2. Der Übergang vom konstantinischen Bund zum modernen Staatskirchenrecht

In dem vorigen Abschnitt wurde das Verhältnis von Kirche und Staat unter dem konstantinischen Bund als grundsätzliches und geschichtliches erörtert. Der nun folgende will die geschichtliche Entwicklung kritisch darstellen. Der konstantinische Bund ist nicht einfach das grundsätzliche Problem von Kirche und weltlicher Gewalt. Er ist nicht zu denken ohne die Merkmale der Universalität und der Oekumenizität, also einer einzigartigen und zugleich umfassenden geschichtlichen Gestaltwerdung der Christenheit, die damit auch der Einzigartigkeit und Einheit der Kirche entspricht. Er ist Reichskirche, nicht Staatskirche. Den Staat aber gibt es begrifflich nur im Plural. So entsteht auch mit der Entstehung souveräner Nationalstaaten die Frage nach der Stellung nationaler Teilkirchen in jeder Kirche. Es entspricht aber auch der einzelne Staat der partikularen Kirche mit teils bekenntnismäßigen, teils historischen Besonderheiten.

Bei positiver Verbindung von Kirche und weltlicher Gewalt tritt diese in zwei Rollen auf: sie vertritt nach eigenem Verständnis und in eigener Verantwortung ihre legitimen politischen Interessen und Aufgaben. Diese

|1035|

umfassen und schließen die Aufgabe der Ordnung mit ein. Politisches Leben und Gestaltung aber ist, wie Rudolf Smend gezeigt hat, mehr als Ordnung, deshalb ist der kirchlich-theologische Sprachgebrauch, der von der Ordnungsaufgabe des Staates redet, eine unzureichende Beschreibung der Staatswirklichkeit, der sich die Kirche gegenüber sieht. Sie ist immer geschichtliche Selbstgestaltung. Zum Zweiten aber nimmt der Staat in diesem Verhältnis eine Aufgabe der Fürsorge und Beihilft auf sich. Sie entspringt aus der verfassungsrechtlichen Bundesfreundlichkeit, die den anderen Teil eines solchen Verhältnisses nicht verkümmern und verfallen läßt. Beide Rollen und Interessenlagen brauchen sich nicht zu widersprechen. Auch braucht diese Hilfe, wenn sie das Eigeninteresse ds Staates mit wahrnimmt, deswegen noch nicht das Wesen und das daraus begründete echte Interesse der Kirche zu verletzen. Sonst wäre ja nirgends Vertretung, Hilfe, ja selbst Vormundschaft möglich. Aber freilich liegt in beidem die Gefahr der Interessenkollision begründet. Sie wird gerade dann verstärkt, wenn jene Hilfe am dringlichsten ist, wenn nämlich die Kirche infolge innerer Unordnung oder äußerer Umstände nicht selbst hinreichend in der Lage ist, die legitimen Grenzen einer solchen Einwirkung geltend zu machen, eine falsche Ingerenz abzuwehren, wie ein bewußtloser oder gelähmter Kranker, der eine falsche oder rücksichtslose Behandlung nicht abweisen kann. Unzweifelhaft hat das Reich und mancher Staat der Kirche in vielen Verwirklichungen ihrer inneren und äußeren Geschichte gute, loyale Dienste geleistet, die es deswegen nicht weniger sind, weil sie von außen kamen und nicht ohne Eingriffe abgingen. Aber freilich: beides sind weltliche Rechtstitel und Rollen, nicht geistliche und kirchliche. Es ist gerade die cura ecclesiae eine Art der Diakonie der Welt an der Kirche, die freilich regelmäßig von Christen im weltlichen Amt geleistet wird und damit an die kirchliche Diakonie sehr nah heranrückt.

Nun hat der aufsteigende souveräne National- und Fürstenstaat schon lange vor der Reformation danach gestrebt, seine Rechte über die in seinem Gebiet lebende Kirche zu verstärken. Das war mehr als ein Wiederaufleben der griechischen Polis-Lösung: es folgte dem immanenten Zwang des Souveränitätsbegriffs, sich zu vervollständigen: es war ein Stück und Anfang einer säkularen Selbstverwirklichung, welche später in den pseudoeschatologischen politischen Staatsideologien umgebildet und als Ziel formuliert werden konnte. Gerade die englische Reformation unter Heinrich VIII. zeigt diese Tendenzen des Fürstenstaates sehr deutlich.

