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7. Bemerkungen zum Entwurf einer Konkordie der reformatorischen Kirchen in Europa

 

 

I. Das Programm einer Überwindung der reformatorischen Spaltung

Seit anderthalb Jahrhunderten ist das Verhältnis der beiden großen reformatorischen Kirchen auf der Tagesordnung. Die von mancherlei außertheologischen Faktoren und Zeitströmungen belastete Unionsbewegung führte nur zu Teillösungen und rief andererseits ein verstärktes und erneuertes Konfessionsbewußtsein, vor allem auf der lutherischen Seite, auf den Plan. Im Jahrhundert der ökumenischen Bewegung stellte sich diese Frage neu. In den letzten Jahren haben intensive Gespräche und Verhandlungen stattgefunden, um unter Zurückstellung institutioneller Lösungen den kirchentrennenden Charakter der geschichtlichen Gegensätze zu überwinden und damit die Voraussetzungen für die Aufnahme voller Kirchengemeinschaft zu schaffen. Dabei sind drie Ebenen Angesprochen worden: auf der ökumenischen Ebene das Verhältnis der beiden Weltbünde, sodann die Gesamtheit der reformatorischen Kirchen in ihrem europäischen Ursprungsgebiet, unter Zurückstellung der Verhältnisse in der neuen Welt, und schließlich der deutsche Bereich, in dem die Beziehungen wie immer die kompliziertesten sind, da hier Bekenntnisunionen, Verwaltungsunionen und Konfessionskirchen nebeneinander und miteinander leben. Hier hat nun die Frage unmittelbare kirchenverfassungsrechtliche Bedeutung gewonnen. Nach der erzwungenen Auflösung der Einheit der EKD ist die durch die Spaltung Deutschlands allzulang hintan gehaltene Verfassungs- und Strukturreform der EKD in der Bundesrepublik Deutschland in Gang gekommen. In meinem Aufsatz über die institutionelle Reform der EKD 19, dem frühesten Gesamtprogramm für diese Aufgabe, habe ich vorausgesetzt, daß die bestehenden Gemeinsamkeiten wie die verpflichtenden Aufgaben trotz der Konfessionsfrage eine zulängliche Grundlage darstellen, so daß eine Lösung des Konfessionsproblems nicht erforderlich, die damit verbundene Schwierigkeiten aber auch vermeidbar seien. Inzwischen hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß zwischen der Konfessionsfrage und der Verfassungsreform ein Junktim bestehe, das nicht mehr aufgelöst werden könne. Die theologischen Grundlagen müßten soweit geklärt werden, daß der EKD in ihrer neuen Begrenzung und Verfassung der Charakter als Kirche nicht mehr bestritten werden könne. Diese Auffassung bedingt in der Tat die

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Herstellung voller Kirchengemeinschaft im theologisch-dogmatischen Sinne und verleiht für Deutschland diesen Bemühungen eine unmittelbare Dringlichkeit. Die Nötigung zu einer Reform würde auch dann bestehen, wenn der Versuch zur konfessionalen Einigung scheitert. In dieser Reform ist eine wesentlich über das Organisatorische hinausgehende notwendige gemeinsame Anstrengung gefordert, um die Kirche in den Stand zu setzen, die ihr heute obliegenden Aufgaben anzufassen.

Die These von der Verbindung von Konkordie und Kirchenreform gehört zu den Grundsatzaussagen, wie sie heute üblich werden, die ohne explizite Begründung wie ohne die Erwägung von Alternativen aufgestellt werden und deren Folgen zugleich nicht von vornherein in voller Klarheit bedacht sind. Diese Verbindung hat jedoch zwei schwerwiegende Folgen:

1. Man macht sich von der Erzielung eines Konsenses zwischen allen beteiligten westdeutschen Landeskirchen abhängig. Wenn selbst in einem einzelnen falle eine Sonderposition erträglich wäre, wie etwa im Beispiel Bremens, so wäre doch das Ganze in Frage gestellt, wenn auch nur eine der großen Landeskirchen, etwa Bayern, ihre Zustimmung versagte. Was sollte dann aus der Reform werden? Wäre sie dann wirklich nach Grundlage und Inhalt verändert? Ebensowenig darf der Plan der Konkordie als Grund für eine Verzögerung der Reform dienen.

2. Die andere Konsequenz liegt darin, daß der Inhalt der Reform zu Unrecht veräußerlicht wird. Obwohl die Reform ein hohes Maß von Gemeingeist, von Umdenken und Aufgeschlossenheit erfordert, um über einen großen Nachholbedarf hinweg sich gemeinsame der jetzigen Lage zu stellen, kann sie auf diese Weise durch die Nachordnung hinter die Konkordie als bloße Summe organisatorischer und technokratischer Lösungen und Aushilfen mißverstanden werden. Diese Trennung von innen und außen entleert nicht nur den Vorgang, sondern verzerrt auch die Tatbestände selbst. Sie vermindert zugleich den ohnehin nicht allzu großen Antrieb, auf diesem Felde voranzukommen.

Um so mehr ist ein Vorbehalt gegen diese These geboten. An dieser Stelle soll jedoch allein zu dem Einigungsversuch Stellung genommen werden. Ich stelle der Untersuchung drei Thesen voran:

1. Das Ziel einer solchen Einigung ist zu bejahen. Weder von der geistlichen Wirklichkeit unseres Zusammenlebens noch von den Bestande verbindlicher theologischer Aussagen her läßt sich die Ausschließlichkeit der getrennten Konfessionen aufrechterhalten. Ich stelle diese These voran, um meine im folgenden begründeten, sehr grundsätzlichen Bedenken vor dem

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Verdacht zu schützen, daß unter dem Vorwande der Kritik das Gemeinte unmöglich gemacht werde. Radikalismus ist heute weitgehend die Methode, sich der konkreten Verantwortlichkeit für positive Gestaltung zu entziehen. Der jetzigen Aufgabe kann andererseits auch nicht durch eine Haltung begegnet werden, der auf keine Weise Genüge getan werden kann und die vor jedem konkreten Schritt in ungreifbare Vorbehalte ausweicht. Auch die beträchtlichen Schwierigkeiten zulänglicher gemeinsamer Aussage dürfen nicht zum Grund oder Vorwand genommen werden. Ebenso unzulänglich ist die Verweisung auf ein weiteres Wachstum der Gemeinsamkeit, welche ohne ernste Bemühung und die Anstrengung des Begriffs nur eine Vertagung auf unbestimmte Zeiten und in Wirklichkeit eine begründungslose Ablehnung bedeutet.

Die angesprochenen Kirchen befinden sich freilich gegenüber dem Plan einer Einigung in einer unterschiedlichen Lage. Die einen nehmen die Befugnis in Anspruch, auch heute und zu jeder gegebenen Zeit ihre gemeinsame Lehre in Fortentwicklung der Bekenntnisse verbindlich auszusagen und halten sich dazu für verpflichtet. Die anderen sind der Auffassung, daß der in ihren Grundordnungen oder Verfassungen umrissene Bekenntnisstand der Gesetzgebung und daher der Neuformulierung entzogen sei. Sie können daher die jetzt zu fassenden Beschlüsse immer nur als eine authentische Interpretation des schon geltenden Bekenntnisses verstehen. Sie kommen damit etwa in dieselben Schwierigkeiten wie die römisch-katholische Kirche mit der Auslegung von Lehrsätzen, die im Sinne des I. Vatikanischen Konzils als unfehlbar zu gelten haben.

Ich halte die Vorstellung, daß der Bestand der Bekenntnisaussagen des 16. Jahrhunderts unüberholbar und unantastbar sei, für unreformatorisch. Sie würde die Reformation selbst nicht zugelassen haben. Die Kirche muß in der Lage sein, ihre wesentlichen Grundlagen, deren Identität sie preiszugeben nicht befugt ist, neu und verbindlich zu formulieren. Indessen braucht diese Frage hier nicht ausgetragen zu werden.

2. Gerade wenn die kirchentrennenden Verwerfungen heute ausgeräumt werden können, reicht es nicht aus, sie als Einzelheiten zu behandeln, als ob nach Beseitigung einiger Sperrscheite ein vorhandener Apparat „liefe”. Dies entspricht nicht dem sachlichen und geschichtlichen Gewicht des Verhältnisses beider Kirchen. Vielmehr muß

3. ein solcher Vorgang als ein Schritt und Durchbruch nach vorn vollzogen und gewagt werden. Dies bedingt eine Überprüfung des Kirchen- und Konfessionsverständnisses im Angesicht der Ökumene. Andererseits aber wird diese Gemeinsamkeit gerade heute in wesentlichen Punkten nicht in

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ausgereiften dogmatischen Aussagen, sondern in der unzweideutigen Umreißung gemeinsamer Aufgaben, geradezu im Bekenntnis zu diesen Aufgaben bestehen können und müssen. Die nur scheinbar zulängliche positive Formel kann weit eher ein Ausweichen bedeuten als eine solche entschiedene Zielsetzung.

 

II. Die Konkordien-Entwürfe und ihre Begründung

In der Bewegung zur Konfessionseinigung, die sich über Jahre hingezogen hat, sind drei Schritte von Bedeutung:

1. Vom 4. 5. 1970 datiert eine theologische Erklärung (Thesen zur Kirchengemeinschaft, siehe: Dokumentarischer Anhang a, Seite 125 ff.), die als Grundlage für die Herstellung voller Kirchengemeinschaft zwischen der lutherischen und der reformierten Kirche in Deutschland und in der Welt dienen soll. Der Text ist von (deutschen) lutherischen, reformierten und unierten Theologen unterzeichnet. Begleitschreiben erläutern die kirchenpolitische Zielsetzung auf nationaler und ökumenischer Ebene. Diese Aktion enthält in sich einen gewissen Widerspruch. Die Texte sind als vorläufige gedacht. Ihre Veröffentlichung ist als Anregung, Anfrage und ermutigende Aufforderung zu verstehen. Rückfragen bei einem Mitverfasser über Tragweite und Stellenwert der relativ kurzen Aussagen erhielten die Antwort, daß der Text in erster Linie die Aufhebung der wechselseitigen dogmatischen Verwerfungen zwischen den beiden reformatorischen Konfessionen im Auge habe. Die daran anschließenden positiven Bekenntnisaussagen dürften nicht mit den Maßstäben einer „anspruchsvollen” Theologie gemessen werden. Auf der anderen Seite sprechen die Verfasser unvermeidlich im Stil des Bekenntnisses. Der Leser muß zudem annehmen, daß alle wesentlichen, für die zukünftige Entscheidung bedeutsamen Themen in dem Text bereits angesprochen worden sind. Die Auffassung liegt nahe, daß die entscheidenden Weichenstellungen schon erfolgt sind, wenn sich so viele namhafte Theologen auf einen solchen Text verständigt haben. Diesem naheliegenden Mißverständnis scheint mir auch zu entsprechen, wenn einzelne Synoden die Thesen bereits durch Beschluß angenommen haben, wozu sie vermöge ihrer Vorläufigkeit nicht bestimmt waren.

2. Auf entschiedene Bedenken gegen die Zulänglichkeit der Thesen erhielt ich von seiten des Ökumenischen Rates der Kirchen den Entwurf einer Konkordie unter dem oben zitierten Titel. Der sehr viel ausführliche Text ist keine Fortschreibung des erstgenannten. Er vermeidet auch offenbar bewußt

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gewisse Schwächen und Begrenzungen jener Fassung. Die Verfasser des zweiten Entwurfs sind nicht genannt. In diesem Zusammenhang spielt das Problem der Öffentlichkeit eine gewisse Rolle. Die Thesen sind mit den Begleittexten veröffentlicht worden. Die Vorkonkordie dagegen ist außer den unmittelbar Beteiligten nur einzelnen Interessenten zugänglich gewesen, die sich zu Worte gemeldet haben.

3. Dieser Konkordien-Entwurf — im folgenden als Vorkonkordie (VK) zitiert — ist inzwischen in einer Plenarberatung in eine neue Fassung überführt worden. Auf diesen zweiten Konkordien-Entwurf (KE) (siehe: Dokumentarischer Anhang b, Seite 127 ff.) bezieht sich das vorliegende Gutachten. Ich hatte mich zu Händen des Ökumenischen Rates und einiger mir bekannter Mitglieder der Beratungskommission in einem ausführlichen Gutachten geäußert. Da dieses, kirchenrechtliche fragen miteinschließende, aber im ganzen irrtümlich als „kirchenrechtliches” verstandene Gutachten zwar in den Beratungen verwertet worden ist, aber nicht im Besitz aller Teilnehmer gewesen ist, übernehme ich in diesen Text Ausführungen, soweit sie auf beide Entwürfe zutreffen. Der jetzige Entwurf (KE) soll bis zum 1. 4. 1973 in den beteiligten Kirchen beraten werden. Auf Grund dieser Stellungnahmen soll eine Endfassung beschlossen werden.

Es ist aus dem Text ersichtlich, daß die Verfasser der Konkordie (KE) im Gesamtaufbau auf die Linie der Thesen zurückgekehrt sind. Die Internität der Vorkonkordie hat die bedauerliche Folge, daß diejenigen Gedankengänge aus der Erörterung ausgeschlossen werden, die deren Verfasser für wichtig genug hielten, aufgenommen zu werden, die aber in der Endfassung wieder ausgeschieden worden sind. Es handelt sich hier nicht nur um Formulierungsfragen, sondern um wesentliche Aspekte des Gesamtproblems. Es wird notwendig sein, auf einige dieser Fragenbereiche noch einmal einzugehen.

4. Die Abgrenzung der Beteiligten
In Ziff. 1 KE ist der Kreis der angesprochenen Kirchen im Gegensatz zu den Vortexten nunmehr präzise genannt. Das ist zu begrüßen. Die lutherischen und reformierten Kirchen bilden in der Tat zusammen mit der böhmischen Brüderkirche und den Waldensern eine in vieler Hinsicht zusammengehörige Gruppe.

