1. Gestalt und Gebrauch des Kirchenrechts

Mit der Überschrift dieses Kapitels ist das sog. Ususproblem bezeichnet. Aber ob dieses in der reformatorischen Theologie traditionelle Problem sich für das Kirchenrecht stellt, ist nichts weniger als selbstverständlich. Denn das hier beschriebene und gemeinte Kirchenrecht ist nicht „Gesetz” im theologischen Sinne. Darin begegne ich den schon eingangs in Kap. I zitierten Stellungnahmen von Erik Wolf, Johannes Heckel, Siegfried Grundmann, so verschieden auch sonst die Standpunkte sind.

Die Ususfrage steht in einem bestimmten geschichtlichen Zusammenhang. Wie Grewe (s. Kap. III) mit Recht sagt, schließt der ältere (juristische) Gesetzesbegriff die Durchbrechbarkeit ein: die Durchbrechung hebt aber hier die Regel nicht auf. Der infinitesimale Charakter der ratio wird begrenzt und eingebunden. Das setzt ein sehr starkes und lebendiges Element der Tradition voraus. Rational kann der Dispensationsgedanke als ein dialektischer Vorgang begriffen werden: Regel und Ausnahme begrenzen und tragen sich gegenseitig. Die Regel würde ohne Durchbrechung zum Gesetz entarteten, die Generalisierung der Durchbrechung jedoch die Regel aufheben. Regel und Durchbrechung bringen jedoch beide den gleichen Sachgedanken zur Geltung, der in der Regel ausgedrückt ist. Erst die bis dahin unbekannte Undurchbrechbarkeit rechtfertigt die Qualifikation als (theologisches) Gesetz.

Die Reformation fand nun die Kanonistik, und zwar mehr noch in der Praxis als in der Theorie, im Zustande einer extremen Korruption vor. Einerseits bestand die Tendenz, die Forderungen der Sätze des kanonischen Rechts ohne Rücksicht auf ihre sehr unterschiedliche Dignität und Qualität absolut zu verstehen. Formalste Verstöße gegen die Ordnung der Kirche und vor allem gegen Privilegien des Klerus wurden unbefangen mit den schwersten denkbaren Verfehlungen geistlicher Art mindestens praktisch gleichgestellt. Andererseits führte die Lehre von der plenitudo potestatis zu uferlosem Mißbrauch der Dispensation, gegen welche die Kanonistik ebenso vergeblich angekämpft hat, wie die Reformbewegung des 15. Jahrhunderts. Beide mußten aber scheitern, nicht zuerst wegen der eigensüchtigen Widerstände der Nutznießer, sondern weil die geistigen Voraussetzungen für die Zusammenhaltung beider Elemente weggefallen waren, zu allererst die irrationale, aber höchst wirksame Selbstbegrenzung der Tradition durch das Eindringen des alles auflösenden Zweck- und Nützlichkeitsgedankens.

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Die Reformation hat jedoch, so fürchte ich, auch hier den praktischen Zustand zum prinzipiellen gemacht. Indem sie jede aussagbare Regel als Gesetz im theologischen Sinne qualifizierte, und dem dialektisch das Evangelium als Freiheit gegenüberstellte, hob sie die in der Sache des Kirchenrechts selbst liegende Dialektik gerade auf. Die notwendigen praktischen Maßgaben dagegen suchte sie durch die Ususlehre zu gewinnen. Der modus wird alles — wo bleibt dann die Sache selbst?

So kann man den herkömmlichen und eingängigen Begriff des „Gebrauches” nur verwenden, wenn er nicht — ähnlich dem kantischen Übergang von der theoretischen zur praktischen Vernunft — in einer als Freiheit mißverstandenen Beliebigkeit die Sache selbst zurückdrängt, sondern als modus ihrer Konkretion begriffen wird. Hier erinnern wir uns der zu Beginn des I. Kapitels verzeichneten dreifachen Verwendung des Begriffs „canon”.