In dieser Entwicklung bildete die Reformation einen entscheidenden Einschnitt. Die Einheit der Kirche zerbrach. Die bisher legitimen Formen der Wahrnehmung des gesamtkirchlichen Zusammenhangs gegenüber partikularen Gewalten erwiesen sich als verderbt und wurden bestritten. Bei der unbeabsichtigten und schrittweisen, darum auch nie im ganzen

|1036|

bedachten bildung einer neuen getrennten Kirche — oder zunächst Bekenntnisgemeinschaft — war das Reich mit seiner Rechtssetzung führend, weil ja der konstantinische Bund reichsrechtlich verankert war. Durch den Augsburger Religionsfrieden von 1555 wurde in einer endgültigen vorläufigen Lösung dem lutherischen Bekenntnis ein reichsrechtlicher Status gewährleistet, aber auf dem Wege der Übertragung der suspendierten bischöflichen Rechte an die Fürsten und Magistrate zur Wahrnehmung. Dies war der hohe Preis, den die lutherische Reformation für ihre auch nur teilweise Durchsetzung, für die Bewahrung vor gewaltsamer Unterdrückung zahlen mußte. Damit erlangte die politische Gewalt zum ersten Mal ausdrücklich kirchliche Rechte, über welche das Reich vicarierend für den sich versagenden römischen Stuhl verfügt hatte.

So unvermeidlich das war, so monströs und grundsätzlich bedenklich war es doch zugleich8. Schon die ottonischen Reichsbischöfe hatten nur solange eine positive verfassungsrechtliche Bedeutung, als sie gegenüber den partikularen Gewalten der Stämme ein Moment der Einheit darstellten. Als daraus ein Nebeneinander von geistlichen und weltlichen Territorien wurde, verlor die Konstruktion ihren Sinn. Das Reich ist auch daran zugrundgegangen, daß es zur Säkularisation der geistlichen Territorien nicht die Kraft fand. als es im 18. Jahrhundert erwogen wurde, war es schon zu spät. Während nun die Reformation die Kirche laisierte und die verdrängten Gemeinderechte wieder herzustellen unternahm, wurde der Fürstenstaat klerikalisiert. Jeder Fürst ein Bischof, jeder Fürst ein Theologe, in dessen Rat — bei aller theologischen Beratung — nun doch zentrale theologisch-kirchliche Fragen letztlich entschieden werden mußten. Der kirchliche Laie wurde im Grundsatz mündig, aber gleichzeitig wurde die Kirche entmündigt. Bei allem Rat und oft echtem Einvernehmen bestand nirgends ein Veto, eine unabdingbare Grenze gegen die Ingerenz. Das ius reformandi vollends gab dem Fürsten eine geradezu papale Stellung — der vorreformatorische Satz „dux Cliviae est papa in suis terris” als Ziel der Fürstenpolitik wurde über alles Erwarten rechtliche Wirklichkeit.

Die Kritik Webers zeigt:
1. die eigenen Entscheidungen in der Reformation, welche mit zu diesem Zustand geführt haben, werden niemals erwogen oder gar kritisiert. Von diesem Traditionsbestand ist die ecclesia semper reformanda stillschweigend abhängig. Mit Recht erinnert Weber die konfessionellen Kritiker der vom Staat geförderten Unionen, in welchem Maße ihr konfessionelles Landeskirchentum mit Staat, Land, Volk, politischer Tradition verknüpft ist.
2. alle Anstrengungen innerhalb dieses Entwicklungsganges, um den geistlichen Charakter und die Eigenständigkeit der Kirche zu wahren, führen nicht nur nicht heraus, sondern dienen nur zur Fortentwicklung und Verschärfung der Staatskirchengewalt.

|1037|

Zu diesem kirchenrechtlichen Rechtstitel über das Reichsrecht kam alsbald ein zweiter, ebenfalls innerkirchlicher: infolge der Zerstörung der Diözesanorganisation, die schon vor der Reformation durch die unendliche Gemengelage von kirchlichen und weltlichen Grenzen vorbereitet war und eigentlich eine durchgreifende neue Circumscription der Diözesen erfordert hätte, wurden Fürsten und Magistrate zugleich auch als Kirchenglieder in Anspruch genommen und als praecipua membra ecclesiae wegen ihrer besonderen Wirkungsmöglichkeiten berufen und bevollmächtigt: so kam zu dem heteronomen Recht des Bischofs von oben und außen ein autonomes Element von innen und unten hinzu. Die gesamtkirchliche Autorität von Papst und Konzilien wurde durch diejenige der großen Reformatoren und des mit ihnen zusammenarbeitenden Kreises von Theologen ersetzt, deren Konsensus die rezipierten und reichsrechtlich relevanten Lehrformulierungen trug. An die Stelle der Hierarchie traten die einzelnen Bischöfe kraft des Augsburger Religionsfriedens, also nach Reichsrecht als praecipua membra, singuläre Hierarchen ohne verbindliche Gemeinschaft und Disziplin9. Sie waren durch die Kumulation dieser vier Rechtstitel reich und mächtig. Denn diese Titel waren in praxi nie zu unterscheiden und boten die Grundlage einer ständigen kirchenrechtlichen Wechselreiterei: was der Bischof und das membrum ecclesiae nicht konnten, konnte der Fürst oder der Kurator — und umgekehrt.

