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I. Marxistische Staatsbildung als Thema

 

Die Auseinandersetzung um den Marxismus vollzieht sich heute deutlich auf zwei verschiedenen Ebenen. Auf der einen Ebene liegen die vielfältigen revisionistischen Versuche, aber auch die Bemühungen im Bereich der neu entstandenen marxistischen Gruppen, die ihr theoretisches Selbstverständnis suchen. Diese Bewegungen sind fast durchgängig mit Kritik und Ablehnung des in den sozialistischen Staaten institutionell verfaßten Marxismus verbunden. Auf der anderen Ebene liegt die direkte Auseinandersetzung mit diesen Systembildungen, wie sie etwa mit den Ereignissen in der CSSR zusammenhing und von dort ausgeht. Hier wird versucht, die tatsächlichen Verhältnisse und Methoden wie die entstandenen realen und psychologischen Strukturen an einem vorausgesetzten, für den Marxismus verpflichtenden Maßstab kritisch zu messen, — dem der Humanität. Daß überhaupt die Frage nach einem „Sozialismus mit menschlichem Gesicht” als Formel und Programm auftreten konnte, mußte ja ein Schlag ins Gesicht jedes nicht völlig systemgebundenen Marxisten sein. Der theoretische Ertrag beider Gedankenbewegungen in bezug auf die vorfindlichen Bildungen ist jedoch bemerkenswert gering. Im großen Ganzen ersetzt die Ablehnung die Kritik. Die einen gehen zu neuen, spekulativen Gedankenbildungen über, in denen insbesondere ein syndikalistischer Einschlag zu vermerken ist. Die anderen kommen über die Verzeichnung einer Summe von partikularen, mehr oder minder zufälligen Fehlbildungen und Mißgriffen nicht hinaus. Während der Krise stellten tschechische Marxisten mit einer bewegenden Ehrlichkeit Erwägungen über die vielfältigen Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten an, welche in den 20 Jahren seit der kommunistischen Machtergreifung in ihrem Staatswesen vorgekommen waren. Sie empfanden sich selbst menschlich dadurch belastet, zumal sich diese Maßnahmen auch gegen eigene Freunde und Verwandte gewendet hatten. Zugleich wurde aber deutlich, daß innerhalb dieser aufrichtigen Selbstbesinnung eine eigentliche Systemkritik nicht zu erwarten war. Es hätte sich ja nicht darum handeln

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können, bei dieser Gelegenheit den Boden des Marxismus zu verlassen; von Erkenntniswert wäre allein eine immanente Kritik gewesen. Gerade für diese aber zeigte sich kein nennenswerter Ansatz. Die Erwägungen blieben an Symptomen haften, ohne den Weg zu grundsätzlichen Einsichten und wirksamen Korrekturen zu eröffnen. Dies ist gewiß nicht zufällig. Der Marxismus ist formal betrachtet ein geschlossenes, um nicht zu sagen „katholisches” System. Er ist mit seiner geschichtlichen Verwirklichung identisch, so daß für ein im strengen Sinne kritisches Element über die Korrektur von systemwidrigen Fehlgriffen hinaus grundsätzlich kein Raum ist. Es gehört daher zu diesem System selbst, daß es sich seiner ganzen Tendenz nach dieser kritischen Erwägung durch eine ideologische und propagandistische Dissimulation der Tatsachen und Probleme entzieht. Denn als methodische Voraussetzung wird die Hypothese eingebracht, daß die Dialektik von Theorie und Praxis in Gestalt konkreter Entscheidungen alles Erforderliche hervorbringt. Als Kritik kommt daher nur das Argument eines prinzipiell undialektischen Verfahrens in Betracht. Diesen Einwand erhebt auch, wie wir später sehen werden, Stojanović1, dessen Ausführungen daher über die jugoslawische Situation hinaus allgemeine Bedeutung besitzen. Um so mehr ist eine kritische Analyse der Formen nötig, in denen sich der Marxismus als Herrschaftssystem institutionalisiert hat.

