1. Vorbemerkung

Johannes Heckel hat seit langem seine Arbeit der Rechtslehre Luthers und innerhalb ihrer der Kirchenrechtslehre zugewendet. Er hat zunächst die Rechtslehre Luthers in einer Abhandlung „Recht und Gesetz, Kirche und Obrigkeit in Luthers Lehre vor dem Thesenanschlag von 1517”1 behandelt, dann aber deren Ertrag in eine Schrift „Initia juris ecclesiastici protestantium”2 übernommen. Sodann hat er in einem größeren Werk „Lex charitatis”3 die Rechtslehre Luthers im ganzen dargestellt, wobei auch die Kirchenrechtslehre noch einmal im Zusammenhang zu ihrem Recht kommt. Schließlich sind hier seine Studien über die „cura ecclesiae”4 bedeutsam, deren Ertrag er ebenfalls mit verwertet.

Die Auswertung dieser Arbeiten für die Kirchenrechtslehre begegnet jedoch zwei Schwierigkeiten. Heckel hat ein ungeheures Quellenmaterial verwendet. Aber selbst der berufsmäßige Lutherforscher kann beinahe nur durch Aufwand einer ebenso großen Arbeit eine exakte Kritik der Heckelschen Ergebnisse begründen, zumal Auswahl, Akzentsetzung und Deutung bei der vielfachen Widersprüchlichkeit und Komplexität der Äußerungen Luthers großen Spielraum eröffnen. So kann man eben nur sagen „Luther nach Darstellung Heckels”. Zudem stützt sich Heckel auf eine sehr weit zu den Anfängen Luthers vorgeschobene Quellenbasis, deren Deutung in der gegenwärtigen Lutherinterpretation noch in vieler Hinsicht als umstritten gelten muß. Es ist auch nicht deutlich, ob überall eine ausreichende Rückkontrolle von den späteren Schriften des Reformators aus vorgenommen ist, deren grundsätzliche Übereinstimmung mit dem jungen Luther von Heckel unterstellt wird.

Sodann behandelt Heckel ausschließlich die Äußerungen und Gedanken Luthers, nicht aber was daraus konkret geworden ist. Schon der Titel der „Initia juris ecclesiastici protestantium” ist objektiv unzutreffend. Denn es sind die Anfänge der Kirchenrechtsanschauung Luthers — und mit keinem Wort wird die Frage erörtert, daß aus diesen nun tatsächlich geltendes Recht der Protestanten geworden ist. Wollen wir aber die Kirchenrechtslehre Luthers wirklich für uns verwerten, so müssen wir nicht nur diesen einen Schritt machen, sondern drei weitere: wir müssen fragen, was aus ihr in der Grundlegung der Reformation selbst geworden ist, sodann wie sie sich seither bewährt und weitergebildet hat, und was wir nach dem Stande unserer Erkenntnis, der Heiligen

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Schrift sowohl wie nach unserer kirchengeschichtlichen Erfahrung dazu zu sagen haben. Es ist ja durchaus die Frage, ob die Gedanken Luthers zum Teil von vornherein beiseitegestellt worden sind — zum Schaden der Reformation oder auch zu ihrem Nutzen, weil etwa seine Vorschläge zum Teil undurchführbar gewesen wären. Es wäre sodann zu prüfen, was etwa sich als fruchtbar, was sich als unzulänglich erwiesen hätte. Und schließlich sind die Gedanken Luthers unmöglich für uns die einzige Richtschnur, so daß wir nur auf diesen Grundstein zurückzugehen brauchten, um bestens versehen zu sein. Daß diese (sich aufdrängenden) vier Fragen so völlig getrennt verrechnet werden, scheint mir ein verhängnisvolles Erbe des Historismus zu sein. Denn es brint die gegenwärtige lutherische Kirche so in ein schiefes Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte. Betrachtet man so Luther für sich allein, so macht man ihn unweigerlich auch ohne falschen Ruhm zu einer Idealfigur. Ist man seinen Gedanken gefolgt, so ist es gut, wenn nicht, so ist die Geschichte seither Abfall vom wahren Luther — und womöglich setzt dieser Abfall schon in seiner eigenen Entwicklung ein. Die Frage der geschichtlichen Bewährung wird dieser abstrakten Richtigkeit gegenüber zurückgedrängt.

Die Schlußbemerkung über das Schicksal der Rechtslehre Luthers (L.ch., S. 181ff.), sehr kurz und überwiegend ideengeschichtlich, stellt sich das Thema einer solchen Rückprüfung nicht. Denn diese müßte schon mit den Bekenntnisschriften selbst beginnen.