Johannes Heckel, der besonders die Entstehung der cura ecclesiae untersucht hat, betont in seiner Darstellung der Kirchenrechtslehre Luthers10, daß Luthers Ziel nicht das Landeskirchentum gewesen sei und man ihn dafür nicht in Anspruch nehmen dürfe. Das ist richtig und falsch zugleich. Sicherlich war dies nicht das Ziel, das gewollt war, werden konnte und durfte. Aber es mußte, als es soweit war, zwangsläufig hingenommen werden. Es war das Olmütz der unvollendeten, in der Halbzeit liegengebliebenen Reformation, die nicht ohne eigene Schuld an den Widerständen erlahmte. Diese Niederlage mußte mit nüchternem Realismus angenommen werden, als die einzige Möglichkeit weiterzuleben. Jedoch fehlte der Reformation ein Bismarck, der Olmütz verteidigte, aber eine aktive Politik daran anschloß. Wie 1850 waren Quietismus und Romantik im Bunde auf dem Plan: die gehorsame, willige Preisgabe der Kirche an den Landesfürsten, die von der wahren, eigentlich gemeinte Ordnung träumte, die sich aber beide dann doch in dem elendesten aller Zustände einrichteten und ihn womöglich verteidigten und begründeten.

Daß das Landeskirchentum für Luther und die entstehende lutherische Kirche kein Ziel war und sein konnte, ist eigentlich eine Binsenwahrheit. In der Inanspruchnahme des weltlichen Arms zur Herstellung der äußeren Kultuseinheit in den Territorien unterschied sich die lutherische (und übrigens erst recht die calvinische und zwinglische) Reform

|1038|

nicht grundsätzlich, sondern höchstens in Begründung und Modalitäten von der mittelalterlichen Verbindung von Kirche und weltlicher Gewalt. Aber was bis dahin ein (immer problematisches) Verhältnis zwischen zweier eigenständiger Größen war, wurde jetzt für die Kirche zur Bedingung ihrer konkreten Existenz. Troeltsch, der doch die Dinge ganz ernst nimmt, wird in der Beschreibung dieses Tatbestandes zu geradezu sarkastischen Formulierungen gedrängt wie etwa:

„... es gehört zur Möglichkeit seiner Existenz, die ohne Halt ist, wenn nicht ein christlicher Staat oder eine christliche Gesellschaft dieser zarten organlosen Pflanze das Spalier darbietet, an dem sie emporwachsen und die Früchte ihrer reinen Innerlichkeit reifen lassen kann.”11

Troeltsch lehnt es ab, in der stärkeren Anlehnung an das landesherrliche Regiment einen Bruch oder wesentlichen Gegensatz zwischen dem jungen und dem alten Luther zu sehen. Er faßt die ganze Entwicklung als die unvermeidliche Konsequenz der Spiritualisierung der Kirche auf, die dennoch nicht Sekte, sondern Kirche ist und bleiben soll. Tiefer als im Begriff der Spiritualisierung scheint mir der Grund in der kenotischen Tendenz getroffen zu werden, welche sich in der Gottesdienstlehre und zentral im Abendmahlsvollzug aufweisen läßt, und freilich zu jener führt. Modern gesprochen: die Kirche übernimmt ihre eigene Existenz nicht.

Was sich hier abspielte, war weit mehr als ein einfaches Versagen vor einer aktuellen geschichtlichen Aufgabe. Freilich hätte in dem Maße der unvermeidlichen Stärkung des fürstlichen Einflusses auf die kirchlichen Dinge deren Eigenständigkeit betont, gekräftigt und ausgebildet werden müssen. Die ganze Last dieser Entwicklung hat eigentlich auch nur das deutsche Luthertum zu tragen gehabt, weil hier nicht eine ganze Kirche mit einem sichtbaren Oberhaupt wie in Schweden und England immer noch dem Fürsten gegenüberstand, die Eigenständigkeit der Kirche darstellend und für spätere Zeiten zugleich bewahrend. In jenen Ländern wirken bis heute traditionelle Momente dem grundsätzlichen Gefälle entgegen, welches sich in Deutschland voll ausgewirkt hat. Hier zerfiel alles in einen unübersehbaren Partikularismus, wurde atomisiert und der Bewährung des Gemeingeistes entwöhnt.