Die hier unternommene Analyse bezieht sich in der Hauptsache auf die sozialistischen Staaten des europäischen Ostblocks. In ihnen ist, ausgehend von der russischen Revolution und mit dem Anspruch der Maßgeblichkeit und Orthodoxie, der Sozialismus politisch zur Macht gekommen und über Jahrzehnte verwirklicht worden. Diese historische Tatsachen können nicht in die bloße Theorie zurückgenommen werden. Eine Sonderstellung nimmt Jugoslawien ein. Der dem Buch von Stojanović gewidmete Abschnitt2 bietet Gelegenheit, soweit hier nötig und möglich, darauf einzugehen. Eine Interpretation und Einordnung der chinesischen Vorgänge ist nach wie vor erschwert. Ich kann mich hierfür selbst nicht für kompetent halten. Auch die südamerikanischen Phänomene bilden einen Tatbestand für sich.

Die Differenzierung der Gesamtbewegung aber ändert nichts

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daran, daß der historisch vorausliegende Bestand der sozialistischen Ostblockstaaten auf seine tatsächlichen Merkmale hin betrachtet und auf diese seine geschichtliche Identität hin behaftet werden kann und muß. Man kann nicht 300 Millionen Menschen unter ein politisches System bringen und das Ganze dann lediglich als theoretische Frage oder als eine Art Zufall behandeln. Im Gegenteil bleibt bedeutsam, daß hier der Marxismus langfristig vor die Gegebenheiten und Verantwortlichkeiten politisch-sozialer Wirklichkeit gestellt worden ist, vor die leidigen Fakten, an denen die Theorie sich bewähren oder zerbrechen muß. Der fundamentale und reale Widerspruch liegt hier darin, daß eine erklärtermaßen auf „herrschaftslose Herrschaft” abzielende Bewegung langfristig und auf unabsehbare Zeit zur Aufrichtung und Durchbildung von politischer Herrschaft genötigt worden ist. Angesichts dieser Tatsache kann es auch kein Ausweichen vor der Frage nach dem theoretischen Gehalt und der inneren Struktur dieser Herrschaft geben.

Daß eine Bewegung Formen der Diktatur ausbildet, nachdem sie eben diese Diktatur als notwendige, wenn auch transitorische Methode proklamiert hat, darf nicht Wunder nehmen und ist folgerichtig. In der Tat zeigen die sozialistischen Staaten phänotypisch die Merkmale der Diktatur. Diese sind folgende:
1. radikale Konzentration der staatlichen Macht in den Händen der Partei, die vom Zentralkomitee geführt wird;
2. schrankenlose Durchsetzung dieser Macht unter Ausschaltung aller rechtlichen und tatsächlichen Begrenzungen, insbesondere unter Abweisung einer diese Macht bindenden rechtlichen Selbstbegrenzung. Die dem Rechtsbegriff auch hier immanente Funktion der Selbstbegrenzung ist nicht unreflektiert, aber theoretisch kontrovers und praktisch unwirksam.
Der in der bürgerlichen Freiheitsbewegung erreichte Stand persönlicher Freiheitsrechte wird auf diese Weise weit unterboten und diese auf unbestimmte Zeit suspendiert; hierzu gehört ebenso die ideologische Abwertung dieser Rechte nach ihrem ursprünglichen Selbstverständnis wie die Behauptung, daß sie in ihrem wesentlichen Gehalt verwirklicht seien. Sie werden historisch relativiert und können daher beliebig ausgelegt und manipuliert

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werden. Das Problem selbst wird durch die emphatische Leerformel von der „sozialistischen Persönlichkeit” überdeckt;
3. der Aufbau von Verfassungsorganen, welche eine äußere Legitimationsfunktion und Publizität begründen, ohne daß ihnen eine Entscheidung über Richtungsänderungen zugebilligt wird. Die im Begriff der Verfassung selbst liegende notwendige Differenz von Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit erreicht hier einen extremen und so hohen Wert, daß sie zum qualitativen Merkmal des Systems wird.

Durch diese allgemeine Struktur als Diktatur unterscheidet sich freilich das System der sozialistischen Staaten noch nicht grundsätzlich von den modernen Formen der Diktatur. In diesen letzteren kommt freilich ein in älteren Diktaturen noch nicht vorhandenes Element zutage3: die Ausbildung einer ideologisch geformten Staatspartei, die zum verfassungsmäßigen Hoheits- und Machtträger wird und das Bewußtsein ihrer Mitglieder wie auch der breiten Masse der Nichtmitglieder zu leiten und zu formen beansprucht. Eben diese Minderheit benutzt die in Ziff. 3 geschilderte gesteigerte Differenz zur Fortbildung der Verfassung in Richtung auf ideologisch-spekulative Geschichtsziele, die nur der irrationalen Gruppenidentität der Insider einsichtig sind. Durch diese eschatologische Interpretation vermindert sich noch einmal die Bindungswirkung der Verfassung.