Ein Problem stellt jedoch die Begrenzung der Angesprochenen auf den europäischen Bereich dar. Sie hat unzweifelhaft große praktische Vorteile für das Zustandekommen einer solchen Erklärung. Theologisch entbehrt sie jedoch der legitimierenden Grundlage und ist mit beträchtlichen Gefahren verknüpft. Auf diese hat mit Recht der Waldensische Kirchenrechtler Professor

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Peyrot-Rom in seinem (nicht veröffentlichten) Gutachten hingewiesen. Die positiven und negativen theologischen Aussagen des Entwurfs haben vermöge dieser Universalität und des Wahrheitsanspruchs des Evangeliums allgemeine Bedeutung. Es bestehe die Gefahr, daß auf Grund der angestrebten Vereinigung in Europa eine Art neuer Union, eine dritte reformatorische Konfession entsteht, deren Grundlage in der Konkordie von den Konfessionsverwandten — oder einem wesentlichen Teil derselben — in den übrigen Erdteilen jedoch nicht angenommen werden. Auf diese Weise würde auf ökumenischer Ebene derselbe Zustand eintreten, wie er in Deutschland besteht, nachdem die Unionsbewegungen des 19. Jahrhunderts nicht allgemein durchgedrungen waren. Auch wenn institutionelle Unionen hier nicht das Ziel sind, könnte ein Antagonismus zwischen Konkordien-Kirchen und integralen Konfessionskirchen entstehen, der die ökumenische Zusammenarbeit belastet. Gerade die Vorkonkordie hatte die Problematik partikularer Unionen angesprochen. Bedauerlich ist auch, daß diese Frage udn das hier mindestens vorhandene Risiko im Text der Konkordie übergangen und den Adressaten nicht zum Bewußtsein gebracht worden ist.

5. Zur Begründung: Begriff und Ziel der Kirchengemeinschaft — Kirchengemeinschaft und Ökumene
Eingangs wird festgestellt, daß der Stand der Lehrgespräche diesen Beteiligten Kirchengemeinschaft „ermögliche”. Ohne einem einleitenden Ausdruck übermäßige Bedeutung beizumessen, muß klargestellt werden, daß diese Fassung einen schwerwiegenden theologischen Irrtum jedenfalls nicht ausschließt. „Möglichkeit” ist eine Kategorie der Freiheit. Wenn auch eine Möglichkeit gemeint ist, deren Ergreifung als verpflichtend und selbstverständlich angesehen wird, so liegt trotzdem darin ein Element des Ermessens. Theologisch gesehen gehört jedoch Kirchengemeinschaft dem Bereich der Notwendigkeit an. Kirchengemeinschaft ist allen Partikularkirchen immer schon durch ihre gemeinsame Grundlage vorgegeben. Sie kann daher nur als solche erkannt und muß dann anerkannt werden. Wer sie zu Unrecht verweigert, verfehlt seine eigene Existenz ebenso wie derjenige, der sie leichtfertig gewährt; er verrät die Bindung an den Herrn, von der er allein lebt. Weder milder Irenismus noch rechthaberische Enge sind hier angemessen. Machen wir uns die Sache zu schwer, so machen wir sie womöglich gerade auch hier wieder zu leicht. Kirchengemeinschaft setzt weder ein eschatologisches Urteil über den Glauben des anderen voraus noch ist sie eine Verbandsbildung Gleichgesinnter. Von diesem strengen theologischen Tatbestand aus muß der in den „Thesen” hervorgetretene Gedanke einer heute irgendwie angezeigten Konfessionsgruppenbildung ausdrücklich ausgeschlossen werden. Der Gedanke der Blockbildung ist schon im

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Begleitschreiben zu den Thesen verbotenus abgelehnt worden. Jedoch ist dies keine bloße Frage der Intention, sondern der ganzen Gedankenführung.

Die angesprochenen Kirchen teilen mit den übrigen Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates die theologische Basis und die Zielsetzung der Einheit. Die ökumenische Forderung trifft alle getrennten Kirchen. An der Herstellung voller Kirchengemeinschaft sehen sich jedoch die getrennten Kirchen durch die verpflichtende Wahrheitsfrage gehindert. Ihre Gemeinschaft ist also eine bedingte oder gebrochene. Andererseits ist Kirchengemeinschaft überall dort geboten und herzustellen, wo solche kirchentrennende Gegensätze nicht oder nicht mehr bestehen. Die bloße lokale und zeitliche, traditionelle Unterschiedenheit ist weder ein dogmatischer noch ein kirchenrechtlicher Grund gegen ihre Verwirklichung und Übung. Die Kirchen sind also nicht veranlaßt, sich auf Grund gemeinsamer Grundsätze innerhalb der Ökumene zusammenzuschließen, sondern schlechthin verpflichtet, Kirchengemeinschaft soweit herzustellen, als sie nicht durch die Wahrheitsfrage daran gehindert sind. Die Motivation des Entwurfs geht daher sachwidrig von den Hinderungsgründen statt von der vorgegebenen Basis des Kirchenbegriffs selbst aus. Sie ist trotz aller positiven Bereitschaft konfessionell, nicht ökumenisch gedacht.

Der Entwurf umschreibt im Anschluß an CA VII und Institutio IV den Begriff der Kirchengemeinschaft in der Meinung, daß es sich hier um eine von der Geschichte nicht bedingte grundsätzliche Begriffsbildung handele. Dies ist jedoch keineswegs der Fall.

Wir kennen in der Geschichte der Kirche unterschiedliche Formen von Kirchengemeinschaft. Die alte und orientalische Kirche verstand und versteht Kirchengemeinschaft als ein konstitutives Verhältnis, welches das Kirchesein jeder partikularen Kirche von Grund auf bestimmt. Es beruht auf der eucharistischen Gemeinschaft und dem ständig zu erneuernden und bewahrenden Lehrkonsens und zeigt im ganzen eben darum föderale Formen. Sohm, Harnack, Troeltsch, Werner Elert haben diese Form in ihrer Eigenart beschrieben. Ein völlig anderes Verständnis von Kirchengemeinschaft zeigt der römische Katholizismus, der vom Beginn des zweiten Jahrtausends an die Gemeinschaft mit dem römischen Papst als die transzendentale Bedingung der Möglichkeit legitimer Existenz von Kirche versteht.

Die in der Konkordie entwickelte Vorstellung von Kirchengemeinschaft ist nicht Kirchengemeinschaft schlechthin, sondern eine ebenso historische Form. Dies wird an den Folgerungen und Zielvorstellungen deutlich, die im vierten Teil des Entwurfs genannt werden. Nächst der Aufhebung kirchentrennender Verwerfungen und als deren Folge werden Interkommunion, Interzelebration, Anerkennung der Ordinationen usw. genannt.

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Dieser Art von Kirchengemeinschaft stellt eine geistliche Zollunion dar, in der die Zirkulation von möglichst vielen Hindernissen befreit wird. Charakteristisch ist, daß eine positive Verbundenheit und gegenseitige Verpflichtung der einzelnen Kirchen nicht zu den konstitutiven Merkmalen, sondern nur zu den Folgen gerechnet wird. Der Überschritt in eine positive Zuordnung wird nicht getan. Zwischen einer Einheitskirche im römischen Stil oder einer Bekenntnisunion mit durchgängiger Organisation auf der einen, und einer uneingeschränkten Souveränität jeder zufällig entstandenen Partikularkirche auf der anderen Seite gibt es keinerlei Vermittlung oder Zwischenbildung. Dies erfüllt jedoch nicht den Begriff der Kirchengemeinschaft.

Historisch und rechtssoziologisch ist unschwer zu erkennen, wie diese Form entstanden ist. Die römische Kirche, von der sich die reformatorischen Kirchen trennten, verstand sich als Einheitskirche und zugleich als singuläre „societas perfecta”, als eine soziale Form, die alle ihre wesensnotwendigen Kräfte und Möglichkeiten in sich berge. So wie sich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und die ideelle Einheit der Christenheit in souveräne Partikularstaaten aufgelöst hat, so hat auch die Universalkirche sich in zahlreiche souveräne Teilkirchen aufgelöst, die die volle Unabhängigkeit und den Besitz aller für sie notwendigen Möglichkeiten und Rechte in Anspruch nahmen. Eben dieser Prozeß aber setzt die Ausbildung eines Subjektbegriffes voraus, wie er sich in dem beschriebenen societas-Begriff ausgeformt hat. Dem entspricht auch ein Person-Begriff, der den Einzelnen als eine von konstitutiven Bindungen unabhängige, in sich vollständige und abgeschlossene Größe versteht, die vermöge dieser Qualität dann redlich bereit ist, die als gegeben und verpflichtend eingesehenen Forderungen mit aufrichtigen Guten Willen zu erfüllen. Der existentielle und konstitutionelle Konnex mit anderen wird ersetzt durch die ethische Verpflichtung als Folgeerscheinung.

So ist die Vorstellung souveräner Teilkirchen, die sich unter Vorbehalt ihrer Souveränität frei verbinden, etwas völlig anderes als die altkirchliche Föderation. Die Bedingung ihrer Entstehung ist der Durchgang durch die oben kurz beschriebenen historischen Formen. Das gleiche Subjektverständnis, welches sich im souveränen modernen Nationalstaat, wie im bürgerlichen Rechtsdenken ausgeprägt hat, ist die Voraussetzung für die Bildung dieses Begriffs von Kirchengemeinschaft. Es kann also keine Rede davon sein, daß dieser Begriff historisch neutral, rein sachgerecht oder womöglich biblisch sei. Das „satis est” von CA VII wird regelmäßig unter dem Gesichtspunkt erörtert, ob bestimmte Strukturen für die Kirche wesentlich sind. Nicht dagegen wird erkannt, daß mit diesem Satz ein grundsätzlicher Partikularismus legitimiert wird, der dem beschriebenen Subjektverständnis entspricht

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und Raum gibt. Der Gedanke des Rückgangs auf die Quellen und der subjektive Schriftgehorsam befreit nicht von den Bedingungen der eigenen geschichtlichen Existenz, sondern läßt diese nur übersehen. Die deutliche Formschwäche dieser Konzeption stimmt völlig überein mit der Verkennung, daß auch solche, viele Fragen freilassende Gestaltungen kontingent-positive Formen darstellen. Ob sich übrigens die gegenwärtigen deutschen Landeskirchen überhaupt mit Recht als „Kirchen” bezeichnen und verstehen, ist ebensowenig selbstverständlich und wäre zu prüfen.

Fragt man nun, wie jene (historische) Vorstellung von Kirchengemeinschaft sich zum Schriftbefund verhält, so gibt es zwei Deutungsmöglichkeiten: Entweder kann man sagen, daß die im Neuen Testament geschilderten Verhältnisse des Anfangs für das Problem der Kirchengemeinschaft nichts Schlüssiges hergeben, weil die Unterschiedlichkeit größerer Gemeindeverbände unter den Bedingungen einer länger dauernden Geschichte für sie noch nicht als Problem bestand. Oder aber man muß sagen, daß die oben im Umriß dargestellte Kirchengemeinschaft im Sinne der alten Kirche den urkirchlichen Verhältnissen zwar nicht gleich, aber doch relativ sehr nahe verwandt war. So urteilen insbesondere Troeltsch und Sohm. Hinzugekommen ist vor allem die Profilierung der institutionellen Formen.

Die hier gekennzeichnete Lage muß heute in den ökumenischen Zusammenhang gestellt werden. Nun hat die römische Kirche auf dem II. Vatikanischen Konzil einen für unser Problem wichtigen Schritt getan, indem sie die Mehrzahl und Vielfalt von Kirchen in der Kirche ausdrücklich anerkannte. Sie stellt so selbst in sich eine Art Kirchengemeinschaft dar. Dieser Grundsatz ist auch kirchenrechtlich in den Entwurf einer Lex Ecclesiae Fundamentalis aufgenommen worden. Sie hat also einen entscheidenden Schritt von der Einheitskirche fort unternommen. Während aber die Konzilsdokumente von den getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften sprechen, weigert sich die katholische Kirche nach wie vor, auch im Kodex-Entwurf, die Existenz dieser Kirchen und sogenannten kirchlichen Gemeinschaften im Rechtssinne anzuerkennen. Auch hier besteht zwischen der vollen Kirchengemeinschaft und dem Nebeneinander souveräner Teil- und Einzelkirchen keinerlei gedankliche Vermittlung. Im Gegensatz dazu ist im Heidelberger Alternativentwurf zur Lex Ecclesiae Fundamentalis mit entsprechender Begründung eine der gegebenen Sachlage entsprechende relative Anerkennung kirchlicher Gemeinschaft de iure gefordert worden 20. Dieser Gedanke hat auf dem Internationalen Kanonistischen Kongreß der Universität Rom im Januar 1970 weitgehende Zustimmung gefunden 21.

Die reformatorischen Kirchen haben nun von der römischen und der orthodoxen Kirche von jeher die Anerkennung als Kirche, auch ihrer Ämter und Sakramente, vergeblich gefordert. Eine Anerkennung besteht auf Grund

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der Ketzertaufentscheidung der alten Kirche lediglich für die trinitarische Taufe — dieser Satz des allgemeinen Kirchenrechts stellt die entscheidende Grundlage ökumenischer Gemeinsamkeit dar. Dagegen haben sich die reformatorischen Kirchen niemals darüber geäußert, in welchem Sinne sie im übrigen Ämter und Sakramente der vorreformatorischen Kirchen anzuerkennen und zu qualifizieren bereit sind 22. Sodann bestehen zwischen ihnen trennende Formulierungen und Aussagen, die mindestens in dem gleichen Grunde unhaltbar geworden sind wie die in der Konkordie behandelten. Karl Barth hat in seiner letzten Schrift „Ad limina apostolorum” mit Ironie gegen diese Lage ausgesprochen, daß der Papst „nicht der Antichrist” ist. Der gegenwärtige Stand der Auseinandersetzung in der Sakramentenlehre, der fortdauernde Gegensatz in der Opferfrage (deren kirchentrennender Charakter hier und da, insbesondere in theologischen Erklärungen amerikanischer Kirchen heute in Frage gestellt wird), wird sicherlich durch die Kennzeichnung der Messe als „abscheuliche Abgötterei” nicht zutreffend wiedergegeben. Die reformatorischen Kirchen haben bisher gefordert, ohne bereit zu sein, selbst zu geben. Da eine volle Kirchengemeinschaft unzweifelhaft nach dem jetzigen Stande nicht erreichbar ist, stell sich auch hier erneut die Frage einer expliziten und verbindlichen relativen Anerkennung.

