2. jurisdictio und ordinatio

a) Die jurisdictio

Die erste Doppelstruktur des kirchenrechtlichen Handelns haben wir in dem Miteinander und Gegenüber von traditio und receptio gefunden. Das zweite Begriffspaar ist das in der Überschrift dieses Kapitels genannte.

Jurisdictio heißt in der Phänomenologie des Rechts die verbindliche Rechtsentscheidung in einem doppelten, jedoch untrennbaren Sinn: als Entscheidungsbefugnis wie als Entscheidungsvorgang. Man unterliegt drittens einer Jurisdiktion, wenn man rechtlich gehalten ist, Entscheidungen anzunehmen, die kraft jener Jurisdiktion im Vorgang der Jurisdiktion über einen ergehen. Nicht dagegen ist es gerechtfertigt und geboten, Kompetenz, Prozeß und Verbindlichkeit des Spruchs hier auf die Streitentscheidungen einzuengen, wie es dem laienhaften Sprachgebrauch entspricht. Dem widerspricht schon das Phänomen der sog. freiwilligen Gerichtsbarkeit, also gerade einer nicht streitentscheidenden, sondern in vielfältiger Weise friedlich konstitutiven, rechtsgestaltenden und sollennisierenden Tätigkeit, die dadurch des Entscheidungscharakters nicht entbehrt.

Jurisdiktion hat demnach immer den Charakter der Wahl: zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten wird, gleichviel aus welchen Gründen eine bevorzugt und als gültig festgestellt, die anderen vernachlässigt oder geradezu abgewiesen. Damit wird die Rechtslage in einer für die Zukunft bestimmenden Weise gestaltet. Doch liegt dieser Begriff auch dem Gegensatz von konstitutiv und deklaratorisch voraus: auch die

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Entscheidung, welche nur den bestehenden Rechtszustand feststellen will, entnimmt ihn zugleich bestehender Unklarheit und Bestrittenheit, befestigt ihn und schafft ihm ipso facto einen neuen zusätzlichen oder sogar originären Geltungsgrund. Die Vorstellung eines „nur” bezeugenden, bekräftigenden usf. Rechtshandelns zerstört die Einheit des Konstitutiven und des Deklaratorischen in solchem Handeln: es setzt vielmehr ein denkerisches Interesse bereits voraus, eine solche Scheidung vorzunehmen, weil sie als vorgegebenen angenommen wird. Sie entstammt also einer petitio principii, nicht aber einer Interpretation des Vorfindlichen. Auf die Kritik am Begriff des testificatio, der publica declaratio (Kap. VIII) kann hier verwiesen werden.

Diese Wahl aber geschieht immer für oder gegen jemand, eine Person. Ein apersonales reines Sachurteil mag es vielleicht irgendwo geben — diese Frage will ich als Jurist nicht entscheiden — ein juristisches Urteil solcher Art gibt es nicht. Normativ-abstrakte Generalregelungen dürfen nicht verdecken, daß Recht in concreto, in der Entscheidung und im Status immer personal ist.

Eine abstrakte schulmäßige Lehrbildung ist jedenfalls erst recht keine Jurisdiktion. Jurisdiktion wird immer von Menschen an Menschen geübt. Jurisdiktion ist sodann die Selbstverpflichtung in allen denkbaren Formen, also vor allem im Vertrag und im Unterwerfungsakt. Sie ist daher nicht etwa nur Letztentscheidung schwebender Verhältnisse, sie ist auch Erstentscheidung zu deren Schaffung. Diese Entscheidung liegt auch noch vor der Frage der Freiheit oder Unfreiheit. Überzeuge ich mich selbst von einer mich bindenden, also nicht mehr veränderbaren Rechtslage, überführe ich mich davon — man beachte die forensischen dem Strafrecht, der Schuldfestsetzung entsprechenden, jedoch sich einseitig vollziehenden Akte — so erkläre ich mich schuldig und bestätige den Schuldgrund. Soweit ich mich damit entscheide, entscheide ich mich gegen etwas Nichtexistentes, nämlich die Nichtverpflichtetheit, die falsche Bestreitungsmöglichkeit.

Ich kann mich aber auch völlig frei und neu zu einer Verbindlichkeit verpflichten, die es bisher noch nicht gab, selbst damit einen Schuldgrund schaffen. Dieser Akt ist als autonome Selbstverurteilung ebenfalls Jurisdiktion, nämlich über mich selbst. Das kann konditional oder inkonditional geschehen, abhängig von zu erfüllenden Bedingungen, die in der Leistung eines Partners oder in abzuwartenden Drittwirkungen liegen. Es kann aber auch inkonditional (abstrakt) geschehen, so daß jeder bedingende Grund wegfällt, der Grund schlechthin in der Selbstverurteilung liegt.

Andererseits steht Jurisdiktion als bestimmende Entscheidung in Spannung zum Begriff der Erfüllung. Sie mag mit noch so unverbrüchlicher Unwiderruflichkeit die Rechtslage gestalten — diese Entscheidung ist auch als gestaltende noch keine Verwirklichung, noch keine Erfüllung,

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auch wenn man sich vollkommen auf sie verlassen kann. Aus dem Jurisdiktionsbegriff allein kann aber auch die Korrelationsform, in welcher Bestimmung und Erfüllung sich verbinden, noch nicht allein erschlossen werden. Sie muß vielmehr beiden angemessen sein, wenn sie beide verbinden soll.

Diese einfachen Merkmale des Begriffs im allgemeinen, aber auch die differenten Gestaltungen im besonderen muß man vor Augen haben, wenn man vom Begriff der Jurisdiktion im kirchlichen Raum spricht.

Im Jurisdiktionsbegriff sind nun zwei dialektische Spannungen angelegt, welche im Vorgang der Rechtsbildung nach vorwärts zu lösen sind, nicht einfach in der Schwebe bleiben können. Denn Jurisdiktion ist immer zielgerichtet, sie will zu einem Stand und Ende kommen.

1. Die erstere ergibt sich aus den personalen Rollen. Um verbindlich gegenüber Menschen entscheiden zu können, bedarf es auf der einen Seite einer unbestrittenen Überlegenheit und Unabhängigkeit, der Souveränität über diesen Menschen, die durch keine Bedingung in Frage gestellt ist. Zugleich aber muß der Inhaber der Jurisdiktion, der Richter Rechtsgenosse sein, wenn das Urteil Rechtsurteil, nicht bloße heteronome Gewalt sein und als Rechtsurteil angenommen werden will. Der König ist König seines Volkes, aus dem er hervorgegangen ist, und keine Besatzungsmacht, auch nicht die Gottes in seinem Lande. Das Richteramt erfordert neben der Souveränität Kondeszendenz. Das zu Beurteilende muß ein Geschehen sozusagen an seinem eigenen Leibe sein, er darf nicht mitleidig sein, aber er muß mit-leiden. In der Bereitschaft, Recht zu nehmen, auch eine nachteilige Entscheidung als eine mögliche und verbindliche anzusehen, drückt sich die vorgegebene, objektiv bestehende Gemeinschaft aus — die Einsicht in die konkrete Richtigkeit und Rechtmäßigkeit der Entscheidung ist nur eine, die subjektive Seite davon, die sehr unvollständig und gebrochen sein kann. Wer allein an die Kondeszendenz denkt, verliert aus dem Auge, worum es geht, und wer nur an die Souveränität denkt, erreicht nicht den Menschen, um den es geht. Weiter brauche ich hier den schon früher eingeführten Gedanken des judex quia passus nicht fortzuführen. Aber es sei erlaubt zu sagen, daß mir ein halbes leben im Gerichtssaal diese Zusammenhänge erschlossen hat, welche ich in der Theologie, auch in der Lehre von Gesetz und Evangelium nicht mit Klarheit vertreten gefunden habe, vor allem dort nicht, wo sie in der Dogmatik forensische Begriffe gebraucht.

2. Die zweite Spannung innerhalb dieser Dialektik ist diejenige zwischen der Personalität der Entscheidung und der Sinneinheit der Entscheidungen. Die hierher gehörenden Erwägungen sind im folgenden Kapitel noch weiter zu verfolgen, weil die Lösung dieses grundlegenden Rechtsproblems die geschichtliche Entwicklung des Rechtsdenkens wesentlich bestimmt hat. Die unterschiedlichen erkenntnistheoretischen

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Denkstrukturen drücken sich hier deutlich aus. Das Verhältnis von Richter und Recht, von entscheidender, erkennender Person und Entscheidungsinhalt, der eben nicht von vornherein als „Gesetz” verstanden werden kann, stellt sich hier in aller Schärfe. Wird die Verschränkung beider gelöst, so kommen wir zu einer gegenstandslosen Erkenntnis oder zu einem apersonalen Gegenstand, der existenziell bedeutungslos wird. So wird dann die Selbstverurteilung zum Gehorsam (fides qua) gegenstandslos ohne fides quae — weil sie nichts hat, was sie annehmen kann — Selbstverurteilung ohne Gehorsam — und ohne Gnade. Eine extrem jurisdiktionelle Denkstruktur wird gnadenlos — das sola fide kehrt sich gegen das sola gratia und macht es gegenstandslos, hebt es auf. Es ist dies einer der Punkte, wo die — auch vom Evangelium nicht ablösbaren — kategorialen Denkstrukturen des Rechts theologische Tatbeständen morphologisch einsichtig machen.

Die reformatorische Theologie hält grundsätzlich an der Existenzialität des Erkenntnisvorgangs fest, verbindet dies aber mit der Lehre von der Glaubensgewißheit und der Perspicuitas der Schrift. Dadurch wird ihre Voraussetzung wieder in Frage gestellt. Gerade hier tauchen wiederum problematische Aussagen rechtsontologischen Charakters bei Oestergaard-Nielsen17 auf:

„Luther weiß, daß die Frage nach der Wahrheit nicht eine ,rein akademische’ Frage ist, die unser persönliches Verhältnis zum Dasein unberührt läßt. Er vergleicht daher die Klarheit der Schrift mit der Klarheit des Gesetzes in der bürgerlichen Gesellschaft. Mögen auch die Gesetze der Gesellschaft klar sein, so sind die Richter gleichwohl unentbehrlich; die menschliche Schlechtigkeit ist nun einmal so groß, daß es dem Menschen, wenn seine eigenen Interessen auf dem Spiel stehen, schwerfällt, selbst die klarsten Gesetze zu verstehen. Das bedeutet, daß unbefangene Richter erforderlich sind, es bedeutet aber nicht, daß die Gesetze dunkel sind.”

