4. Tradition und Solidarität als Ordnungsgrundsätze der oekumenischen Kirche

In jenem gemeinschaftlichen Vortrag mit Heinrich Bornkamm vor der badischen Landessynode gibt Campenhausen ein Bild der hauptsächlichen Momente des Ordnungsdenkens der alten Kirche.

Er bringt zunächst die alte Kirche wieder zu Ehren, wenn er sagt: „Die alte Kirche ist nicht nur in ihre Lehre, sondern auch im Verständnis der Ordnung praktisch viel stärker evangelisch bestimmt, als man

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vielfach zuzugeben bereit ist”. (9) Daß durch die Dreiheit: Kanon, Bekenntnis, traditionsbewahrendes Bischofsamt die Freiheit des ursprünglichen Wortes von vornherein im Sinne der kirchlichen Ordnung beschränkt und verbogen worden, in diesem Sinne nach Harnack die frühe Kirche katholisch geworden sei, sei falsch und entspreche jedenfalls schlechterdings nicht dem Verständnis, das die alte Kirche selbst von der Sache gehabt habe ... Die einzige allumfassende und uneingeschränkte Autorität, die die alte Kirche bedingungslos anerkannt habe, sei die Heilige Schrift gewesen. Der fatale Versuch, die Tradition der Väter als einen eigenen formell verbindlichen Kanon der Schrift an die Seite zu stellen, fange erst in den Kämpfen des 5. Jahrhunderts an, eine Rolle zu spielen (18/19).

Eine Reihe von Hauptpunkten im Ordnungsverständnis der alten Kirche verdienen festgehalten zu werden:
1. alle Ordnung bleibt auf die anfängliche Verkündigung und das wunderbare neue Sein in Christo bezogen.
2. „es ist allemal die kirchliche, apostolische, konziliare oder bischöfliche Hirtenvollmacht, die die Ordnungen festsetzt und, vom Heiligen Geist beraten, die notwendigen Entscheidungen fällt. Es gibt kein für sich bestehendes außerchristliches Recht, das als solches übernommen und auf die Kirche angewandt würde. (12)
3. Man ist sparsam mit Regelungen, auch im Verzicht, drängende Tendenzen, wie denjenigen zum Zölibat nachzugeben.
4. Die Ordnung ist eine grundsätzlich unabgeschlossene (diese Offenheit hat übrigens auch die orientalische Kirche als hierarchische mit der Ablehnung der konziliaren und päpstlichen Unfehlbarkeit und ihrem Gemeinschaftscharakter festgehalten).
5. Man ist konservativ und traditionell, auf Kontinuität bedacht.
6. Auf die oekumenische Gemeinsamkeit wird Rücksicht genommen.
Insgesamt: Keine Trennung des Rechts vom Glauben,
Wahrung der selbständigen kirchlichen Entscheidung,
Beschränkung des organisatorischen Ordnungseifers,
oekumenischer Zusammenhalt, Festhalten am Alten u. Gegebenen (16).
So bietet dieses Ordnungsdenken gerade in seiner Offenheit ein sehr geprägtes Bild.

So sind Tradition und Solidarität nicht einzelne, locker umschriebene Verhaltensgrundsätze, sondern bezeichnen sehr bestimmte, unverzichtbare Leitlinien, eine vertikale und eine horizontale Perspektive, die sich in der Existenz der Kirche schneiden.

Der gesamte Protestantismus hat seit 1517 in aller Freiheit nicht halb soviel allgemein anerkannte Ordnungsgrundsätze zuwegegebracht wie die vorkonstantinische Kirche der Mission und der Verfolgung; die aber auch notwendig waren, um etwa das I. Concil von Nicaea 325 zu ermöglichen, auf das wir doch nicht verzichten möchten und das wir nicht

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wohl dogmatisch bejahen, aber kirchenrechtlich für eine Erfindung des Teufels ansehen können.

Sie hießen kurz gesagt:
1. Ekklesia — Eigenschaft jeder einzelnen bischöflichen Gemeinde ohne Rücksicht auf Alter und Größe, d.h. Repräsentanz der ganzen Kirche in jeder Ekklesia.
2. Gleichordnung aller Bischöfe gegenüber sowohl dem Klerus wie den Großbischöfen, die nicht mehr als einen Ehrenvorrang haben.
3. Verbundenheit aller Ekklesien und Bischöfe (konstitutive Interdependenz).
4. Ekklesia — Eigenschaft des Concils selbst.
5. Rezeptionsbedürftigkeit seiner Beschlüsse durch den consensus fidelium. Kein rationales System, aber eine offene Verschränkung von außerordentlicher Bindekraft.

Es bedeutet schon eine sehr bestimmte Vorentscheidung über die Art der Betrachtung, wenn wir solche verschiedenen Elemente und Ordnungsgedanken, wie sie Campenhausen für die alte Kirche zusammenträgt, stillschweigend immer nur als eine Summe unverbundener einzelner Grundsätze verstehen und auslegen, nicht dagegen auf ihren Sinnzusammenhang untersuchen.