Aber in der Tiefe liegen dieser Haltung Entscheidungen im Bereich des Gottesdienstlehre zugrunde, die auch heute noch der Überwindung des Landeskirchentums wirksam entgegenstehen. Wenn die Kirche dem Staat gegenübertritt, in der Auseinandersetzung zwischen Gott und den im Staat verfaßten Mächten der Welt, so ist es nicht einfach so, daß die Kirche Gott gleichsam im Rücken hat. Gott der Herr ist kein a priori. Es geht auch nicht allein um Gebrauch und Mißbrauch dieses Wortes Gottes. Es wird vielmehr in jenem Kampfe das Verhältnis sehr tief und genau geprüft, in welchem diese Kirche selbst vor Gott steht. Von diesem Verhältnis und seinem Verständnis hänt die Wirksamkeit der Kirche gegenüber dem Staate ab. Eine Kirche, die sich mit dem Opfer

|1039|

Christi vor Gott stehen sieht, wird auch dem Staat gegenüber zu stehen unternehmen. Die Kirche aber, die in der Wendung ad deum zwar ihre Dankbarkeit bezeugt, aber sonst gleichsam nichts zu sagen hat, wird auch dem Staate gegenüber zu keinem Stande kommen: wie der Stand vor Gott, so der Stand vor den Menschen. Kirchliche Anmaßung und kirchliche Unterwürfigkeit richten sich genau danach, ob wir hier im rechten Stande uns verstehen. Nicht der Auftrag entscheidet, sondern dieses Stehen. Man mag das hier Gemeinte besser ausdrücken können. Jedenfalls aber besteht die Abhängigkeit der Ethik vom Kultus.

Diese These, als formale betrachtet, bewährt sich an der Härte und Entschlossenheit, die etwa der Erwählungsglaube seinen Trägern in der Wendung gegen die Welt gewährt. Denn wenn diese Erwählung so vorzeitlich feststeht, so ist damit dem Menschen ein unerhört festen Boden gegeben; es kann freilich in diesem Verhältnis auch nichts sich selbst ereignen, und alles was geschehen kann, geht in Richtung auf die Realisierung des damit zu vertretenden göttlichen Anspruchs, der seinen Verkünder und Vertreter streng mitumschließt. Kann dieser Erwählungsglaube, den Barth in unserer Zeit kritisch umgeprägt hat, nicht vertreten werden, so kann doch die Gemeinde der Heiligen als Abbild und Abschattung der himmlischen Polis in ihrer eigentlichen eschatologischen Bestimmtheit verstanden werden: Dieser platonisierende Gedanke kann auf der Seite der griechischen Kirche mehr nach der seinsmäßigen, auf der modernen reformierten Seite mehr nach der ethischen Seite verstanden werden: das Sein vor Gott wie das Beanspruchtsein von ihm ist immer nur ein Ausdruck dafür, daß aller Wirksamkeit gegenüber der Welt eben das Verhältnis ad deum zugrunde- und vorausliegt. So kann die griechische Kirche darauf bauen, daß ihre geistliche Existenz ihre Umwelt, auch den Staat heiligend durchdringt, ihr kanonisches Gefüge wahrend, aber sich nicht in erster Linie und in lateinischer Schärfe rechtlich abtrennend. Es kann Erik Wolf den Bekenntnischarakter der Kirche betonen, durch den die ganze Kirche, in allem was sie tut, als bekennende wirkt und diesem kerygmatischen Auftrag entspricht12. So ist das leidenschaftliche Interesse zu erklären, welches Karl Barth dem Gedanken der analogia relationis, aber gerade auch der Abschattung der Kirche im Staat, der Christengemeinde in der Bürgergemeinde zuwendet. So erklärt sich die Herrschaftlichkeit der römischen Kirche aus dem Verständnis ihres priesterlichen exklusiven Tuns — aber ebenso auch die umgekehrte Selbstausschaltung, die Subjektlosigkeit des Dienstgedankens im Luthertum, welches es ganz dahingestellt sein läßt, woher das Amt konkret kommt, welches doch selbst konstituierend für ihr Tun ist.

Das heißt: dieselben theologischen Motive, welche die Abendmahlslehre, sodann von dort aus die Amtslehre im innerkirchlichen Raum prägen, sind auch letztlich und im tieferen Sinne bestimmend für die Haltung gegenüber Staat und Welt.