Nun ist schon der Begriff der Klarheit der Gesetze problematisch. Es gibt erfreulicherweise für jedermann klare Gesetze — und man sollte das soviel wie möglich anstreben. Es gibt aber auch hervorragend klare Gesetze, die es nur für den Fachmann, den Kaufmann oder Juristen sind. Es gibt aber auch fruchtbare und wichtige Gesetze, auf die der Begriff der Klarheit nicht paßt: Generalklauseln wie „Treu und Glauben”, „Sittenwidrigkeit”, Blankettgesetze und Kompromißbestimmungen, die gerade dadurch positiv wirken, daß sie nicht alles von vornherein explizit zu entscheiden unternehmen. Der Begriff der Klarheit, in dem ein Wertmaßstab mitschwingt, ist deswegen laienhaft.

Davon abgesehen aber trifft die gezogene Schlußfolgerung nicht zu. Die Frage ist falsch gestellt. Sie ist erst in zweiter Linie eine noëtische. Was die Bosheit der Menschen hindert, liegt nicht in der Rechtserkenntnis, sondern gerade im Rechtsvollzug. Die einen tun das Geschuldete

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als rechtliche Menschen aus eigener Einsicht, wenn sie sich von ihrer Verpflichtungen überzeugen. Die anderen tun es nicht, obwohl sie wissen, daß sie es schuldig sind. Die dritten verdrängen ihre bessere Einsicht und streiten mit hergeholten Gründen. Die vierten glauben sich immer im Recht. Deshalb ist für die Haltung zum Recht die Rechtserkenntnis nur von teilweiser Bedeutung. Der Richter aber wird, gegenüber den drei letzteren Haltungen in gleicher Weise tätig: sein Urteil (juristisch „Erkenntnis” genannt, ein dem Geschlechtlichen synonymer Begriff, der immer auch schöpferische Momente mitenthält) dient dem Rechtsvollzug. Der Vergleich beruht also auf einer (nicht zufälligen, wohl humanistischen) Überschätzung des noëtischen Elementes im Rechtsleben. Bei Aufrechterhaltung des Vergleichs bedeutet das aber, daß im Begriff der Klarheit der Schrift das noëtische Element im Verhältnis zur existenziellen Entscheidung zu hoch veranschlagt wird. Die Wahrheit, die jedermann gesagt und von jedermann bei gutem Willen verstanden werden kann, ist noch keineswegs die den Menschen wirklich treffende, existenzielle Wahrheit. Die Vorstellung, daß die Erkenntnis schon zur existenziellen Entscheidung führe, ist sogar ein charakteristischer Satz der rationalistischen Ethik.18

In jener Anschauung tritt der Erkenntnisvorgang zurück gegenüber der so oder so beschriebenen Beschaffenheit der Schrift, das Erkennen gegenüber der Erkennbarkeit. Für den Vorgang der Erkenntnis und seine Vermittlung bedarf es der geistlichen Vollmacht, so wie der Richter nicht nur seine bessere Rechtserkenntnis kritisch und auch belehrend gegen die Verstocktheit, Unrechtlichkeit des Menschen, sondern auch seine Amtsvollmacht ins Feld führt. Das ist durchaus nicht nur eine Sache des Zwanges als einer kausalen Bewirkung, sondern auch der katalytischen Wirkung des Urteils. Ebenso problematisch ist der Begriff der Unbefangenheit. Unbefangen muß gewiß der Richter sein zwischen den streitenden Parteien. Aber er ist ja nicht nur Schlichter (was Luther näher lag als das Richteramt), sondern Richter, der das Recht auslegt. An das Recht ist er selbst gebunden, er steht ihm nicht wie ein zwischen dem Recht und dem parteilichen Ausleger Stehender gegenüber. Er repräsentiert das Recht, in seiner konkreten Geschichtlichkeit und setzt es mit durch. Er ist nicht ein außerhalb der Sache stehender juristischer Gutachter. Dies wie die Einschätzung des noëtischen Moments deutet keineswegs auf einen existenziellen, sondern weit eher auf einen metaphysischen Rechtsbegriff. Das macht die Behauptung fraglich, es handele sich hier um die Überwindung eines metaphysischen Schriftverständnisses durch ein „historisches” — in der Terminologie des Autors zu reden. Sie führt im Gegenteil eher zu einer Vereinzelung der Texte. Denn wenn es darum geht, mit der Schrift Leugnung oder Mißdeutung zu überwinden, so wird es mehr oder weniger auf ihren dem Glauben sich darstellenden Gesamtzusammenhang, nicht

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allein auf ihre Evidenz im einzelnen, und also wieder auf die geistliche Vollmacht ankommen. Man denke an die Belehrung selbst eines glaubensbereiten Schriftlesers wie des Kämmerers aus dem Mohrenland, dem der Diakon den heilsgeschichtlichen Zusammenhang der ganzen Schrift aufweist. Die Schrift fordert die vollmächtige Auslegung als konkrete Verkündigung.

Nach alledem ist deutlich, daß der kirchenrechtliche Jurisdiktionsbegriff sich nicht primär herleitet von der Streitentscheidung, sie ist ein Element des geistlichen Handelns überhaupt. Sie ist als Entscheidung über die Angezeigtheit geistlichen Handelns zu definieren. Weil Gott sich zum Menschen entschieden hat, entscheiden wir uns gehorsam zu seiner Entscheidung und handeln dementsprechend. Weil Gott zum Glauben erwählt, mit Geistesgaben ausgezeichnet hat, erkennt die Kirche dies im Geiste, den Geist prüfend und handelt danach. Petrus über solche Jurisdiktion, wenn er gebietet, die vom Heiligen Geist Befallenen zu taufen. Geistbegabte werden ausgewählt und nach Prüfung und Vorstellung von den Aposteln bestätigt und durch Handauflegung bevollmächtigt. Die Charismata in der Gemeinde sind zu prüfen und einzuordnen, nicht zu dämpfen. Die früher zitierte Stelle der Apostolischen Konstitutionen zeigt eindringlich den eschatologischen Charakter und Ernst solcher Beurteilung der Berufung im Geist, Gaben und Wandel. Apostel, Bischöfe, versammelte Gemeinde üben solche Jurisdiktion — und dementsprechend wird ordinatorisch gehandelt, indem die Berufenen zum Gliedmaß und Dienst am Leibe Christi verordnet werden.

Es gibt in dieser pneumatischen Jurisdiktion auch eine eigentümliche Freiheit: es kann gesagt werden: es hat dem Heiligen Geist und uns gefallen — ohne Widerspruch oder Blasphemie.

Wie berufen, so kann und muß auch ausgeschieden werden. Das pneumatische Urteil des Petrus über Ananias und Saphira ist solche Jurisdiktion ebenso wie überall die Bändigung und Zurückweisung falscher Herrschaftsansprüche in der Gemeinde wie die von Campenhausen und Käsemann erörterten Schriftstellen zeigen.19 Indem die Kirche alles dies tat, hat sie unausgesetzt Jurisdiktion geübt, auch ohne einen kirchenrechtlichen Begriff zu bilden. Ist Jurisdiktion Entscheidung über die Angezeigtheit geistlichen Handelns, so ist sie dieses doch noch nicht selbst, Inkorporation, Verordnung zum Amt, Ausschließung und Zulassung. Dieses Handeln kann die Entscheidung stillschweigend einschließen. Aber beide sind deshalb nicht identisch. Das ernstzunehmende Rechtswissen beginnt nicht erst mit der Begriffsbildung.

Deutlich festzuhalten ist, daß beide differenten Begriffe der Jurisdiktion und der ihr jeweils entsprechenden Ordination untrennbar aufeinander angewiesen sind, in der Trennung ihren wesentlichen Sinn verlieren. Sodann sind Jurisdiktion und Ordination identisch mit dem in ihnen gemeinten Handeln, nichts irgendwie Zusätzliches.

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Die Aufdeckung des jurisdiktionellen Elementes im geistlichen Handeln als Feststellung, nicht als Forderung hat unter evangelischen Pfarrern eine merkwürdige Wirkung. Der vielberufene Entscheidungscharakter, die Verantwortlichkeit geistlichen Handelns tritt plötzlich scharf hervor. Würde man ihre Amtsführung kritisieren und ihnen die höchsten Verpflichtungen auflasten, so würden sie von Buße reden, aber doch nicht erschrecken. Nunmehr erscheint plötzlich die Last übergroß, weil jetzt das Amt nicht mehr als eine Frage liebevoller und pflichtgemäßer Anstrengung mißverstanden werden kann. Die Frage geistlicher Vollmacht wird unausweichlich. Plötzlich ruft man zwar nicht nach Sicherung, aber nach Gewißheit, nach Rat und Lenkung.

Das Mißverständnis des Begriffs Jurisdiktion wird in einer sehr lehrreichen Weise in einem Aufsatz von Hermann Diem über die Ortsgemeinde in der Kirchenordnung20 sichtbar. Er bespricht dort einen neuen Kirchenordnungsentwurf der Nederlandsche Hervormde Kerk und darin besonders das Zuordnungsverhältnis von synodaler Kirchenleitung und einzelner Gemeinde am Beispiel eines Lehrzuchtverfahrens. Das Urteil der Kirchenleitung, daß der Pfarrer schriftwidrig predige, müsse zunächst diesem verkündigt werden, damit er sich besinne und den Schriftgehorsam wiedergewinnen könne. Dann aber habe sich die Gemeinde zu entscheiden, ob sie an diesem irrlehrenden Pfarrer festhalten will, und dann wieder die Synode, ob dieses Festhalten zur Aufhebung der Kirchengemeinschaft zwischen Synode und Einzelgemeinde Anlaß gebe. Nicht aber könne einfach das Synodalurteil autoritativ vollstreckt werden. Als grundsätzliches Wort zu diesem Vorgang zitiert Diem den altlutherischen Orthodoxen Abraham Calov. In dessen „locus de Synodis” werde gesagt, die Autorität der Synoden sei „magna, eaque decretoria et decisiva”. Aber ihre Entscheidung sei „non simpliciter judicialis, sed diaconica et ministerialis”. Unter „simpliciter judicialis” versteht Diem, im Sinne Calovs wohl zutreffend, eben jene ohne weitere Erörterung und Annahme durch die Betroffenen eintretende und zu vollziehende Vollstreckbarkeit des Urteils. Indessen besteht zwischen „judicialis” und „diaconica et ministerialis” kein echter Gegensatz. Ein relativer Gegensatz wird durch die Einschiebung des „simpliciter” in den Hauptbegriff erst hineingetragen und eingeschoben. Judicialis heißt wörtlich richterlich. Was das der Sache nach bedeutet, wird weder von Calov noch von Diem erwogen. Sie setzen beide ein bestimmtes Bild von richterlichem Urteil voraus, welches ihnen selbstverständlich erscheint. Simpliciter judicialis heißt dann ein Vollzug richterlichen Urteilens, wie es normalerweise geschähe, ohne Zusatz besonderer Umstände, ohne ein besonderes Nachgehen gegenüber dem Beschuldigten, welches die christliche Liebe gebietet. Indessen ist diese Vorstellung vom richterlichen Handeln sachlich falsch. In keiner wesentlichen Rechtssache erhält ein Beschuldigter einfach eine Entscheidung. Er hat ein fundamentales Recht

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auf Gehör. In der Erörterung des Sachverhalts wird er nicht nur gehört, sondern ihm wird ja vor allem der Vorwurf deutlich gemacht, der gegen ihn erhoben wird. In der Behauptung einer Verfehlung wird das angeblich rechte Urteil seinem Irrtum, seiner Anmaßung, seinem Unrecht gegenübergestellt. Es ist auch niemals gleichgültig, wie er sich dazu verhält. Für jedes Urteil ist wesentlich, ob der Beschuldigte seine Verfehlung einräumt. Jeder Richter, nicht erst der christliche Richter in weltlichen Dingen oder der geistliche Richter in geistlichen Dingen, dient recht verstanden dem Beschuldigten mit der Wahrheit des Rechtes, als diaconus et minister nicht nur dieser Wahrheit an sich, sondern der Wahrheit als einer für diesen Menschen heilsam gültigen. Das Bild, das Diem und Calov voraussetzen, entspricht entweder sachwidrig einer formalen Bagatellgerichtsbarkeit oder geradezu dem Rechtstypus der orientalischen Kadijustiz.