Im Kirchenrecht kann ja vollends nicht allein von Luthers Gedanken, sondern muß von dem rezipierten, zur Gültigkeit erwachsenen Kirchenrecht der lutherische Kirche gesprochen werden. Und schließlich kann nicht außer Betracht bleiben, daß gerade auf dem Gebiete des Rechtes die Grenzen der großen Persönlichkeit Luthers sich besonders deutlich zeigen5. Vorurteile auf diesem Gebiet haften ihm unzweifelhaft an. Mehr noch: er hat der Kirchengemeinschaft, die seinen Namen trägt, eine beschwerliche und unfruchtbare Rechtsfremdheit vererbt, die sich auch heute noch in verzerrten Vorstellungen der Rechtswirklichkeit niederschlägt. Freilich ist dieses Bild umstritten. Während Liermann in der erwähnten Studie uns den unjuristischen Luther vorführt, mit dem — zumal für einen Juristen — eigenartigen Schlußurteil, daß die lutherische Kirche dabei doch gut gefahren sei, entwirft Johannes Heckel in seiner Arbeit über „Recht und Gesetz, Kirche und Obrigkeit usw.” (s.o.) ein ganz anderes Bild. Er sagt:

„Ohne dem positiven Einfluß juristischen Denkens bei Luther nachzuspüren, vermag man nicht in das Innerste seiner Theologie einzudringen.” (293) „Für Luther war das juristische Element theologisch nicht nur unschädlich, sondern notwendig. Erst mit seiner Hilfe gelingt es, die religiöse Grundposition des Christentums, den Gegensatz von Gesetz und Gnade, von lex und Evangelium herauszuarbeiten,

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und erst das Recht ermöglicht auf dieser Grundlage das Verhältnis von Gott und Mensch eindeutig zu bestimmen ...” (292)6.

Es zeichnet sich hier bei Heckel die Linie ab, die ihn anderthalb Jahrzehnte später in der „Lex charitatis” in die Nähe der Barthschen These von „Rechtfertigung und Recht” geführt hat, wenn auch unter fast durchgängiger Ablehnung durch die konfessionelle lutherische Theologie. Freilich tritt mehr dabei hervor als der Gedankeninhalt einer großen Theologie: es ist die Existenzialität des Rechtes selbst, welche die Rechtssprache und Rechtsbegrifflichkeit der Heiligen Schrift bezeugt.

Zum gleichen Gegenstande heißt es im „Gesetz und Recht”:

„... Die berühmte These Sohms ... hätte Luther wohl, soweit der zweite Halbsatz in Betrecht kommt (sc. das Wesen des Rechts ist weltlich) mit harten Worten als Schwärmertum zurückgewiesen. Nur eine Mißhandlung der Quellen konnte Sohm ... es erlauben, die klare Gleichsetzung von ,ius divinum oder Wort Gottes’ in den Schmalkaldischen Artikeln (IV) in eine Entgegensetzung: Nicht ,Recht göttlichen Ursprungs’ sondern ‘lediglich Wort Gottes’ umzudeuten.”

Trotzdem läßt sich dieser Gegensatz bis zu einem gewissen Grade auflösen; auf beiden Seiten liegen Wahrheitsmomente. Luther begegnet dem Recht als homo religiosus kat’exochen. Darum mußte er, wie Heckel mit Recht hervorhebt, die Heilsökonomie der Heiligen Schrift wie diese selbst in zentralen Rechtsbegriffen denken und nachdenken. Aber eben in diesen existenzialen Rechtsbegriffen erschöpft sich dann sein eigentliches Interesse. Das weltliche Recht, in dessen Fragen er in einiger Breite verwickelt wird, interessiert ihn doch mehr von der ethischen als eben der rechtlichen Seite her. Er hat noch gegen Ende seines Lebens sich als Schlichter betätigt: die eigentlichen Rechtsfragen lagen ihm fern. Die Wahrheitsfrage im Recht, die als Gerechtigkeitsforderung dem geschworenen Juristen aufgelastet ist, ist ihm fremd. Er mißversteht und mißdeutet sie als „Streben nach Gerechtigkeit aus dem Werken”. Aber eine Reihe von Motiven und Denkelementen, darunter ein gewisser Agnostizismus, sodann eine Art Naherwartung, aber auch eine romantische Rückerinnerung an angeblich bessere Zeiten lassen keinen starken Gestaltungstrieb bei ihm aufkommen. Im geistlichen Bereich haben zwar für die Schrift die neueren Exegeten, für Luther selbst Heckel das Vorhandensein von „ius divinum” nachgewiesen und damit den grundsätzlichen Irrtum der liberalen Deutung gezeigt. Aber eben die Gründe seiner Haltung zum weltlichen Recht hindern ihn auch, das Recht im geistlichen Bereich „ins Fleisch zu ziehen”. Jenes grundlegende Interesse am Recht beschränkt sich auf den Gedankenbereich der Rechtfertigung und der Absolution und endet dort. So hat die neuere Deutung ihre Berechtigung im Grundsätzlichen, die soziologisch-liberale von den praktischen Ergebnissen her. Und diese gegensätzliche Beurteilung hätte unbeschadet aller modernen Eintragungen nicht auftreten können, wenn