Die Ausbildung dieser politischen Form ist eine allgemeine Erscheinung der Moderne. Diese objektive Gemeinsamkeit wird jedoch im Marxismus dissimuliert. Von den analogen Formen unterscheidet sich der Marxismus allein, aber wesentlich durch den Anspruch und die Selbstverpflichtung umfassender Rationalität geschichtlicher Interpretationen. Sie führen in einen Dschungel ideologischer Scholastik. Aus dieser tödlichen Verwirrung rettet dann nur noch die Einbahnstraße bedingungsloser Konformität mit der offiziellen Orthodoxie.

Phänomenologisch ist dieses System ein solches des eschatologischen Rechtes. Ich vermeide hier jene in gewissen Anfängen der Marxismus-Diskussion im Vordergrund stehende relativ enge Analogie zwischen dem Marxismus und kirchlich-theologischen Geistesbewegungen und Bildungen, die Theorie von der

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Ersatzreligion. Der darin liegende Wahrheitsgehalt kann durch eine direkte Analogie nicht zulänglich erhoben werden. Als eschatologisches Recht können solche Anschauungen bezeichnet werden, welche beanspruchen, die Endbestimmung der Menschheit rational in dem Grade einsichtig zu machen, daß von da aus mit unmittelbarer Wirkung Maximen für Staat und Recht gewonnen werden können. Das marxistische Rechtsdenken stellt eine Variante des eschatologischen Rechts dar, einer Anschauungsform, welche er nicht geschaffen hat, die er vielmehr als allgemeinere Möglichkeit und Bewegung historisch-individuell ausfüllt und benutzt. Die Entstehung dieser Form steht im Zusammenhang religionsgeschichtlicher Umschichtungen von allgemeiner Bedeutung, vermöge deren die natürliche Religion des Vertrauens in die Beständigkeit in die der Bewegung umschlägt. Nur auf dem Unterbau dieser neuen Phase der Welterfahrung und natürlichen Religion ist die Wirksamkeit und Faszination moderner Bewegungen verschiedenster Art möglich und verständlich. Die Feuerbach-Marxsche Religionskritik ist eine ebenso vordergründiges, wie wirksames Mittel, um diesen Tatbestand und ihren eigenen Hintergrund, die Machtneurose zu verschleiern. Jenes von mir in meiner Naturrechtsschrift von 1952 beschriebene Phänomen4 gewinnt seine volle Bedeutung erst durch die Erkenntnis, daß diesem Typus des Rechtsdenkens eine entgegengesetzte Position entspricht: die Ableitung des Rechts nicht a fine, sondern ab origine aus einem nicht hinterfragbarem traditionellen oder kontingenten Ansatz. Über diese beiden kategorialen Formen hinaus scheint es Legitimationsmotive nicht zu geben. Jenes eschatologische Recht versteht sich konsequent als jedem vorfindlichen Recht, und zwar in dem Grade überlegen, daß es imstande ist, jedes anders begründete Recht radikal in Frage zu stellen, es gleichsam wie ein Radieschen mit der Wurzel auszureißen. Eine eigene Reflexion auf diese geistige Struktur freilich wird hier methodisch ausgeschlossen, weil sie eine Relativierung des damit verbundenen finalen Absolutheitsanspruch bedeuten würde.

Analogie und Differenz zur christlichen Eschatologie zeigt sich am Begriff der Entfremdung. Stojanović weist auf die oft übersehene Tatsache hin,

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„,Entfremdung’ lege nahe, daß der Mensch einmal in einem entgegengesetzten, nichtentfremdeten Zustand war. Doch das wäre gewiß nicht im Sinn der Marxschen Auffassung der Vorklassengesellschaft, wenn es auch im Einklang mit manchen romantischen Illusionen stünde, die Engels über diese Gesellschaft hatte.”3