Woher aber kommt diese falsche Gegenüberstellung? Weil entgegen dem Wortsinn von judicialis dieses richterliche Handeln sofort als gesetzliches Handeln in der unbedingten Gleichung von Recht und Gesetz ausgedrückt wird. Gesetz aber wird hier zugleich stillschweigend in einem sehr speziellen und historisch bedingten Sinne verstanden. Gesetz ist hier die generelle Vernunftregel, die, einmal anerkannt, keine weitere Erörterung mehr zuläßt und deshalb auch „simpliciter”, ohne Federlesens zu vollstrecken ist.

Es ist hier an das in Kap. III aus Grewes Abhandlung Zitierte zu erinnern. Der Gesetzesbegriff des kanonischen Rechts schließt seine Durchbrechbarkeit ein, nicht aus. Die Regel bleibt bestehen, auch wenn aus bestimmten Gründen der Nachsicht, der Liebe oder Zweckmäßigkeit eine Ausnahme gemacht wird. Die von Oestergaard-Nielsen und Diem vorgeführten Beispiele aber setzen ganz selbstverständlich einen späteren Gesetzesbegriff voraus, dessen Merkmale die Undurchbrechbarkeit und Ausnahmslosigkeit sind. Die theologische Kritik am kanonischen Recht unterschiebt also diesem Merkmale, die sie selbst in die verwendeten Begriffe in der Gleichung: Recht-Gesetz-undurchbrechbare Regel — eingeführt hat. Dieser Tatbestand der unwissentlich falschen Beschuldigung dessen, was man selbst getan hat, findet historisch eine gewisse Entschuldigung durch die Tatsache, daß das Verhältnis von kanonischer Regel und dispensatorischer Ausnahme gerade zur Zeit der Reformation zum völligen Mißverhältnis geworden war. Aber abusus non tollit usum. Die Grundsätzlichkeit, mit der nun und seitdem jene Gleichung vertreten wird, bedeutet doch zugleich einen neuen, selbst zu vertretenden Ansatz.

In der Durchbrechbarkeit des kanonischen Gesetzesbegriffs liegt ein dialektisches Moment: die pneumatische Regel duldet die pneumatische Ausnahme, wird aber dadurch in ihrem Bestande nicht in Frage gestellt. Wenn dieses Rechtsdenken durch den souveränitätsartigen Begriff der plenitudo potestatis — übrigens gegen den heftigen Widerstand der

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Juristen beider Rechte — außer Kraft gesetzt wurde, so hat die Reformation keineswegs auf das Frühere zurückgegriffen. Sie hat im Gegenteil nunmehr vollends Gesetz und Freiheit geschieden und einander gegenübergestellt. Damit bestätigte und übernahm sie die vom Papsttum geschaffene Entwicklung in ihrem Ergebnis.

Gesetz als Vernunftgesetz gerät in die Nähe und Parallelität zu der, wie man damals noch annahm, undurchbrechbaren naturgesetzlichen Determination. Dieser Gesetzesbegriff bedingt eine Vorstellung von Richter und Richterspruch als Erkenntnis und Vollzug absoluter Wahrheit, derzufolge es sich nur noch um die Subsumption des Einzelfalles unter diese Regel handelt, jedes konstitutive Moment in der richterlichen Erkenntnis streng ausscheidet, damit aber auch jedes Moment der Liebe, der Zuwendung der Wahrheit. Deswegen ist auch das Unvermeidliche simpliciter zu vollstrecken — es kann nichts hinzukommen und nichts durch den Modus der Anwendung geändert werden. Dieser Gesetzesbegriff ist eine rationalistische Umsetzung der scholastisch-metaphysischen Allgemeinbegriffe, der Realien. So können auch Schrift und Bekenntnis, die als norma normans und norma normata für Calov und Diem sicherlich vorausliegen, unversehens zum Gesetz werden. Dieses Gesetz muß dann nachträglich durch Einführung des usus diaconicus et ministerialis wieder spiritualisiert werden. Das ganze Mißverständnis beruht darauf, daß Recht als metaphysischer Begriff und nicht als Vorgang verstanden wird, in welchem das vorausliegende Recht zugleich auch im Vorgang konstitutiv gewonnen und nicht nur deklariert wird. So wird auch der Vorgang selbst hier nicht zu Ende gedacht. Auch das weltliche Urteil wird erst nach Erschöpfung des Verfahrens einschließlich der Rechtsmittel vollstreckbar. Mit dem geistlichen Urteil ist es ebenso, nur daß es auf geistliche Weise vollstreckt wird.21 Denn wie Diem zutreffend schildert, sagt sich entweder die Gemeinde vom Irrlehrer los und leistet der von der Synode vertretenen rechten Lehre Glaubensgehorsam oder die Synode sagt sich von der Gemeinde los, welche in die Gemeinschaft mit dem Irrlehrer verharrt (wenn es die Sache wert ist — sonst hätte man sie gar nicht anfangen dürfen). Im übrigen setzt auch Diem voraus, daß das Synodalurteil bestehen bleibt. Der ganze Unterschied zu dem als Vergleich herangezogenen weltlichen Richten besteht also darin, daß das weltliche Urteil weltlich und das geistliche Urteil geistlich vollstreckt wird. Was die calvinistische Synode hier übt, ist gesamtkirchliche Jurisdiktion, dasselbe Amt, welches die nichtreformierten Kirchen dem Bischof als dem spezifisch für die Einheit der Kirche verantwortlichen Organ zuweisen. Diese Aufgabe ist auf alle Fälle judicialis, aber in der Tat niemals „simpliciter”.

Woher kommt nun diese ganze Begriffsverwirrung? Schon in der Auseinandersetzung mit Wehrhahn habe ich darauf hingewiesen, daß

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die sachlichen Grundfragen des evangelischen Kirchenrechts immer wieder durch die Verschiebung auf modus und usus verdeckt werden. Die Stelle aus Calov zeigt, wie alt diese Tendenz schon ist. Man stellt sich dem Jurisdiktionsbegriff nicht, denkt ihn auch gar nicht zu Ende, sondern bleibt in der wesentlich reaktiven Kritik an modus und usus.

Der tiefere, freilich von Diem selbst — wie anderen ebenso argumentierenden Gelehrten — nicht erkannte Grund dieser ablehnenden Kritik des Jurisdiktionsbegriffs liegt in der Geschichte dieses Begriffes selbst. Die Kategorie der Entscheidung, welche in jedem geistlichen Handeln enthalten ist und ihren angemessenen juristischen Ausdruck im Jurisdiktionsbegriff findet, gerät dadurch theologisch ins Zwielicht, daß sie unter Vermischung von Gesetz und Evangelium im Raum der Kirche und des Kirchenrechts auf eindeutig weltliche Entscheidungen übertragen bzw. umgekehrt weltliche Rechtsvollzüge in den Bereich des Kirchenrechts übernommen werden. Zentral ist hier das Eindringen strafrechtlicher Begriffe in die Kirchenzucht entscheidend. In dem Maße, in dem der gemeinschaftsbezogene Charakter der Kirchenzucht, der relationale Vorgang des Ausschlusses und der Wiederaufnahme zugunsten strafrechtlicher Vorstellungen zurücktritt, wird auch der Entscheidungsvorgang und mit ihm der Jurisdiktionsbegriff zweideutig, mißverständlich und mißverstanden, obwohl er als kategorialer gar nicht ausgeschieden werden kann. Auf das in Kap. XI zur Rechtsgeschichte der Schlüsselgewalt Gesagte kann hier verwiesen werden.

Diese wesentlich reaktive reformatorische Kritik am Jurisdiktionsbegriff setzt eine weitgreifende Säkularisation des Begriffes sowohl voraus wie zugleich fort. Sie gibt ihm — trotz aller Kritik — nicht seinen geistlichen Sinn als eines präzisen Begriffs der Kirchenrechtslehre wieder, sondern drängt seinen Geltungsbereich immer mehr in Richtung auf das sog. äußere, dem landesherrlichen Regiment überlassene Kirchenwesen ab und beargwöhnt ihn auch hier. Sie beraubt sich damit selbst einer Verständnismöglichkeit und zulänglichen Begriffsbildung führ ihr eigenstes Handeln, wie denn jene Synodalentscheidung ins opus proprium der Kirche gehört. Eine Verantwortung für ein zusammenhängendes Verständnis dieses opus proprium der Kirche in angemessenen, auch rechtlichen Begriffen wird nicht wahrgenommen. Es entbehrt nicht der Ironie, daß die so leidenschaftlich bekämpfte Verweltlichung der Kirche gerade fortgesetzt wird.

So entsteht eine weltlich-rechtliche jurisdictio und eine außerrechtlich-spirituale ordinatio. Die liberal-idealistische Trennung von Geistkirche und Rechtskirche ist in dem Auseinanderfall beider kategorialen Begriffe in der scholastischen Kirche schon angelegt, wird durch die Verweltlichung des Jurisdiktionsbegriffs weiter vorgetrieben. So vollstreckt der späte Protestantismus die Tendenzen des von ihm bekämpften Katholizismus und macht sie manifest.