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nicht das Ganze einen so zweideutigen und transitorischen Charakter trüge.

Oder anders: der Grundsatz ist von vornherein so eingeengt und so undeutlich formuliert, daß er allzuleicht mißdeutet werden kann und fast zwangsläufig mißdeutet wird. Die innere Widersprüchlichkeit des Ergebnisses wird in der Haltung zu 1. Kor. 6 deutlich8, wenn nun gerade dem weltlichen Richter als Christen in diesem Maße Schlichtung, Anleitung zum Nachgeben usf. aufgegeben wird, ebenso in dem grundsätzlichen Versagen in der Ehesache Philipps des Großmütigen9.

Die dogmengeschichtlichen Ursprünge werden bei der eigentümlichen Positivität der Darstellung nicht sichtbar. Ludwig Buisson beschreibt die Rechtslehre Augustins so, daß man sich bis in die Formulierungen in die „Lex charitatis” versetzt fühlt. Aber gerade dort wird der in hohem Maße spiritualistische Charakter dieser Lehre in einer Weise deutlich, die zur kritischen Überprüfung veranlaßt. Diese vermisse ich bei Heckel10.

Heckel bezeichnet die Aufgabe eingangs der „Lex charitatis” sehr präzise. Es gilt den Rechtsbegriff Luthers festzustellen. Es handelt sich aber dabei nicht um Luther als Rechtstheoretiker, als Rechtsphilosophen. Heckel zitiert mehr als eine gewichtige Stimme von Lutherkennern, die eine solche Rechtstheorie bei Luther nicht zu finden vermögen, die ein rechtsphilosophisches Nichts feststellen. So Liermann:

„Tritt man dem ganzen Fragenkreis um Luther und das Naturrecht unbefangen gegenüber, so kommt man zu dem Ergebnis, daß es ein ganz vergebliches Bemühen ist, aus Luthers Werken überhaupt ein irgendwie geartetes rechtsphilosophisches System herausholen zu wollen. Rechtsphilosophisch könnte man Luther als naiven Naturrechtler bezeichnen, der sich naturrechtlicher Wendungen bedient, wenn sie gerade gelegen sind. Er äußert sich bald so, bald anders, wie es ihm gerade in die Feder fließt. Rechtsphilosophische Folgerichtigkeit kann man für ihn nicht in Anspruch nehmen. Je mehr man an seinen widerspruchsvollen Äußerungen herumdeutet und herumorakelt, desto widerspruchsvoller werden sie, und desto mehr trübt sich die Einsicht in die geistesgeschichtliche Lage, wie sie wirklich gewesen ist. Deshalb ist es besser, offen zuzugeben, daß seine Werke für das Problem überhaupt nicht fruchtbar gemacht werden können. Man tut mit dieser Feststellung dem religiösen Genius keinen Abbruch. Seine Größe lag auf einem anderen Gebiet.”11 (S. 17).

Aber mit Recht sagt Heckel dagegen:

„Aber ach! Jenes behauptete Versagen des Reformators hat eine viel ernstere Seite. Es bezeugt nicht die Unzulänglichkeit Luthers als Juristen — das wäre ein Geringes —, sondern als Theologen ...
Luthers Rechtslehre ist ein Stück seiner Theologie und also theologische Rechtslehre. Als Lehrer der Heiligen Schrift hat er sie entwickelt, und nur in dieser Eigenschaft beansprucht er Gehör für sie in der

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Christenheit. Weiter reicht sein Lehrauftrag nicht. Er wendet sich deshalb nicht in der Weise des Philosophen oder Rechtsphilosophen an die Menschheit überhaupt, sondern er redet bloß zu Christen und geht aus vom Recht der Christen. Das aber heißt das Recht des Christus, nämlich das Recht im Reiche des Königs Christus. Von der Rechtsgemeinschaft mit ihm handelt, formelmäßig zusammengefaßt, die Lehre von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben. Darum ist die Frage nach dem Rechtsbegriff Luthers gleichbedeutend mit der anderen genaueren: Welchen Rechtsbegriff setzt die Rechtfertigungslehre voraus?” (S. 18/19).