1. Im Gegensatz zu Lehrbestand und Rechtsaufbau ist der christliche Gottesdienst niemals im engeren Sinne „canonisiert” worden. Der canon missae ist frei gewachsen und tradiert worden. Er besitzt gegenüber dem übrigen Bestand gottesdienstlicher Ordnungen keine rechtliche Auszeichnung. Das ius liturgicum als Teil kirchenleitender Ordnung bezieht sich überall auf die gesamten gottesdienstlichen Formen unter Einschluß des Maßkanons. Es wird zunächst als Gewohnheitsrecht ausgebildet und findet allmählich erst festen Ausdruck in der verbindlichen Einführung bestimmter Gottesdienstformulare.
Daß gewisse entscheidende Stücke des Meßgottesdienstes als Canon bezeichnet werden, zwingt zu der Besinnung, daß der christliche Gottesdienst bei größter Fülle der Ausprägung und ebenso großer geschichtlicher Wandelbarkeit ebensowenig willkürlich und zufällig ist. Keine seiner Formen kann als solche kanonisiert werden — aber kanonisch ist auf alle Fälle der Kern, in dem sein Stiftungscharakter zentral sichtbar wird. Auf diese Zentren pendelt er sich immer wieder aus, in ihnen besteht seine durchhaltende Lebenskraft. Daß etwa heute auch bewußt reformierte Kirchen und Ordensgemeinschaften ganz von allein bei sachgetreuer und unbefangener Besinnung auf einen klassischen Grundriß zurückkommen, ist deshalb verständlich und nicht von ungefähr. Nur in diesem begrenzten Sinne könnte deshalb auch von einer kanonischen Gestalt des Gottesdienstes gesprochen werden, ohne dieses Wort zu überlasten.
Er ist das Geschehen, in dem die radikale Scheidung der Gemeinde von der Welt wie ihre Einordnung in den neuen Aeon und von da aus ihre Sendung in die Welt vollzogen wird. Deshalb hat die Kirche ihr Innen und Ausen, und wenn sie den Unterschied zwischen beidem verliert, zeigt sich, daß in ihr nichts mehr geschieht.
In diesem Geschehen erinnert und berichtet sie anamnestisch, was Gott für sie getan hat, von dem, wovon sie herkommt — sie bittet

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um die Zukunft und Wiederkunft Christi. Indem sie um den präsenten Beistand des Geistes bittet, bittes die darum, daß in der Gegenwärtigkeit als repraesentatio — und zwar in allem Geschehen — der Herr schon jetzt unter ihnen ist, daß sich Herkommen und Zukommen für sie verbindet.
Hier muß auf die Stelle Art. VII der Confessio Augustana verwiesen werden, wo es heißt:

„Et ad veram unitatem ecclesiae satis est consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum. Nec necesse est ubique similes esse traditiones humanas seu ritus ceremonias ab hominibus institutas ...”

Die Richtung dieser Stelle gegen eine Fülle für verdienstlich gehaltener und willkürlicher Zeremonialgesetze ist deutlich. Ebenso tritt der berechtigte Protest gegen die gewaltsame Unifizierung der Kirche durch Rom hervor. Freilich sollte man sich ehrlich eingestehen, daß zugleich bei uns und in dieser Kritik gegen das Einheitsdenken der Römer ein in seiner ganzen Tragweite bis heute nicht erkannter nominalistischer Zug der Vereinzelung ebenfalls höchst wirksam ist.

In der konkreten Auslegung sollte man sich nun hüten, die eigene Position wesentlich als argumentum ex abusu zu formulieren. Denn positiv ist ja zuallererst die biblisch-apostolische Predigt und die stiftungsgemäße Darreichung der Sakramente unverkürzt gefordert. Der consensus de doctrina ist hier gleichgewichtig neben den Consensus der Sakramentsverwaltung gestellt. Beides ist ganz entschieden auf den Vollzug, die Applikation, auf die Praxis, nicht die theologische Theorie hin gewendet. Es ist auch nicht etwa der consensus de doctrina der Oberbegriff, aus den beides deduktiv hergeleitet wird. In Lehre und Vollzug muß Consensus bestehen. Käme man also in der Intention des Vollzuges überein, so brauchte eine Unterschiedlichkeit der theologischen Begründung die Einheit nicht zu stören, so schmal auch der Spielraum für einen solchen Dissensus wohl ist.

Wir sind indessen bei unbestrittener Geltung dieser Grundsätze der minimalistische Einschränkung und Verkürzung nicht entgangen, und dies wohl nicht ohne Einfluß der negativen Blickrichtung des „pure” und des „satis”. Die Ganzheit und die Fülle ist dadurch gefährdet worden. Pure, recte, satis, sollten jedoch positiv verstanden werden, nicht restriktiv in der Abwehr, sondern im Blick auf das Vollmaß, welches gerade der Wortsinn von „satis” nahelegt. So haben die berechtigte Abwehr der Ceremonialgesetzlichkeit und der liturgischen Überwucherung auf der einen, die Neigung zu doktrinärer Lehrhaftigkeit auf der anderen Seite, gedeckt durch jene Richtung, einschränkend gewirkt. Die doktrinäre Orthodoxie wie die spiritualistischen Liturgiegegner berufen sich zu Unrecht auf diese Stelle. Die eigentliche, aber hier nicht zu erörternde Schwäche dieses Satzes liegt darin, daß er die Frage offenläßt,

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wie der für so notwendig erklärte Consensus denn zustandegekommen und, wenn einmal vorhanden, bewahrt werden soll. Ohne eine konkrete und verbindliche und vor allem unterscheidungsfähige Kirchengemeinschaft wird man dann auf den verhängnisvollen Weg des Doktrinarismus gebracht.

