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Anmerkungen zu Kapitel XVIII

1 Die eigentümliche Doppeldeutigkeit dieses Geschehens hat Karl Barth mit dichterischem Pathos dargestellt:
„Man kann sagen und klagen: Die Christenheit hat sich schon nach den ersten Jahrhunderten ihres Bestandes einer großen Fiktion und Illusion, zu deutsch: einer großen Lüge in die Arme geworfen. Und so vergaß sie, daß ihre Zeit die Zeit zwischen der Himmelfahrt und der Wiederkunft Jesu Christi und also von einem Anfang her einem Ende entgegenlaufende Zeit, eine kurze Zeit ist, in der es kein Aufhalten, wohl ein Sichbegegnen, aber kein Sichbinden, wohl Zelte, aber keine Steinhäuser gibt. Und so ließ sie sich von der Welt einladen. So schloß sie Übereinkünfte mit ihr. So ließ sie sich ihr Leben garantieren. So ging sie immer aufs neue den Bund ein: mit dem römischen Reiche, mit der platonisch-aristotelischen Philosophie, mit dem Volks- und Brauchtum des germanischen Nordens, mit der humanistisch und später mit der technisch bestimmten Kultur der Neuzeit. Und sie hatte Erfolg.
Die Kirche wurde eine Macht neben den anderen Mächte dieser Welt. Sein (des Christentums) Bekenntnis wurde matt und seine Erkenntnis leer in diesem Bunde. Seine Geschichte wurde die Geschichte seiner freiwillig-unfreiwilligen Amalgamierung mit den Ideen und Tendenzen eben des Aeons, von dem es zu Anfang geheißen hatte, daß er im Kreuze Christi ein für allemal vergangen sei. Aber die Strafe folgt auf dem Fuße, und heute wird sie offenbar. Das „christliche Europa” kehrt unter dem Gelächter der Hölle zu seiner ursprünglichen wilden Freiheit zurück.
Man kann nun denselben Sachverhalt gewiß auch ganz anders sehen. Man kann nämlich diesen merkwürdigen, heute so problematisch gewordenen Bund zwischen dem Evangelium und den Weltmächten auch als ein Ereignis verstehen, das als ein Erweis der Geduld Gottes und unter der Leitung seiner Weisheit auf bestimmte Zeit und in bestimmten Grenzen sein Recht und seine Notwendigkeit hatte.
Es durften unterdessen Natur und Gnade, Antike und Christus, Vernunft und Offenbarung, Staat und Kirche vereint gesehen werden, wie unter dem Bogen eines zweiten noachitischen Bundes. Es durfte diese Vereinigung sogar Gestalt annehmen, widerspruchsvoll und problematisch in jeder Hinsicht, und doch nicht ohne eine gewisse Konsistenz, nicht ohne einen Widerschein des Friedens, den sie meinte. Es sollte diese Zeit der Synthese ein Zeichen sein, um allen Zeiten zu sagen, wo sie herkommen, wo sie hingehen. Was wir heute erleben in der Verselbständigung eines Reiches der Profanität, in der großen Ausschaltung und Säkularisierung und Negation des Christentums, ist das letzte, nicht zu bejammernde, sondern nüchtern anzuerkennende natürliche Ende dieser Zeit, die nicht umsonst gewesen ist, die ihre Größe und Würde hatte und behält, wenn sie auch so nicht andauern konnte und so nicht wiederkehren kann.
Der Gegensatz dieser beiden Auffassungen ist kein endgültiger, und

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es dürfte sich darum schwerlich lohnen, die eine gegen die andere auszuspielen und durchsetzen zu wollen. Sicher ist dies: Die Zeit, das christlich-bürgerliche oder bürgerlich-christliche Zeitalter ist abgelaufen, der Bund, d.h. das Christentum in seiner uns bisher bekannten Gestalt ist zu Ende. Eben damit ist heute die Christenheit, ist die Kirche zu einer ganz neuen Freiheit ihrer Erkenntnis aufgerufen. Nicht zu einer Flucht vor der Welt oder aus der Welt, aber zu einer ihr in jener konstantinischen Ordnung nicht gegebenen Freiheit in der Welt. Nicht zu einer Freiheit von ihrer Solidarität mit dieser Welt und also nicht zu einer Freiheit von ihrer Sendung, von ihrer Verantwortlichkeit, von ihrem Dienst in der Welt, aber zur Freiheit, in der Welt für die Welt ihrer eigenen Sendung, ihrer eigenen Verantwortlichkeit, ihrem eigenen Dienst zu leben und nachzugehen ...”
(Das Evangelium in der Gegenwart, 1935, S. 30ff.)