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b) Die ordinatio

Der Rechtsbegriff und das Rechtsphänomen der jurisdictio, dessen Verengung und Mißverständnis hier aufzuklären versucht wurde, drängt auf den Gegenbegriff, den der ordinatio. Wenn Melanchthon von potestas ordinis redet, so schon in einem historisch geformten Sinne, etwa im Sinne der Rechte des geistlichen Standes. Aber ordinatio ist nicht einfach das aus ordo gebildete Tätigkeitswort. Es bedeutet vielmehr schon sehr früh im Zeitraum der frühkirchlichen Kirchenordnungen einfach die Tätigkeit der Ordnung wie den Inhalt dieses Ordnens. In einem schlichten Sinne heißt ordinari die Tätigkeit einer Ordnung oder Anordnung, wie zugleich deren sachlichen Gehalt selbst. Erst wenn dieser Vorgang einstweilig oder auch nur scheinbar zur Ruhe gekommen ist, kann man von einer Ordnung als solcher und für sich allein reden. Ordnung ist ein Vorgang, erst sekundär ein Zustand.

Wer ordiniert in diesem Sinne? Es ordiniert auch nach heutigem Sprachgebrauch der Arzt. Sein Behandlungszimmer ist das Ordinationszimmer, er schreibt Verordnungen für den Kranken. Auch bei ihm scheidet sich Diagnose und Therapie. Daß sich die Bezeichnung auch hier gehalten hat, deutet darauf hin, daß Ordination auch hier mehr ist als rezeptieren. Es ist der Vollzug des ganzen therapeutischen Verhältnisses, in dem sich der Kranke der ärztlichen Leitung unterzieht.

Ordnung, Verordnung ist in der Rechtssprache die konkrete Regelung bestimmter Verhältnisse. Es ist später in anderem Zusammenhang noch darauf hinzuweisen, daß Ordnung in unserer Rechtssprache nicht das materielle Gesetz, sondern gerade die Verfahrensordnung bezeichnet, so etwa Strafprozeßordnung im Gegensatz zu Strafrecht (s. Kap. XVII). Sie bedeutet also nicht einen Rechtsstand, sondern die Vorzeichnung von Abläufen. Verordnung ist heute technisch eine Regel geringerer Bedeutung gegenüber dem Gesetz, wenn nicht etwa eine „Notverordnung” das allgemeine materielle Gesetz suspendiert oder ändert.

Ordination, Verordnung kehrt also unter Einschluß der Ordination im kirchenrechtlichen Sinne bei allen Berufe wieder, die konkret als Menschen am Menschen handeln.

Wir werden tiefer geführt, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß die heutige Wertung und Verwendung des Begriffs Ordnung und Verordnung im Verhältnis zum Gesetz eine problematische und geschichtliche Lösung ist. Denn sie bedeutet letzten Endes, daß das materielle Gesetz vom Vollzug abgetrennt ist, während der Vollzug als solcher ohne eigenen materiellen Inhalt ist, oder ihn nur im sekundären Sinne besitzt. Die eigentliche inhaltliche Regel wird durch die niedere Konkretion in Wirkung umgesetzt, in Ausführungsverordnung oder Prozeß. Die Konkretion ist das Niedere; so verbirgt sich auch im ganz formellen, entleerten Gesetzesbegriff noch ein Rest normative Metaphysik.

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Die Konkretion des Vollzugs wird durch das Gesetz als generalisierendem Urteil vorweg entschieden — es bleibt nur noch eine Ausfüllung in einem unvermeidlichen Ermessensspielraum, den man noch möglichst einzuschränken sucht. Je mehr ich die konkrete gestaltende Anordnung, die ordinatio entwerte, desto mehr steigere ich das jurisdiktionelle Element, hier in der Form des generellen Vorwegurteils. Je stärker ich die Überlegenheit des vorweg entscheidenden Urteils über den Tatbestand betone, desto geringer, ja desto gefährlicher und verdächtiger wird die Konkretion der direkten, personalen ordinatio. Je stärker umgekehrt die konkrete ordinatio betont wird, desto mehr droht die Überlegenheit der Beurteilung verloren zu gehen. Es ist paradox, daß Luther für das weltliche Recht — in den rechtspolitischen Lage seiner Zeit übrigens ziemlich wirklichkeitsfremd und romantisch! — gern möglichst wenig Gesetze gehabt und alles Gewicht auf die konkrete Anpassung und schlichtende Versöhnung gelegt hätte, während er am ordinatorischen Element, insbesondere an der Amtsordination im kirchlichen Handeln relativ sehr wenig interessiert war.

Das ordinatorische Handeln bedeutet also Konkretion, personale Zuwendung, Einordnung und Aufnahme des Betreffenden. Dieser Charakter klingt auch in der Interpretation Melanchthons in Apol. XXVIII durch, wenn Verkündigung und Sakramentsspendung als potestas ordinis genannt sind. Es geht hier indessen nicht nur um die Befugnis, sondern auch um den Charakter des Handelns selbst, — als Versammlung, Zuordnung, Einordnung.

Das eigentliche Problem dieser beiden Grundvorgängen von jurisdictio und ordinatio besteht demnach in zwei Anliegen:
1. daß ihre sachliche Unterschiedenheit, ihr relativer Eigenwert, ihre gesonderte Bedeutung nicht verkannt und aufgelöst wird,
2. daß ebenso aber ihre Zuordnung, ihre Zusammengehörigkeit nicht nur nicht vernachlässigt, sondern auch sachgemäß verstanden und ausgedrückt wird.

Naturgemäß greifen beide gegenläufigen Fragen ineinander. Die Sonderung zweier differenter Akte, Auftrag-Vollmacht, Wahl-Bestellung, Aussonderung-Eingliederung wird solange begriffen und durchgehalten, und zwar weitgehend unreflektiert, als Heiliges in geschichtlicher Wirksamkeit erscheint. Die Geschichtlichkeit bedingt die Erstreckung zwischen zwei Punkten, die Heiligkeit die Doppelwertigkeit negativer und positiver Bedeutung als Aussonderung und Zuordnung. Beide Elemente in ihrem Dualismus zusammen machen dann die institutionellen Formen des gestreckten Rechtsaktes aus.

Mit Unbefangenheit wird ein Jahrtausend hindurch die Zusammengehörigkeit des Unterschiedlichen festgehalten, werden die Dinge unterschieden, aber nicht geschieden. In diesem Sinne sind die Akte aufeinander relativ, sind sie zugleich progressiv.

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In dem Maße, in dem diese Bezüglichkeit und Bezogenheit zum Problem wird und man versucht, ihr Verhältnis als solches explizit auszudrücken, Relativität und Geschichtlichkeit als solche zu erfassen, dringen sachfremde Deutungen ein, die eben das Gesuchte zerstören. Die eine extreme Lösung ist die Vorstellung, daß der ordinatorische Akt für sich stehe (absoluter ordo, Transsubstantiation, opus operatum). Diese Meinung entstammt dem Wunsche, die innerweltlich-geschichtliche Wirklichkeit in sich so bestimmt wie möglich festzuhalten. In dieser Linie können dann Jurisdiktion und Ordination als zwei getrennte Potestates erscheinen. Die umgekehrte Lösung hält beides so eng zusammen, daß der ordinatorische Akt seine selbständige Bedeutung gegenüber dem jurisdiktionellen verliert — in mehr oder minder großer Konsequenz, weil in der Entscheidung auch die konkrete Realisierung virtuell enthalten sei, und danach nur noch bekräftigt und bezeugt werden könne. Beiden liegt eine gemeinsame Voraussetzung zugrunde, die zu entgegengesetzten Folgerungen führt. Es ist die Subjekt-Objekt-Spaltung. Mit dieser Trennung von Innen und Außen ist auf der einen Seite eine Spiritualisierung, auf der anderen sinnentsprechend und notwendig die Benutzung kausaler, kausativer Vorstellungen verknüpft. Entweder wird rein objektiv gehandelt, oder es bleibt nichts mehr zu handeln übrig, sondern nur die Folgerungen aus dem schon Geschehenen zu ziehen. Beide Intentionen verlieren aber damit das, worauf sie zentral und mit innerster Leidenschaft abzielen: das „objektiv-kausative” Handeln verliert die geschichtliche Erstreckung, welche eben die relativ-bezügliche Mehraktigkeit erfordert. Die deklaratorische Vollstreckung des schon Entschiedenen aber verliert die Ambivalenz und Realität des Heiligen. Das eine Handeln wird in der radikalen Konsequenz magisch, das andere kausal. Es bleiben beiderseits immer noch Reste, welche diese Einseitigkeit nicht zur vollen Auswirkung kommen lassen. In reinem Ritus und reiner Willensvollstreckung fällt gerade die pneumatische Einheit des Heiligen in der Geschichte auseinander.

Was sich hier zeigt und gleichsam entbirgt, ist aber nicht nur der Verständnisverlust für entscheidende Dinge, die mehr als ein Jahrtausend mit Selbstverständlichkeit ohne zulängliche theologische Theorie lebendig durchgehalten worden sind. Was in dem Auseinanderfall dieser Einheit gegensätzlichen Handelns sichtbar wird, ist daß neben aller Zusammengehörigkeit auch ein komplementäres Verhältnis besteht; bei radikaler Interpretation gelangt das Abenteuer der Rationalität an sein Ende: über ein falsch verstandenes Entweder-Oder, und den Versuch, das eine aus dem anderen zu erklären, oder jedes für sich festzuhalten, zeigt sich schließlich, daß man immer nur eines ganz und wirklich im Auge behalten kann. Blickt man auf die ordinatio, so tritt die jurisdictio zurück und entschärft sich, blickt man auf die jurisdictio, so verliert man die Fülle der ordinatio.

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In dem gleichen Augenblick jedoch, in dem die zweifellose Vereinseitigung und Zerspaltung der Tatbestände über sich hinaus auf deren Komplementarität hinweist, rücken die Dinge auf einem anderen Gebiete zugleich wieder eng aneinander. Denn eine Trennung von konstitutivem und deklaratorischem Handeln ist heute nicht mehr vollziehbar. Jedes auch rein deklaratorisch sich verstehende Handeln enthält unweigerlich ein Element des Konstitutiven im Jetzt und Hier, und kein konstitutives Handeln kann von seinem deklaratorischen Rückgriff auf zu Bezeugendes abgelöst werden. Dies hebt den komplementären Charakter und Rückbezug der respektiven Handlungsweisen und Aussagen indessen nicht auf.

Und schließlich kann drittens der Beurteilende nicht von dem Gegenstand der Beurteilung abgetrennt werden. Es gibt also in praxi keinen Standort, der uns eine Übersicht des Ganzen von außen her ermöglichte.

Diese drei Sätze, die versuchen, den gegenwärtigen Stand des Erkenntnisproblems auf unsere Fragen anzuwenden und die Folgen zu präzisieren, schränkt die eindeutige Beurteilbarkeit geistlichen Handelns und damit auch des Kirchenrecht wesentlich ein. Sie führen aber keineswegs zu Relativismus oder Agnostizismus. Sie zwingen uns vielmehr um so entschiedener, die erkennbaren Elemente festzuhalten und auszuschöpfen.