Die Ökumene besteht wesentlich auf der Erfahrung des Widerstreites von Geist und Wahrheitserkenntnis. Die einzelnen Konfessionskirchen erheben jeweils den Anspruch, die wesentlichen Wahrheitselemente des Evangeliums entgegen verkürzenden oder entstellenden Veränderungen bewahrt oder wiedergewonnen zu haben. Sie können nicht leugnen, daß in den anderen, durch die Wahrheitsfrage von ihnen getrennten Kirchen auch wahre Christen und echte Wirkungen des Geistes existieren. Daraus resultiert die Erfahrung, daß der Geist nicht in unserem Sinne zur unwidersprüchlichen Wahrheitserkenntnis und einer entsprechenden Aussage führt, die Wahrheitserkenntnis nach bestem Vermögen und im Schriftgehorsam aber ebensowenig mit dem Geiste identische ist. Geist und Wahrheitserkenntnis lassen sich nicht aufeinander reduzieren. Diesem Widerspruch sind die Kirchen bisher dadurch entgangen, daß sie in den anderen Kirchen jeweils einzelne wahre Christen anerkennen, die geschichtliche Existenz dieser Kirchen aber in Frage stellen. In diesem Sinne erkennt auch die römische Kirche einzelne Christen als Christen an, nimmt aber im übrigen zu der geschichtlichen Existenz der getrennten Kirchen nicht verbindlich Stellung. Indem die reformatorischen Kirchen in der Konkordie unter sich Kirchengemeinschaft zu verwirklichen trachten, versuchen sie ebenfalls, dem so gestellten Problem zu entgehen. In Wahrheit kann die Existenz des Einzelnen, den wir anzuerkennen genötigt sind, von der geschichtlichen Existenz der

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Kirche nicht getrennt werden, aus der er hervorgegangen ist. Für das Problem der Kirchengemeinschaft bedeutet diese Einsicht jedoch, daß eine allein von dem ausweisbaren Lehrbestande und den beschreibbaren Vollzügen her sich verstehende Kirchengemeinschaft eine unvollständige Beschreibung des ökumenischen Problems darstellt. Vielmehr sind die Kirchen genötigt, die widersprüchliche Dualität von Geist und Wahrheitserkenntnis dadurch anzuerkennen, daß sie die anderen mit der durch die Wahrheitsfrage bedingten Begrenzung und Relativität ebenfalls anerkennen. Diese Frage kann durch eine Teilung des Problems, durch die Reduzierung auf teilweise Gemeinsamkeiten und teilweise Gegensätze nicht zulänglich gelöst werden. Indem man erklärt, daß das Fortleben des Geistes in der Kirche offenbar von den institutionellen Formen unabhängig sei, die anderwärts für wesentlich gehalten werden, verkennt man, daß die geschichtlichen Lebensformen in sich nicht teilbar sind. Die unterschiedlichen Formen können nur je in sich mit ihrem pneumatischen und ihrem Wahrheitsgehalt als Ganzes begriffen werden. Ein Begriff der Kirchengemeinschaft, der allein von der Übereinstimmung in Verkündigung und Sakramentsverwaltung ausgeht, postuliert die Einheit allein von der Übereinstimmung der Wahrheitserkenntnis und widerspricht damit gerade dem pneumatischen Erfahrungen, auf denen die ökumenische Bewegung beruht. Entscheidend für die hier berührten Fragen ist gleichlaufend in allen Punkten, daß die Ekklesiologie des Alles oder Nichts, der zweiwertigen Logik durch einen wirklichen Fortschritt und Überschritt überwunden wird. Der Ertrag der Konkordie würde im Bereich der Konfessionspolitik verbleiben und dem Anspruch auf Ökumenizität widersprechen, wenn nicht drei Forderungen in sie einbezogen würden:

1. Die Anerkennung, daß die bisher als kirchentrennend verstandenen Gegensätze der lutherischen und reformierten Kirche einen positiven, sich wechselseitig ergänzenden Sinn besitzen, der, wenn seine Ausschließlichkeit überwunden wird, erst recht einen für das Leben beider Kirchen wesentlichen Sinn erlangen kann, der auf alle Fälle aber die uneingeschränkte Achtung der unterschiedlichen Positionen und Lebensformen einschließt.

2. Die Anerkennung, daß der Begriff der Kirchengemeinschaft eine positive Verpflichtung aller an ihr teilhabenden Partikularkirchen zu gegenseitiger Unterstützung, Hilfe und zur gemeinsamen Fortentwicklung der ihnen verliehenen besonderen Gaben und Antriebe bedeutet.

3. Eine Bestimmung des Verhältnisses zu denjenigen Kirchen, die der engeren Gemeinschaft der reformatorischen Kirchen nicht angehören, die ihr aber

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durch ökumenische Gemeinsamkeit und Zielsetzung unverfügbar verbunden sind.

Die Kirche ist kein Unternehmen, das regelmäßig Inventur macht, die Ladenhüter abschreibt und weiterwirtschaftet. Vermöge der Dynamik des Wortes Gottes hat die Kirche immer nur die Wahl, verantwortlich voranzugehen oder hinter ihrer Aufgabe zurückzubleiben.

 

III. Die reformatorische Kriterien

Zu Ziff. 2. Die Verwendung der in Ziff. 2 genannten sogenannten reformatorischen Kriterien für Kirchengemeinschaft unterliegt Bedenken. Diese Formulierung vermeidet es einerseits, das abstrakte und zugleich partikularistisch wirkende „satis” entgegen dem reformatorischen Stil als Spitzensatz voranzustellen, sondern nimmt den Hauptgedanken von CA VII, 2 und Institutio IV, 1, 9 in einem eigenen Satz auf. Andererseits löst es ihn aus dem zur Auslegung wesentlichen Zusammenhang. Die Voranstellung des in Artikel VII, 2 der CA formulierten Grundsatzes bedeutet einen sinnentstellenden Gebrauch des geschichtlichen Textes.

Der Satz CA VII, 3, hat im Gefüge der CA einen bestimmten Stellenwert. Gerade die Anfangsartikel der CA sind bekanntlich von Melanchthon kunstvoll mit außerordentlicher Exaktheit formuliert und ineinandergefügt worden. Ohne die Berücksichtigung dieses bewußt aufgebauten Gefüges verändert aber jeder einzelne Satz seine Bedeutung. Dies muß auch hier behauptet werden.

CA IV enthält den Zentral- und Hauptartikel von der Rechtfertigung. Der anschließende Artikel CA VDe ministerio ecclesiastico” ist unmittelbar auf IV bezogen („ut hanc fidem consequamur...”). Es ergibt sich daraus, daß zwischen Artikel IV und V ein zirkuläres Verhältnis besteht, in dem es grundsätzlich verfehlt ist, von der Priorität des einen oder des anderen Gedankens zu sprechen. Es ist wie mit der Henne und dem Ei. Auch die Tatsache, daß V auf IV folgt, ist nicht entscheidend, da unvermeidlich ein Gedanke hinter dem anderen zum Ausdruck kommen muß. Die hier gewählte Anordnung kehrt ausdrücklich noch einmal in Artikel CA VIIDe ecclesia” wieder. Hier ist eher in einer Umkehrung der Folge das personale Element der una sancta ecclesia vorangestellt, die als congregatio sanctorum definiert wird „in qua ... pure docetur” usw. Erst hinter diesem Satz kommt die These, die der Konkordie vorangestellt ist. Auch in Artikel VII, 1, ist wie in der Relation zwischen Artikel IV und V das personale und das sachliche Element konstruktiv verbunden. Die Beziehung von Rechtfertigung und Amt in Artikel IV und V in Artikel VII ist in eine Korrelation zwischen ecclesia sive congregatio und Ausrichtung des Wortes abgewandelt.

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Deutlich ist hier einerseits eine Verselbständigung der Amtsstrukturen abgelehnt, etwa in dem Sinne, daß ihre Legitimität oder Vollmacht die Bedingung der Möglichkeit der Ausrichtung des Wortes Gottes sei. Gleichrangig ist aber auch die Vorstellung ausgeschlossen, daß diese Ausrichtung ohne geordnete personale Vermittlung in rein funktionaler Austauschbarkeit und Beliebigkeit geschehen könne. Der Übernahme eines rein funktionalen Verständnisses steht schon entgegen, daß für die Reformation sozialgeschichtlich eine Funktionalisierung im heutigen Verstande gar nicht in Sicht war. Es handelt sich um einen ebenso grundlegenden wie systematischen Zusammenhang beider Seiten, des Personalen und des Inhaltlichen, deren jeweilige Isolierung hier vermieden werden soll und vermieden worden ist. Es reicht daher auch nicht aus, additiv eine Summe von signa ecclesiae festzuhalten, auf deren Fehlen mit Recht die Erklärung der VELKD zu den Thesen hinweist.

Die Verweisung darauf, daß die Kirche allein auf Jesus Christus gegründet sei, hat offenbar die Reformatoren an diesen bestimmten Aussagen nicht gehindert. Auch die reformatorischen Kirchen haben unverfügbare Grundelemente der Kirchenstruktur behauptet, ohne daarin einen Widerspruch zu ihrem Auftragscharakter zu sehen. Andererseits werden alle Kirchen für sich in Anspruch nehmen, daß sie allein auf Jesus Christus gegründet seien. Der eigentliche Streitpunkt kann so nicht bezeichnet werden.

Die Konkordie stellt mehrere Aufgaben. Sie muß zunächst die objektiv-historischen Gemeinsamkeiten ebenso klarstellen wie die genuinen Unterschiede.

Als zweite Aufgabe stellt sich das Nebeneinander zu formulierender Gemeinsamkeiten und der Ausräumung der historischen Gegensätze in dem hier möglichen und notwendigen Maß. Was bei dem historischen Tatbestand ex tunc darzustellen war, ist jetzt ex nunc zu fassen. Darin liegt der wesentliche Unterschied: damals Gegensatz, heute Verständigung wenigstens insoweit, daß die Ausschließungswirkung aufgehoben wird. Aber in diesem zweiten Durchgang kann das eine nicht durch das andere ersetzt werden. In der Formulierung der Gemeinsamkeiten kann das Element der — jetzt nicht mehr trennenden — Unterschiede und Differenzierungen nicht einfach fehlen. Die Verweisung auf die Erörterung dieser Unterschiede in den speziellen Aussagen über die Kontroverspunkte ersetzt nicht ihre Verarbeitung im Bereich der Gemeinsamkeiten.

Je länger man sich mit dem Text der Konkordie befaßt, desto mehr wird man auf das Methodenproblem ihres Aufbaus und ihrer Abgrenzung zugeführt. Es steht zu befürchten, daß gerade diese Methodenfrage nicht hinreichend bedacht worden ist.

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Dieses Verfahren beruht auf methodischen Vorentscheidungen, welche ihrerseits nicht in den Bereich der Reflexion einbezogen worden sind. Die theologischen Aussagen sind hier durchgängig einer zweiwertigen Logik unterworfen worden, in welcher es allein die Alternative zwischen Wahrheit und Irrtum gibt. Angewendet auf das Problem kirchentrennender Lehren bedeutet dies, daß die bestrittenen Aussagen entweder entscheidende und damit kirchentrennende oder sekundäre und dann erträgliche, nichttrennende sind. Eine andere Verhältnisbestimmung zwischen unterschiedlichen Aussagen kommt nicht in Betracht.

Durch diese Denkform wird der Gesamtbestand evangelischer Wahrheit und christliche Gestaltung in zwei Teile auseinandergerissen. Auf der einen Seite gibt es heilsbedeutsame Prinzipalsätze. Diese müssen um so kritischer formuliert, sorgfältig begrenzt und von allen kontingenten Zufälligkeiten und historischen Bedingungen gereinigt werden. Sie werden immer erneut durch diese Reinigung eingegrenzt und zugleich ausgelaugt. Aus dem „Wie” wird schließlich nur noch ein formales „Daß”. Die übrigen Erkenntnisse und Aussagen dagegen werden durch diese Gegenüberstellung tendenziell entwertet und trotz ihrer signifikanten Bedeutung eines existentiellen Gewichts entkleidet und beiseitegestellt. Diese Methoden bedeuten für die christliche Wahrheit eine Art Knochenmühle, in der bei hinreichender Konsequenz nur noch ein punktuelles Verständnis des Evangeliums übrigbleibt. Der Fundamentalbestand wird zum genügenden Minimalbestand.