Die Ausscheidung der theologischen Gedanken der Urstand und Fall weist Marx als radikalen Aufklärer aus, für den die Menschheit durch den Prozeß der Geschichte zu sich selbst in das Reich der Freiheit kommt. Der Begriff der Entfremdung ist freilich so prinzipiell mißverständlich. Die Schwierigkeit und spätere Zurückstellung des Begriffs bei Marx erörtert Stojanović an späterer Stelle.5

Für die Struktur der sozialistischen Staatsformen ist weiter wesentlich, daß diese deutlich und bewußt eine ideologische Verbindung mit den nationalen Traditionen der sie tragenden Völker gesucht haben und eingegangen sind, auch wenn dies, wenigstens zum Teil, eine manipulierte Propaganda ist. Es zeigt sich daran, daß die einseitige Legitimation des gesamten Rechts- und Staatssystems von der Vorstellung eschatologischer Bestimmung und Sinnerfüllung her eine Überlastung bedeutet, die nach einem Ausgleich und Gegengewicht traditioneller Art verlangt. Es ist in diesem Zusammenhang konsequent, wenn die Breschnjew-Doktrin zugleich wieder gegenüber der Eigenständigkeit der einzelnen sozialistischen Staaten von ihren nationalen Traditionen und Interessen her den Anspruch eines überragenden gemeinsamen Rechtes der sozialistischen Staatengruppe unter der Führung ihres russischen Vororts statuiert. Damit ist die gedankliche Einheit gewahrt und der aushilfsweise Charakter jener politischen Substrukturen ausgesprochen.

Die bürgerliche Kritik dieses Tatbestandes mit seinen extremen Härten ist insofern unzulänglich, als sie dem lediglich den jetzigen Stand der demokratisch-liberalen, parlamentarischen Demokratie gegenüberstellt, ohne damit zugleich das Wachstumsgesetz der kritisierten Formen des näheren aufklären zu können.

Freilich besteht eine tiefere, bisher unbeachtete Verbindung in den Basisvorstellungen des bürgerlichen Rechtsstaates selbst. In

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den Anfängen der klassischen Gewaltenteilungslehre gibt es dafür einen bedeutsamen Hinweis. Bevor diese zu dem bekannten Dreier-Schema durchgebildet wurde, wurde zwischen der äußeren und der inneren vollziehenden Gewalt (neben den anderen Gewalten) unterschieden. Unter der äußeren vollziehenden Gewalt wurden jene Staatsakte begriffen, die sich auf die Diplomatie, Kriegführung und Heersen, kurz alle Außenbeziehungen bezogen. Der evidente Grund lag darin, daß diese Akte als unberechenbar und vom Verhalten der Partner abhängig nicht unter den Gesetzesbegriff subsumiert werden konnten. Die Frage der Begriffsbestimmung für freie politische Akte, die der rechtsstaatlichen Judikatur ihrem Wesen nach entzogen sind, hat, unbeschadet der allgemeinen Theorie der Gewaltenteilung, seither Theorie und Praxis auch der liberalen Staaten beschäftigt. Die Frage ist in der Rechtsprechung bedeutender Gerichtshöfe, wie des französischen und italienischen Staatsrats lange Zeit nicht befriedigend gelöst worden. Rudolf Smend und Carl Schmitt haben dieser Frage als einer zentralen besondere theoretische Aufmerksamkeit gewidmet.6 Wenn nun innerhalb der Gewaltenteilungslehre dieses systematische Element kontingenten Handelns theoretisch absorbiert worden ist, so deswegen, weil diese sich in steigender Folgerichtigkeit als ein auf die Staatswirklichkeit projiziertes System der Vernunftmetaphysik ausgebildet hat. Im Gesetz emaniert die Vernunft, die sich dann in der Verwaltung als praktische bewährt und in der Rechtsprechung im Ausgleich beider mit sich selbst wieder in Übereinstimmung gebracht wird. Da es nun, so gesehen, außerhalb der Vernunft im strengen Sinne keine Freiheit gibt, kann sich theoretisch das Problem der Kontingenz für politisches Handeln solange nicht stellen, als das System konsequent durchgehalten wird. Freilich verhält es sich mit der Gewaltenteilungslehre wie mit dem Wasser: das Wasser selbst ist unentbehrlich; chemisch reines Wasser dagegen wirkt auf den Organismus wie Gift.