Der Begriff der ordinatio ist daher in einem engeren und weiteren Sinne zu verstehen: als Ordination zum Amt22 und als Inbegriff aller zuordnenden Akte geistlichen Handelns bzw. der ordinatorischen Seite allen geistlichen Handelns.

Durch die Dualität des Komplementären wird ferner mit Bestimmtheit eine zeitweilig in der Kirchenrechtslehre beider Konfessionen vertretene anderweitige Teilung der Kirchengewalt in eine dreifache als illegitim erwiesen.23

Wenn Jurisdiktion und Ordination komplementär zueinander stehen, so sind sie eben durch diesen Tatbestand aufeinander angewiesen. Eine Aufhebung oder Vernachlässigung dieser Bezüglichkeit ist, auch wenn die schlüssige positive Zuordnung nicht mehr gelingt, doch immer häresieverdächtig.

Der in der gemeinkirchlichen Tauflehre entwickelte Satz, daß es darauf ankomme, ob der Taufende zu tun intendiert, was die Kirche tut, kann noch am ehesten, in nicht zu enger Auslegung einen Maßstab abgeben. Es scheidet sich damit eindeutig das abergläubische Handeln aus; die Verdammung der römische Messe durch den Heidelberger Katechismus ist deshalb nicht aufrecht zu erhalten, nicht weil diese römische Meßlehre deswegen richtig wäre, sondern weil über die dogmatische Richtigkeit hinaus der Heilige Geist dieses wie unser eigenes unvollkommenes Handeln heilt und vervollkommnet. Die Unzulänglichkeit unserer theologischen Erkenntnis und unseres Handelns setzt die

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Verheißungen Gottes nicht außer Kraft. Es stellt sich von daher die Frage nach der Identität und Legitimität der Kirche allgemein in neuer Weise.

Für alles Handeln der Kirche gilt hier der Generalsatz:

omnis actio est jurisdictio et ordinatio.

Beide beieinander zu behalten ist eine der vorzüglichsten Aufgaben der Kirchenrechtslehre.

Die reformatorischen Bekenntnisschriften haben die traditionelle Unterscheidung von Jurisdiktion und Ordination ausdrücklich übernommen.24

In der in erster Linie maßgebenden Fassung des Art. XXVIII CA muß man zunächst die argumenta ex abusu ausscheiden, mit denen in breiter Ausmalung
a) die Überschreitung der geistlichen Gewalt (Einführung unbiblischen Gottesdienstes, Mißbrauch des Bannes)
b) die Vermischung der geistlichen und weltlichen Gewalt
abgelehnt werden. In der positiven Formulierung (Abs. 2 u. 3) wird die bischöfliche Gewalt ohne Unterschied mit der Schlüsselgewalt und zugleich mit dem Missionsbefehl begründet. Der Gedankengang wird jedoch ständig wieder mit der Forderung der Trennung von der weltlichen Gewalt verbunden. Erst im 7. Absatz (Satz 20) wird endlich der eigene Inhalt des Amtes näher bezeichnet. Während in Abs. 2 trotz der Erörterung des Sündenbehaltens die positiven Verrichtungen der Predigt und Sakramentsspendung voranstehen, ist im 7. Absatz die Ausschliessungsbefugnis gegen Irrlehrer und Gottlose ausgeführt, zugleich mit der Befreiung vom Gehorsam gegen irrende Obere und falsche Propheten. Obwohl diese in unzählige gravamina eingebetteten Grundsätze die Doppelschichtigkeit der geistlichen Gewalt hervortreten lassen und eine begriffliche Erfassung nahelegen, wird in der CA allein der Jurisdiktionsbegriff als undifferenzierte Gesamtbezeichnung im lateinischen Text für das (im deutschen Text) „bischöflich Ampt nach göttlichen Rechten” verwendet. Erst in der entsprechenden Stelle der Apologie setzt dann eine Begriffsklärung unter Anschluß an die  traditionelle Terminologie an. Hier heißt es im deutschen Text:

„Wir reden aber von rechten christlichen Bischöfen, und es gefällt mir die alte Division oder Teilung nicht übel, daß sie gesagt haben, bischöfliche Gewalt stehe in diesen zweien potestate ordinis und potestate jurisdictionis, das ist in Reichung der Sakrament und geistlichem Gerichtszwang. So hat ein jeder christlicher Bischof potestatem ordinis, das ist, das Evangelium zu predigen, Sakrament zu reichen, auch hat er Gewalt eines geistlichen Gerichtszwangs in der Kirchen, das ist Macht und Gewalt aus der christlichen Gemeinde zu schließen

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diejenigen, so in öffentlichen Lastern funden werden, und dieselbigen, wenn sie sich bekehren, wieder anzunehmen, und ihnen die Absolution mitzuteilen. Sie haben aber nicht ein tyrannische Gewalt, das ist, ohne gewiß Gesetz zu urteilen. So haben sie auch keinen königlichen Gewalt, das ist, über die gegebenen Gesetz zu schaffen, sondern haben ein gewiß Gottes Gebot und gemessen Befehl unter welchem sie sind, nach welchem sie ihren geistlichen Gewalt und Gerichtszwang brauchen sollen.”

Der lateinische Text folgt dem ohne wesentliche sachliche Unterschiede, die sonst zuweilen auch an wichtigen Stellen auftreten.

Der hier verwendete Begriff der königlichen Gewalt als Befugnis „über die gegebenen (Gesetze) (neue) Gesetze zu schaffen” ist bemerkenswert. Denn der mittelalterliche König ist zwar Gesetzgeber, aber an die Konsenspflicht gebunden und setzt sich mangels Konsenses der Gehorsamsverweigerung und sogar dem aktiven Widerstand aus. Denn die Gesetzgebung wird immer im Horizont der vorgegebenen, alle Beteiligten bindenden göttlichen Ordnung gesehen. Diesem Typus ist die ebenfalls konsenspflichtige Konziliarentscheidung einigermaßen vergleichbar. Sie will ja auch grundsätzlich nichts Neues schaffen, sondern die Kirche schriftgemäß in der Tradition ordnen. Melanchthons Begriff des königlichen Gesetzgebers entspricht dem sich deutlich abzeichnenden, aber noch nicht voll ausgebildeten souveränen Staat. Er behandelt ihn aber kategorial als Typus weltlicher Gewalt. Dem steht aber nicht der Rückgriff auf den konziliaren Typus gegenüber, sondern der funktionale Vollzug des (in sich klaren) Auftrags der Schrift, wobei ein eigentliches Problem der Gestaltung nicht auftritt. Diese gerät in den Bereich des „nur” Äußerlichen und Adiaphorischen.

Die Problematik dieser beiden Grundbegriffe wird an der Auslegung sehr deutlich, welche die Apologie ihnen gegeben hat, und zwar gerade, weil hier eine gewisse Verkürzung des Verständnisses deutlich wird.

Mit Recht wird am Ende des Textes festgehalten, daß Jurisdiktion nicht Leitungs- und Gesetzgebungsgewalt im Sinne einer diskretionären Gestaltungsbefugnis ist, sondern Handeln und Richten nach dem Willen Gottes, dem der Mensch nichts hinzuzusetzen hat. Ebenso  wird zutreffend die gesamte Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung unter den Begriff der potestas ordinis gebracht. Aber daß dieses Handeln in Predigt und Sakrament so verstanden wesentlich eine einordnende Bedeutung hat, wird entweder mit allzu großer Selbstverständlichkeit vorausgesetzt — oder es bleibt unklar.

In der Apologie ist hier unter Jurisdiktion nur der Ausschluß der öffentlichen Sünder aus der Gemeinde verstanden, also ein sehr partieller und im Verhältnis zur Abweisung falscher Lehre sekundärer Vorgang. Es ist auch wesentlich weniger gesagt, als in der Ursprungsstelle

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stelle der CA. Dort wiederum werden zwar Lehrabweisung und Kirchenzucht zusammengenommen, aber zugleich die ordinatorischen Akte der Absolution und Reconciliation mit einbegriffen. Die Unterscheidungen sind also nicht exakt und vollständig und nur bei gegenseitiger Ergänzung der Kontexte ungefähr zutreffend.

Ohne Übernahme jener Begriffe wird im Heidelberger Katechismus (Frage 83-85) das Amt der Schlüssel als Predigt und Bußzucht bezeichnet und Ausschluß und Wiederaufnahme als doppeltes Geschehen genannt. Predigt und Schlüsselgewalt werden, wie in CA XXVIII ununterschieden, nebeneinander fast promiscue verwendet. Die offizielle Ausgabe der lutherischen Bekenntnisschriften fügt dem Text der CA hier noch eine Vorarbeit aus dem Bereich der Torgauer Artikel bei, welche das ganze Thema der bischöflichen Gewalt unter die Überschrift „Von Vermöge der Schlüssel” (de potestate clavium) bringt.

Potestas ordinis ist in der Apologie die positiv zuordnende Gewalt des bestehenden Amtes, des bereits vorhandenen Amtsträgers. Im tractatus de potestate ac primatu papae dagegen kehren die beiden Begriffe in einer engeren Sicht noch einmal wieder. Von Jurisdiktion ist in Ziff. 60, 72, 74 die Rede, nicht anders als bisher, wesentlich als Ausscheidung der manifesten Sünder. Dann aber geht es um die Ordinationsbefugnis, welche der Kirche als ganzer vindiziert wird. Das von der CA angeschlagene Thema, die von der Apologie übernommene Begriffsbildung ist damit verlassen.

Während der Heidelberger Katechismus die Doppelseitigkeit der Amtsgewalt hervortreten läßt, ist die systematische Begriffsbildung bei Calvin eine andere.25

Calvin übernimmt allein den Begriff der jurisdictio, nicht aber den des ordo oder der ordinatio. Er hat eine Dreiteilung: in doctrina, in legibus ferendis, in jurisdictione. Es wird gerade daran deutlich, wie problematisch die Übernahme des terminus „potestas ordinis” in der Apologie ist. Der Begriff des ordo steht hier ganz isoliert und konventionell, ohne Zusammenhang mit einer ordolehre, vielmehr als Amt oder Stand begriffen.26 Aber in der Sache selbst schlägt das sehr viel wesentlichere durch, daß das verbum externum zuordnenden, eingliedernden Charakter hat, gerade als Gegenbegriff zur ausschließenden jurisdictio. Bei Calvin fehlt nicht nur der belastete Begriff „ordo”, sondern auch der ordinatorische Charakter des Amtshandelns. Denn
1. der Begriff der Lehre sagt nichts über die Zuordnung aus,
2. Predigt und Sakramentsverwaltung erscheinen nicht mehr als ein notwendiger, stiftungsmäßiger Dualismus, der nach einem verbindenden Oberbegriff fragen läßt,
3. mit der Gesetzgebung als einer besonderen Befugnis tritt ein völlig neues Element hervor, welches weder in der Scholastik noch in der lutherischen Begriffsübernahme gesondert erscheint, ja nicht einmal

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Platz hat. Denn beide potestates haben bis dahin einen ausgesprochen konkret-personalen Charakter. Ausschließen und Zuordnen kann man immer nur in konkreten Akten konkrete Personen — nicht aber durch Gesetzgebung.