|1040|

Die erste Form jener Abhängigkeit der Kirche vom Staate war das Episkopalsystem des 16. Jahrhunderts. Es war, wie gesagt, vorbereitet durch die landesfürstliche Tendenz zur Ingerenz in den kirchlichen Raum, der längst vor der Reformation bestand. Hinzu kam die Übung, die geistlichen Fürstentümer mit Söhnen des hohen Adels zu besetzen, die zum großen Teil die geistlichen Funktionen nicht selbst ausübten, sondern nur regierten, und jene Weihbischöfen und Archidiakonen überließen. Diese geistlichen Sekundogenituren bestanden auch noch lange in den säkularisierten Bistümern, bis diese in die weltlichen Territorien einverleibt wurden. Das Episkopalsytem bedeutete nun eigentlich, daß nicht nur die Sekundogenituren, sondern die Primogenituren selbst bischöflich wurden. Kirchenrechtlich konnte das nur durch eine Spaltung des Jurisdiktionsbegriffs erreicht werden: in eine jurisdictio externa des Bischofs-Fürsten oder Fürstbischofs über das „äußere” Kirchenwesen, und die interna jurisdictio des geistlichen Amtes in der Kirche13. Das kam einer spiritualistischen Tendenz sehr entgegen: es ist aber fast ebensosehr eine schlechte, nachträgliche Rechtfertigung dieser Machtlage in ihrer Unausweichlichkeit als Zeittendenz und aktueller politischer Situation. Denn nun konnte in der evangelischen Kirchenrechtslehre gesagt werden: „Die Fürsten haben ein liberum arbitrium religionis exercitium in suis ditionibus instituendi et mutandi durch den Religionsfrieden erhalten.”14

Der interna jurisdictio lag die (säkularisierte, s.o.) externa jurisdictio voraus. Für Gesamtakte der Kirche wurde zwar in beachtlicher Weise das Zusammenwirken aller drei Stände, Regierstand (Fürstbischof)15, geistlicher Stand und Hausvaterstand für notwendig angesehen. Praktisch hat dies nirgends der Bestimmung des Bekenntnisstandes im Sinne des „cuius regio eius religio” entgegengestanden16. Dazu war das Übergewicht der Landesherrschaft viel zu groß. Die Entscheidungen der Fürsten auf diesem Gebiet waren ein Querschnitt aus eigenem Glaubensinteresse, eigener theologischer Gelehrsamkeit, Verflechtung in Weltkriegskoalitionen und Heiratspolitik. Der Widerstand gegen sie hatte das Reichsrecht und den Autoritätsanspruch der Obrigkeit gegen sich. Wenn selbst das politische Moment hätte fehlen können, wäre das geistlich-theologische deswegen besser berechtigt gewesen? Die Legitimität der konkreten verfaßten Kirche hing nach wie vor an einer bischöflichen Succession, nur daß diese jetzt auf weltliche Träger übergegangen war. Daran änderte sich bis 1918 nichts. Ja selbst der Verzicht der republikanischen Regierungen nach 1918 auf Fortsetzung des Summepiskopats kam einer Übertragung der Rechte aus dem Augsburger Religionsfrieden auf die sich selbst verfassende Kirche gleich, nur daß diese Rechte nunmehr ihren personalen Charakter verloren hatten: inzwischen stand ein grundsätzlich transpersonaler Staat einer transpersonalen Kirche gegenüber.

|1041|

Der im 16. Jahrhundert begonnene Rückzug der Kirche in den innersten Bereich gemeindlichen Lebens ging soweit als denkbar. Alle personalen und sachlichen Voraussetzungen dieses Lebens aber (Vorbildung der Geistlichen, Berufung ins Amt, Sorge für die Lehre auf den Fakultäten und die gesamte Kirchenverwaltung) wurden der externa jurisdictio preisgegeben, entsprangen nicht mehr dem eigenen Recht der Kirche. Parallel zum staatlichen bildete sich ein konsistoriales Beamtentum aus, dessen kollegiale Verfassung den fürstlichen Landesbischof nicht unwesentlich beschränkte, aber als weltlich-kirchliches Mischgebilde der Kirche ihr Gepräge gab und bis heute nachwirkt. Alles dies hat sich ohne bekenntnismäßigen Widerspruch, mit feinen und folgerichtigen juristischen Theorien unterbaut, ausbilden können, letztlich auf Grund einer fundamentalen Trennung von Innen und Außen, welche in der Konsequenz die bisherige, von den Bekenntnisschriften leidenschaftlich bekämpfte Vermischung geistlicher und weltlicher Gewalt nur im Wechsel der Träger umkehrte. War dies wirklich das legitime Ziel der Reformation oder hat sie in ihrer Gleichgültigkeit gegen Dinge des Rechts und der Ordnung hier Wesentliches preisgegeben? Kann angesichts dessen noch behauptet werden, daß die Position der Bekenntnisschriften — wohlbegründet in der Abwehr — im Grundsatz ausreichte?

Es konnte so zwar der Glaubenssatz aufgestellt werden, daß den Bischöfen als solchen keine weltliche Gewalt zukomme (CA XXVIII). Der sinngemäß notwendige und entsprechende Glaubenssatz, daß den Fürsten keine geistliche Gewalt zukomme, konnte nicht formuliert werden — man wollte ihn auch nicht ernstlich. Hier setzte jenes ständige Quid-pro-quo ein, daß die landesherrliche Polizeigewalt und cura ecclesiae ja keine geistliche Gewalt, die Rolle aber als Summepiscopus und praecipuum membrum ecclesiae wiederum keine fürstliche, sondern eine solche kirchlichen Notrechts sei. Die Verachtung des Rechtes als angeblich nur äußerer Ordnung hat uns zu solchen unwürdigen juristischen Kunstgriffen geführt.