Die Gestalt des Gottesdienstes, die mit dieser knappen Umschreibung nicht abschließend gekennzeichnet werden kann und soll, deren Einheit aber von so besonderer Tragweite ist1, kann in mehrfacher Weise verfehlt werden:
a) Die Hauptstücke: Buße, Predigt, Abendmahl können vereinzelt werden. Es ist freilich unbedenklich möglich, einen Buß- oder Predigt- oder Abendmahlsgottesdienst so zu halten, daß jedes andere Moment in ihm mehr oder minder zurücktritt. Als Regel und mit dem Anspruch, das wesentliche gottesdienstliche Handeln darzustellen, darf er keines dieser Moment vernachlässigen, ohne seinen Vollzinn einzubüßen und damit die Gemeinde zu einem falschen Verständnis auch des einzelnen zu verführen. Über die notwendige Korrelation von Anbetung und Verkündigung, wie übe das Verhältnis von Wahrheit und Wirklichkeit wurde schon in Teil II dieses Buches gesprochen.
b) Zweitens kann trotzdem diesem legitimen, streng geordneten Geschehen in illegitimer Weise Sachfremdes hinzugefügt werden. I.A. Jungmann hat in seinem Werk Missarum solemnia solche Wucherungen aus verschiedenen Zeiten beschrieben. Bei dem existenziellen Ernst des gottesdienstlichen Vollzuges ist jeder Zusatz geeignet, das Entscheidende gefährlich zu verdunkeln. So empfinden vielfach römische Katholiken eine Meßliturgie älterer Form, die solche Beimengungen streng vermeidet, als von überzeugender urchristlicher Schlichtheit. Die überwältigende Fülle des Geschehens jedoch drängt selbst zu reicher, immer neuer Ausformung. Dies entspringt dem elementaren Trieb zum Lobpreise Gottes und sollte nicht eingedämmt werden. Die Angst vor der Aussage ist kein echtes Merkmal des christlichen Gottesdienstes.

2. In einem direkteren Sinne als von einer kanonischen Ordnung des Gottesdienstes kann man von einer kanonischen Ordnung der Kirche sprechen. Das Formalprinzip aller Kirchenordnung und alles Kirchenrechtes ist das gebotene gottesdienstliche Handeln. Ihr Materialprinzip ist das jeweils unterschiedliche Verständnis dieses Auftrages. Jede geschichtliche Kirchenrechtsgestaltung läßt sich auf ein bestimmtes Gottesdienstverhältnis zurückführen; Wandlungen des Kirchenrechts zeigen Wandlungen des Gottesdienstes an. Jede Kirchengemeinschaft hat unbedenklich das als Recht in Anspruch genommen, wozu sie sich durch den biblischen Auftrag verpflichtet wußte; aus der Auffassung dieses Auftrages ergibt sich dann Gottesdienstform und folgeweise

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Kirchenrecht. Nicht ein allgemeiner Kirchenbegriff bestimmt dieses Tun, sondern nur aus diesem Handeln läßt sich das, was man legitim Kirchenbegriff nennen kann, ableiten. Nicht die theologischen Lehren eines Kirchenvaters über die Kirche machen den Kirchenbegriff aus, der aus einer bestimmten Zeit und ihrer geschichtlichen Kirchenform zu erheben wäre. Das ist eine verhängnisvolle Verwechslung von theologischer Ideengeschichte und Realgeschichte. Die Realgeschichte der Kirche ist die Geschichte ihres Gottesdienstes, weil hier die Gemeinschaft der Kirche in ihrer beschreibbaren geschichtlichen Form sich sowohl bildet wie darstellt. Die theologische Lehre von der Kirche ist damit nicht einfach identisch und hier nur soweit relevant, als sie jene gemeinschaftsbildende Wirkung ausübt. Die gegenteilige Auffassung ist Idealismus, der alles Gedachte auch schon für wirklich erklärt. Demgemäß handelt es sich auch nicht um die abstrakte Idee von Gottesdienst, sondern um seine konkrete Struktur. Daraus ergibt sich für Gottesdienstform und Kirchenverfassung als für den Inbegriff kirchlicher Ordnung, eine Reihe von Ansätzen und Merkmalen:
a) Im Gehorsam sind wir gebunden, einem gewissen unveränderlichen Grundbestand der uns aufgetragenen Ordnung nichts hinzuzusetzen, aber auch nichts zu verkürzen, verfallen zu lassen. Mit Recht sagt Karl Barth, daß die Kirche immer zwischen Verhärtung und Liederlichkeit stehe2.
b) Diese — so können wir sie nennen — necessaria erscheinen aber notwendig als menschliches Handeln in geschichtlicher Gestalt, durch Zeit und Standort bedingt. Mit dem schlechthin Notwendigen verschlungen tritt das Angemessene und geschichtlich Erwachsene auf, sinnentsprechende Gestaltungen, die dem Aufrage erläuternd und schützend dienen.
c) Drittens hat jede gebotene repraesentatio des Heilsgeschehens in der Ordnung der Kirche eschatologischen Charakter. In paradoxer Weise beruft sie sich auf die Verheißung Seiner Gegenwart und ruft zugleich Seine Zukunft, Seine Wiederkunft. Eben darum erschöpft sich nichts von allem kirchlichen Handlen in sich selbst.