Diese als Staatsentwurf ausgebildete Vernunftmetaphysik ist freilich deutlich abzuheben von der sehr viel älteren Tradition von Idealstaatlehren, die die Bewältigung des Machtproblems in der Mischung unterschiedlicher Verfassungselemente gesucht haben.

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Die Gewaltenteilungslehre setzt dagegen eine Gewalteneinheit voraus. Erst auf der historischen Grundlage des fürstlichen Absolutismus und der denkerischen Grundlage des Theismus ist die Bildung dieser Lehre möglich gewesen.

Sie ist nun deutlich in einer zweiten Stufe vergeschichtlicht worden. Das Vernunfturteil als alleinige Form der Freiheit steht nicht mehr geschichtslos im leeren Raum, sondern wird ausgedehnt auf die rechtswirksame Interpretation der Geschichte selbst, entweder in einer Geschichtsdialektik oder mindestens in dem absoluten Urteil der Aufklärung, von der ab erst die Existenz in Freiheit, genauer gesagt, wirkliche Subjekte der Freiheit möglich geworden seien. Die verbindliche Interpretation der Geschichtsdialektik erlaubt es dann etwa, sowohl bürgerliche Rückstände wie schwärmerische Vorgriffe auf dem Weg einer subtilen Lageinterpretation mit bündiger Wirkung zu erkennen und auszugrenzen. Vermöge des Anspruchs auf gültige Geschichtsinterpretation wird dann die Abweichung von der hiermit vorgezeichneten, schlechthin notwendigen Verwirklichung der identischen Vernunft und Freiheit zum Verbrechen, dem gegenüber es auch kein Recht des Irrtums gibt. Die Stempelung auch des politischen Dissenses zum moralischen wie politischen Verbrechen ist ebenso die konsequente Folge.

So gesehen ist dieser Entwurf eine Radikalisierung und Potenzierung einer bürgerlichen Rechtsphilosophie durch Vergeschichtlichung. Marxistisch geurteilt ist der Marxismus selbst eine spätbürgerliche Rechts- und Staatsphilosophie. Inwieweit er selbst objektive Elemente enthält, die darüber hinausweisen, kann nur unter schwierigen Erwägungen auf Grund von Kriterien erhoben werden, zu deren Bildung dieser Marxismus selbst keinen Ansatz bietet. Die gelegentlich auftretende Bezeichnung der vorfindlichen sozialistischen Systeme als „nachbürgerlich” läßt ein gewisses Problembewußtsein für diese direkt und immanent nicht zu stellende, geschweige denn zu beantwortende Frage erkennen.

Die bürgerliche Kritik verweist mit Recht darauf, daß im Gegensatz zu der Zielvorstellung der Aufhebung des Staates sich eine nie gekannte Verstärkung der Staatsmacht ebenso ergeben habe wie im Zeichen der herrschaftslosen Herrschaft eine ebenso radikale

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Steigerung der Herrschaftsformen und Gehorsamschancen. Diese Beobachtung ist vor allem darum bedeutsam, weil an ihr die makabre, lebensgefährliche Entbindung von Kräften deutlich wird, die durch das dialektische „Alles oder Nichts” hervortreten. Denn alle Vermittlungen, mit denen wenigstens praktisch solche Konsequenzen wirksam und verbindlich begrenzt werden, werden gerade durch die Radikalität der Dialektik oder durch die Absolutheit des Aufklärungsbegriffs ausgeschaltet.

Hegel hat durch die Einführung eines integralen Vernunftbegriffs in das Geschichtsdenken einen Systemzwang begründet, in dem seither alle Freiheit und die theoretisch implizierte Partikularität untergeht. Für Sartre ist diese Partikularität bereits das Infame schlechthin. Nicht minder geht die hohe Vernunft begrenzter und eben auch darum freier Verhältnisse, Konflikte und Lösungen unter.

Unverkennbar ist, über die genannten Merkmale hinaus, der Marxismus genötigt gewesen, sich positiv als System auszuformen. Je länger die Parusieverzögerung des Übergangs in den klassen- und staatslosen Endzustand des vollendeten Kommunismus andauert, desto deutlicher müssen die positiven historischen Eigenmerkmale dieser Systembildung hervortreten und in ihrer Besonderheit erkennbar werden.

Wir sind daher gezwungen, die fehlende immanente Interpretation der Formbildungen selbst zu versuchen.