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V. Zusammenfassung

 

Die hier formulierten Erkenntnisse führen also, kurz zusammengefaßt, zu einer Kette zwangsläufiger Bildungen.
Sobald das kritische Bewußtsein kommunikabel wird, führt es zur Gruppenbildung in der Form des Klerus.
Als Klerus beweist es seine kritische Überlegenheit und verzerrt damit zugleich die ihm aufgegebene und anvertraute, durch sein Urteil beanspruchte Wirklichkeit.
Um dies auszugleichen, erzeugt es komplementäre Leerformeln.
Obwohl es also in Wirklichkeit Subjekte der Freiheit hervorbringt, unterliegen doch diese zugleich einer ihnen selbst uneinsichtigen soziologischen Gesetzlichkeit.
Der so sich darstellende Systemzusammenhang erzeugt zwar das Bedürfnis, nicht aber die Mittel ihrer Durchbrechung.
Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist also auch kein allgemein anthropologisches Problem, sondern kann nur in der konkreten soziologischen Form der Klerus-Bildung und ihrer Grenze verstanden und, wenn überhaupt, gelöst werden.

Zu den möglichen, wenn auch vielleicht nur begrenzten Hilfsmitteln, durch welche das so beschriebene System sich selbst transzendiert, gehört die Offenheit, die sichtbare Herausstellung des Klerus und seine Verrechtlichung, so anstößig beides piis auribus protestanticis sein mag. Denn diese offene Sichtbarkeit stellt den Klerus durch den Legitimations- und Traditionszusammenhang in die Geschichte und vermeidet dadurch, ihn in eine außergeschichtliche Absolutheit zu verweisen. Die Verrechtlichung verstärkt nicht nur seine Wirkung durch Wahrung der Disziplin, sondern zeigt vor allem seine Begrenzung, seine Legitimationsbedürftigkeit und die Bindung an eine Sinnbestimmung. Verdeckung und Verleugnung des Klerus schwächt die offenkundigen Gefährdungen und Verengungen dieser Bildung nicht ab, sondern potenziert sie im Gegenteil gefährlich, weil nicht einmal mehr der Sitz des Problems diagnostiziert werden kann. Wie in der Psychoanalyse ist auch hier Offenlegung als solche ein wesentliches Mittel der Lösung.

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Die bedeutsame These von Georg Picht, daß die kritische Vernunft über ihre Grenzen aufgeklärt werden müsse, müßte also in Richtung auf die soziologischen Strukturen wesentlich erweitert werden, die dieses kritische Bewußtsein notwendig erzeugt. Die institutionellen Strukturen aber folgen mit großer Treue eben dem inneren gedanklichen und psychologischen Aufbau dieses Vorgangs. Wenn aber die Aufdeckung von Schein wieder zur Erzeugung komplementären Scheins führt, und die Freiheit des Subjekts die Dinge zu Objekten verzerrt und entleert, so muß eine durchgreifendere Lösung dieses Widerspruchs gesucht werden, als das kritisch-emanzipative Bewußtsein für sich allein darzubieten vermag — und seine Schwäche liegt in seiner Alleinigkeit. In dem Versuch, Widersprüche zu beheben, erzeugt es neue in der Potenz.

Der Marxismus — an dessen Beispiel diese allgemeine Gesetzlichkeit deutlich wird —, zeigt also spezifische, eindeutig definierbare Herrschaftsformen von hoher innerer Folgerichtigkeit. Er stellt vermöge seines radikalen Rationalismus eine kopflose Hierarchie dar, die durch einen überwiegend informellen Klerus verwirklicht wird. Wie andere umfassende Hierarchien beansprucht er Suffizienz für eine weltgeschichtliche Aufgabe und tabuiert sich selbst. Ebenso ist er als positives System undialektisch.