Aus diesen Merkmalen ergibt sich ein dreifacher Charakter aller liturgischen und Kirchenrechtsordnungen:

a) Als erste muß der Gebrauch solcher Ordnungen auf die strikte Bewahrung dessen halten, was als Wesensbestandteil, als notwendiger und unaufgebbarer Gehalt Gottesdienst und Kirchenverfassung ausmacht. Hierin hat der schon zitierte Art. VII CA seine hervorragende Bedeutung3. Sachlich darf es sich dabei freilich niemals um ein fundamentalistisches Mindestmaß handeln, sondern immer hat es um das Vollmaß zu gehen.
Durch die unverkürzte Ordnung kann sich kein Christ beschwert fühlen. Im Gegenteil: indem er ihr widerstrebt, erweist er sich selbst als

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schlecht unterrichteter Katechumene, als Kind, dem die Speise der Erwachsenen noch nicht bekömmlich ist. Oder aber er erweist sich in der Überbetonung einer richtig gesehenen Teilwahrheit als Häretiker.

b) Der Kanon, die Norm ist eingebettet in das Fleisch der Geschichtlichen, Zeit- und Volksbedingten. Durch die Verwendung toter oder fremder Sprachen als allgemeine Kultsprache wird versucht, die Partikularität der Ordnung und ihre Standortbedingtheit für die Darstellung der evangelischen Wahrheit adäquat zu machen, indem wenigstens die gegenwärtigen Unterschiede aus dem Bereiche kirchlicher Ordnung verbannt werden.

Aber die Umbildung durch die Gestalt eines bestimmten geschichtlich geformten Denkens wird dadurch nicht vermieden. Sie wird vielmehr unter dem Mantel der Universalität oft noch gewichtiger. Die Abhängigkeit des katholischen Denkens vom juristischen Geist des Römertums und von der scholastischen Philosophie, der Ostkirche vom kosmologischen Denken der Griechen, ist keineswegs nur eine Stärke, sondern gerade auch in Hindernis der Oekumenizität. Der Protestantismus ist bis zu einem gewissen, aber nicht zu überschätzenden Grade ein Protest der germanischen Völker gegen eine solche Umgestaltung des kirchlichen Denkens und Handelns, die zu Unrecht mit dem Anspruch der Absolutheit auftrat. Der Protest hat sich dann seinerseits nicht von seinen Bedingtheiten freimachen können und die Frage der Einheit ungelöst gelassen. Das relativiert die Wahrheitsfrage nicht, sondern macht sie nur noch schwieriger.

Die Erörterungen der oekumenischen Konferenz von Lund 1952 über geschichtliche Faktoren der Kirchentrennung gehören hierher. Sie sind freilich nicht allein, und nicht einmal in erster Linie in politischen und wirtschaftlich-sozialen Triebkräften, sondern zunächst in der geistesgeschichtlichen Bedingtheit der Lebensformen der Kirche selbst zu suchen.

Der positiven Kontingenz geschichtlicher Gestaltung entspricht auch die negative Kontingenz solcher Anschauungen, die in mehr oder minder hohem Grade gestaltfeindlich sind. Ein religionsgeschichtlicher Fortschrittsglaube und Rationalismus ist in breitem Umfange wirksam und bestreitet jede Form. Wie jeder Rationalismus verkennt und leugnet ere seine eigene geschichtliche Bedingtheit. Um so radikaler lehnt er alles ab, ws er von seinen sachlichen und methodischen Voraussetzungen her nicht deduzieren kann, was in seiner Horizont und seiner Lebensform nicht enthalten ist. Zugleich gibt er sich zu Unrecht als biblisch aus. Indem er zugleich — ohne Zugang zum Gestaltproblem — jeder Gestalt eine objektivierende Absolutsetzung unterstellt, setzt er unbewußt die Ungestalt und Gestaltlosigkeit absolut.