Von diesem konkret-personalen Handeln nimmt die bisherige Begrifflichkeit ihren Ausgang. Sie denkt im Stile des Richterrechts, der charismatisch-pneumatischen Entscheidung, nicht der generalisierenden Regel. Generalisierende Entscheidungen etwa in kirchenordnenden Konzilskanones, die diese oder jene Frage für typische Lagen allgemein entscheiden, stehen immer noch im Horizont des Richterrechts. Deshalb wird, wenn überhaupt auf den Begriff der Gesetzgebung reflektiert wird, dieser der Jurisdiktion subsumiert, in sie einbegriffen. Die potestas ordinis ist vollends der Generalisierung nicht zugänglich. Sie vollzieht sich überhaupt immer nur in personaler Konkretheit. Als eine eigenständige, neben der Jurisdiktion stehende ist die Gesetzgebungsgewalt im geistigen Raum dieser Begriffe nicht denkbar. Umgekehrt: wo eine solche dritte Gewalt auftritt und konzipiert wird, ist eine Rationalisierung eingetreten und das ursprüngliche Verständnis reduziert. Auffällig und einigermaßen verdächtig ist die Formverwandtschaft der calvinistischen Dreiteilung mit der späteren säkularen Gewaltenteilungslehre: man braucht nur eine bestimmte Reihenfolge (Gesetzgebung, Verwaltung = Predigt, Rechtsprechung) herzustellen und die Einheitlichkeit des ganzen zu betonen, um dieses System zu begründen.

Nach alledem läßt sich der rechtsgeschichtliche Ort beider Anschauungen ziemlich eindeutig bestimmen. Obwohl es notwendig ist, den grundsätzlichen Anschauungsgehalt von den argumenta ex abusu und den gravamina zu trennen, den Kern herauszuschälen, ist nun doch jene Verdeckung nicht zufällig. Sie zeigt an, in welchem Maße der Begriff der potestas ecclesiastica im Spätmittelalter, und noch mehr in der Praxis als in der Theorie entartet war. Die damalige Kanonistik besaß offenbar keine ausreichenden Kriterien mehr, um einer völlig sinnwidrigen Ausdehnung gerade des Jurisdiktionsbegriffs wirksam entgegenzutreten. Deshalb war die scharfe Trennung von einer in Wahrheit nicht mehr geistlichen Jurisdiktion, die sich nur noch als solche ausgab, unumgänglich. Aber eben darum ist diese Kritik auch situationsgebunden. Der von Melanchthon neu formulierte Begriff bewahrt aus den altkirchlichen Grundlagen den personalen Charakter, der einer Generalisierung nicht fähig ist. Daneben ist jedoch eine gewisse Unschärfe und Unsicherheit unverkennbar. Es ist doch mehr eine positivistisch-praktische Übernahme. Dies und die kaum trennbare Verbindung der Kritik am Vorfindlichen läßt die Konzeption als spätmittelalterlich erscheinen. Die calvinische Lehre dagegen, die keinerlei, weder positive noch polemische Anknüpfung an das bisherige enthält, ist frührationalistisch.

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Der Systemumbruch wie der historische Umschlag liegt genau in der Differenz zwischen lutherischer und calvinischer Reformation. Ohne diesen rechtsgeschichtlichen Zusammenhang ist die Entwicklung nicht zu verstehen, so als ob den Reformatoren diese oder jene neue Konzeption ohne Zusammenhang mit der Geistesgeschichte zugeflogen wäre: ex post läßt sich sehr genau sagen, wo sie im Gefälle standen.

Jene beiden Begriffe werden bis in die Ausläufer der Aufklärungsepoche noch traditionell weitergetragen. Im idealistischen Neuprotestantismus verschwinden sie gegenüber organologischen und körperschaftsrechtlichen Begriffen fast völlig, um meistens der katholischen Theorie zugerechnet zu werden. Erst ein Neuaufbau des Kirchenrechts vom (liturgischen und bekennenden) Sachgehalt seiner spezifischen Entscheidungen führt wieder auf diese dem konkreten Handeln immanenten Kategorien zurück.

Man versteht jetzt aber auch besser, warum die Aufdeckung jener Grundvorgänge bei Pfarrern einen solchen Schock hervorruft. Es ist nicht nur die Verharmlosung des kirchlichen Amtes in einem allgemeinen Sinne, sondern die Auflösung der potestas ecclesiastica überhaupt. Denn da sehr viele von ihnen keinerlei Beichtpraxis haben, eine konkrete potestas clavium womöglich ablehnen, und eine geklärte Lehre von der Kirchengewalt nicht existiert, geraten sie auf völliges Neuland, wenn sie mit diesen Tatsachen konfrontiert werden.

Die ganze Frage wird für die lutherische Seite — nicht in eben dem Maße für die calvinische — durch den Dienstgedanken verdeckt. Niemand will ja diesen Gedanken verkürzen. Versucht man aber zu zeigen, daß der Dienstgedanke am falschen Platze zu falschen Schlüssen führt, sich ins Gegenteil verkehrt, so ist man sofort im Verdacht, ihn in Frage stellen zu wollen. Mit der Unwiderstehlichkeit eines Gemeinplatzes schlägt er dann die notwendige Besinnung tot. In Wahrheit muß der Dienstgedanke vor und über jeder denkbaren Konkretion stehen als die allgemeinste Bestimmung des Kirchenrechts nach Inhalt und Methode. Unter dem Dienstgedanken steht auch die potestas ecclesiastica mit ihrer jurisdiktionellen und ihrer ordinatorischen Seite. Denn Christus selbst dient seinen Jüngern und der Welt, die ihn aufnimmt, dadurch, daß er sie bekleidet, nährt, besucht, daß er Gemeinschaft mit ihnen macht, sie sich zuordnet, indem er sich ihr zuordnet, in sie eingeht, ihre Leiden teilt und trägt. Der Dienst als Gegensatz der Vollmacht dieses Gebens ist eine verhängnisvolle Verkehrung. In dem justus liber, dem homo per remissionem peccatorum absolutus, ebenso aber in dem praedestinatus setzt sich der Rechtstypus der absoluten Ordination in verallgemeinerter Form fort. So wie dem absoluten Ordo die Gemeinde nicht mehr korrelativ zugeordnet ist, sondern als Welt gegenübersteht, an der nach dem Geistträger allein zukommenden Urteil zu handeln ist, so auch dem Christen nach jenen beiden Konzeptionen.

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Sowohl das mächtige Berufsethos des Luthertums wie die Weltdurchdringung zur Ausbreitung der Königsherrschaft im Calvinismus sind Kräfte, die durch die Ausscheidung und Überspringung der ordinatorischen Seite der Kirche entbunden worden sind. Dieser ordo ist nicht mehr relativ auf die sanctorum communio, in der er vermöge der Zuordnung seine unverwechselbare personale Existenz hat. Der Ausgleich von Gemeinschaft und einzelnem gelingt nicht mehr, nachdem sie einmal im absoluten ordo preisgegeben und heteronom zerstört worden was.

Die Schwierigkeiten für das Verständnis von Jurisdiktion und Ordination in der reformatorischen Theologie werden in der Abhandlung von Erich Roth über „Privatbeichte und Schlüsselgewalt in der Theologie der Reformatoren” 27 sichtbar.

„Für Luther ist die Schlüsselgewalt als solche hauptsächlich ein Absolutionsrecht und -auftrag. Für Calvin dagegen ist die Schlüsselgewalt als solche in der Hauptsache ein kirchenregimentliches und disziplinäres Jurisdiktionsrecht. Als eine Parallele von mehr formaler als sachlicher Natur (!) mag man immerhin an Melanchthons erwähnte Übernahme jener vetus partitio von potestas ordinis und potestas jurisdictionis erinnern. Doch werden beide den Bischöfen zugewiesen, und die Privatabsolution fällt dabei unter dem Binde- und Löseschlüssel. Erst recht ist bei Luther am Tage, daß einerseits die Privatbeichte mit der Absolution die Mitte der potestas ligandi et solvendi ausmacht: und daß andererseits gerade auch das sog. Kirchenregiment keine potestas,  sondern ein durch die Gemeinde beauftragtes ministerium ist. Auf Calvinis Hinweis, daß auf den profanen Bereich, daß kein Gemeinschaftsgebilde ohne Regierung — ,politia‘ — bestehen könne, darf Luther billigerweise verzichten: ,Ihr aber nicht also!’ (Lk. 22, 26) — Vielmehr: Unter den Christen soll und kann keine Obrigkeit sein, sondern ein jeglicher ist zugleich dem anderen unterthan …”

Hier ist in nuce die ganze sachliche und begriffliche Verwirrung enthalten, deren Lösung so unendliche Mühe macht.

Lassen wir die Calvinische Position als die spätere vorerst beiseite, so wird hier auf der lutherischen Seite ein grundsätzlicher Gegensatz von potestas und ministerium vorausgesetzt. Demnach wäre die biblische Schlüsselgewalt potestas, das ministerium ecclesiasticum mit allen übrigen Verrichtungen entbehrte der potestas als dem kontradiktorischen Gegenbegriff. Das beruht darauf, daß potestas als Herrschaftsgewalt in einem ganz präzisen Sinne verstanden wird, welche nur in specie verliehen sein und in der Struktur der Kirche sonst nicht vorkommen kann. Zugleich wird das dadurch entscheidend abgeschwächt, daß die Schlüsselgewalt wesentlich als Lösegewalt und -auftrag erscheint, so daß das Binden, das „Behalten” zurücktritt oder ausscheidet.

Wie dem auch sei: dieser Begriff der potestas, deutsch: der „Gewalt”

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— setzt eine sehr bestimmte Begriffsentwicklung und Auslegung voraus.

Diese Antithese von potestas und ministerium liegt in der Annahme begründet, daß in ihnen sich Herrschaft und Dienst, Zwang und Freiheit klassisch gegenüberständen.