Die zweite Phase in diesem Gefälle war die sehr bald hervortretende Anschauung der fürstlichen Juristen, daß es auch nicht um die Übertragung von Rechten der bisherigen Diözesanbischöfe, sondern um den Rückerwerb eines ursprünglichen unmittelbaren fürstlichen Hoheitsrechtes über die Kirche gehandelt habe. Die Fürsten wollten nicht mehr in Auseinandersetzung mit der päpstlichen Zentralgewalt aus einem im Einzelfall verständlichen Interesse Einfluß und Anteil an der Kirchengewalt, sondern sie beanspruchten sie nunmehr als eigene nach dem Satze „quidquid est in territorio et est de territorio”. Der geschlossene Territorialstaat entwickelte sich nicht nur merkantilistisch zum geschlossenen Wirtschaftsgebiet, sondern beanspruchte auch unter politisch-polizeilichem Interesse als wesentlicher Teil der zu pflegenden

|1042|

Wohlfahrt die Kultuseinheit und deshalb die „äußere” Kultusbestimmung17. In ihm vollzogen sich zahlreiche Zwangskonversionen ganzer Gebiete gegen den Widerspruch von Pfarrern und Gemeinden. Nur die Kleinheit der Gebiete und die Auswanderungsmöglichkeit milderte diese Not18. Diese Konflikte waren gewiß nicht einfach im Sinne moderner subjektiv-individueller Glaubensfreiheit zu entscheiden. Man kann ja auch gerade dem Calvinismus nicht vorwerfen, daß er auf kirchenrechtliche Eigenständigkeit verzichtet habe. Aber gerade er war zur selben Zeit wo er ecclesia pressa, Kirche unter dem Kreuz war, bereit, anderwärts eine geneigte Landesherrschaft zur zwangsweisen Durchsetzung des eigenen Bekenntnisses zu benutzen, anderen das gleich Kreuz aufzuerlegen. Aber daß uns alle diese Dinge ohne Kritik als durchaus mögliche und weitgehend positive bis heute dargestellt werden, ist doch nur auf Grund des grundsätzlichen Vorausverzichts der lutherischen Kirche auf kirchenrechtliche Eigenexistenz zu erklären. Sehr viele Dinge, über die sich heute das konfessionelle Luthertum beklagt, sind die Folgen dieser seiner eigenen Haltung in der eigentümlichen Mischung von Rechtsverzicht und monarchischer Loyalität. Der kirchliche Gemeingeist wurde nicht weniger gelähmt als der bürgerliche. Große Gebiete, wie etwa die Grafschaft Mark, entbehrten lange Zeit hindurch jeder geistlichen Leitung, weil für diese eine bekenntnismäßige Grundalge nicht formuliert war. So kann schließlich heute Martin Heckel19 schreiben, daß noch niemand das Rätsel der Kirchenrechtslehre der lutherischen Orthodoxie zu lösen vermocht habe. Es kann es auch niemand lösen — es ist eine Sphinx ohne Geheimnis. Es gab von Anfang an nur ein Gemeinderecht, kein Kirchenrecht. Es gab ein Amt in abstracto und die zufällig es innehabenden Prediger. Es gab aber kein konkretes Subjekt und Haupt der Kirche — und auf dieses kopflose Gefüge wurde die Landesherrschaft transplantiert, nachdem die Lehrautorität der Verfasser der Bekenntnisschriften und die zeitweilige Ordinationstätigkeit der theologischen Fakultät Wittenberg zur Kirchenleitung nicht ausreichte.

Wenn das kirchlich-theologische Bewußtsein Anfang des 17. Jahrhunderts in Zusammenwirken von Theologen und Juristen versucht, die fürstliche Gewalt hier zu begrenzen, so zeigt sich in den Formulierungen die Problematik20.

Heckel interpretiert das in Anlehnung an eine frühere Stelle von Gerhard21 als Stellung zwischen der römischen Kirche, welche den weltlichen Arm der Vollstreckung beanspruchte und den Schwärmern, die jegliches Wirken der christlichen Obrigkeit in den Angelegenheiten der Kirche bekämpften. D.h.: die cura ecclesiae der christlichen Obrigkeit wird zum Merkmal, welches der lutherischen Kirche ihren rechten und mittleren Standort zwischen den Irrlehren rechts und links zuweist.