Nun stellt sich jedoch gerade die Wahrheit des Evangeliums in dialektischen, paradoxalen, antinomischen und nach neuerer Einsicht womöglich sogar komplementären Seins- und Denkformen dar. Das Reich Gottes ist in der Person Christi schon erschienen, aber es steht noch aus; der Christ ist in der Welt für die Welt, aber nicht von der Welt. Aussagen dieser Art durchziehen die biblische Theologie. Für die darin beschlossenen Spannungen und positiven Widersprüche jedoch bietet die zweiwertige Logik keinen Raum. Der dialektische Charakter der christlichen Wahrheit hat es von jeher verschiedenen Entwürfen der Theologie ermöglicht, sozusagen das Standbein auf der einen, das Spielbein auf der anderen Seite zu haben, ohne das Ganze der gemeinten Wahrheit dadurch zu verfehlen oder preiszugeben, ohne häretisch zu werden. Es ist also positive Möglichkeit zu bejahen, daß das Verständnis und der Lebensvollzug christlicher Wahrheit komplementäre Formen annimmt, deren Gehalt nicht gleichzeitig vorgestellt, ausgesagt und verwirklicht werden kann. So ist auch zu fragen, ob die gegenwärtig intendierte Überwindung der kirchentrennenden Grundsätze auf dem mehr oder minder bewußten Ausschluß oder mindestens der Vernachlässigung dieser Tatbestände und Denkformen beruht. Im Gegenteil muß behauptet werden, daß der Gegensatz der beiden reformatorischen Konfessionen

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gerade auf solchen eingestifteten positiven Gegensätzen beruht. So hat die reformierte Kirche mit einem scharfen Sonderungsbewußtsein von jeher die Tendenz der Minderheitskirche gehabt, deren strenge Forderung der Heiligung stets nur unzulänglich von allgemeiner Wirksamkeit sein konnte. Umgekehrt hat das Luthertum von Anfang an einen sehr umfassenden, alle Lebensbereiche und Lebensbedingungen positiv einschließenden Charakter gehabt. Die hier liegenden Gegensätze können nicht nur, wie es in dem Entwurf geschehen ist, auf gegenläufige Tendenzen in den sozial-ethischen Grundkonzeptionen, insbesondere im Bereich der Regimentenlehre, begrenzt werden. Sie haben ihren Grund in dem theologischen Gesamtverständnis und haben sich damals in hervorragendem Maße gerade in der Sakramentenlehre, aber auch in den unterschiedlichen Formen der Kirchenverfassung niedergeschlagen.

 

IV. Die geschichtlichen Grundlagen

Ziff. 3 ff. befassen sich mit den geschichtlichen Grundlagen und dem Weg zur Gemeinschaft. Es handelt sich hier weder um ein historisches noch um ein lehrhaftes Interesse, sondern um die notwendige Aufweisung der Grundlagen, auf denen die Erklärung beruht. Hier müssen demnach objektiv-geschichtlich ebenso die ursprünglichen Gemeinsamkeiten wie die im Ansatz vorhandenen Unterschiede und Gegensätze dargestellt werden. Diese Aufgabe ist hier nicht zulänglich gelöst.

1. Ziff. 4 behauptet, daß die Reformatoren durch das Eintreten für die neuerfaßte Wahrheit des Evangeliums in Gegensatz zur „kirchlichen Überlieferung jener Zeit” geraten seien. Dieser Satz schildert die Reformation wie eine pietistische Erweckungsbewegung, die vermöge ihrer neuen Lebendigkeit in Konflikt mit der erstarrten Frömmigkeit ihrer Zeit gekommen sei. Tatsächlich hat es sich um einen grundlegenden, existentiell erfahrenen Gegensatz des Glaubens und der Theologie gehandelt. Die dazu Anlaß gebenden Gegensätze gehörten nicht jener Zeit allein an. Sie haben sich erkennbar mindestens seit dem 12. Jahrhundert herausgebildet; vor dieser Zeit wäre schwerlich eine solche frontale Gegenüberstellung möglich gewesen. Sie haben sich auch nicht auf jene Zeit beschränkt, sondern in Gestalt des tridentinischen und vatikanischen Katholizismus fortgesetzt. Sie sind aufgetreten, obwohl, wie zu Recht erwähnt, beide Teile unverändert auf den altkirchlichen Symbolen standen und stehen. Der zentrale Gegensatz beruht darauf, daß die Reformatoren der Kirche ihrer Zeit und ihrem in Jahrhunderten erwachsenen Lehrsystem eine Verletzung des 1. Gebotes

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vorwarfen, ihnen vorhielten, daß sie der Alleinigkeit Gottes und seines Wortes menschliche Möglichkeiten kultischer und ethischer Art zur Seite stellten. Allein hieraus haben sie die Kraft geschöpft, dem großen System des Katholizismus mit historischer Wirkung zu widerstehen. Diese Form des Ausdrucks ist am ehesten aus der Absicht zu erklären, eine hier nicht anstehende Kontroverse zu vermeiden und durch positive Umschreibung des Gegensatzes kein Hindernis für eine ökumenische Verständigung zu schaffen. Daher die Wahl eines zugleich wertneutralen wie passivischen Ausdrucks.

Die Erfahrung mit der römisch-katholischen Theologie läßt diese Besorgnis unbegründet erscheinen. Vor allem aber sind die reformatorischen Kirchen auch in  diesem Augenblick selbst gefragt, worin sie die fortbestehenden Gründe der Kirchenspaltung heute sehen. Denn sie sind es gewesen, die den überwiegenden Teil kirchlicher Tradition von der Frühkirche an in Frage gestellt und bestritten haben.

Die gegenwärtigen reformatorischen Kirchen können diese Grundlage nicht verleugnen, durch die sie zugleich zu der ständigen Prüfung genötigt sind, ob jener grundlegende Vorwurf noch zu Recht besteht. Karl Barth hat diesem Tatbestand durch sein berühmtes Wort Ausdruck verliehen, er halte die analogia entis für eine Erfindung des Teufels, erlaube sich aber, alle übrigen Argumente für die Trennung von der katholischen Kirche für belanglos zu halten. Eine Verleugnung und Abschwächung dieses zentralen und fundamentalen Gegensatzes würde den reformatorischen Kirchen ihren geschichtlichen Rang nehmen und sie zu Sekten stempeln. Die Radikalität der Glaubens- und Wahrheitsfrage richtet sich gegen beide Seiten.

Wenn wesentliche dogmatische Unterschiede zwischen beiden reformatorischen Konfessionen heute überholt sind, so trifft dies auch für zahlreiche Kontroversen zu, die für die Entstehung der Reformation selbst wesentlich gewesen sind. Es ist vielleicht verhältnismäßig leicht, das durchschnittliche theologische Selbstverständnis der gegenwärtigen reformatorischen Theologie für die Beteiligten unanstößig zu formulieren. Es sind jedoch Aussagen unbrauchbar, deren Unzulänglichkeit für den ökumenischen Theologen am Tage liegt. Der Bestand der historischen Streitfragen ist mit großer Kompetenz durch zwei Jahrzehnte in der von Bischof Stählin und Kardinal Jäger geleiteten Arbeitsgemeinschaft durchverhandelt worden. Das paradoxale Ergebnis hat Edmund Schlink in einem umfassenden Bericht in „Kerygma und Dogma” dargestellt. Es hat sich herausgestellt, daß in nahezu allen dogmatischen Hauptstreitpunkten die Fronten heute quer durch beide Konfessionen gehen, daß aber durch dieses Ergebnis die Trennung der Konfessionen in keiner Weise vermindert worden ist. Dies deutet darauf hin, daß die Gründe tiefer liegen, als in den Einzelfragen aufscheint, daß zugleich

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aber die Ekklesiologie eine wesentlich höhere Bedeutung hat, als man ihr bisher unter der Annahme zugebilligt hat, sie sei wesentlich eine Folgeerscheinung der dogmatischen Grundkonzeptionen.

2. Die ursprünglichen Unterschiede

Ebenso unzulänglich ist die Umschreibung der ursprünglichen Unterschiede zwischen den reformatorischen Konfessionen. Die angesprochenen „wesentlichen Unterschiede in der Art des theologischen Denkens und kirchlichen Handelns” besagen inhaltlich nichts. Ihre einzige inhaltliche Qualifikation findet sich unter 4/2 (5?), wo von „geschichtlich bedingten Denkformen” die Rede ist. Die großen Reformatoren haben es vermocht, das Ganze des christlichen Glaubens in neuer Weise zur Darstellung zu bringen, haben jedoch ihre Entwürfe von verschiedenen Zentren aus geordnet. Infolge dieser unterschiedlichen Zentrierung haben sich diese Entwürfe überschnitten, so daß einer weitreichenden Gemeinsamkeit auch ebenso bestimmte Unterschiede gegenüberstanden. Man kann hier mit Ziffer 3 von „Aspekten” sprechen. Jedoch handelt es sich um zentrale Aspekte, von denen aus jeweils das Ganze in einen anderen Zusammenhang tritt.

Es mag sein, daß wir aus dem geschichtlichen Abstande heute deutlicher sehen, was den reformatorischen Kirchen gemeinsam gewesen ist. Tatsächlich ist die Trennung der beiden großen Konfessionen ungeachtet der schmerzhaften Schärfe der Gegensätze und der dogmatischen Verwerfung bestimmter Glaubensartikel niemals eine vollständige gewesen. In großen Zusammenhängen, wie im Alltagsleben der Kirchen, ist das Bewußtsein der Gemeinsamkeit nie in dem Grade geschwunden, wie es die rabies theologorum im dogmatischen Streit angenommen hat. Gerade der Charakter als Familienstreit hat die Gegensätze belastet.

Lange Zeiten hindurch sind die Gegensätze auch als solche theologischer „Schulen” bezeichnet und heruntergespielt worden. Nicht allein die positive Erkenntnis der Gemeinsamkeit, sondern zugleich auch ein Zurücktreten des Verständnisses für die in der Dogmatik schaft herausgearbeiteten denkerischen Probleme ist für die Bereitschaft bestimmend, heute einer Vereinigung näherzutreten. Richtig ist, daß die theologische Arbeit in der Neuzeit in vielen Punkten über die ältere Begrifflichkeit hinausgeführt und eine weitere und offenere Auslegung der Streitfragen ermöglicht hat. Der Grad der Stringenz, mit dem exklusive theologische Aussagen gemacht werden können, wird aus guten Gründen heute als sehr viel geringer angesehen. Die gleiche Entwicklung ist auch in den modernen katholischen Theologie zu verzeichnen. Auch dieser Tatbestand ist ambivalent. Er eröffnet

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fruchtbare Möglichkeiten der Verständigung; er bringt aber auch die Gefahr mit sich, wesentliche Inhalte, die in der Kontroverse festgehalten wurden, nunmehr achtlos beiseite zu lassen.

So gewiß wir nun seit dem 19. Jahrhundert vermögen, die historische Entstehung bestimmter Positionen und Begriffe zu erkennen, und sie von da aus neu zu werten, würde die ausschließliche Verweisung auf diese Geschichtsbedingtheit für uns jedes zulängliche Urteil ausschließen. Wenn wir mit intellektueller Redlichkeit verfahren, so müßten wir uns darauf beschränken zu sagen, daß die „geschichtlich bedingten” Denkformen der Reformatoren, uns einsichtig, sie gehindert haben, sich zu einigen, während unsere eigenen geschichtlich bedingten Denkformen, aus denen wir uns selbst nicht zu lösen vermögen, es uns angeblich ermöglichen, uns zu verständigen. Ob die Reformatoren oder wir darin recht haben, muß, so gesehen, unentscheidbar bleiben.

Dieser Fehlschluß beruht jedoch darauf, daß die wesentliche Gegensätze hier eben nicht in der Sache selbst, sondern allein in der relativen Zufälligkeit und Bedingtheit ihrer Auslegung gesehen werden. Es bleibt bei diesen verständnisvollen Darlegungen das beschämende Ergebnis, daß den Gegensätzen ein zureichender Grund in der Wahrheit des Evangeliums selbst letzten Endes doch nicht zugebilligt wird. Die Relativierung der Dogmengeschichte ist die Konsequenz eines liberalen Protestantismus. Für ihn kann die Kirche zoologisch wie ein Chamäleon beschrieben werden, das die jeweilige Bodenfarbe der Zeit annehmen imstande ist, über dessen sonstige Merkmale aber nichts Schlüssiges ausgesagt werden kann. Das Wesentliche des Evangeliums muß, so verstanden, weil zulänglich nicht darstellbar, als unerschöpflicher Quell hinter jeder geschichtlichen Bildung verdeckt bleiben. Im Gegenteil kann dem Rang und der Bedeutung jener ursprünglichen Unterschiede nur dann Gerechtigkeit widerfahren, wenn wir sie als die Folge der Mehrschichtigkeit der evangelischen Wahrheit und ihrer unseren theologischen Ausdruck übersteigenden Fülle begreifen. Gleiche Fragen, etwa die nach der Präsenz Christi, welche von der württembergischen Erklärung angeführt worden ist, können von verschiedenen Seiten betrachtet und unterschiedlich beantwortet werden, ohne daß daraus bereits notwendig eine Ausschließung des Gegenstandpunktes zu folgern wäre.

3. Das systematisch-theologische Verhältnis der beiden Konfessionen

Man kann nun versuchen, den Gegensatz der beiden großen theologischen Entwürfe Luthers und Calvins so zu systematisieren, daß man ihr Verhältnis als ein dialektisches oder komplementäres definiert. Dies hat den heuristischen Vorteil, daß man die Fragen nicht von vornherein als einzelne

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aus ihrem systematischen Gesamtzusammenhange entläßt. Man bringt damit auch in Erinnerung, daß hier der eine dem anderen durch die Aufweisung seiner gedanklichen Grenzen einen fruchtbaren und notwendigen Dienst zu tun imstande wäre. Wer, wie die Erklärung der VELKD, etwa ein Komplementaritätsverhältnis nicht für erweislich hält, sollte sich trotzdem zu der Anerkennung bereitfinden, daß in den Positionen und Aspekten des anderen Teils Elemente der christlichen Wahrheit enthalten sind, die auch für ihn bedeutsam und zugleich im Sinne der Öffnung und Fülle Bedeutung haben.