Die Kontingenz der Gestalt ist jedoch in einer zweiten Weise bedeutsam: gibt es neben den unaufgebbaren Merkmalen der Kirche noch in ihrem Handeln Dinge, die zwar nötig und unvermeidlich, deren

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konkrete Form aber zeitbedingt und relativ verfügbar sind, so sind wir nach den Maßstäben ihrer Handhabung gefragt. Zunächst müssen sie den necessaria unter allen Umständen angemessen sein und bleiben. Im übrigen haben wir Freiheit. Nicht alles kann zwingend aus der lex fidei abgeleitet werden, und doch kann es so oder so angemessener Ausdruck dessen sein, was die lex fidei meint. Wegen der möglichen Verschiedenheit des Ausdrucks kann nicht auf den Ausdruck verzichtet werden. Die lex fidei ist, so kann man sagen, an die lex charitatis gebunden: nur innerhalb ihrer besteht Freiheit. Diese Gebundenheit verbietet es bei der Gestaltung von Ordnungen ohne Rücksicht auf die zu verfahren, für die sie gelten sollen. Die unmittelbare Verknüpfung dieser freien Gestalt mit dem Heiligsten, welches nur in der Gestalt erfahren werden kann, verbietet es, mit ihr leichtfertig zu verfahren, sie immer wieder zu ändern, an ihr herumzuexperimentieren. In diesem Sinne sagt die von Bugenhagen verfaßte Kirchenordnung König Christians III. von Dänemark von 1537, welche Luther selbst vorgelegen hat:

„Altera autem ordinatio hic nostra (des Landesfürsten) etiam dici potest, quia quaedam in ea pie et sancte mutari possunt, licet et ipsa dei sit.” Dazu sei zu rechnen: „de personis, de tempore, de numero, de modo, de horis, de visitatione, de honesto conventu, de cantu, de ceremoniis.”

Die sachliche Berechtigung der Abgrenzung soll hier nicht im einzelnen erörtert werden — diese geht wohl weiter, als wir nach den Erfahrungen des Kirchenkampfes heute gehen würden — sondern nur die grundsätzliche Art der Betrachtung am Beispiel dargestellt werden.

Es wird also sichtbar, daß die Grenze zwischen dem unbedingt Notwendigen und dem frei Verfügbaren nicht einfach formal zu ziehen ist, daß aber auch die verfügbaren Dinge „et ipsa dei” sind. Das Recht, in solchen Fragen Bestimmungen zu treffen, bedeutet also auf der einen Seite keine profane Freiheit: ebensowenig kann das hier Geschaffene als Unbedingtes gewertet werden. Der Leitende muß sich hier dem Geleiteten in Liebe unterziehen, ihm hilfreich und dienstbar sein: Aber derjenige, der sich dieser Ordnung gegenüber sieht, kann daraus kein einseitiges und unbeschränktes Recht machen. Der Anspruch der Liebe ist kein Deckmantel für Unverstand und hartnäckige Rechthaberei: auch er muß sich der Ordnung gutwillig und bereitwillig unterziehen. Es ist wider die rechte Ordnung der Kirche, wenn der Widerspruch einiger weniger Unbelehrbarer jeden positiven Beschluß des Kirchenregiments und damit jedes aufbauende Handeln unmöglich macht. Schlatter wendet sich gelegentlich gegen die „Tyrannei der Schwachen” in der Kirche. Dabei muß vor allem klar sein, daß es sich in diesem Bereich nicht um die Frage des Gewissens handelt und daß die Berufung auf das Gewissen hier unangemessen ist. Hier mitten in der zeitliche Existenz die rechte Liebe zu bewähren ist eine echte Rechtspflicht3a.

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Die Geschichte der alten Kirche ist vor allem im ersten Jahrtausend eine Geschichte der planmäßigen und rücksichtslosen Verdrängung der selbständigen Kirchen in Spanien, Frankreich, Irland, England, der schottischen Missionskirche in Deutschland usw., der Vernichtung ihrer eigenständigen Liturgien zugunsten einer liturgischen Unifizierung und kirchenrechtlichen Zentralisierung im Jurisdiktionsprimat des Papsttums. Hier ist mit Unduldsamkeit, Lieblosigkeit und folgerichtigem Machtstreben die brüderliche Einheit der Kirche zugunsten dieses Zentralismus der Alleinherrschaft vernichtet worden. Nur selten wird dieser Zug, so bei Gregor dem Großen, durch einen anderen Klang kurze Zeit unterbrochen. Diese Mißachtung des Liebesgebots war auch eine Verletzung des kanonischen Rechtes, das die Liebe einschließt. Gerade diese Dinge aber haben letzten Endes die Kirchenspaltungen von 1054 und 1517 in ihrer ganzen Tiefe hervorgerufen. Die Einheitskirche ist der Grund für den Verlust der Kircheneinheit.