Führt aber schon in der Frage von Gesetz und Evangelium, der Staatsgewalt die einseitig coercitive Interpretation des Gewaltbegriffes zu höchst fragwürdigen und gefährlichen Ergebnissen, so im Bereich des Kirchenrechts zu offenem Selbstwiderspruch. Wie kann die Kirche in Wirklichkeit beides nebeneinander besitzen: eine potestas clavium, welche nicht ministerium ist, ein ministerium, welches nicht potestas hat! Wie kann behauptet werden, daß begrifflich die potestas clavium — unter Einschluß auch der Binding, nicht nur der Lösung! — nicht im höchsten Sinne ministerium sei?! Erst eine Zersetzung des Gewaltbegriffs, seine einseitige Akzentuierung führt dazu, dem Begriff des Dienstes diese antithetische Rolle zuzuweisen. Diesen Selbstwiderspruch zwischen vollmächtiger Schlüsselgewalt und gewaltlosem Ministerium hat schließlich die Gemeinde, der er permanent zugemutet wurde, von sich aus gelöst: indem sie einfach mehr und mehr der Schlüsselgewalt diese potestas stillschweigend nicht mehr glaubte und keinen Gebrauch von ihr machte, sie nicht mehr annahm.

Die tragische Folge ist nun über die Unklarheit hinaus, daß gerade dieser Dienstbegriff das am meisten hindert, was er selbst leisten soll. Denn er ist ein Formalbegriff. Unter Dienst können alle Bereiche des Kultus und des Ethos begriffen werden. Was aber konkret zu geschehen hat, ist damit nicht im mindesten gesagt — ausgeschlossen ist nur ein bestimmter modus des Handelns, derjenige der Herrschaft. Auch die Gewalt kann die Gottes oder der Menschen oder des Teufels sein, sie locken und drohen. Aber der Gewaltbegriff sagt eines unzweideutig in der Sache selbst: er scheidet von fremder Gewalt und ordnet der eigenen zu. Die Gewalt selbst sagt aus, was sie bewirkt — entscheidend ist die Frage, daß man sich dem rechten Herrn anvertraut. Ein jeder Herr aber übt Gewalt mit den Mitteln, die ihm gemäß sind; so regiert Christus mit geistlichem Urteil und geistlicher Bindung und Vollmacht, die Welt mit den ihren. Deshalb kann die weltliche Gewalt den Leib, aber nicht die Seele töten.

Nun lösen die beiden Reformatoren die Frage der potestas ecclesiastica verschieden und entgegengesetzt. Luther sieht allein die potestas clavium als wahre geistliche Gewalt an. Das kann er aber nur, wenn die Funktion der Schlüssel eine so zentrale ist, daß aus ihr ein neues Subjekt hervorgeht, dem dann alles anheim gegeben ist. Das bedeutet aber, daß außer der remissio peccatorum in der Kirche nichts geschieht. Die oikodomé ist damit geschehen — sie geschieht nicht mehr in der Kirche. Alles übrige versinkt damit in ein äußeres Kirchenwesen. Diese wird

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dann von jenem neuen Subjektverständnis aus und bei seiner Glaubwürdigkeit gegenüber allen Zweckerwägungen mit der größten Unbekümmertheit behandelt. Calvin dagegen stellt Schlüsselgewalt und Kirchengewalt eng zusammen, — aber aus disziplinären Gründen. Selbst das Abendmahl wird in folgerichtiger Entwicklung dieses Gedankens schließlich (noch nicht bei Calvin selbst) ein Mittel der Gemeindezucht: nach Prüfung der Lebensführung in den Familien geben zeitweilig in der reformierten Kirche von Schottland die Presbyter metallene Marken  aus, die die so Geprüften zum Empfang des Abendmahls berechtigen. Ich habe selbst eine solche Marke in der Hand gehabt. Dem entspricht aber schon bei Calvin der Ausfall der potestas ordinis, der zuordnenden Seite des potestas-Begriffs: hier ist nur noch zu beurteilen. Besteht kein Grund zur Ausschließung, so besagt die zuordnende Austeilung, die communicatio im Verhältnis zu der bestehenden — oder doch zu vermutenden, zu unterstellenden Gemeinschaft mit Gott nicht mehr als eine Bestätigung und Erinnerung. Deshalb kann auch die Zusammenordnung von Schlüsselgewalt und Kirchenregiment mit innerweltlichen Gründen wir angeführt begründet werden.

In dem einen Falle entsteht ein von aller äußeren Gewalt exemtes geistliches Vollsubjekt per absolutionem, im anderen besteht es ohnehin per praedestinationem. Eine jede Ekklesiologie schließt eine Art von Anthropologie, ein sehr konkretes Verständnis der Stellung des Menschen im Horizont der Kirche ein. So wird auch verständlich, warum hier die sonst nicht hergehörige Frage des Amtes bei Roth so beantwortet werden kann, daß das wiewohl göttlich gestiftete Amt ein nur von der Gemeinde beauftragtes sei. Die potestas ordinis als zuordnende ist im einen Falle noch, aber allein als reconciliirende nötig, im anderen Falle selbst dies nicht.

Nach den kirchenrechtlich maßgebenden Artikeln der CA (V, VII, XXVIII) ist das Verhältnis zwischen Schlüsselgewalt und Kirchengewalt faktisch unentschieden. Die Adressaten des Bekenntnisses konnten sie so, die Konfessionsverwandten sie so auslegen. Demgegenüber konnte die Übernahme der „vetus partitio” durch Melanchthon eine eigentliche Klärung nicht herbeiführen. Dem entsprechen dann die außerordentlichen Schwankungen der kirchenrechtlichen Begriffsbildung in der theologischen und juristischen Literatur der nächsten beiden Jahrhunderte, die offenkundige Unsicherheit der Auslegung und Begriffsbestimmung.

Das Thema dieses Kapitels zieht sich als ein Hauptgegenstand durch die ganze Arbeit. Es mußte zum Teil schon in Kap. VII bei der Ordination zum Amt vorweggenommen werden. So können in diesem zusammenfassenden Abschluß gewisse Wiederholungen nicht ganz vermieden werden. Andererseits ist der Nachweis eines ganz bestimmten, formulierbaren Sinnzusammenhanges zwischen beiden Begriffen und die

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Betonung dieses Zusammenhanges als eines entscheidenden so neu, daß eine möglichst breite Entfaltung des Gedankens erwünscht ist. Das Thema wird zunächst angeschlagen in der Interpretation der Aussendung der Jünger und des kategorialen Verhältnisses von Auftrag und Vollmacht. Die dort vorgezeichnete, in der Geschichtlichkeit des Handelns selbst begründete Struktur wiederholt sich dann in den einzelnen geistlichen Handlungen sowohl je für sich allein wie auch in der Zuordnung mehrerer solcher Handlungen. Sie ist aufweisbar in der Bestellung zum Amt wie in der Eheschließung. Aus alledem zeihen wir nunmehr gleichsam die Wurzel in diesem einen Paar kirchenrechtlicher Grundbegriffe.

Zugleich umschließt die Entwicklung unseres Themas die Geschichte des Kirchenrechts in ihren entscheidenden Phasen und Perioden. Hieran haben sich auch die schwerwiegenden Streitfragen über Tatbestände und Bedeutung eben dieser Entwicklung angeschlossen. Sieht man von der inzwischen als falsch erkannten und allgemein, bis auf Emil Brunner, fallengelassenen Generalthese Sohms ab, so sind gerade die wichtigsten Probleme des Sohmschen Lebenswerkes in diesem Begriffspaar eingeschlossen.

Andererseits hat er ganz richtig gesehen, daß mit der absoluten Ordination die beiden potestates zusammenhanglos auseinander fallen, daß die potestas jurisdictionis die bestimmende wird und die Triebkraft hergibt, die vom sakramentalen Kirchenrecht immer mehr wegführt. Die Verbindung beider liegt fortan nicht mehr in ihrer sachlichen, spezifischen Zusammengehörigkeit, sondern nur in dem vorausgesetzten Subjekt der Kirche als societas und Körperschaft. Es ist kein Gesamtvorgang mehr, sondern eine Anhäufung differenter Akte, sozusagen keine Realunion mehr, sondern nur noch eine Personalunion. Es ist der römischen Kanonistik seither auch nicht gelungen, diese verlorene Einheit wiederherzustellen. Sie war bis in die Gegenwart auch nicht sonderlich darum bemüht.

Wie wenig Luther an dieser Konzeption geändert hat, macht unabsichtlich Johannes Heckel bereits in den „Initia juris ecclesiastici Protestantium” deutlich. Die Struktur der Teilung wird überhaupt nicht berührt, nur die Bewertung und die Akzente werden verändert. Die potestas jurisdictionis wird jetzt die Leitungsgewalt über das nur äußere Kirchenwesen, die potestas ordinis bezieht sich auf die geistliche Leitung non vi sed verbo. Die jurisdictio ist die vis, die ordinatio das verbum. Aber es sind „diversi generis potestates”, wobei die formelle Bezeichnung unwesentlich ist. Aber während sie in der römischen Kanonistik auf Übereinstimmung ausgelegt werden, werden sie jetzt scharf geschieden, und die äußere gegen die innere abgewertet. Ebenso wird  auf die Trennung des forum internum und externum der größte Wert gelegt. Die spiritualistische Spaltung, die in dem einfachen Nebeneinander der beiden potestates noch ineinander gehalten und durch

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die Einheit des Subjekts weitgehend verdeckt wird, wird jetzt offenbar. Die Zuweisung der jurisdictio an das forum externum ermöglicht eine unbedenkliche Übergabe kirchlicher Leitungsaufgaben an die weltliche Gewalt. Sie können ebenso gut bei der Kirche behalten, wie an eine wohlgesinnte weltliche Obrigkeit ganz oder teilweise abgegeben werden.

CA XXVIII vermischt nun vollends Missionsbefehl und Schlüsselgewalt und argumentiert im übrigen völlig ex abusu, als ob kirchliche Leitung nicht die ganze geistliche Ökonomie und Oikodomé der Gemeinde, eben ihre Gestaltung umfasse. In Apologie XXVIII kommt dann wieder thematisch das Begriffspaar herein, wesentlich von der Schlüsselgewalt her gesehen. Die Verneinung der Befugnis „neue” Gottesdienste zu „machen”, läßt die Frage aufwerfen, wer denn die alten in concreto gemacht habe, und zwar gerade die, die als evangeliumsgemäß nicht bestritten werden können. Wieder tritt das rein kausale Denkschema auf, in welchem deterministisch von der Offenbarung, biblizistisch von der Schrift her alles Handeln der Kirche als bloße Vollstreckung erscheint, das Problem auch der rechten, geistgemäßen Leitung gar nicht auftaucht.