Entgegen der erwähnten Beurteilung durch die VELKD und ähnlichen Äußerungen in einer früheren Vorstudie der westfälischen Kirche habe ich in meinen Gutachten zur Vorkonkordie sehr viel bestimmter ein dialektisches Verhältnis beider Konfessionen vertreten und zur Erörterung gestellt. Diese Frage tritt sehr deutlich in  den Grundansätzen der Sozialethik hervor. Sie machen das Gewicht der Ursprungsunterschiede auch heute noch deutlich. Der wechselseitige Vorwurf von Schwärmerei und Selbsterlösung auf der einen, des Quietismus und selbstverschuldeter Abhängigkeit auf der anderen Seite sind nicht überwunden und ausgeräumt. Nach wie vor besteht ein harter und praktisch weittragender Gegensatz zwischen der Zwei-Reiche-Lehre und dem Gedanken der Königsherrschaft Christi. Die Texte lassen diese Tatsache nicht unerwähnt. Es ist auch richtig, daß dieser Gegensatz für sich genommen sekundär und als solcher nicht kirchentrennend ist, wenngleich auf Grund dieses Tatbestandes häufig das Zusammenwirken in praktischen Fragen in hohem Grade erschwert ist. Aber eben dieser Gegensatz verweist auf unterschiedliche dogmatische Grundsätze zurück. Die Synode der EKD hat 1949 eine rechtstheologische Studienkommission eingesetzt, deren Arbeiten sich später in der Institutionen-Kommission der „Evangelischen Studiengemeinschaft” fortgesetzt haben. In dieser Arbeit, deren Verlauf hier nicht dargestellt werden kann und muß, kamen zentrale theologische Fragen zum Austrag, die nicht in ein sekundäres Feld der theologischen Ethik verwiesen werden können. Es gehört aber zu den einverständlichen Erkenntnissen der beteiligten Theologen, jenseits bedeutender konfessioneller und Richtungsunterschiede, daß die hier anstehenden Fragen weder allein auf Grund der Formel „Gesetz und Evangelium” noch der Gegenformel Karl Barths „Evangelium und Gesetz” betrachtet werden können. Nur beide zusammen werden dem Tatbestand gerecht. Es erscheint auch systematisch unzulässig, in der hier geübten Form Dogmatik und Ethik zu scheiden. Diese Erkenntnis verweist erneut in einem bedeutenden systematischen Zusammenhang auf die wechselseitige Ergänzung und Angewiesenheit der beiden Positionen. Mit einer Ausklammerung dieser signifikanten Gegensätze ist es also nicht getan.

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4. Die gemeinsamen Grundlagen

Der Absatz II/Ziff. 6 ff. unternimmt es, das gemeinsame Verständnis des Evangeliums zu umschreiben. Es muß angesichts der unbestreitbaren Tatsachen der Dogmengeschichte als erstaunlich bezeichnet werden, daß beide Konfessionen die Rechtfertigung als primär und zentral verstanden wissen wollen. Geschichtlich ist dies zweifellos nicht der Fall gewesen.

Diese Aussage ist im Zusammenhang zu sehen mit den Aussagen unter III/24-26, wo über die Prädestination verhandelt wird. Hier wird versucht, den Gegensatz zwischen der entscheidenden Annahme des verkündigten Evangeliums und der Vorherbestimmung zum Heil gedanklich aufzulösen. Es ist zuzugestehen, daß gerade die Lehre von der Prädestination dunkel und schwierig ist und sich heute in lebhafter dogmatischer Bewegung, sogar in Richtung auf eine in der gesamten theologischen Tradition abgelehnten Lehre von der apokathastasis panton befindet. Wenn die unter Ziff. 25 formulierten Gedanken diesem denkerischen Gegensatz seine ausschließliche Schärfe zu nehmen geeignet sind, so ist doch die Frage, ob sich seine Bedeutung in diesem Horizont erschöpft. Die ekklesiologischen und ethischen Folgen sind äußerst weitreichend gewesen. Gerade von hier aus sind die Akzente in der Sakramentenlehre, in der Ekklesiologie und im Kirchenrecht gesetzt worden. Andererseits bringt die Erwählungslehre mit der ihr verwandten Bundestheologie ein universalistisches Element ein, welches durch die Rechtfertigungslehre im normalen Verstande weder festgehalten noch ausgedrückt wird.

In der Zwischenzeit hat der „Reformierte Bund” in einer Erklärung geltend gemacht, daß der Text der Konkordie einseitig lutherisch sei. Diese Erklärung ist freilich mehrdeutig. So sehr sie objektiv richtig ist, fragt sich, ob hier mehr als ein konfessioneller Protest und die Forderung nach einer Art Proporz erhoben wird. Die nicht näher begründete Erklärung läßt nicht erkennen, ob der Zusammenhang und das Verhältnis beider Seiten und ihrer Hauptpositionen in einer produktiven Beziehung verstanden und geltend gemacht werden soll.

Das oben bezeichnete Problem ist jedenfalls verfehlt worden. Denn die hier formulierten Gemeinsamkeiten sind eine rein lutherische Darlegung des Lehrbestandes, die gerade noch so gefaßt ist, daß sie nicht verbal den Grundansichten des Calvinismus widerspricht. Aber eine wirkliche Integration beider ist nicht einmal versucht worden. So wird den Calvinisten zugemutet, die Aufhebung der Verwerfungen als einen Ersatz für die Einbeziehung ihrer spezifischen Tradition zu nehmen. Dies ist aber nicht nur sachlich verfehlt, sondern auch methodisch unzulänglich. Wenn dies der Preis für die Verständigung wäre, so wären zwar die reformatorischen Kirchen die Last

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der Verwerfungen los, aber um einen wesentlichen Teil ihrer theologischen Tradition ärmer geworden. Der Weg, die Unterschiede als legitime Unterschiede des Interesses an bestimmten Aspekten oder Seiten darzustellen, reicht nicht aus, um die Fülle der Gemeinsamkeit auszudrücken.

Die Thesen sagten in nüchterner Selbstkritik, daß „die theologische Ausgestaltung der Rechtfertigungslehre in der reformatorischen Dogmatik die Aufgabe stellte, den kommunikativen und eschatologischen Charakter der Rechtfertigungsbotschaft neu zur Aussage zu bringen”. Dieser Satz enthält die Erkenntnis, daß dies bisher nicht der Fall gewesen ist, und daß auch der Konsens der Beteiligten es bisher nicht erlaubt, diesen unabweisbaren und anerkannten Anforderungen schon jetzt Rechnung zu tragen. Es handelt sich auch keineswegs darum, jene Elemente nur neu auszusagen. Es sollte nicht bestritten werden, daß sie vielmehr seit langem keinen hinreichenden Ausdruck gefunden haben. Man wird sagen müssen, daß die Rechtfertigungslehre für sich allein in ihrer Wirkungsgeschichte bisher nicht die Antriebe und Ansätze hergegeben hat, um dem oben Geforderten zu entsprechen.

Jene Einseitigkeit verkehrt sogar den Sinn der dort in den Mittelpunkt gestellten Rechtfertigungslehre. Aus der Rechtfertigung allein durch den Glauben droht eine Glaube allein an die Rechtfertigung zu werden.

Die Einlinigkeit des Ausdrucks ist in der Konkordie festgehalten worden, obwohl in den Materialien vielfältige Anregungen und Bedenken vorgetragen worden sind, die dem entgegenstanden. Prof. Lienhard bemerkt, es sei vielleicht „sinnvoll zu betonen, daß die Rechtfertigungsbotschaft auch in anderen Kategorien als in paulinischen ausgedrückt werden könne”.

Mit großer Vorsicht und Zurückhaltung, aber doch deutlich, wird das gleich in dem Votum der Church of Scotland geltend gemacht, man könne auch die Formulierung in anderen Traditionen ausdrücken, welche weniger forensische Obertöne hätten. Es handle sich durchaus nur um eine Differenz im Ton und Ausdruck als in der Substanz. Es wird also nicht einmal die Konvergenz sachlich unterschiedlicher Positionen geltend gemacht, sondern lediglich Stil und Form der Aussage.

Lienhard bemerkt, es sei wichtiger, daß man zu einer konvergierende Beschreibung komme als zu mehrdeutigen Kompromißformeln. Die Grenze und nur begrenzte Zulänglichkeit des positiven Ausdrucks ist hier also ebenfalls außer Betracht geblieben. Noch weniger ist berücksichtigt worden, daß, wie Lienhard an anderer Stelle agt, möglicherweise die Schwierigkeiten auf bestimmte Schwächen in den Ursprüngen im 16. Jahrhundert zurückverwiesen. Die Bedenken gegen eine einseitig forensische Interpretation, die in dem schottischen Votum mit großer Zurückhaltung geltend gemacht werden, sind altbekannt und hätten ernstgenommen werden sollen.

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Die allgemeine Aufforderung zur gemeinsamen theologischen Weiterarbeit ist aber etwas anderes als die bestimmte und ausdrücklich formulierte Einsicht in gewisse tatsächliche oder virtuelle Verengungen, die hier von vornherein hätten ausgeschlossen werden sollen.

Prälat Bornhäuser (Baden) sagt in seinem Synodalbericht, daß man in den Verhandlungen sich freundlich begegnet sei; es sei aber nicht zu merken gewesen, daß man einander wirklich gebraucht habe. Auch Lienhard vermerkt mit Bedauern und Besorgnis den Mangel einer Selbstkritik an der historischen Vorentwicklung. Im Gegenteil schien man es für ausreichend zu halten, die Aussagen über die Rechtfertigungslehre in einer gewissen unanstößigen Allgemeinheit auszusagen. Es ist also ein doppelter Fehler, der hier hervortritt. Einerseits wird eine bestimmte Lehre in ihrer Alleinigkeit in einer gewissen Idealität verstanden und vorgetragen; auf der anderen Seite besteht keine wirkliche, von innen notwendige Beziehung und Bezüglichkeit der hier Beteiligten. Diese Idealität der Lehre und des Begriffs ist insofern unökumenisch, als sie mit einer gegenseitigen Ergänzung der beteiligten Kirchen nicht rechnet. Daß bei alledem das Verhältnis zur römischen Kirche, von der Ostkirche ganz zu schweigen, keine konkrete und ausdrückliche Rolle spielt, vermerkt mit Bedauern und Besorgnis auch Bornhäuser.

Der methodische und der sachliche Fehler verbinden sich also. Hätte man die hier anstehenden Fragen von vornherein als Programm und Aufgabe und nicht als unvermeidlich unzulänglichen Konsens formuliert, so wäre man wohl diesen Schwierigkeiten, der Einlinigkeit und der Selbstbezogenheit der einzelnen Positionen entgangen.

An dieser entscheidenden Stelle fragt man sich, ob die beiden Partner dieser Gemeinschaft sich wirklich gegenseitig „angenommen” haben. In Ziff. 38 steht neben „vertiefen” und „aktualisieren” auch das fragwürdige Wort „überprüfen”. Man kann ein solches Verhältnis nicht mit einem Vorbehalt oder der reservatio mentalis eingehen, in die Ausgangslage zurückzukehren. So gewiß die Konkordie den unterschiedlichen Bekenntnisstand nicht aufhebt, so unmöglich wäre ein Rückgang hinter diesen Stand, wenn man sich einmal entschlossen hat. Die Ehe auf Probe ist nach biblischem Verständnis keine Ehe.

Die Aussagen über das gemeinsame Verständnis des Evangeliums und zu den Lehrverurteilungen haben den Text der Vorkonkordie entschieden gestrafft und von entbehrlichen Hinweisen entlastet. Mit dieser anerkennenswerten Konzentration sind jedoch auch Verlust, ja eine entschiedene Schrumpfung verbunden.

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a) Zur Taufe:

Der in den VK zweimal vorkommende Gedanke der Heilsgemeinschaft ist völlig ausgefallen. Das früher doppelt entfaltete Taufgeschehen — Heilsgemeinschaft und Berufung — ist stark verkürzt dargestellt. Die Vorstellung eines isolierten, rein individuellen Geschehens mit nachfolgender berufender Verpflichtung wird nahegelegt, keinesfalls ausgeschlossen.

b) Zum Abendmahl:

Der frühere Hinweis auf die Gabe „in unsere leibliche Wirklichkeit hinein” ist ersatzlos weggefallen. Der Text ist einer einseitig spiritualistischen Auslegung fähig. Der Gedanke der Gliedschaft am Leibe Christi steht nunmehr allein, während ehedem ausdrücklich von dem Zusammengeschlossenwerden einerseits, von der Kirche andererseits gesprochen wurde. Ein Kommentar der „Herder-Korrespondenz” 23 vermerkt, die Fassung könne als Verleugnung der materialen Realpräsenz verstanden werden. Wollte man — auf die Gefahr der Mißdeutung im ökumenischen Zusammenhang — den historischen Streit um die modi der Präsenz vermeiden, so müßte der kommunikatorische Charakter des Mahls mindestens so deutlich wie in der VK hervorgehoben werden. Anstelle dessen deckt sich die Konkordie — wie die Lex Fundamentalis! — mit der verbalen Wiederholung eines biblischen Ausdrucks, den sie der Deutung überläßt.

Die Konkordie will Kirchengemeinschaft begründen, während sie selbst von dem Charakter der Kirche als Heilsgemeinschaft in ihren konstituierenden Handlungen fast nichts, jedenfalls weit weniger als ihre eigenen Vorentwürfe bekundet. Das Element der koinonia ist deutlich ausgefallen; kein lebendiges Interesse hat zu seiner Entfaltung gedrängt. Dadurch verschieben sich aber auch das Verhältnis und das Schwergewicht zwischen diesen Aussagen und denjenigen über die Konsequenzen der Kirchengemeinschaft in einer sehr zu bedenkenden Weise. Ich bedaure ausdrücklich gerade an dieser Stelle, daß durch die Zurückhaltung des Textes der VK der Leser außerstande gesetzt worden ist, die Entwicklung der Formulierungen kritisch mitzubedenken.

 

Zwischenbemerkung

Der in der Kanzlei der EKD federführende Oberkirchenrat Lingner hat in einem Vortrag vor der Superintendenten-Konferenz der Rheinischen Kirche am 26. 10. 1971 über die Leuenberger Gespräche berichtet. Dies ist keine authentische Auslegung mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit, aber doch eine sachkundige und verantwortliche Darstellung, die erkennen läßt, wie der Text verstanden und bewertet wird.