Aus dem Dienst des Fürsten, der der Kirche je und dann, wenn sie sich nicht zu helfen weiß, wieder zurechthilft, wird eine regelmäßige

|1043|

Einrichtung, wird ein Recht, welches sorgfältig gegen Verkürzung zu schützen ist. Die Leiblichkeit und Mündigkeit der Kirche erscheint dauernd so schwach, daß sie konstitutiv auf die Pflege und Kuratel angewiesen ist. Wenn schon die CA das weltliche Regiment der Bischöfe ausschloß, aber die Stellung der Obrigkeit zur Kirche offenließ, so wird jetzt dieser Raum positiv ausgefüllt. Diese konstitutive Schwäche aber, durch deren Anerkennung sich die lutherische Kirche zwischen Rom und Schwärmern recht zu verstehen meint, ist nun durchaus von historischen, nicht grundsätzlichen Momenten bedingt: nur dem christianus und pius princeps kommt die cura zu. Ist der princeps erst nicht mehr pius, d.h. gläubig und aktiv am Gedeihen der Kirche interessiert, ist er sodann auch nicht mehr dem Namen nach christianus, dann muß die Kirche nach Rom oder unter die Schwärmer gehen, oder auf ihren des selbständigen Gehens entwöhnten Beinen gehen lernen. nach der Unterscheidung von Joh. Heckel von ecclesia spiritualis und universalis freilich kommt schon diese Einwirkung nur dem pius et christianus, also auch nicht dem Namenschristen, auf dem Throne zu. Faktisch freilich hält natürlich dieses Recht ohne Rücksicht auf den eigenen Glauben des Fürsten durch. Im ganzen aber wird hier so argumentiert, als ob es sich nicht expressis verbis um die cura ecclesiae, sondern um die Regimentenlehre handelte. Das quid-pro-quo zwischen den verschiedenen Rechtstiteln für diese Position tritt auch bei dem Leser unwillkürlich in Wirksamkeit. Daß die offene Stelle der CA hier so ausgefüllt wird, wird niemals ausdrücklich gesagt.

Freilich haben sich, wie Johann Gerhard, Theologen und Juristen redlich gegen ein Überwuchern dieser cura gewehrt. Aber was sie erzeugten, war lediglich der homunculus des princeps als duae personae, als Herrscher und als Kurator. Da man ihn selbst in concreto nicht teilen konnte, bedeutete das: zwei verschiedene und verschieden strukturierte fürstliche Behörden sollten die Trennung gewährleisten. Zwei Behörden: das ist das ganze, was aus der vergangenen doppelpoligen Einheit von Reichsrecht und Kirchenrecht übrig blieb: zwei Ressorts!

Die strenge Einheit des geschlossenen Territorialstaates, der die Kultuseinheit als seine eigene Sache ansah, löste sich in den aufgeklärten Absolutismus auf, zumal ihm schon ein starkes, glaubensfremdes Zweckmoment innegewohnt hatte. Waren jetzt alle Glaubensgemeinschaften auf die Vernunft relativiert, so konnte es nicht mehr Sache des Staates sein, sich mit einer von ihnen zu verbinden, es sei denn aus einem gewissen Beharrungsvermögen heraus. In Analogie zur Staatsvertragstheorie, auf die sich auch die absolute Fürstenmacht gründete, mußte und wurde auch die Kirche als Kollegium nach dem Vertragsschema begründet und verstanden, als Selbstversammlung der Anhänger eines Kultus. An der konkreten Rechtslage ändert das kaum etwas, es bildete aber eine wesentliche Voraussetzung für die Wiederentdeckung der

|1044|

Eigenständigkeit der Kirche im 19. Jahrhundert. Liegen die Systeme historisch weitgehend ineinander, so sind sie doch im Grundsatz zu unterscheiden. Zwischen den beiden älteren und dem Kollegialismus liegt noch der Übergang von traditionellen zum Vernunftrecht.

In jenen drei aufeinanderfolgenden Formen des Kirchenrechts war immer der Staat der Motor, die Kirche das Motum. Durch alle Phasen der Geistes- und Verfassungsgeschichte wurde die Kirche von den Kräften der Welt hindurchgezogen, weil sie der Verantwortlichkeit und damit der Verfehlbarkeit ihrer eigenen Existenz nicht zu stehen wagte. Der Protest gegen den Unfehlbarkeitsanspruch von Papst und Konzil im römischen Verständnis führte nicht etwa dazu, das Konzil als verfehlbare Entscheidung in der Geschichte im Vertrauen auf den Beistand des Heiligen Geistes zu wagen, sondern dazu, daß nun überhaupt kein Konzil mehr gehalten wurde, seitdem mit der Konkordienformel die Zeit der Bekenntnisbildung abgeschlossen erschien. Die Kirche war grundsätzlich auf den Akt der Bekenntnisbildung im 16. Jahrhundert gegründet: aber dieser geschichtliche Akt erschien unwiederholbar.

