Ordnung, bezieht sich aber in Wahrheit auf eine Vorgegebenheit.

Der objektiven Begrenzung des transzendentalen Kirchenrechts entspricht die Tatsache, daß dieses selbst keine Grundsätze allgemeinen Kirchenrechts entwickelt hat, — und zwar unabhängig davon, ob und daß es universale Bedeutung beansprucht oder auch nicht. Die markantesten Verfassungsinstitute des lateinischen Katholizismus, Jurisdiktionsprimat und Kardinalat sind partikularkirchliche Bildungen. Für den Kardinalat ist dies unbestritten: er ist eine Fortentwicklung des lateinischen Kirchenrechts. Es ist mit Recht als systemwidrig kritisiert worden, daß er in

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die revidierte Fassung der Lex Ecclesiae Fundamentalis thematisch aufgenommen worden ist. Der Jurisdiktionsprimat ist nach seinem, im ersten Vaticanum verbindlich formulierten Selbstverständnis von der historisch gleichberechtigten Ostkirche ebensowenig rezipiert worden wie vom historisch nachfolgenden Protestantismus.

Andererseits hat der Protestantismus zwar den Anspruch erhoben, daß seine Kirchenrechtsbildungen schriftgemäß seien — in einer besonders zugespitzten Weise im Anspruch des Calvinismus als der „nach Gottes Wort reformierten” Kirche. Aber was er wesentlich zu Tage gebracht hat, war der Gemeindegedanke. Dieser ist in der Ost-Kirche vermöge ihres koinonia-Charakters nie erloschen, aber zurückgetreten, im lateinischen Katholizismus in die außerrechtliche Tatsächlichkeit und Objektstellung abgedrängt. Was der Protestantismus sonst an Strukturformen bewahrt hat, sind reduzierte Rechtsformen des alten Kirchenrechts. Eine fruchtbare Neubildung, der Laienpresbyterat des Calvinismus, hat auf Grund seiner besonderen theologischen Voraussetzungen noch einmal im außerreformierten Bereich des Protestantismus werbend zu wirken vermocht, während umgekehrt die ungebrochene Tradition des altkirchlichen Amtspresbyterats über das Luthertum hinweg in die reformierten Volkskirchen durchgeschlagen hat.

Lateinischer Katholizismus und Calvinismus haben also einen allgemeinen Bedeutungsanspruch ihrer spezifischen Form vertreten, ihm aber keine Wirkung und Anerkennung über ihre eigenen Grenzen jenseits ihrer spezifischen Voraussetzungen zu verschaffen vermocht. Der abstrakt-dogmatische Gültigkeitsanspruch tritt an die Stelle der lebensmäßigen Gemeinsamkeit, ohne daß diese Differenz wesentlich beachtet wird. In neuerer Zeit ist auch von reformatorischer Seite die Frage gestellt worden, ob der päpstliche Primat als Amt der Einheit gemeinkirchliche Anerkennung finden könne und solle (Schlink). Dies würde jedoch eine wesentliche Veränderung des Selbstverständnisses und der Rechtsstellung des Papsttums erfordern, für welche entgegen einer völlig anders gearteten Praxis gewisse gelegentliche Andeutungen in der Richtung auf eine arbiträre Stellung des Papsttums zu verzeichnen sind.108a

Einen nicht nur inhaltlich, sondern schon methodisch grundsätzlich anderen Weg ist das Luthertum gegangen, indem es die hier wesentlichen, vorgegebenen signa ecclesiae auf das ministerium ecclesiasticum und die congregatio beschränkte und beide bewußt von jeder historischen Konkretion schied (ministerium sine nomine). Gerade auf diese Weise intendierte es, etwas für die Kirche überhaupt und allgemein Gültiges auszusagen (satis est). Der Versuch jedoch, Grundsatz und Grundbestand von aller historischen Konkretion zu trennen (und damit die historische Gestaltung höchstens in einem bedeutungslos sekundären Sinne zu bejahen und zugleich festzustellen), ist in sich selbst fragwürdig, wie die von Ebeling vermerkte Schwierigkeit zeigt, dann mit der eigenen

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Traditionsbildung fertigzuwerden. Die Frage, ob etwas was als zureichend bezeichnet wird, zwar geltend gemacht, aber auch verwirklicht werden kann, kann damit nicht beantwortet werden. Der Calvinismus ist dieser Frage durch eine für unser Bewußtsein historisch naive Anlehnung an biblische Formen unter willkürlicher Auswahl denkerisch ausgewichen.

Im Ganzen haben die Konfessionskirchen transzendentaler Form gerade mit und durch den Anspruch auf positive oder negative Allgemeingültigkeit ihrer Positionen dem allgemeinen Kirchenrecht nichts hinzugebracht, und dies drückt sich auch in dem an anderer Stelle erörterten völligen Desinteresse an diesem Traditionsbestande aus. Sie leben sämtlich auf den Fundamenten der alten Kirche, vermögen aber zur Gemeinsamkeit der von ihnen unverändert im Bekenntnis bezeugten allgemeinen Kirche nicht durchzudringen (s. Exkurs S. 216).