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Unter Vermeidung von Wiederholungen müssen hier nun doch einige Punkte berührt werden, die durch diese Ausführungen in ein neues Licht treten.

Anlaß zur besonderen Stellungnahme gibt zunächst in dem Referat von Lingner der dort verwendete dreifache Begriff von Kirchengemeinschaft (S. 10/11). Sie wird zunächst „als Aufhebung geschichtlich vollzogener und praktizierter Kirchentrennung” verstanden. Damit ist die Vorgegebenheit der Kircheneinheit und Kirchengemeinschaft völlig außer Blick gekommen; der Zusammenschluß wird unvermeidlich zur Verbandbildung. Die zweite Definition, daß Kirchengemeinschaft Gewährung der vollen Gemeinschaft an Wort und Sakrament sei, ist so nicht zu beanstanden. Auf einer dritten Ebene wird erklärt, daß die Kirchengemeinschaft nicht als eine statische Größe, sondern als ein lebendiger Begriff anzusehen sei. Sie müsse sich im Leben der Kirche bewähren und sichtbar werden. Dies habe zwei Seiten: einmal gehe es darum, „die gewonnene Gemeinschaft auf ihre gewonnene Legitimität hin zu überprüfen”. Zum anderen gehe es um eine vorbehaltlose Zusammenarbeit der Kirchen auf allen Gebieten.

An dieser Stelle taucht also erneut das anderwärts schon kritisch erörterte Wort „überprüfen auf, verschärft durch den Begriff der „theologischen Legitimität”. An einer früheren Stelle wird auf die Notwendigkeit verwiesen, die nicht kirchentrennenden theologischen Unterschiede in planmäßiger Weiterarbeit zu klären und aufzuarbeiten. Aber dies darf nicht verwechselt werden. Hier geht es um Bestand und Legitimität der gewonnenen und beschlossenen Gemeinschaft selbst. Während die Zusammenarbeit als vorbehaltlos bezeichnet wird, besteht der Bestand der Gemeinschaft als solcher unter diesem Vorbehalt der weiter zu klärenden Legitimität. Die Vereinbarung ist demnach ausdrücklich eine bedingte.

Wer auf diesen Tatbestand hinweist, sieht sich vor einem echten Dilemma. Betont er diesen Sachverhalt, so gerät er in die Gefahr, eine Wunde aufzureißen, die eher zum Abheilen oder Vernarben bestimmt war. Schweigt er, so macht er sich an dieser Zweideutigkeit mitschuldig. Denn dem Leser der Konkordie erscheint dieser Vorbehalt nur noch in dem eingeschmolzenen Wort „überprüft” und nicht erkennbar in seiner vollen Tragweite.

Unbeschadet der Aufgabe, das Verhältnis der getrennten Konfessionen weiter abzuklären, ist unerfindlich, durch welchen Prozeß der Erkenntnis die Beteiligten in Zukunft zu einer Entscheidung über die Legitimität ihres jetzigen Handelns kommen sollen, wenn sie in den langjährigen Vorarbeiten und Gesprächen keine hinreichende Gewißheit erreicht haben. Mehr noch. Wenn sie jetzt nicht von der Legitimität ihres Handelns voll überzeugt sind, dürfen sie nicht mit dem Blick auf eine möglicherweise später aufzulösende Einigung hin diesen Schritt tun.

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Nach den Informationen und Erläuterungen, die ich vor Abfassung meiner Stellungnahme eingeholt habe, mußte ich besorgte Bedenken formulieren. Die Lingnersche Darstellung verschärft diese Bedenken und macht den verborgene Schaden offenkundig. Hierzu kann nicht geschwiegen werden. Die Verantwortung für jene fatale Alternative ist denjenigen zuzuschreiben, die so verfahren sind.

Lingner verschweigt nicht die Schwierigkeiten, die durch die besondere Lage im deutschen Bereich für die konkreten Verhandlungen entstanden sind. Von diesen belastenden Dingen wird hier abgesehen, weil diese Stellungnahme auch für nichtdeutsche Leser bestimmt ist.

Er verweist aber darauf, daß die Beteiligten hier ihre gemeinsame Vergangenheit nicht ernst genug genommen haben. Mit Recht haben die Texte vermieden, die Reformatoren zu beckmessern, etwa ihrem Versagen die Verantwortung für die Kirchentrennung zuzuschreiben. Mit Recht aber sagt Lingner, daß es den Kirchen „immer schwergefallen sei, mit ihrer eigenen Geschichte ins Gericht zu gehen”. Von der Frage, ob nicht auch ein Maß an Schuld die Bereitschaft zum gemeinsamen Weg verschüttet habe, sei in dem Entwurf keine Rede. In der Tat wäre hier ein Schuldbekenntnis hinsichtlich des Verhaltens am Platze, welches die getrennten Kirchen gegeneinander zu verantworten haben. Das gilt mehr oder minder für alle Jahrhunderte. Wenn ich anführen wollt, was auch nur meine eigenen Vorfahren lutherischer und reformierter Konfession unter diesem Streit an Vertreibung, Haft, Verketzerung und Existenzgefährdung gelitten haben, so würde ein drastisches Bild entstehen. In anderer Art gilt dies für das 19. und 20. Jahrhundert. Es schließt auch die üblen Streitigkeiten ein, die während des Kirchenkampfs und in seiner Folge auf dieses Gebiet gehören. Die Kirche ist oft nur allzu willig gewesen, Bußbekenntnisse abzulegen, bis an den Rand der Verleumdung ihrer eigenen Geschichte. Sie hat auch solche Bekenntnisse mit der katholischen Kirche ausgetauscht. Aber hier ist davon keine Rede; dies darf nicht verschwiegen werden, wenn versucht wird, einen geschichtlichen Schlußstrich zu ziehen.

Kritisch behandelt Lingner auch die Sprache des Dokuments und die ungeklärte Frage, an wen es gerichtet ist. In der Tat erscheint es als ein Werk der Theologen, das nicht gemeinverständlich ist. Das Ergebnis ihrer kompetenten Arbeit wird den Gemeinden und Synoden präsentiert. Erneut tritt hier die schon an anderer Stelle hervorgehobene methodische Unklarheit über das Verhältnis zwischen der Bereinigung kirchentrennender Lehraussagen und dem, wenn auch begrenzten, aber unvermeidlichen Bekenntnischarakter der Konkordie hervor. Diese Unklarheit ist eine der wesentlichsten, wenn auch verborgenen Schwächen des Textes.

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V. Kirchengemeinschaft, keine Union — ein Modellfall

Der Entwurf vermeidet es, eine organisatorische Union als Ziel aufzustellen. Behutsam vermerkt er, daß in der Geschichte einer Unionsbewegung die Wiederentdeckung der konfessionellen Unterschiede gefolgt sei. Tatsächlich besteht ein Mißbehagen sowohl an der Beschränkung auf die Konfession wie an der Union. Das Mißbehagen an der Konfession besteht deutlich darin, daß das Leben der Kirchen deren Ausschließlichkeitsanspruch nicht deckt. Das Mißbehagen an der Union besteht darin, daß diese offensichtlich nur durch eine gewisse beiderseitige Ermäßigung fruchtbarer Antriebe und Besonderheiten bestehen kann und so deutlich die Gefahr eines Profilverlustes aufweist. Auch der Text hat in der Abweisung eines Unionsprogramms offenbar diese Erscheinungen vor Augen. Er will daher die Eigenständigkeit der partikularen Kirchen innerhalb der Kirchengemeinschaft nicht aufheben. Tatsächlich würde auch die Konkordie innerhalb des hoffnungslosen Zirkels von Union und Konfession verbleiben und lediglich einen neuen, nicht notwendig besseren Anlauf einer Unionsbewegung darstellen, wenn er nicht vermöchte, die konstituierenden Gegensätze der beiden großen Kirchen als Ausformungen der christlichen Wahrheit zu begreifen, die gerade durch ihre Unterschiedenheit etwas füreinander bedeuten und zugleich ständig aufeinander verwiesen sind. Andeutungen in dieser Richtung finden sich in der behutsamen Darstellung der streitigen theologischen Aussagen. Bewußt gemacht ist jedoch dieser Gesichtspunkt nicht.

Dies wird auch in einer Frage deutlich, die sich heute für beide Konfessionen gleichmäßig stellt. Beide Konfessionen haben übereinstimmend das zur Zeit der Reformation verrottete Ordenswesen bekämpft. Sie haben infolgedessen die unter dem Worte Gottes versammelte Gemeinde als die einzige legitime Form christlicher Gemeinschaft verstanden. Nun sind aber in der Moderne in allen Kirchengebieten gerade der Reformation Kommunitäten und Bruderschaften entstanden, deren geistliche Wirksamkeit nicht mehr ernsthaft bestritten werden kann. Beide Kirchen müssen daher erkennen, daß die geistliche Motive zur Bildung solcher nichtparochialen Lebensformen durch den Vorwurf der Werkgerechtigkeit oder selbstgemachter Heiligkeit nicht getroffen werden können. Sie sind also genötigt anzuerkennen, daß es neben der Versammlung aller Christen in der Ortsgemeinde andere legitime Formen christlichen Lebens gibt. Dann wird auch hier die Engführung auf eine einzige Form und Vorstellung von Kirche gesprengt. Bis zu dem grundsätzlichen Gehalt dieses Tatbestandes haben sich jedoch die Kichen bisher nicht durchgerungen 24. Allein die Verfassung der lutherischen Kirche von Nordelbien enthält einen dieser Sachlage entsprechenden Artikel 25. Gibt es aber hier verschiedene Formen der Verwirklichung, so auch in der

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Unterschiedlichkeit und Verwiesenheit der Konfessionen aufeinander. In dieser Form des Verständnisses aber sind sie in der Lage, das in der christlichen Existenz selbst verwurzelte Anderssein des anderen ohne eigene Ausschließlichkeit positiv anzuerkennen.

Eine geistliche Gemeinschaft, die keine Denomination ist, hat im Jahre 1931 einen Schritt getan, der dem Ziel der Konkordie sehr verwandt ist. Die „Evangelische Michaelsbruderschaft” hat Christen lutherische, unierten und reformierten Bekenntnisses ohne Einschränkung ihrer Bekenntnisbindung zu voller gottesdienstlicher Gemeinschaft zusammengeschlossen. Dies hatte um so mehr Gewicht, als die Beteiligten keine gemeinsame Tradition besaßen und die Mehrzahl von ihnen amtierende Pfarrer der getrennten reformatorischen Kirchen waren und sind. In der Stiftungsurkunde vom 1. 10. 1931 heißt es:

„Wir glauben daran, daß den Kirchen der Reformation ein Beruf verliehen ist an der ganzen Christenheit.
Wir glauben daran, daß alle Einzelkirchen Glieder sind der einen Kirche Christi und ihren Beruf im gegenseitigen Empfangen und Dienen erfüllen.”

Mit dem verpflichtenden reformatorischen Erbe ist hier eine konstitutive ökumenische Bindung jeder Teilkirche in einer Weise ausgesprochen, welche als Satz mit Bekenntnischarakter in der Konkordie nicht vorkommt. Diese Gemeinschaft hat andererseits die kirchentrennenden Verwerfungen für ihre Mitglieder wechselseitig nicht anerkannt.

Diese Gemeinschaft hat nach langjähriger Erfahrung mit diesen Grundsätzen in ihrer Ordnung von 1963/64 (Art. III) festgelegt, daß jeder Christ ihr Vollmitglied sein könne, der ihre Lebensregel und ihre gottesdienstliche Form annimmt. Sie ist dabei von dem doppelten Gedanken ausgegangen, daß nicht unsere vorgängige theologische Reflexion, insbesondere über das Abendmahl, sondern dieses selbst im Vollzuge die Gemeinschaft begründe, daß andererseits diese konkrete Vergemeinschaftung das verantwortete Handeln einer Gemeinschaft auf der einen, die geistliche Lebensbindung auf der anderen Seite voraussetze.

In dieser der Zufälligkeit und Willkür entzogenen Weise treffen also zwei verpflichtende Elemente aufeinander. Auf dieser Grundlage hat auch das deutsche Bistum der Altkatholiken den ihm Zugehörigen den Erwerb der Mitgliedschaft in einer besonderen Form der Zuordnung gestattet, obwohl die Bruderschaft es abgelehnt hat, die Gültigkeit ihres gottesdienstlichen Handelns und der Ordinationen ihrer im Amt stehenden Mitglieder durch die Annahme der bischöflichen Sukzession vorgängig zu legitimieren. Hier ist also erstmalig in Europa eine außerhalb der bischöflichen Sukzession stehende geistliche Gemeinschaft von einer bischöflichen Kirche anerkannt

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worden, nicht in abstracto, sondern um eines für ihre Mitglieder bedeutsamen geistlichen Dienstes willen.

Auf Grund der Erfahrungen auf diesem stets mit theologischer Sorgfalt beschrittenen Wege müssen die Kirchen der Konkordie gefragt werden, ob sie unter Verwertung und sinngemäßer Übertragung dieser Erfahrungen und Grundsätze im Akte ihres Zusammenschlusses eine entsprechende, gebundene Offenheit zum Grundsatz zu erheben bereit sind. Nur so würde die Konkordie auch durch einen konstruktiven Schritt in der ökumenischen Bewegung stehen.

 

VI. Die Unvollständigkeit des Entwurfstextes

1. Zur Ekklesiologie

Die Internität der Vorkonkordie erschwert es, die Behandlung der einzelnen Hauptthemen in den verschiedenen Entwürfen miteinander zu vergleichen. Die Thesen enthielten eine kurze Aussage über die unterschiedlichen Auffassungen beider Konfessionen über die Ordnung der Kirche. Die Vorkonkordie wandelte diese Aussage ganz wesentlich ab. Im Endtext ist das Problem völlig ausgeschieden worden.

