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II
Die Merkmale der Hierarchie im besonderen

 

1. Das Hieron

Das Hieron als Strukturelement der (primär religiösen, aber rational formalisierbaren) Transzendenz findet sich als eine unbestrittene, unbedingte und nicht zu hinterfragende Grundlage, die allen hierarchischen Strukturformen — jeweils material unterschieden — zugrundeliegt. Man wird an jene philosophische Formalisierung erinnert, die Paul Tillich vorgenommen hat, wenn er von dem spricht, „was uns unbedingt angeht”. Ist dies bei Tillich in einem umfassenden existenziellen, theologischen wie religionsphilosophischen Sinne gemeint, so kehrt das Entsprechende auch in begrenzten, innerweltlichen Zusammenhängen wieder.

Im Begriff ist aber neben der Unbedingtheit das Moment des „Angehend” nicht zu übersehen. Die hier gemeinte Unbedingtheit ist nicht eine statisch-ständige Bedeutsamkeit, von der letzten Endes alles Seiende abhängt und auf die alles Leben religiös rückzubeziehen ist. Es ist vielmehr eine andringende Macht, die zur gegenwärtigen Entscheidung nötigt.

Hierarchie ist nicht heilig-unbedingte Ordnung überhaupt, sondern eine Ordnung, die — jederzeit gegenwärtig — geschichtlich notwendige Entscheidung gewährleistet. Nur in der Verbindung von Transzendenz und Entscheidung entsteht Hierarchie, also weder in der Verwirklichung unbedingt gültiger Ordnung noch in der Bereitstellung jederzeitiger Entscheidung allein. Unbedingtheit der Grundlage und Entscheidungszwang in der Zeit wirken vielmehr überall als Motive in der Ausbildung von Hierarchie zusammen.

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2. arché und -archie

Die Unbedingtheit könnte entweder zeitlos oder final als auf ein erst zu erreichendes Ziel hin gerichtet verstanden werden. Als arché verstanden ist sie jedoch vorgegebener Ursprung, ein terminus a quo, von dem aus sich alles Handeln legitimiert. Arché kann nicht vereint werden mit einer linearen Eschatologie, in welcher alles Wesentliche immer nur in der Zukunft liegt oder in einem grundsätzlichen Progressismus, oder in einer Entfremdungstheorie, in der alles Bestehende als verderbt angesehen werden muß. Das Vorausgegangene muß als Bedingung der Geschichte vorgestellt und grundsätzlich bejaht werden. Arché in diesem formalen Sinne kann daher in jeder nicht hinterfragbaren Besonderheit erscheinen — das heißt: in jeder unableitbaren Erscheinung, weil und soweit diese in ihrer Einmaligkeit unüberbietbar ist und anderen Sinnbestimmungen nicht unterworfen werden kann, ohne ihre Identität zu verlieren. Der historisch-legitimierende Ursprung muß jedenfalls unbeschadet von Entfremdungen durch ein Element legitimier Vermittlung erreichbar sein. Zugleich aber besteht zwischen der arché und ihrer abgeleiteten Repräsentation ein nicht zu überspringender qualitativer Unterschied, in dem sich die Unwiederholbarkeit der Grundlegung und ihre Unverfügbarkeit ausdrücken. Die von Ursprung legitimierte Struktur wird dadurch zur Hierarchie und als solche erkennbar, daß der Zusammenhang zwischen Begründung und gegenwärtiger Darstellung als bestimmtes System in konkreten — im weiteren Fortgang sogar rationalen — Formen ausgearbeitet wird. Kein Traditionalismus ersetzt diese Prägnanz der Struktur: Er ist sogar sinnwidrig, wenn er den Entscheidungscharakter verdeckt und die Entscheidung behindert. Die repristinierende Lust am einmal Gewesenen hat mit dieser Kontinuität nichts zu tun: wohl aber interessiert de reale Präsenz der arché in den Zeiten. Hierarchie ist über die Verfolgung von funktionalen und variablen Zwecksetzungen hinaus an die Konkretion einer geschichtlichen Form in der Gestalt ihrer Träger gebunden, die dieser Würde nicht jederzeit, sondern nur unter ungewöhnlichen Umständen, nämlich bei einem prinzipiell sinnwidrigen Verhalten entkleidet werden können.