Gegen den rechten Gebrauch der Ordnung im Sinne dieses secundus usus ist nirgends mehr als in der Zeit der Reformation verstoßen worden, und zwar gerade in Verkennung der Tatsache, daß es sich nicht um ein im freien Belieben stehendes Entgegenkommen oder eine Gnade, sondern einen echten kanonischen Rechtsanspruch handelt. Nachdem ganze Länder und Kirchenprovinzen in Unruhe waren, war man auf Seiten der römischen Kirche zeitweilig bereit, in denjenigen Streitpunkten nachzugeben, die sich unbestritten auf Ordnungen menschlichen Rechtes bezogen, wie beispielsweise Laienkelch und Priesterehe. Dann aber verlangte man die restlose Anerkennung aller bisherigen Ordnung. Auf der anderen Seite waren insbesondere die Verfasser der CA deutlich bestrebt, ihre Übereinstimmung mit der römischen Kirche als möglichst weitgehend darzustellen und sich auf die entscheidenden Differenzen der Lehre und des Gottesdienstes als den eigentlichen Bekenntnisbereich zu beschränken. Daneben aber standen radikale Tendenzen nicht nur im Bereich des Schwärmertums. Kurzum: die Trennung des necessarium vom liberum und wiederum die Verbindung beider in der brüderlichen Liebe gelang nicht. Es hat keinen Zweck, hier das Verschulden gegeneinander aufzurechnen. Wie schwer diese Dinge sind, zeigt auch das Maß von Zurücksetzung, welches die unierten griechischen Katholiken in den gemischten osteuropäischen Gebieten vom lateinischen Klerus, also den Geistlichen ihrer eigenen Kirche, erfahren haben.

Jede Lebensform hat ihre Tendenz zur Ausschließlichkeit und Unduldsamkeit, auch und gerade auch die kultische. Am unduldsamsten ist freilich die Lebensform der Formlosigkeit. Eine positive Lebensform läßt für die Anerkennung einer anderen Form vielleicht noch Raum; für die Formlosigkeit ist jede Form an sich schon Anmaßung. In der Kirche Christi aber muß mit der lex fidei auch die „lex cultus” von der lex charitatis begrenzt werden.

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Das Verhältnis von Glauben und Liebe, von Wahrheit und Liebe ist der Punkt, an welchem im Kirchenrecht die größte Verwirrung und der größte Mißbrauch herrscht und ansetzt. „Selbstverständliches Gebot der Liebe ist es, daß man sich nicht um bloßer Worte willen verketzert und daß in äußeren Dingen auf die Schwachen Rücksicht genommen wird. Wie aber, wenn die Liebe Einheit fordert und doch die Lehre und der Glaube diesem Verlangen entgegenstehen? Dann gilt es, die rechte Einheit von Glauben und Liebe zu beachten: caritatis est omnia tolerare, fidei nihil.”4 Das Verhältnis von Glauben und Liebe, aber auch das Problem der Freiheit kommt längst vor Luthers kühnen Formulierungen über die Freiheit eines Christenmenschen zum Austrag in den jahrhundertelangen Auseinandersetzungen der Kanonisten mit dem Begriff und Anspruch der päpstlichen Vollgewalt (plenitudo potestatis). So kann der Cardinal Hostiensis sagen: „Alles ist ihm (dem Papst) erlaubt, wofern er nicht gegen den Glauben handelt — und wofern er nicht gegen Gott durch Todsünde fehlt”. (Ludwig Buisson, S. 90). Andererseits suchen die Kanonisten diese Freiheit in Beziehung zu setzen und zu begrenzen durch die caritas. Die Freiheit eines Christenmenschen ist praefiguriert in der plenitudo potestatis, und bedeutet eine Übertragung und Verallgemeinerung dieses Anspruches auf jeden Christen. Sie löst nicht das Verhältnis von Glauben und Liebe, von Potestas und Caritas, sondern überträgt es nur auf eine andere Ebene, zeigt es als ein allgemeines Problem der christlichen Existenz in der Kirche überhaupt. Und für beide stellt sich in gleichem Maße die Frage nach dem Verhältnis beider zum consensus fidelium, zur communio sanctorum. Denn der Glaube lebt nicht isoliert, sondern im Consensus und muß sich in der Liebe verwirklichen, konkretisieren. Die Spannung zwischen dem Glauben einerseits, der Liebe und der Gemeinschaft andererseits und seine Ablösung von beiden ist hier wie dort und nach wie vor ein Grundproblem des Kirchenrechts.