Die Thesen stellten den freien Gehorsam in der Ausgestaltung der Kirchenordnung der Bindung dieser Ausgestaltung an die Heilige Schrift gegenüber. Die Formulierung ist hier ersichtlich sehr schwach. Jeder kann sich auswählen, was er bevorzugt. Der dialektische Charakter dieser Differenz kommt nicht zum Ausdruck. Auch hier ist jedoch wie in der Verwendung von CA VII, 2, ein Folgesatz zum Spitzensatz gemacht worden. Denn die relativ sachgemäßen Aussagen über die eben bezeichnete, nur sehr abgeschwächt ausgedrückte Dialektik stehen auf dem Hintergrund einer gemeinsamen Überzeugung beider Bekenntnisse und beider großen Reformatoren. Beide stimmen nämlich überein, daß der Kirche ein Element des Amtes eingestiftet ist, wie auch immer dieser Begriff zu fassen und in der Formulierung auszudrücken ist. Die bedeutsame Differenz zwischen beiden Konfessionen setzt damit ein, daß in CA V nur von einem Amt schlechthin die Rede ist und daß die lutherische Kirche folgeweise dieses Amtselement auf eine Hauptgestalt konzentriert, anderen Formen des Amtes nur eine sekundäre Bedeutung oder einen Teilcharakter zugebilligt hat. Die reformierte Kirche dagegen hat unter ausdrücklicher Berufung auf die Heilige Schrift mehrere Ämter gelehrt, die zur wesentlichen Ordnung der Kirche gehören — in der Hauptsache in Gestalt der bekannten Vier-Ämter-Lehre. Eine Erklärung der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland hat die essentielle

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Bedeutung dieser Lehre für die reformierte Kirche in Erinnerung gebracht.

In Artikel V hätte daher zunächst die gemeinsame Basis beider Konfessionen über das Amtselement zum Ausdruck kommen müssen, um dann zu sagen, daß die bedeutende Differenz zwischen dem notwendigen einen Amt und der Vielfalt biblisch begründeter Ämter, so signifikant sie auch für die historische Gestaltung der Kirche gewesen ist, nicht kirchentrennend zu verstehen ist. Erst nach diesem zweiten Satz wäre es sinnvoll und möglich gewesen, die oben angeführten, freilich wesentlich zu präzisierenden Aussagen überhaupt zu machen. Die Verschweigung sowohl der gemeinsamen Basis wie der Differenz im Ansatz der Kirchenordnungsgestaltung verleiht auch dieser Dialektik einen wesentlich anderen Stellenwert. Diese Aussagen können allein durch die Verweisung auf die Konkretion in Diensten und Ordnungen nicht ersetzt werden.

Gerade viele der deutschen Kirchen, die an der Konkordie von vornherein besonders interessiert waren, haben in ihre Grundordnungen auch das „Barmer Bekenntnis” aufgenommen. Der dort als Frucht des Kirchenkampfs formulierte Satz, daß Bekenntnis und Ordnung nicht getrennt werden können, ist in den Materialien der Konkordie nirgends herangezogen und bei der Behandlung dieser Fragen stillschweigend verleugnet worden. Man fragt sich, was Bekenntnisartikel für einen Wert besitzen, wenn ein Umschlagen des geschichtlichen Windes sie diskussionslos dahinfallen lassen.

Ziff. 2, 2 VK hat in Anlehnung an Formulierungen von Faith and Order in Absatz 4 und 5 sehr viel positivere Aussagen gemacht als die Thesen.

In der Konkordie ist dieser Gegenstand, wie verlautet, aus Zeitmangel, völlig ausgefallen. Es besteht dem Vernehmen nach die Absicht, den Text in der Endredaktion zu ergänzen. Im Wortlaut findet sich kein Hinweis oder Vorbehalt. Eine noch fragwürdigere Version lautet, man sei sich hier so einig gewesen, daß es keiner Aufnahme in den Text bedurft habe. Der Widerspruch zwischen beiden Begründungen würde sich nur dann auflösen, wenn man einig sowohl in der Sache wie in der relativen Geringschätzung der Frage gewesen wäre.

Dieses Verfahren muß, gelinde gesagt, als erstaunlich bezeichnet werden. Allen beteiligten Kirchen wird zugemutet, verbindliche Stellungnahmen zu einem stillschweigend thematisch unvollständigen Text herbeizuführen. Zugleich verweist dies erneut auf einen methodischen Fehler zurück: das Verhältnis zwischen Aufhebung der Ausschließung und gemeinsamen Grundbekenntnis is verkannt. Da die signifikanten Unterschiede nie als solche kirchentrennend waren — (wenn sie auch bei Unionen permanente Schwierigkeiten bereiteten) — glaubte man, diese Frage nicht notwendig in den gemeinsamen Aussagen behandeln zu müssen.

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Bei völliger Ausscheidung des Problems würde eine Lehre von der Kirche entstehen, die im wesentlichen funktionalen Charakter und daher im strengen Sinne überhaupt keine für sie wesentliche Gestalt mehr hat.

Das bedeutet heute auch eine Einschränkung in der Bekenntnisaussage selbst. Was in der Konkordie thematisch nicht erscheint, wird unvermeidlich als sekundär, beliebig oder adiaphorisch erscheinen. Schwierigkeiten der Formulierung brauchten nicht zu bestehen, wenn man mit dem Grundsatz, wie ich vorgeschlagen habe, die heute zu lösenden Aufgabe der Neugestaltung verbunden und angesprochen hätte.

Die völlige Ausklammerung der Amts-, Struktur- und Verfassungsfrage zeigt, daß die Verfasser den Umfang der hier notwendigen und unvermeidbaren Bekenntnisaussagen verkannt haben. Damit zugleich zeigt sich, wie sehr der ökumenische Aspekt hier ausgefallen ist. Die alten Kirchen, die römische wie die orientalische, erwarten in einem solchen geschichtlichen Augenblick eine Stellungnahme der reformatorischen Kirchen zu diesem Fragenbereich, in dem für sie die Legitimität von Kirche wesentlich mit beschlossen ist. Auf Grund so langer ökumenischer Begegnung erwarten sie gewiß nicht, daß die reformatorischen Kirchen ihre Ekklesiologie und Amtslehre übernehmen. Wohl aber erwarten sie und dürfen sie erwarten, daß die reformatorischen Kirchen in einem solchen Augenblick zu diesen Fragen wenigstens in den Grundzügen Stellung beziehen. Eine Zurückstellung dieser Fragen bedeutet eine Vergleichgültigung, die durch irgendwelche Mentalreservation nicht wettgemacht werden kann. Lassen diese Fragen die reformatorischen Kirchen gleichgültig, so könnten sie selbst für die anderen gleichgültig werden. Das doktrinäre Unvermögen, diese Fragen in rechter Proportion beieinanderzuhalten, belastet die Ökumene in schwer abzuschätzendem Ausmaße. Es ist schlicht unökumenisch, das eigene Haus zu bestellen und danach zu bedenken, wer sonst noch vorhanden ist.

 

2. Zur Sakramentenlehre

In den positiven gemeinsamen Aussagen über die Verkündigung der Kirche werden bei den Sakramenten allein Taufe und Abendmahl genannt. Das Entsprechende geschieht bei der Verhandlung der Verwerfungen. Ich habe schon in meinen Bemerkungen zu den Thesen und in meinem Gutachten zur Vorkonkordie ausgeführt, daß das nicht ausreicht. Denn die CA lehrt ein drittes Sakrament, die Absolution. Die Belegstellen dafür sind unschwer der amtlichen Ausgabe der Bekenntnisschriften der Evangelischen Lutherischen Kirche zu entnehmen.

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Freilich ist diese Lehre zum Teil aus dem Gedächtnis wie auch aus dem Gebrauch gekommen. Andererseits wird in Ordinationsformularen dem Pfarrer die Wahrung des Beichtgeheimnisses besonders eingeschärft.

Nun besteht eine wesentliche dogmatische Differenz zwischen beiden Konfessionen darin, daß die reformierte Theologie die Sakramentalität der Absolution ausschließt. Unwidersprochen hat Roth in seiner Studie über „Privatbeichte und Schlüsselgewalt in der Theologie der Reformatoren” gezeigt, daß die einschlägige Dogmatik sich völlig in die systematischen Probleme einfügt, die mit dem dogmatischen — nicht unmittelbar biblischen — Begriff des Sakraments gegeben sind. Daß die lutherischen Bekenntnisschriften die Absolution unter die Sakramente subsumiert haben, ist insofern sachgemäß, wenn auch vielleicht nicht zwingend gefordert. Die Bedeutung dieses locus zeigt sich insbesondere darin, daß er noch einmal in Artikel 28 unter dem Titel „De potestate ecclesiastica” aufgenommen worden ist. Immerhin wäre denkbar gewesen, ihn gesondert als einen Bereich eigener Art abzuhandeln. Daß diese Differenz noch gegenwärtige Bedeutung hat, zeigt die Erfahrung des Frankfurter Kirchentags von 1956. Damals wurden in der Arbeitsgruppe „Kirche” die Fragen der Beichte und Absolution unter dem gemeinsamen Vorsitz von Günter Howe und Otto Weber verhandelt. Beide sind inzwischen verstorben. Ich weiß jedoch von Günter Howe, daß sein Mitvorsitzender Otto Weber nach dem Kirchentag von seiten nahmhafter Vertreter seines Bekenntnisses heftigen Vorwürfen ausgesetzt gewesen ist, weil er sich überhaupt an einer Erörterung beteiligt habe, die die lutherischen Interpretation dieses Problems nicht ausschloß.

In Ziff. 2, 2, Abs. 2, der VK soll in verschlüsselter Diplomatensprache und ohne den bestehenden Unterschied aufzudecken, offenbar das Problem der Absolution mit umfaßt sein. Die einfache formelhafte Verweisung auf die Pluralität soll hier für eine so schwerwiegende Frage genügen. Diese Andeutung des Themas ist in der Endfassung ebenso wieder ausgeschieden wie die Amtsfrage.

Wenn also in der Konkordie die Behauptung aufgestellt wird, daß die trennenden Verwerfungen der alten Zeit in der Sakramentenlehre mit Rücksicht auf die Fortbildung der Begrifflichkeit ihre Bedeutung verloren hätten, so ist diese Behauptung solange falsch, als die Konkordie nicht auch diese historische Differenz ausdrücklich ausräumt. Dieser Einwand ist in der jetzigen Fassung der Konkordie nicht berücksichtigt worden. Es ist in der Geschichte der Bekenntnisbildung ohne Beispiel, daß ein solches, sich durch die ganze Kirchengeschichte hindurchziehendes Thema (zunächst mit einer Formel abgetan und dann) stillschweigend beiseitegestellt wird. Daß diese Frage in die Sakramentenlehre hineingehört, wird nicht nur durch den

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formellen Text der CA, sondern auch durch die Studie von Roth hinreichend belegt.

Wenn die allgemeine, die einzelnen Sakramente übergreifende, Verständigung in der Sakramentenlehre oder, anders gesagt, die gemeinsame Einsicht in die Fortbildung ihrer Begrifflichkeit den ausschließenden Gegensatz in Positionen und Intentionen überwunden hat, so müßte dies auch für den Bereich des sogenannten dritten Sakramentes möglich sein und um Ausdruck kommen.

Durch diese Ausscheidung in der Endfassung ist die Frage also ohne jede Erörterung in dem Sinne behandelt worden, wie dies der reformierten Tradition entspricht. Es handelt sich hier keineswegs um die überflüssige Frage nach der Zahl der Sakramente.

 

Gesamtbeurteilung

Nach dem Gesagten ist der vorliegende Entwurf
a) als Ganzes nur unter Vorbehalt beschlossen, wobei dieser Vorbehalt nur in einer verdeckenden Kürze ausgesprochen ist,
b) thematisch unvollständig (Strukturfrage, Absolution).
Er ist daher nicht entscheidungsreif.

Ein sachgemäßer Synodalbeschluß der angegangenen Kirchen müßte daher etwa folgendermaßen lauten:
1. Die Synode bejaht das Ziel der Konkordie.
2. Sie kann jedoch den vorgelegten Text nur annehmen, wenn mindestens
a) jeder Vorbehalt eines Widerrufs ausgeschlossen ist,
b) Problem und Aufgabe der Kirchenverfassung in hinreichender Weise in den Text der gemeinsamen Aussagen aufgenommen sind (signa ecclesiae),
c) die bestehende Lehrdifferenz über die Schlüsselgewalt (CA 28) behandelt und als nicht kirchentrennend geklärt ist.

Erst ein revidierter und ergänzter Text könne Gegenstand einer Beschlußfassung sein. Damit wären aber nur Mindesterfordernisse erfüllt.

Es ist noch nichts ausgesagt über Bedeutung und Tragweite dieses Schrittes, über die Qualität des Entwurfs.

Der Gesamtentwurf erscheint für den Leser als eine Arbeit für Fachleute. Daß das Votum der Nichttheologen nicht in Betracht kommt, ist hier angesichts des regelmäßig nur verbalen Grundsatzes vom Priestertum aller Gläubigen allzu selbstverständlich vorausgesetzt worden. So ist die Frage zu

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stellen, für wen überhaupt dieser Text gedacht ist. Doch sicherlich nicht nur für die Theologe als Fachleute, die sich hier mit aller Sachlichkeit exakt aussprechen müssen, sondern auch für alle Christen, die es angeht, Synodale, Presbyter, Gemeinden, die es annehmen sollen. Dazu wäre eine anschließende gemeinverständliche Umschreibung des so geklärten Widerspruches und seiner Motive wünschenswert gewesen. Das Stuttgarter Votum vom 14. 4. 197126 spricht mit Recht die bestehenden Fragen verständlich an.

Mehr oder minder glücklich im Ausdruck, entbehrt der Text der erstrebten Aussagekraft. Man sollte nicht glauben, daß dies das Ende eines geschichtsmächtigen Gegensatzes ist, der Jahrhunderte hindurch die reformatorische Christenheit bewegt und sie mit nachhaltiger Wirksamkeit geprägt hat. Nunmehr wird man den Text wesentlich auf das — meist für überfällig gehaltene — praktische Ergebnis hin lesen.