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Ist der Hierarchie das Moment der Entscheidung wesentlich, so kann sie sich nur bilden und durchhalten, wo entscheidungsfähige Gegenstände oder Inhalte gegeben sind, die zugleich auch von nachgeordneten Trägern von Kompetenzen im Bereich ihrer Zuständigkeiten entschieden werden können. Jener das Ganze bestimmende Gehalt muß zur Entscheidungsfähigkeit rationalisiert sein. Nicht die einsame Entscheidung der Spitze, die dann lediglich nach Maßgabe von Einsicht und Aufgabenkreis nachzuvollziehen ist, sondern ein für alle, wenn auch unterschiedlich einsichtiger und von der Person insoweit abzulösender Inhalt muß abgrenzbar vorliegen. So muß etwa der theologische Sinn dogmatischer oder liturgischer Formeln einsichtig und gegen Entstellung oder Mißverständnis abgrenzbar sein, ohne daß sie im Vollzug von Lehre oder Liturgie erst jeweils neugefunden zu werden brauchen oder die ganze Tragweite überschaut werden muß. Die Wahrung dieses Sinnes durch Entscheidung ist auf allen Stufen die Aufgabe aller Glieder der Hierarchie. Weder vorrationale noch irrationale Gehalte reichen dazu aus, noch spontane Setzungen, die nicht einsichtig und mitvollziehbar sind. Haben andererseits die Inhalte nicht das erforderliche Maß an konkreter Stringenz oder verlieren sie sie, so verliert auch Hierarchie mit ihrem Inhalt ihre Daseinsmöglichkeit.

 

3. Die Innenstruktur

Die Innenstruktur der Hierarchie hat weitere Merkmale:

a) Ihre Konnexität. Damit ist der innere Zusammenhang gemeint, der ein ständiges Band der wechselseitigen Loyalität begründet. Es ist also weit mehr erforderlich als die sogenannte „Gehorsamschance”. Die oben beschriebenen Rechtsbegriffe des Status und der Substitution zeigen diese gegenläufige Verknüpfung von Unterordnung und Solidarität. Es ist kein Trostpreis, sondern ein konstitutives Merkmal, wenn auch der unterste Träger der Hierarchie, der keine Chancen des Aufstiegs hat, sich als Mitträger und zugehörig versteht. Andererseits wäre es systemwidrig, die Durchlässigkeit der Aufstiegsbahn aufzuheben. In einer Hierarchie muß

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der einfachste Mönch, wie Felix Peretti (Sixtus V.) Papst werden können, der Gemeine den Marschallstab im Tornister tragen.

b) Die Handlungsvollzüge müssen soweit rationalisiert werden, daß sie bei entsprechender Vorbildung und Hingabe an die Sache von einem größeren Kreis von Personen sachgerecht vollzogen, zugleich aber auf ihre Sachgerechtigkeit überprüft werden können. Sie werden niemals soweit funktionalisiert und mechanisiert, daß das Moment eigenständiger Handhabung und Entscheidung dabei aufgehoben würde. Die Spannung zwischen rationaler Bestimmtheit und situationsgemäßer Anwendung kann nicht aufgelöst werden. Dies würde sich sonst an der Entleerung des Statusbegriffs abspiegeln.

Hat aber die Innenstruktur Anfang und Ende, Spitze und Basis, so ergibt sich damit zugleich der Aufbau der Außenstruktur.

 

4. Die Außenstruktur

a) Der Hierarchie ist ein geschultes, sachvertrautes Fachwissen und Können vorbehalten, welches durch lange Einübung gewonnen wird und zugleich mit den formellen Rängen ein Qualitätsbewußtsein auf Grund konkreter Maßstäbe erzeugt. Die Hierarchie trägt schwächere Glieder — wie Institutionen überhaupt —, aber sie ist nicht unempfindlich gegenüber ihrem Ungenügen und sucht solche Glieder unter Wahrung des Statusprinzips zu ersetzen. Auf Bewährung gestellt, erzeugt sie weit eher eitle Selbsttäuschung über vermeintliche Leistung als den Machtgenuß des beatus possidens.

b) Die nichthierarchische Basis als Widerlager ist ohne die von Bahrdt (S. 5) vermerkten Momente der Anerkennung nicht denkbar. Hier liegt ebenfalls ein dialektisches Verhältnis. Der nicht der Hierarchie Angehörige erkennt als positiv an, was er selbst nicht vermag oder auch gar nicht leisten will, weil es ihm zu hohe Energien oder fremde Sachinteressen abfordert. Aber er akzeptiert zugleich den Gesamtsinn, der ohne die Hierarchie nicht verwirklicht werden kann, und identifiziert sich mit dieser Sinnerfüllung. Ein bloßes Oben-Unten-Verhältnis reicht — selbst unter Voraussetzung eines materiellen Interesses am Ergebnis — nicht aus, um

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dieses Phänomen zu erklären. Hierarchie ist nicht vom Autoritätsverhältnis her zu verstehen; sie zerstört vielmehr gerade die eigenen Wurzeln, wenn sie durch einseitige Überhöhung und Inanspruchnahme jene Identifikation subjektiv und strukturell in Frage stellt. Sie kann deshalb nur durch bloßen Angriff auf die Autorität allein nicht zerstört werden, sondern nur durch ein grundsätzlich undialektisches Denken, welches alle Vorgänge auf eine Ebene projiziert, jeden, auch den fruchtbaren Widerspruch zu beseitigen unternimmt.

c) Wegen der existenzbestimmenden Tragweite der Entscheidungen wird eine sorgfältige Vorbereitung angestrebt. Aber sie ist grundsätzlich intern, keine Deliberation im möglichst breiten Kreis, auch nicht öffentlich. Deliberation ist hier also nur vorbereitend, nicht strukturell. Die Entscheidungen tragen möglichst personalen Charakter. Sie sind in der Tendenz knapp und sparsam, um  die Autorität nicht unnötig zu belasten. Sie werden ferner nicht begründet, damit aber gerade sekundär auslegbar bis zur entlastenden Uminterpretation.