 

Neben diesem grundsätzlichen Verhältnis steht noch ein zweites Problem, welches Johannes Heckel in den „Initia” (S. 71, 105) behandelt. Nach seiner Auslegung der Kirchenrechtslehre Luthers „hat die kirchliche Obrigkeit vermöge ihres Amtes auch in Dingen des von ihm sogen. ,autonomen’ (kirchengenossenschaftlichen) Kirchenrechts, selbst in Kleinigkeiten Anspruch auf Ehrerbietung. Grober Ungehorsam gegen ihre unter Zustimmung der Kirchengenossen erlassenen schriftgemäßen Gebote ist als ,contemptus ecclesiae’ ein schweres Vergehen nicht nur im Bereich des sogen. äußeren Kirchenwesens, sondern gegen die geistliche Kirche, da es die in ihr geltende Liebespflicht verletzt ... Darum hat Gott alle Menschen dem Priester untergeordnet5 und versöhnt sich mit dem Unbotmäßigen erst, nachdem die kirchliche Obrigkeit Nachsicht gewährt hat. Die äußersten Grade des Ungehorsams schließen als Bruch mit der geistlichen Kirche von selbst aus dieser aus. So können

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Verstöße gegen ,autonomes’ Kirchenrecht mittelbar, wenn sie gegen das Lebensgesetz der geistlichen Kirche angehen, furchtbare geistliche Folgen nach sich ziehen.”6

In viel höherem Grade als wir gewohnt sind, greifen also hier für Luther die geistliche Kirche, die ecclesia proprie dicta, mit dem sogen. äußeren Kirchenwesen ineinander. Der contemptus ecclesiae — ein völlig vergessener Begriff — erinnert an den Begriff der angelsächsischen Prozeßrechts, den contempt of court, die sehr strengen Vorschriften, welche den Respekt vor der Gerichtshoheit sichern, und zwar von der Hoheit als solcher, ohne eine Erörterung zu erlauben, ob das Verhalten des Gerichts in der Sache Anlaß zu Kritik gibt. Der contemptus ecclesiae gilt freilich ausdrücklich nur für die schriftgemäßen Anordnungen, umkleidet diese aber ebenfalls mit hoher Würde und erlaubt nicht ihre Geringschätzung als äußerer, unwichtiger Dinge. Die rechtmäßige, im Consens gebildete Kirchenordnung verlangt Achtung und setzt denjenigen in schweres, geistliches Unrecht, der ihr hartnäckig, rechthaberisch widerstrebt.

Dieses Bild von Luthers Kirchenbegriff ist ein wesentlich anderes, als Theorie und Praxis der heutigen Kirche darbieten, die sich auf ihn beruft. In zwei Richtungen wird von dieser Auffassung abgewichen. Auf der einen Seite werden wesentliche biblische Erkenntnisse stillschweigend ermäßigt und den herkömmlichen Vorstellungen einer durchschnittlichen Gemeindetheologie unanstößig angepaßt. So tritt neben die Tyrannei der Schwachen die Herrschaft der Mittelmäßigkeit als eine Form unverantwortlicher kirchlicher Demokratie. Auf der anderen Seit wird einer hartnäckigen Rechthaberei und bewußten Indisziplin Raum gelassen, die sich zu Unrecht darauf beruft, daß es ja um „äußere” Dinge gehe. Auf diese Weise wird die Beschlußfassung über kirchliche Maßnahmen und deren Durchführung bis zur Unerträglichkeit und Lächerlichkeit kompliziert und erschwert und die Kirche in ihrer Handlungsfähigkeit erheblich eingeschränkt. Die angebliche Freiheit gegenüber äußeren Dingen verkehrt sich in die Freiheit zum Eigensinn. Beidem aber dient zu Unrecht der Anspruch der Liebe als Deckmantel.

Die lex caritatis als grundlegender modus der Handhabung kirchlichen Rechtes hat eine lange Geschichte. Aber wenn daraus nicht eine Phrase oder ein nicht weniger verderblicher Generalbegriff werden soll, aus dem man jederzeit alles Gewünschte ableiten kann, so muß sorgfältig erwogen werden, was sie fordern kann. Entscheidend ist die Erkenntnis, daß die lex caritatis nur dort zum Zuge kommt, wo unserer Gestaltung und Handhabung überhaupt ein gewisser, pflichtgebundener Spielraum gegeben ist. Es hat etwa keinen Sinn davon zu sprechen, daß „liebevoll” getauft wird. In den Sakramenten, in denen Gott mit uns Gemeinschaft macht, ist seine Liebe gegenwärtig und deshalb kein Raum für unsere Übung der lex caritatis. Aber schon bei der Predigt kann es

