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4. Zur Rechtsstruktur des Kirchenrechts als liturgisches und bekennendes Recht

Das vorstehende Kapitel nimmt bewußt die als sachgemäß bejahte Bezeichnung des Kirchenrechts als liturgisches und bekennendes Recht auf, die Barth eingeführt hat. Aus den dargelegten Gründen führen sie seinen Gedanken über die Jeweiligkeit der Gestaltung und Entscheidung hinaus zum Nachweis sehr bestimmter Zuordnungen, Grundrisse, Strukturen. Wenn das Kirchenrecht vor der Notwendigkeit steht, geistliches Handeln in angemessenen Formen rechtlich zu denken und darzustellen, so stellt sich zugleich rückschauend die Frage, welche Rechtsgedanken in diesen beiden Kapiteln verwendet worden sind. In scheinbarer Übergehung des oben entwickelten Gedankens des Gnadenrechts ist die Darstellung auf die Rechtsfigur des Anspruchs gestellt. Der Anspruch liegt allem normativen Denken insofern weit voraus, als er
1. personal und deshalb nicht auf einen von dem Ansprechenden ablösbaren Inhalt (Gesetz) reduzierbar ist,
2. als Gegenvorgang die Anerkennung fordert, also den Vorgangscharakter der Rechtsbildung gegen die regelhafte Objektivierung offen hält.

Eine Rechtstheorie, die den Rückgang auf diesen Ursprungstatbestand nicht vollzieht und den Gesetzesbegriff als apriorische Form des Rechts festhält, scheint mir unkritisch und unhistorisch.

Trotzdem trägt ja der Anspruch den Charakter der Forderung, also eben das Merkmal, welches von der frei schenkenden Gnade überboten, außer Kraft gesetzt und allein als personale Folge ausgelöst wird.

Aber dieses Verhältnis von Gabe und Forderung ist gewiß nicht im Sinne einer formal-logischen Ausschließung zu verstehen. Die Rechtsfigur des Anspruchs, der Rechtsbildungsvorgang von Anspruch und Anerkennung ist in dem Rechtsgedanken der Gnade eingeschlossen. Der Herr beschlagnahmt und beauftragt — er fordert für seinen Auftrag — aber er bevollmächtigt auch. Er spricht an, aber er verheißt nicht allein seine Zukunft, sondern auch sein und des in alle Wahrheit leitenden Geistes stete Gegenwart bis zum Ende. Er fordert nicht ohne zu geben. Mehr noch: er gibt zuvor sich selbst. Er fordert nicht mehr, als daß man ihn als diese Gabe nimmt. Er kommt in sein Eigentum, aber die Seinen nehmen ihn nicht auf. Aber dieses Herrnrecht besteht darin, daß er sich zu aller Diener macht. Diese paradoxe Verschlungenheit zweier gänzlich gegensätzlicher Rechtsgedanken ist wesentlich und unverzichtbar. Sie kann nur durchgehalten werden, wenn der Anspruch, die Forderung auf die in ihm sowohl vorausgehende wie in ihr enthaltene wie für die Zukunft verheißene Gabe ausgelegt wird. Solange und soweit dieses Geschehen — gleichviel in welcher Denkform — ausschließlich oder wesentlich auf die Forderung ausgelegt wird, wird das Werk Christi

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aus den Augen gesetzt, für uns zunichte gemacht. Die Überwindung der Gesetzlichkeit, auf welche man einen so großen geistigen Aufwand konzentriert hat, befreit noch durchaus nicht von der Herrschaft des Anspruchsdenkens, radikalisiert es nur, führt noch nicht zur Gnade.

Es ist auch diese Gnade auf kein Tempus unserer Zeitvorstellung zu begrenzen: es ist weder alleinige noch einmalige Vergangenheit, noch allein Gegenwart, noch allein Zukunft, sondern alles dreies in einem. Wenn aus der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit dieses Opfers nur ein neuer Anspruch erwächst, die Gnade nicht mehr eine ständig gegenwärtige, ständig angebotene ist, so wird sie zum bloßen historischen Faktum. Wird sie allein auf die Gegenwart ausgelegt, so wird sie entweder gegenständlich oder existenzialistisch. Wird sie allein auf die Zukunft ausgelegt, so verleugnet sie mit Vergangenheit und Gegenwart alles, worauf sich ihre Bezeugung gründet. Eine reine Zukunft kann weder ausgesagt noch begriffen werden.