2 Z. f. ev. KR. 7 (1960), S. 273.

3 Ein Teil der nachfolgenden Ausführungen ist aus dem Aufsatz „Kirche und Staat nach evangelischem Verständnis” in „Quatember”, Osterheft 1956, S. 66ff., entnommen.

4 Nachweisungen s. b. Walter Ullmann, D. Machtstellung d. Papsttums im Mittelalter (1960), insbs. S. 398ff.

6 Vgl. Studienband I über Hannover, insbes. den Diskussionsbericht. Über das ganze typologische Problem vgl. auch meine Abhandlungen „Menschenrechte und moderner Staat” und „Das System der großen Konfessionen” in dem Sammelband „Glaube, Recht, Europa” (Glaube und Forschung IV), ferner: Politische und christliche Existenz in „Macht u. Recht, Beiträge z. lutherischen Staatslehre d. Gegenwart”, Berlin 1956.

7 D. Ev. d. Johannes, S. 501ff., 511.

8 Eine herbe Kritik am nachreformatorischen Kirchenrecht übt unter Verwertung von umfangreicher zeitgenössischer Literatur Hans Emil Weber in seinem Aufsatz „Von der Kirchenrechtstheorien im alten Luthertum” (Ev. Theol. 1946, S. 176ff.). Freilich verwechselt er historisches Rechtsdenken (juristischen Traditionsbeweis) mit Rechtspositivisus, spricht von der Verbrennung des kanonischen Rechts durch Luther schlechthin usf. Aus seinem Aufsatz sind in der Folge eine Reihe von Zitaten entnommen.

9 vgl. Martin Heckel, Staat und Kirche ... und ders. Autonomie und pacis compositio — der Augsburger Religionsfriede in d. Deutung der Gegenreformation, Z. f. R.G. Kan. Abt. XLV, 141ff.

10 Lex charitatis, S. 194.

11 Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912), S. 513.

12 Erik Wolf, a.a.O.

13 „Man muß einen scharfen Unterschied machen zwischen den iura ordinis (des geistlichen Amtes) und den iura dioeceseos (Verwaltung) und jurisdictionis. (Anm.: J. Stephani, Carpzov). Aber für die letzteren

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sind besondere, von den rein staatlichen getrennte, aus Politikern und Kirchenmännern (ecclesiastici) gebildete Behörden eine Notwendigkeit, die Konsistorien.” (J. Stephani, Reinkingk, Carpzov, Brunnemann, Weber 181). — Es ist also die sachlich zutreffende Terminologie Melanchthons in Apol. XXVIII aufgegeben. Die Korrespondenz von Jurisdiktion und Ordo in der potestas ecclesiastica ist verlorengegangen. Das will ich mit der Spaltung der Jurisdiktion ausdrücken.
Der Episkopat des Landesherrn wurde ein Schutz gegen die Auslieferung der Kirche an die niederen politischen Gewalten. Die Superintendenten konnten geistliche Leitung darstellen und ausüben. Sogar die Konsistorien wagten aus dem Unterschied der Reiche das Streben nach Selbständigkeit zu folgern. Man konnte auch das Recht der Gemeinde in der tota ecclesia reden lassen. Es ist vielfach vorbereitet, wenn ein Wittenberger Gutachten von 1683 dazu fortschreitet, daß das ius episcopale als ,gantz ein ander Recht’ unmöglich ,hängen könne an dem jure politico et territorii’, daß die iura sacra ,dem Fürsten von der Kirche anvertraut seien und von ihm im Namen der Kirche geführt würden’. (Boehmer d.Ä., Dedeken, Fecht). Aber mit dieser Inanspruchnahme und Deuung geistichen Rechtes der Kirche durch die Kirchenbehörden ist ihr freilich ein sehr zweifelhafter Dienst geleistet: dadurch wurde der Territorialismus in seine Konsequenz getrieben”. (Weber 183f.)

14 Matthias Stephani, Discursus acad. vol. I, disc. 7 p. 52, M. Heckel, a.a.O. S. 136.

15 „Die Geltendmachung der Kirchenhoheit was das Reformationsrecht. Dies ius reformandi, bei dem im übrigen irgendwie die Zustimmung der Kirche vorausgesetzt wird ...” (Reinkingk, Pufendorf) (Weber 187).

16 „Auch die Episkopalisten wollten, insonderheit bei Pfarrwahlen der Gesamtkirche in den drei Ständen ihr Recht wahren. (Carpzov) Bei den fortgeschrittenen Territorialisten taucht der Begriff der collegia auf ... (Presbyterien, Synoden). Aber die collegia bleiben der Territorialgewalt völlig untergeordnet ... Mit seinem grundsätzlichen Vorbehalt ist der Kollegialismus das Seitenstück zum Episkopalismus. Aber praktisch ist er noch ohnmächtiger ...” (Weber 186).