Ist dieser Gegensatz, ohne welchen die geschichtliche Eigenart großer Länder und Völker auch heute noch unverständlich ist, weitgehend erloschen, so muß er sich notwendig an eine andere Stelle verlagert haben. Um so mehr wird nach den Entscheidungen gefragt werden, vor die sich heute der Glaube und die Kirche gestellt sehen. Hier darf der Text auf seine eigene Motivation in der ökumenischen Verpflichtung beim Wort genommen werden.

Es fällt bei alledem auf, daß zwar in gewissem Umfange einführende Erläuterungen zur Konkordie veröffentlicht werden, daß aber eine kirchen- und dogmengeschichtliche Standortbestimmung und Kritik nirgends vorgelegt worden ist. Einerseits scheint es sich um die sattsam bekannte Unionsfrage in neuer Gestalt zu handeln, andererseits herrscht das praktische Interesse vor, eine längst überfällige Frage hinter uns zu bringen. Dazu reicht dann jeder halbwegs leidliche Text aus.

Tatsächlich handelt es sich um eine defensive Kontraktionsbewegung. Man trifft sich in der Mitt auf dem Boden eines milden, akademisch-humanistischen Melanchthonianismus, der aus der Kirchengeschichte hinreichend bekannt ist. Dadurch werden alle bestimmten dogmatischen und ekklesiologischen Positionen und Merkmale beiseitegedrängt und zur partikularen Sondermeinung.

Die hier sich abzeichnende Kontraktionsbewegung steht parallel zu der thematischen Beschränkung der Kodex-Reform auf die Schaffung einer Lex Ecclesiae Fundamentalis. Das defensiv deutlich abgegrenzte Feld wird übersichtlicher, die nicht behandelten Fragen werden partikular und relativ unwichtiger. Beide Teile stellen sich auf das, worin sie ihre unangreifbare Stärke sehen — hier die Autorität der gestifteten Hierarchie — dort einen einzigen articulus stantis et cadentis ecclesiae. Im übrigen werden die theologischen Vorstädte niedergebrannt. Die Felder werden nicht bestellt, sondern geräumt.

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Die Analyse des Entwurfs einer Lex Ecclesiae Fundamentalis der katholischen Kirche und der Konkordie zeigt durchgängig formal in der Konzentration, inhaltlich in der Beiseitestellung bestimmter Themen analoge Erscheinungen. Die Fragen konzentrieren sich mit großer Klarheit auf drei Punkte:
1. Die communitas, die koinonia der Kirche ist in eine gestaltlose, irreale Spiritualität abgedrängt.
2. Die Aufgabe der Verfassungsgebung ist in einem Entwurf, der sich als Verfassungsgesetz versteht, nicht angefaßt worden.
3. Für die sich so selbst verfassende Kirche existiert die übrige Christenheit nicht als konstituierende Tatsache.

Die gleichen Merkmale weist die Konkordie auf.

1. Das in der Begründung zu den Thesen sich andeutende Problembewußtsein der unzulänglichen Interpretation und Ausrichtung der Rechtfertigungslehre ist in der Fortschreibung der Entwürfe bereits wieder verlorengegangen. Wer sich heute im Kampf um die Substanz des Glaubens und Bekenntnisses sieht, sollte nicht übersehen, daß die individualistische und partikularistische Verengung der Rechtfertigungslehre die Frage nach der Gemeinschaft geradezu provoziert hat, die weder mit der Berufung des Christen noch mit seiner Freisetzung beantwortet ist. Es ist bezeichnend, daß der Gedanke des „Neuen Bundes” an keiner Stelle auftritt.

2. Die mit dem Amtselement der Kirche gegebene Verfassungsfrage ist, wie beschrieben, noch völlig offen. Das Hin und Her der Konzeptionen erregt Besorgnis. Die Berufung auf das Bekenntnis muß fragwürdig erscheinen angesichts des Mißbrauchs von CA VII, 2 („satis”).

3. In beiden Fassungen der Konkordie ist am Schluß eine Bezeugung des guten ökumenischen Willens enthalten. Sie kommt post festum in einem verbalen Bekenntnis. Über den guten Willen denkt der Apostel Paulus bekanntlich wesentlich anders als Immanuel Kant. Die ökumenische Dimension im ganzen jedoch fehlt gegenüber dem prinzipiellen Anspruch auf Suffiziens und Autarkie. Es wird nicht angenommen, daß das Vorhandensein anderer Glieder der Christenheit eine ständige und nicht als causa iudicata zu behandelnde Frage nach der Identität der eigenen Kirche bedeutet.

Konfessionskundlich und dogmengeschichtlich betrachtet bedeutet die Konkordie, daß das Luthertum (welches in Helsinki außerstande gewesen ist, die zentrale Rechtfertigungslehre neu zu formulieren) den Calvinismus absorbiert hat. Zum Ausgleich ist stillschweigend die dem Calvinismus von jeher anstößige Lehre vom dritten Sakrament fallengelassen worden. Die

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Behandlung des Amts- und Verfassungsproblems durch seine vorläufige Ausscheidung ist völlig offen. Zu den Thesen und der Vorkonkordie (2, 2), aber auch zu Gebrauch und Verständnis von CA VII, 2 und dem „Barmer Bekenntnis” bestehen Widersprüche. Blieben sie bestehen, wo würde die in beiden Konfessionen bisher festgehaltene Verknüpfung von Kirche und Verkündigung in Richtung auf eine Funktionalisierung des Kirchenbegriffs abgewertet werden, wenn auch nicht formell aufgelöst.

Dies ist keine „andere Kirche”, aber eine durch einen kontingent-historischen Akt „veränderte”. Damit stellt sich die Frage nach der Identität.

Diese Frage der Identität ist keine der Positionen, sondern der Probleme und Aufgaben. Notwendig unzulängliche Positionsformulierungen sind hier zugunsten sehr konkreter Aufgaben zurückzustellen, nicht um ernstzunehmenden Schwierigkeiten auszuweichen, auch nicht um dem ewigen regressus ad infinitum der Theologen Raum zu geben, auch nicht um den Selbstruhm der Offenheit zu erwerben oder einem Progressismus zu huldigen. Um die Identität der Aufgaben wird vielmehr diese Kirchengemeinschaft mit der gleichen Härte und Entschiedenheit kämpfen müssen wie ehedem um positive Formulierungen.

Während die Konkordie in Anspruch nimmt, den Forderungen einer geschichtlichen Situation Rechnung zu tragen, ist sie sich dieses verändernden Charakters ihrer eigenen Entscheidung gleichwohl nicht bewußt gewesen. Für die positiven Aussagen hat das Verhältnis zu den übrigen Kirchen der Ökumene keine erkennbare Bedeutung gehabt. So wie der geschichtlich konstituierende Gegensatz zum Katholizismus ganz unzulänglich formuliert ist, so wenig bedeutet das Vorhandensein von Christen und Kirchen außerhalb des Bereichs der reformatorischen Kirchen eine jederzeit zu bedenkende Gegebenheit.

Tradition und Geisteshaltung dieser Theologie ist viel zu modern, dem Geist der Welt und unserer Zeit viel zu ähnlich, um anders zu sein, um ihre eigenen Ansprüche auf Souveränität und Suffizienz ernstlich in Frage zu stellen, um Denk- und Lebensformen auszubilden, in denen die humanistische Selbstbezogenheit der Moderne durchbrochen wird.

Es geht daher nicht im Sinne des billigen Schemas um Alt oder Neu, sondern um ein aliud. An allen drei Hauptfragen muß sich ein neues Verständnis bewähren. Deswegen geht es auch nicht entscheidend darum, alte Gegensätze zu bereinigen, sondern die Fehler zu überwinden, in denen die getrennten Kirchen nur zu einig sind. Auch geht es nicht donatistisch um die Bezeichnung allzu menschlicher Mängel, auch nicht auf der höheren Ebene des dogmatischen Ausdrucks, sondern um die Revision bedeutender geistiger Entscheidungen und Entwicklungen, welche die Kirche in die Sackgasse des Konfessionskirchentums geführt haben.

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Dabei geht es um Entscheidungen der Dogmatik im Prozesse ihrer Fortbildung, nicht um Modi der Aussage oder den Übergang in ein neues Zeitalter. Dabei zeigt sich erneut, daß der Stellenwert der Ekklesiologie falsch eingesetzt worden ist. Der Schritt nach vorn, den die Konkordie vermissen läßt, wird ein Ärgernis sein — er wird aber nur soviel wert sein, als er auch wirklich kostet und von uns fordert.

In einer Zeit subtiler transzendental-philosophischer und erkenntnistheoretischer Problemstellungen, die fast den Charakter der Scholastik angenommen haben, ist das Problembewußtsein von Kirche und Theologie deutlich abgesunken. Die Erwartung hat sich offenbar entscheidend vermindert, zu gewinnende theologische Erkenntnisse könnten und müßten hic et nunc für diese Entscheidungen bedeutsam und wirksam werden.

Im ganzen genommen wird die Konkordie von den angefragen Kirchen, vor allem von ihren Synoden, als eine Art Nachholbedarf empfunden werden, ein Gefühl, dem allein die besorgte Frage nach der Zurückstellung der Wahrheitsfrage und ein gewisser konfessioneller Traditionalismus gegenübersteht. Es steht zu befürchten, daß die Konkordie angenommen werden wird, so gut oder schlecht immer ihre Begründung — oder daß sie abgelehnt werden wird, so gut oder schlecht die Gründe sind, die diese Ablehnung rechtfertigen sollen.

Wie gegenüber der Lex Ecclesiae Fundamentalis bleibt übrig, Lage und Aufgaben und damit die Identität der Kirche mit aller Schärfe ins Bewußtsein zu bringen, damit die Kräfte entbunden werden, die tun, was jetzt ansteht.

 

Zusammenfassung in Thesen

Die Bedenken und Einwände gegen die vorliegende Fassung der Konkordie können wie folgt zusammengefaßt werden:

1. Die Konkordie kann sich nicht auf die Aufhebung der gegenseitigen Verwerfungen beschränken, sondern muß vermöge ihres — wenn auch begrenzten — Bekenntnischarakters die gemeinsamen Positionen und Aufgaben umreißen, da sonst eine stillschweigende Ausschlußwirkung in bezug auf die nicht behandelten Fragen eintritt.

2. Es ist klarzustellen, daß Kirchengemeinschaft vorgegeben und anzuerkennen, nicht herzustellen ist. Wenn auch die geschichtliche Verwandtschaft bestimmter Kirchen diese Anerkennung erleichtert, so muß doch die Vorstellung einer Gruppen- oder Blockbildung ausdrücklich ausgeschlossen werden.

3. Es ist festzustellen, daß die gemeinsame geschichtliche Grundlage der angesprochenen Kirchen auf dem geschichtlichen Gegensatz zum römischen

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Katholizismus besteht, weil und soweit dieser aus der Heiligen Schrift zu begründen ist: Die Berechtigung dieser wechselseitigen Trennungen ist eine ebenso dringliche Frage wie zwischen den reformatorischen Konfessionen.

4. Die bisher als ausschließlich verstandenen Gegensätze zwischen den beteiligten Kirchen können nicht als nur geschichtlich bedingte oder zufällige dargestellt, sondern müssen als Seiten oder Aspekte der evangelischen Wahrheit begriffen werden, selbst wenn das Verhältnis nicht explizit (etwa durch den Begriff der Komplementarität) definiert werden kann.

5. Die Konkordie läßt das Bewußtsein für die Tatsache vermissen, daß auch dieser Gegensatz der Konfessionen von seiner Entstehung bis zur Gegenwart immer wieder zur gegenseitigen Verschuldung geführt hat, die offen bekannt werden muß und der Vergebung bedarf.

6. Wenn die Rechtfertigungslehre in das Zentrum des Einverständnisses gestellt wird, dann nur unter Einbeziehung der in der reformierten Tradition besonders hervorgetretenen biblischen Zentralgedanken. Zugleich muß das Ziel festgehalten werden, eine individualistische und existentialistische Verengung der Rechtfertigungslehre zu überwinden und den kommunikativen und eschatologischen Charakter dieser Lehre deutlich und verbindlich hervortreten zu lassen.

7. Im Sinne von Ziff. 2 ist ökumenische Gemeinschaft nicht nur eine konsekutive Verpflichtung, sondern eine konstitutive Voraussetzung. Im Blick auf den falschen Weg einer Einheitskirche muß dem entgegengesetzten Fehler eines selbstbezogenen Partikularismus ausdrücklich abgesagt werden. Das Verhältnis partikularer Kirchen mit verschiedener Tradition muß als ein solches der Ergänzung und des gegenseitigen Dienstes verstanden werden.

8. Da alle Reformatoren und die beteiligten Kirchen ein Element des Amtes als eingestiftetes Merkmal der Kirche verstehen, muß unter Wahrung dieses Grundsatzes die Aufgabe der Neugestaltung des Amtes in die Bekenntnisaussagen aufgenommen werden. Eine Ausscheidung dieses Elements und Problems aus den Grundaussagen würde eine Abwertung und Veränderung bedeuten, die mit den Bekenntnissen beider Kirchen unvereinbar wäre.

9. Voraussetzungen und Inhalt eines solchen geschichtlichen Schrittes müssen so geklärt werden, wie es seiner Verbindlichkeit und Tragweite entspricht. Der Vorbehalt künftiger „Überprüfung” und womöglich Rücknahme ist mit dem Begriff der Kirchengemeinschaft unvereinbar.

10. In der vorliegenden Fassung ist die Konkordie als bedingt und unvollständig nicht beschlußreif. Auch nach Behebung dieser Mängel ist der Text in bedenklichem Maße durch Unschärfe und Minimalismus gekennzeichnet.