Demnach ist der Theologe überhaupt, nicht allein Luther in seiner Lage, um der Theologie, nicht um der Rechtslehre willen, genötigt, seinen dieser Theologie angemessenen Rechtsbegriff zu bilden. „Luthers Rechtslehre ist in ausgezeichnetem Sinn eine Kirchenrechtslehre. Ihr ordnet sich seine Naturrechtslehre ein und unter. In der Lehre von der Kirche und dem in ihr lebenden Recht findet sie ihren Mittel- und Höhepunkt.” (S. 27). Gegen die liberale Meinung betont auch Heckel, daß Luther in einem ganz präzisen Sinne auch am Begriff des ius divinum festhält.

Damit begründet und bejaht Heckel die Aufgabe der Rechtstheologie, ja verschärft in gewisser Weise ihre bisherige Fragestellung. Denn vergleichbar mit der Naturrechtslehre hat sich die evangelische Rechtstheologie mit der theologischen Begründung des Rechts im allgemeinen und mit den einzelnen Problemen des weltlichen Rechts befaßt, gemeinhin aber die delikate Frage des Kirchenrechts ausgeklammert, die gerade bei Luther nach Heckel zentral ist. Wie schon früher dargelegt, entwickelt und besitzt in der Tat jede Theologie ihre Rechtslehre, selbst wenn sie äußerlich gesehen den negativen Charakter der Freigabe bestimmter Entscheidungen und Bereiche besitzt. Diese Einsicht und Fragestellung ist eine nachliberale. Gerade in dieser Trennung glaubte man ein wesentliches, in gewissem Sinne das wesentlichste Ergebnis der lutherischen Reformation zu finden. Eine allgemeine Verhältnisbestimmung von Evangelium und Recht, Kirche und Welt führte zu dieser Scheidung, nicht die ziemlich begrenzt verbreitete Anschauung vom Rechtsmonopol des Staates, die nie allgemeine Anerkennung gefunden hat, aber freilich selbst Rudolf Sohm bewegt hat. Jedenfalls erledigten sich mit dieser Anschauung scheinbar sehr viele Probleme. Die Rechtsgedanken Luthers waren dann eine sekundäre und Begleiterscheinung, als sozialethische Konzeptionen zweiter Hand mit bedeutenden Folgen, freilich immer noch historisch sehr wichtig für Kirchengeschichte und Religionssoziologie. Dogmatische Bedeutung besaßen sie nicht oder nur in dem negativen Sinne, daß eben durch sie die grundsätzlich falsche Verbindung von Dogma und Recht in jeder Richtung gelöst worden sei. So hätte Luthers Rechtstheologie

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ausschließlich eine kritische und Grenzfunktion ohne eigenen positiven Gehalt gehabt. Diese Meinung hat sich als irrig erwiesen, selbst wenn man mit der überwiegenden Meinung der gegenwärtigen lutherischen Theologie die von Barth gestellte Frage nach dem Verhältnis von Rechtfertigung und Recht als solche nicht so aufnimmt, wie es gerade Heckel als Lutherforscher tut. An diesem inhaltlichen Punkte, nicht in der Fragestellung selbst, ist auch Heckel mit seiner Deutung umstritten. Der religiöse Genius, dessen Genie auf ganz anderem Gebiete lag (Liermann), war also genötigt, auf diesem wenig geliebten Felde zu arbeiten. Er mußte komponieren, auch wenn er noch so unmusikalisch war.

An diese Lage knüpften sich Bedingungen und Fragen, die Heckel nicht in Erwägung zieht. Auch für Luther stellt sich das Methodenproblem des Kirchenrechts, und sein Entwurf ist methodologischer Beurteilung ausgesetzt. Noch schwieriger liegt es in der Sache selbst. Der von ihm notwendig zu bildende Rechtsbegriff steht unausweichlich in der Geistesgeschichte des Rechtsdenkens. Er muß sich irgendwie zu dem verhalten, was wir heute systematisch und phänomenologisch als Recht zu verstehen vermögen. Zieht er auch immer nur in Betracht, was für Rechtfertigungslehre und Kirchenrecht dogmatisch von Interesse ist und vermeidet er es zu Recht, sich zum Erbschlichter zu machen, so muß er doch unausweichlich Aussagen über Recht formulieren, die sich irgendwie zu dem verhalten, was vorfindlich in der Welt Recht ist. Er muß also rechtsontologische Aussagen machen. Die Problemlast solcher Aussagen, die womöglich doch in nuce eine ganze Rechtsontologie in sich enthalten, bilden den ernsthaften Kern der Bedenken gegen seine wie gegen jede denkbare Rechtstheologie.