Die so viel berufene Königsherrschaft Christi ist wie jedes recht verstandene Königtum eine Gnadenherrschaft, die aus reicher Fülle gibt, ihrer Herrschaft gewiß, die in Freiheit setzt und sich auch darin noch fort und fort wagt, daß sie mit der Freiheit der Entscheidung rechnet. Je eifriger wir von dieser Herrschaft reden und sie zu vollstrecken trachten, desto mehr sind wir in der Gefahr, ihren öffentlichen und verborgenen Charakter als angebotene Gnade zu verkennen. Nicht allein in der bis zum Überdruß erörterten Gefahr der Gesetzlichkeit und formelhaften Erstarrung, sondern in der Isolierung des Anspruchscharakters, in der Verdeckung der Gnade liegt die Versuchung des Kirchenrechts. Und diese Versuchung wächst in dem Maße, in dem das bürgerliche Rechtsdenken des Anspruchs sich durchsetzt.

Das königliche Gnadenrecht ist freilich für unser heutiges Verfassungsdenken schwer begreiflich: es ist weder absolutistisch noch demokratisch-liberal. Dem einen widerspricht die „gratia”, dem anderen das „sola”. Es gibt, aber es gibt nach seiner Freiheit jedem, was ihm, dem Geber gefällt; darin liegt auch zugleich seine Gerechtigkeit. Er gibt jedem, der bereit ist, sein Untertan zu sein — das ist seine Gleichheit. Er gibt, was ihm gefällt, nach seiner Freiheit — das ist seine Ungleichheit. Und darum läßt dieses Königsrecht sich auf unsere Grundsätze von Gleichheit und unsere Maßstäbe von Ungleichheit nicht festlegen — die Letzten werden die Ersten sein. Gleich sind wir nur dem Gesetz und deshalb gleichbedürftig der Gnade, zur Einheit des gleichen Geistes verbunden, ungleich durch seine Gaben. Die Unabhängigkeit von den Vorstellungen des säkularen Verfassungsrecht ist ein Prüfstein für die Legitimität des Kirchenrechts. Aber nur weil diese Königsherrschaft Gnadenherrschaft ist, kann gesagt werden, daß das Joch sanft und die Last leicht sei.

Dieses hier entwickelte Recht stellt sich überall in Rechtsvorgängen

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dar, nicht in so oder so für sich allein zu interpretierenden Begriffen, aus denen etwas folgt. Im Vorgang selbst ereignet und bildet sich das Recht — aber nicht in der Punktualität, sondern in durch die Geschichtlichkeit des Handelns bedingten Strukturen.

In dem Maße, in dem aber der Rechtsbegriff durch den Rechtsvorgang abgelöst wird, stellt sich auch die Notwendigkeit heraus, die subjektlose Idealität dieses Rechtsbegriffs abzustreifen. Im Vorgang gibt es immer verschiedene Rollen, die in ihrer Verschiedenheit zusammenwirken und aufeinander bezogen sind. Es fordert zwar auch der Rechtsbegriff ein Rechtssubjekt, aber der Rechtsinhalt sagt über das Rechtssubjekt nichts aus. So wird im Kirchenrecht die Interpretation der personalen Kommunikationsformen, der differenten Rollen, der Rollentypen erforderlich. Die Typologie dieser Rollen gibt ihnen gerade keinen Unbedingtheits- sondern einen Relations- und Stellenwert. Ein von der Rolle, die der konkrete Mensch spielt, losgelöster Subjektbegriff macht konsequenterweise die Person für das Recht bedeutungslos, auswechselbar, zum Chiffre. Die Personalität ist nur in der Relationalität gegeben und aufrechtzuerhalten.

Erheben wir auf Grund des in den spezifischen Vorgängen der Liturgie und des Bekenntnisses gewonnenen Anschauungsmaterials die Lebensformen des Kirchenrechts in die Abstraktion, so ergeben sich als Hauptkomplexe die Rollen und die Vorgänge.