17 „Hell ertönt der Kampfruf gegen den dominatus sacer oder die Hierarchie ... der Protestant wird damit gemahnt, was er für seine Glaubensfreihet dem Staate verdanke. Es darf keinen Staat im Staate geben ... Auch die jura circa sacra, sacrorum fließen ohne Vermittlung des Bischofsgedankens aus dem ius territorii et superioritatis ... Die Ersetzung des Bischofstitels durch Superintendent, Inspektor hat den Sinn, daß auch von der geistlichen Leitung her die Gefahr nicht mehr auftauchen soll. Der leitende Gesichtspunkt für die weitgehende Ein- und Unterordnung der Kirche ist das Staatswohl ..., aus dem gerade auch das Recht der Kirchenreformation hergeleitet wird. So muß sich die Kirche empfehlen und sozusagen ihr Existenzrecht sichern durch den erzieherischen Dienst ... den sie leistet ... Es ist zu merken, wie unter den Normen neben der Schrift die Vernunft zur Führung drängt.

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Aber fürchtet man denn gar nicht für das Leben des Glaubens? Nein, es kann und soll in der Innerlichkeit und in einfacher praktischer Frömmigkeit erblühen (Conring, Pufendorf). Wir wundern uns nicht über Abkehr vom Dogmatismus und Unionsgesinnung und pietistische Neigung, die bei Boehmer hohes Lob für Spener findet.” (Weber 185/6). Es zeigt sich jedenfalls klar, welches Maß der Ingerenz die kirchenrechtlichen Entscheidungen für das innere geistliche Leben der Kirche bedeuten, wo das eine Moment gefördert, das andere beiseitegedrängt wird.

18 In demselben Jahrhundert, in welchem mein Urahn seine französische Heimat wegen seines reformierten Glaubens verlassen mußte, mußte ein anderer meiner Vorfahren wegen Zwangskonversion durch die Landesherrschaft nach lebenslanger Amtszeit aus seinem lutherischen Pfarramt weichen und ein dritter, der Haus und Hof nicht verlassen wollte, wegen Wechsels der Herrschaft alle drei Konfessionen durchmachen.

19 M. Heckel a.a.O., S. 124.

20 So sagt Johann Gerhard:
loc. 24 De mag. pol. § 165: Ut ergo medium inter Scyllam et Charybdin teneamus, primo omnium demonstrandum fuerit, Christianum et pium magistratum non posse nec debere ab omni religionis et sacrorum cura simpliciter excludi: secundo certi limites constituendi sunt, ne ecclesiastici et politici ordinis munia confundantur, sed utrique debitae partes relinquantur.” (M. Heckel, 229).

21 a.a.O., S. 226.

22 „Eine besondere Rolle nimmt in den modernen Darstellung des Episkopalsystems die Lehre von den drei Ständen der Obrigkeit (status politicus), der Lehrstand (status ecclesiasticus) und der Hausstand (status oeconomicus) ein. In Anlehnung an ältere Auffassungen hat man in ihr ein oberstes Prinzip sehen wollen, das sich in den drei Systemen in jeweils verschiedener und charakteristischer Weise verwirklicht hat. Wie nach einem geheimen logischen Gesetz hatte danach im Episkopalsystem der Lehrstand die Führung der Kirche inne, um sie im Territorialsystem an die Obrigkeit weiterzugeben, bis schließlich ... das Kollegialsystem den dritten Stand an die Spitze brachte. „In der Tat treten uns als augenfälligste Erscheinung jener Epoche auf der Grundlage der Dreiständelehre die drei kirchenrechtlichen Systeme ... entgegen”, sagt Liermann (Kirchenrecht, S. 162. Schon früher vertreten bei Daniel Nettelbladt, Observationes juris ecclesiastici, Halae 1783 VI, De tribus Systematibus). — Und Stutz (Kirchenrecht, S. 381) erklärt: ,Indem mit dieser Ständelehre die geschichtlichen Tatsachen auf dreifache Weise kombiniert wurden, ergaben sich drei Systeme’.” (M. Heckel a.a.O., S. 121).

23 M. Heckel a.a.O.

24 ebda S. 118ff.

25 Grundmann, Z. ev. KR. 6, 284, Hesse, Ev. Ehescheidungsrecht.

26 Die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts. Vortrag auf der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Marburg 16.-17. 10. 1952 —

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Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, H. 11, S. 175f., Berlin 1954.

26a Z. f. ev. KR. 1., 1 S. 12.

27 Bismarcks Begründung des Kulturkampfs mit der von kirchlicher Seite in Frage gestellten staatlichen Souveränität gehört noch in die ältere Stufe des Begriffs. Der Fehler lag weniger in der Übersteigerung eines im Sinne formaler Staatsallmacht entarteten Souveränitätsbegriffes als in pietistischer Verkennung des kirchlichen Gegenrechts.