Aber gerade dann, wenn man die revolutionäre Wirkung seines Angriffs auf das Papstrecht feiert, kann man nicht leugnen, daß eben jenen Rechtsansprüchen mit den Ansprüchen eines besseren Rechtes begegnet worden ist und werden mußte. So enthält die kritische und Grenzfunktion notwendig immer eine weitreichende eigen Position. Sind aber rechtsontologische Aussageelemente nicht vermeidbar, so setzt sich damit jede und auch Luthers Rechtstheologie einer ontologischen Kritik aus, freilich nicht einer beliebigen, sondern einer solchen, welche die Aufgabenstellung des Theologen und seine biblische Voraussetzungen bedingungslos zu den ihrigen macht. Wie weit das Recht und die Möglichkeit einer rein säkularen Kritik hier reichen könnte, brauch an dieser Stelle nicht erörtert zu werden. Eine solche Kritik lutherischer Rechtstheologie ist bisher deswegen nicht erfolgt, weil im Sinne der alten Trennung die Fakultäten sich getrennt verstanden und andererseits die auf dem Gebiet der Lutherforschung arbeitenden Juristen sich bedingungslos der theologischen Autorität Luthers unterstellten, damit ihre eigene Aufgabe zu Unrecht einschränkend.

Die mächtige geschichtliche Wirkung der Kirchenrechtslehre Luthers

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hat nun die Vorstellung hervorgebracht, daß zwischen seiner und der von ihm bekämpften Lehre ein kontradiktorischer Gegensatz bestehe, daß aber beide Gegensätze zugleich eine ausschließliche Alternative bildeten. Die Folge wäre, daß weitere Deutungsmöglichkeiten nicht beständen, weitere Positionen immer nur die unechte Ermäßigung, ja Verschleierung der in der Reformation klassisch formulierten Antithese bedeuten könnte. In dieser Auffassung wäre das vorreformatorische scholastische Kirchenrecht sozusagen ein negativ-konstituierendes Element der wahren Kirchenrechtslehre. In dieser Sicht etwa behandelt Joachim Heubach in seiner Schrift über die Ordination zum Amt die Kontroverslage diese in hohem Grade kirchenrechtlichen Problems, ohne den Rechtsfragen die ihnen gebührenden Stellung einzuräumen. Jene Auffassungen sind deshalb so bedenklich, weil sie weder ausdrücklich formuliert noch erst recht in ihrer vollen Tragweite zur Erörterung gestellt worden sind, sondern weitgehend aus dem Pathos der Befreiung, der Darstellung des Selbstverständnisses und damit auch der geschichtlichen Selbstrechtfertigung stammen. Er stellen sich damit zwei wesentlich verschiedene Fragen: einmal nach dem Kompromiß als dogmatischem Problem — es geht darum, ob es Grenzen der theologischen Aussage als Grenzen rationaler Konsequenz gibt. Die andere ist diejenige nach der Offenheit für Positionen, die jenseits des geschichtlichen Gegensatzes stehen, den Luther repräsentiert. Die konfessionell-lutherische Theologie muß diese Frage theoretisch wohl bejahen, praktisch aber verneinen. Nun vermehren sich aber mit der geschichtlichen Entfernung die Möglichkeiten, diesen bisher kontradiktorisch erscheinenden Gegensatz auch anders zu sehen. Es könnte die revolutionäre neue Fragestellung12 und die Antworten darauf für uns sehr viel mehr in der geschichtlichen Kontinuität erscheinen, es könnten die Gemeinsamkeiten der so hart streitenden Teile sehr viel mehr hervortreten, als dies für sie selbst erkennbar sein konnte. Vollends die Mängel zunächst zulänglich erscheinender ontologischer Aussagenelemente könnten sich durch geschichtliche Erfahrung fortschreitend in stärkerem Maße herausstellen. Für diese Fragen hat die lange Epoche von Aufklärung, Idealismus und Liberalismus eine Art Ruhepause bedeutet, weil die scheinbar grundsätzliche Trennung von Kirche und Recht, die erst in der Begegnung, im gegenseitigen Ernstnehmen der Verknüpfung auftretenden Fragen verdeckt hat.