Um so seltsamer ist es, daß die Abfolge jener drei Kirchenrechtsformen — Episkopalismus, Territorialismus, Kollegialismus — bei lutherischen Kirchenrechtslehrern von heute eine Art providentielle Bedeutung besitzt22.

Schon Stahl hat an dieser Konstruktion Kritik geübt23, allerdings mit einen Wunschauslegung, wenn er meinte, das Episkopalsystem habe als das „wirklich organische” den beiden anderen Ständen ihr Recht gewährt. Hat Stahl das Interesse, den Episkopalismus als Muster seiner bischöflich verfaßten Kirche vorzuführen, als Verbindung zwischen seinem Royalismus und dem orthodoxen Luthertum, so haben die anderen Autoren dasjenige, diese weder gewünschte noch vorausgesehene Entwicklung des Staatskirchentums als vereinbar mit der bekenntnismäßigen Lehre von der Kirche darzustellen. Stahl will etwa Neues mit Altem begründen, die anderen wollen einfach das Gesicht nicht verlieren.

Weder das eine noch das andere gelingt. Denn das Episkopalsystem ist nur eine andere Konstruktion und Begründung desselben Fürstenrechts, welches wir im Territorialsystem vorfinden, und das Kollegialsystem paßt schließlich diese Konzeption ebenso der Aufklärung an, wie sie ererbte fürstliche Gewalt auf den Staatsvertrag zurückführt und als eine Übertragung der Rechtsgenossen versteht, gerade auch in ihrer Absolutheit.

Wenn eine so verschiedene Wertung zunächst wenigstens des Episkopal- und des Territorialsystems möglich ist, wie sie M. Heckel eingangs seiner Abhandlung vorführt24, so erklärt sich das hinreichend aus der Komplexität der hier zusammenfließenden Rechte ebenso wie aus der Widersprüchlichkeit schon der zeitgenössischen Begründungen und Auslegungen.

|1045|

Es ist fast so, als ob jene drei Formen nacheinander jeweils ein bestimmtes Moment der Kirchenverfassung hätten in den Vordergrund treten lassen: das episkopale, konsistoriale und synodale Element. So kommt gleichsam hintenherum die lutherische Kirche zu einer von ihr selbst nicht vertretenen, ihr aber unterirdisch eingestifteten Verfassungsstruktur, welcher das weltliche Interesse des Fürstenstaates, seine eigenen Tendenzen verfolgend, unabsichtlich als Geburtshelfer dient. Welch ein List der Vernunft! Der nach ihrem eigenen Verständnis strukturlosen Kirche ihre eigene unbewußte Struktur so absichtslos darzubieten! Daß das hier am stärksten durchhaltende Element, das konsistoriale, gerade kein kirchlich echtes ist, wurde schon im I. Kapitel dargelegt, und schon damit fällt diese Spekulation dahin.

Der Kollegialismus bereitete einem neuen Selbstverständnis in zweifacher Weise den Boden: positiv durch die nicht mehr rücknehmbare Eigenständigkeit, negativ durch die Erkenntnis seiner Unzulänglichkeit zur Darstellung des historischen Wesens der Kirche. Wie der Staat der Aufklärung zum Staat der Romantik und des Idealismus erstarkte, wieder Sinn für seine Geschichtlichkeit und Objektivität gewann, so auch die Kirche.

Ihre rechtliche Stellung entwickelte sich, in loyalem Abstand immer ein wenig hinterherhinkend, parallel zur Umbildung des Absolutismus in den konstitutionellen Staat. So wurde die Kirche nunmehr eine mit Genehmigung des Staates in Analogie zu den Selbstverwaltungskörperschaften sich verfassende Körperschaft des öffentlichen Rechts, wie jene privilegiert, der Staatsaufsicht unterworfen und auf die ihr zugewiesenen Aufgaben beschränkt. Jene drei Verfassungselemente wurden durch den Körperschaftscharakter gleichsam unterbaut.

Obwohl die entscheidenden Voraussetzungen für dieses Kirchenrechtsverständnis durch den Fortfall des Summepiskopats entschwunden und zwei jener Säulen gestürzt waren, wurden die Ereignisse von 1918 doch nicht als sehr viel mehr denn als eine Erweiterung des Selbstverfassungsrechts verstanden und benutzt. Der Körperschaftscharakter, mit Recht der Dorn im Auge Sohms, der ihn das ganze Gebäude des Kirchenrechts einzureißen veranlaßte, hinderte die Ausbildung eines echten evangelischen Kirchenrechts, weil es ja nur um Umbildung und Ergänzung der Körperschaft Kirche zu gehen schien. Erst das Jahr 1933 hat mit einem neuen kirchlichen Notrecht und der direkten Bedrohung der Kirche durch einen antichristlichen Staat wenigstens die Frage aufgeworfen und unabweisbar sichtbar gemacht. Worin aber besteht diese Frage?