 

5. Zusammenfassung

Hierarchie ist demnach ein exakt beschreibbares historisches und soziologisches Phänomen, keine Singularität. Sie ist sozusagen mehrachsig, besteht aus mehreren Elementen, die je in sich antinomisch aufgebaut sind:
a) Als einsichtig geordnetes Gefüge bildet sie sich nur dort, wo eine existenzbestimmende Entscheidung jederzeit bereitgestellt wird oder zu stellen unternommen wird.
b) Eine Rationalisierung der Sachverhalte und Vollzüge macht diese entscheidbar, setzt aber zugleich einen Raum personaler Entscheidung frei.
c) Dem personalen Status jedes einzelnen Gliedes der Hierarchie steht die Ersetzbarkeit der Entscheidungen durch den Vorgeordneten gegenüber. Die Substitution der Sachentscheidung hebt jenen Status nicht auf.

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d) Hierarchie verbindet Ursprung und Gegenwart im Blick auf ein vorgegebenes Ziel. Sie bleibt also nicht statisch im banalen Fluß der Zeit bestehen, sondern wird durch die Korrelation von Ursprung und geschichtlich notwendiger Gegenwartsentscheidung gekennzeichnet.

Daher muß Hierarchie zerfallen
e) wo alles schon entschieden ist, so daß die Entscheidungen nur nachzuvollziehen sind, das heißt: wo ein Grundbestand nicht mehr geschichtlich fortzubildender, sondern nur noch auszulegender Grundsätze vorgegeben ist. Weder eine Buch- noch eine Gesetzesreligion kann hierarchisch sein, weil ihnen die Triebkraft der Verwandlung ihrer Identität fehlt.
f) Wo Entscheidungen mit Bindungswirkung für Dritte nicht mehr möglich sind, also jenseits der Grenzen der Judiziabilität.
g) Wo die Sinneinheit unterschiedlichere Entscheidungen in eine bloße Jeweiligkeit auseinanderfällt.

Die Interpretation von Hierarchie als Abbild vorgegebener Seinsordnungen ist daher eine unzulängliche Auslegung, welche die Merkmale der Rationalität und des geschichtlichen Entscheidungszwangs nicht erfaßt8a. Eben darum ist es unzulänglich, Hierarchie allein vom Seinscharakter ihrer Träger her zu verstehen und zu kritisieren. Hier wird ein bezügliches Element für das Ganze genommen. Die mechanische Befehlsabhängigkeit ist vollends nicht hierarchisch.

Diese kritischen Fehlinterpretationen unterbieten peinlich die hohe Rationalität und zugleich geschichtliche Bewährung dieser Formen. Die irrationalen Momente der Bindung zwischen den Gliedern der Hierarchie und  der Spannung zwischen Vorentschiedenheit und Entscheidung sind zugleich funktionale Mittel, um das Gefüge tauglich zu erhalten.


8a Die Abhandlung von F.H. Kettler, Enderwartung und himmlischer Stufenbau im Kirchenbegriff der nachapostolischen Zeit, in: Theologische Literaturzeitung 79 (1954) Sp. 385 ff., stellt, wie regelmäßig solche ideengeschichtlichen Untersuchungen, die Frage nach der soziologischen Wirksamkeit nicht und beantwortet sie daher auch nicht.

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Ist das Vorhandensein existenzbestimmenden Entscheidungszwangs eine Voraussetzung für die Bildung von Hierarchie, so wird die Hierarchie zugleich darauf verwiesen, das Bewußtsein dieser Entscheidungslage in ihrem Autoritätsbereich ständig wachzuhalten. Damit gerät sie vor die Wahrheitsfrage. Deckt die geschichtliche Lage die Unbedingtheit, die Absolutheit dieser Antithesen nicht, so wird Hierarchie dazu gedrängt, eine real nicht vorhandene Spannung vorzutäuschen, eine ideologische Frontstellung im Sinne des Freund-Feind-Verhältnisses für alle Lebensbereiche durchzuhalten. Das zeigt sich insbesondere an der Künstlichkeit, mit welcher bedeutungslose partikulare Beziehungen in den Bereich grundsätzlicher Gegensätze einbezogen werden. Der Mangel an Evidenz wird durch doktrinäre Konsequenz ersetzt.