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ganz anders sein. Ein so bedeutender Mann wie Carnegie berichtet in seinen Lebenserinnerungen, daß er durch puritanisch-einseitige Gesetzespredigt seiner heimatliche schottischen Kirche vom christlichen Glauben abgetrieben worden sei. Hier ist also zunächst die lex fidei verletzt, weil offensichtlich das Evangelium hinter dem Gesetz verdeckt worden ist. Aber auch das zu predigende Gesetz kann unter Verletzung der lex caritatis verkündigt werden. Ihren eigentlichsten und breitesten Raum at die lex caritatis im Bußrecht und der Kirchenzucht, welche beide ineinandergreifen. Luther ist der Grundsatz Gregors des Großen, daßdie misericordia non sine disciplina, und die disciplina non sine misericordia zu handhaben sei, sehr teuer gewesen. Ähnliche Grundsätze formuliert als eine ganz singuläre Vorschrift der canon 2214 CIC „de poenis in genere”, wenn er den Ordinarien ausführlich den Grundsatz einschärft: „plus caritas quam potestas”.

Der Gegenbegriff ist andererseits das skandalon, welches als Ärgernis der Schwachen zu vermeiden ist7. Immer zeigt sich aber das dialektische Verhältnis von Glauben, Wahrheit, Disziplin einerseits, Caritas andererseits, welches in allem gestaltbaren, variablen Handeln in der Kirche durchzuhalten ist.

„De caeremoniis seu rebus adiaphoris memorabilis est sententia Augustini: ,In his rebus, de quibus nihil statuit divina scriptura, mos populi dei et instituta maiorum pro lege tenenda sunt et sicut praevariationes divinarum legum, ita contemptores ecclesiasticarum consuetudinum coercendi sunt’ etc.”8.

Dieses Zitat Augustins berührt sich eng mit den Gedanken Luthers, die in dem Begriff „contemptus ecclesiae” zusammengefaßt sind. Es handelt sich dabei um Dinge, in denen der Konflikt zwischen Schrift und Tradition gerade nicht in Betracht kommt. Trotzdem ist uns diese Haltung, das muß man sehen, sehr fremd geworden, so fremd, daß auch jener Begriff Luthers eine völlige Neuentdeckung ist und trotz der Schrift Heckels keine Beachtung gefunden hat.

c) Der dritte Gebrauch des Kirchenrechts kann als der eschatologische bezeichnet werden. Dies hat eine doppelte Bedeutung. Jeder Gottesdienst und jedes kirchenrechtliche Handeln macht den Christen im besonderen Maße deutlich, daß er auf dem Wege von der Taufe zum Abendmahl, von der neuen Geburt zur endzeitlichen Vollendung ist. Alles kirchliche Handeln zielt daraufhin. Was kann von alledem endzeitlich übrig bleiben? Alle martyria hört auf, wenn der Herr gegenwärtig sein wird, alle diakonia endet, wenn die Tränen abgewischt sind und Gott alles in allem ist. Alle Ordnung der Kirche in der Zeit und alle Hierarchie wird in der himmlischen aufgehoben, und vor ihr werden wir offenbar werden. Alle Leiturgia dagegen mündet in den Lobpreis aller Seligen und Vollendeten am Throne Gottes. Sie

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wird nicht gegenstandslos, sie wird nicht negativ, sondern positiv aufgehoben in die ewige Liturgie. Die Communio und der dankende Lobpreis ist dasjenige, was über die Zeit hinausreicht. Wir würden die Verheißung Lügen strafen, wenn wir nicht neben der Ablösung der Zeitlichkeit diese Bestätigung und Aufnahme freudig erwarteten.

Deswegen darf der eschatologische Aspekt im Bereich der Kirchenordnung nicht allein dazu dienen, zeitliche Gestaltungen in Frage zu stellen, sondern er muß zugleich dazu anspornen, diese freudige Zuversicht immer wieder auszudrücken. Einer Kirche, die wahrhaft voller Hoffnung ist, wird der Mund davon übergehen. Eine Kirche unter dem Kreuz, die nicht zugleich eine solche der überwältigenden Hoffnung und insofern eine solche des Ruhmes ist, nicht ihres eigenen, sondern des Ruhmes Gottes, ist keine rechte Kirche. Eine kümmerliche Freudlosigkeit ist kein Zeichen des Christen.

Man kann dies (a-c) dahin zusammenfassen, daß das Recht der Kirche in einem dreifachen Gebrauch steht, unter der lex fidei, der lex caritatis und der lex spei, die jede für sich und in besonderer Weise einen Aspekt geben, der im Ganzen nicht fehlen darf.