Der Nachweis einer informellen, aber soziologisch voll ausgebildeten Hierarchiebildung zeigt, daß der Marxismus in seiner konkret-historischen Form allgemeinen soziologischen Gesetzlichkeiten unterliegt, die er selbst nicht durchschaut und von denen er sich auch nicht freizeichnen kann. Mit dem Nachweis dieser Abhängigkeit von allgemeinsoziologischen Formgesetzlichkeiten ist er als System entmythologisiert. Theologisch gesprochen ist er wie jede andere geschichtliche Bewegung unter dem „Gesetz”. Indem der Mensch seiner Selbstmächtigkeit, seines eigenen Machtproblems auch mit den außerordentlichen denkerischen und geschichtlichen Anstrengungen nicht Herr wird, bleibt er auch in seiner emanzipierten Mündigkeit unter dem Gesetz, vermag kein Systementwurf Evangelium, Reich der Freiheit im prinzipiellen Sinn zu werden.

Die Menschheit wird sich mit der Frage auseinandersetzen müssen,

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ob nicht geschichtliches Handeln, Handeln mit geschichtlichem Anspruch Elemente hierarchischer Ordnung erfordert und hervorbringt. Der Marxismus jedoch hat die Lösung des Machtproblems schlechthin versprochen: darauf muß er behaftet werden. Er gleicht einem Spieler, der mit verwegener Entschlossenheit den höchsten Einsatz gewagt und bereits verloren hat, aber diese Ehrenschuld nicht bezahlen will.

Er hat nicht Staat und staatliche Herrschaft aufgehoben, sondern unter dem Entscheidungszwange geschichtlicher Durchsetzung eine neue Qualität und Form von Staat geschaffen. Als System eines wirksam institutionalisierten Rationalismus war er dem irrationalistischen Dezisionismus des Faschismus methodisch überlegen. Dieser hatte nicht begriffen, daß er mit der bewußt angestrebten, sichtbar extrem manifestierten Hierarchiebildung rationale Momente hätte übernehmen müssen. Der absolutistische Zynismus ist beiden gemeinsam. Der demokratische Zentralismus als Verfassungsform führt die These und das Ziel der „herrschaftslosen Herrschaft” ad absurdum, indem er alle Formen und Hilfsmittel zerstörte, welche der menschliche Geist in langer politischer Erfahrung, in der Erfahrung des Menschen im Umgang mit sich selbst zur Begrenzung und Kontrolle von Macht erfunden hat. Es ist so, als ob man die Medizin verbietet, weil sie den Tod nicht aus der Welt schaffen kann.

Neben allen nur zu verständlichen denkerischen und historischen Schwierigkeiten, die dem Marxismus wie jedem realen System anhaften, ist der Widerspruch zwischen der konkreten Realität und bloßen Postulaten ebenso erstaunlich wie typisch. Nirgends auf der Welt gibt es ein so extremes Mißverhältnis. Das ist schwerlich zufällig, so phantastisch und unglaubhaft es ist. Es ist sogar so phantastisch, daß es aus diesem Grunde leicht verkannt wird. Je mehr der Marxismus reale Zusammenhänge und Widersprüche aufdeckte, an denen der subjektive Idealismus des Bürgertums uninteressiert war, desto mehr verlor er zugleich den Blick für ein großen Teil der historisch-sozialen Wirklichkeit. Es ist eine Art optisches Phänomen, eine Blendung und Kontrast. Die Anstrengung des Begriffs und die Analyse der Realität haben existentiell eben doch nicht zusammengefunden, wie es dem

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Programm entsprochen hätte. Sie treiben den Teufel mit Beelzebub aus — und hernach wird es hundertmal ärger.

Der entscheidende denkerische wie praktische Grund liegt darin, daß um der Wirksamkeit und Durchsetzung willen alle Formen produktiver Widersprüche, positiver Dialektik, zugunsten der einseitigen, und einseitig-mechanisch handhabbaren negativen Dialektik Alt-Neu nicht aufgehoben, sondern aufgegeben worden sind. Der Träger des Neuen setzt sein Geschichtsbewußtsein absolut, und ist daher unfehlbar immer im Recht. Indem er die Formen der Herrschafsübung und Machtpolitik — von allen Begrenzungen frei — potenziert, die er anderen vorwirft und die er abzuschaffen angetreten ist, erzeugt er das vollendete Staats- und Völkerrecht des Pharisäismus.