Daß in dieser Lage die von Melanchthon in der Apologie rezipierte Terminologie nicht sonderlich überzeugend und klärend wirken konnte, ist verständlich. Die Rezeption der Terminologie erlaubt uns also lediglich die Berufung darauf, daß ihr Gebrauch nach den Bekenntnisschriften sachgemäß und erlaubt sei. Der Rechtsstand ist demnach nach den lutherischen Bekenntnisschriften kurz folgender:

die potestas ordinis als Predigt und Sakramentsverwaltung liegt als opus proprium beim ministerium ecclesiasticum. Ein jurisdiktionelles Element eignet dem ministerium insoweit, als die Schlüsselgewalt in Betracht kommt, konkret also nur bei Ausschließung der Irrlehrer und öffentlichen Sünder.

Im übrigen wird jurisdictio als äußere Leitung verstanden (Anstellung, gottesdienstliche Ordnung im engeren und weiteren Sinne, Kirchenverwaltung). Der Widerspruch ist offenkundig: das vorhandene, bestellte Amt hat potestas ordinis, das zu bestellende Amt ist Sache der (äußeren) jurisdictio: der geordnete Gottesdienst ist Sache des Amtes, der zu ordnende Sache der (äußeren) jurisdictio. Nur die Fixierung des Blicks auf die in der Tat extremen Mißbräuche der römischen Kirche, aber auch nur ein sehr entschiedener Nominalismus kann die Frage verdecken, woher denn eben dies alles kommt, wenn wir schon von den Fragen absehen, die wirklich äußere sind, so fragwürdig uns überhaupt diese Unterscheidung geworden ist.

Das Ergebnis ist also erneut, daß die in der Tiefe bereits im scholastischen System geschiedenen potestates nunmehr sichtbar auseinander treten. Nur der Schein der Einheit wird zerrissen. Deshalb wird sofort schon in den ersten Anfängen die bischöfliche Jurisdikton als praktisch

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unentbehrlich nicht aufgehoben, sondern auf die Konsistorien übertragen und von neuem in Funktion gesetzt. Diese sind zunächst aus Geistlichen und fürstlichen Juristen gemischt, gehen aber verhältnismäßig bald, schon Ausgang des 16. Jahrhunderts mehr und mehr in den Typus fürstlicher Verwaltungsbehörden über. Ein grundsätzliches bekenntnismäßiges Bedenken dagegen besteht nicht, da es sich ja um das sogenannte „äußere” Kirchenwesen handelt.

Die Geschichte unserer beiden Begriffe ist in der Kirchenrechtslehre seither die Geschichte einer unabsehbaren, undurchdringlichen Begriffsverwirrung. Katholische und reformatorische Formulierungen begegnen uns zum Teil bei den gleichen Autoren. Martin Heckel hat in seiner Studie über „Staat und Kirche nach den Lehren der ev. Juristen in der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts” 28 eine Fülle von Beispielen gebracht und gefolgert, daß niemand das Rätsel dieser Kirchenrechtslehre aufzulösen imstande sei. Aber noch heute verschließen sich auf Grund dieser Tradition sehr wohl unterrichtete Theologen der Erkenntnis, daß geistliche Entscheidung, wo immer sie auftritt und notwendig wird, nicht anders als als Jurisdiktion zu begreifen ist. Angesichts dieser Lage ist sehr wohl zu verstehen, wenn Johann Gerhard sich zu Apol. XXVIII sehr vorsichtig ausdrückt:

„in qua nomenclatura quamvis aliquid desiderati possit, tamen cum usu ecclesiae sit recepta, ideo sano sensu eam retinemus” (Loci theol. …, de min. eccl. § 192).

Denn um begrifflich weiterzukommen, hätte er die Entwicklung seit dem 12. Jahrhundert funditus angreifen müssen, die in der Reformation manifest geworden war. Roth29 verzeichnet mißfällig, daß Melanchthon die Begriffe der potestas jurisdictionis et ordinis übernommen habe, begrüßt dann aber wieder, daß dies nur im Sinne des kleinen Bannes zu verstehen sei. Die Problematik der beiden Begriffe und ihre Geschichte bleibt so ganz beiseite. Auch W. Elert30 meint, daß jene Unterscheidung für Melanchthon „keine grundsätzliche, überhaupt keine materielle Bedeutung habe”.31 Die Kirchenrechtsjuristen der Folgezeit, die sich mit diesen Begriffen mit so wenig Erfolg herumgeschlagen haben, müssen doch wohl systematische Gründe gehabt haben, sich mit ihnen zu befassen. Es sind freilich dogmatische Begriffe des Kirchenrechts, so legitim, wie die kirchliche Dogmatik, die in Begriffen verstehen lehrt. Der Verlust der Sinneinheit von Jurisdiktion und Ordination wird schließlich in dem zeitweiligen Aufkommen einer Lehre von der Dreiteilung der Kirchengewalt sichtbar, über die in Kap. VIII schon gesprochen wurde.

Vom Begriff der Jurisdiktion her (der der evangelischen Kirchenrechtslehre als systematischer verloren gegangen ist), kann nun auch ohne Erörterung von Einzelheiten auf die Frage der kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit eingegangen werden.

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Ist jurisdictio die Entscheidung über die Angezeigtheit geistlichen Handelns, so ergibt sich daraus, daß nur, wo es um geistliches Handeln geht, von einer eigentlichen geistlichen Gerichtsbarkeit die Rede sein kann. Geht es nicht um geistliches Handeln, so können Streitfragen in einer den Verhältnissen der Kirche angepaßten, aber weltlicher Verwaltungsgerichtsbarkeit analogen Weise justizförmig entschieden werden. Der fundamentale Unterschied zwischen geistlicher Jurisdiktion im eigentlichen Sinne und Streitentscheidung im allgemeinen in der Kirche kann auch nicht dadurch beiseite getan werden, daß alle Vorgänge in der Kirche geistlichen Charakter oder doch wenigstens ein wesentliches geistliches Moment haben. So gewiß das richtig ist, so ist doch daran festzuhalten, daß sich das opus proprium der Kirche, Verkündigung, Sakramentsverwaltung und Amtshandlungen im weiteren Sinne, Einsetzung ins Amt und Entsetzung, ferner die Absolution der Raum der jurisdictio im strengen Sinne ist. Für diese Handlungen gilt, daß sie seelsorgerlichen und streng personalen Charakter haben, also einer justizförmigen Ordnung im Sinne gesetzesstaatlichen Denkens deswegen weitgehend widerstreiten. Vollends kann der Begriff etwa der Sakraments„verwaltung” nicht den Schluß rechtfertigen, daß deswegen Grundsätze des Verwaltungsrechts anwendbar seien. Wer sich also etwa über Versagung der Konfirmation beschwert, hat an den dem Versagenden vorgesetzten Oberen zu gehen, der diese Entscheidung als bischöfliche Jurisdiktion persönlich zu vertreten hat. Er kann jedoch nicht gegen das Gewissen Weisungen geben, wohl aber die Handlung für andere Amtsträger freigeben. Der Regelfall ist überhaupt wegen dieses seelsorgerlichen Charakters die personale, nicht die kollegiale Entscheidung, jedoch nicht schlechthin. Es ist dabei klar zu sehen, daß die heutigen Tendenzen zur Justizstaatlichkeit, die in den Bereich der Kirche hinüber wirken, gerade diejenigen Rechtsgedanken betonen, welche für das Kirchenrecht die am wenigsten annehmbaren sind. Es ist die Neigung der Deduktion aus wenigen allgemein abstrakten Generalsätzen meist aufgeklärter Herkunft, welche in ihrer Unkonkretheit dem reformatorischen Christentum besonders fremd sind. Um so verwunderlicher ist die Unbedenklichkeit, mit der solche Grundsätze als zeitgemäß übernommen werden. Andererseits ist es sehr wohl geboten, etwa ein Lehrzuchtverfahren in sinngemäßer Weise mit allen Garantien des rechtlichen Gehörs und sonstigen ordentlichen Verfahrens auszustatten. Wir würden aber die Hintertür zu einer unabsehbaren Vergesetzlichung aufmachen, wenn wir solche Entscheidungen nach rechtsstaatlichen Grundsäten als Entscheidungen des nur dem Gesetz unterworfenen Richters verstehen wollten. Das Evangelium kann und darf die Struktur des Gesetzes nicht annehmen. Es kann aber auch der Richter hier nicht im Sinne aufgeklärter Staatsmetaphysik der Gewaltenteilungslehre von den übrigen Verrichtungen des Amtes getrennt werden. Deswegen muß

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das ordentliche Amt auch zuletzt der ordentliche Richter bleiben. Das Gericht hat also den Tatbestand zu klären und in seinem Urteil zu votieren. Die letzte Entscheidung muß beim ordentlichen Amte liegen, welches das Urteil zu prüfen und zu bestätigen hätte. Die Differenz zwischen beiden könnte etwa so geregelt werden, wie in der Militärgerichtsbarkeit der Ausgleich zwischen der personalen Befehlsgewalt des Vorgesetzten und dem unabhängigen Gericht geordnet war.

Außerhalb des opus proprium der Kirche kann der geistliche Charakter der Kirche auch in nach Analogie zur Verwaltungsgerichtsbarkeit aufzubauenden Instanzen gewahrt werden. Aber der prinzipielle Unterschied zwischen geistlicher Jurisdiktion und kirchlicher Verwaltungsgerichtsbarkeit muß klar festgehalten werden.

Das Auffällige der Gesprächslage besteht darin, daß nicht der Begriff der jurisdictio im Sinne geistlicher Entscheidung voran steht und der Begriff der Verwaltungsgerichtsbarkeit daneben gestellt und davon abgegrenzt wird.32 Vielmehr ist die Tendenz zur Ausbildung der Verwaltungsgerichtsbarkeit das treibende Moment. Die jurisdictio der Kirche erscheint als der von jener Gerichtsbarkeit auszunehmende geistliche Entscheidungsbereich. Dieser ist etwa in der von Scheuner zitierten mecklenburgischen Regelung von 195733 enumerativ aufgezählt, umfaßt aber unzweideutig das Gebiet der eigentlichen jurisdictio, so Entscheidungen der Landessynode, Verwaltung der Sakramente usf. Auf diese Weise bekommt das evangelische Kirchenrecht in einer Verkehrung der Fronten eine Gerichtsordnung in Verwaltungs- (begrenzt auch in Verfassungs-) Sachen, bevor und ohne daß es einen Begriff von Jurisdiktion wiedergewinnt.

Die von Scheuner angeführten Gründe, aus denen die reformatorische Lehre zur Ablehnung geistlicher Gerichtsbarkeit kam, verdecken den Tatbestand. Die Verwerfung derselben in Bußsachen erklärt und rechtfertigt sich aus der Umformung des Bußrechts in ein Strafrecht.34 Die Abgabe der Ehesachen als weltliche Angelegenheiten an die Fürsten ist, wie bereits in Kap. IX gezeigt, trotz des polemischen Begriffs „Weltlich Ding” gar nicht erfolgt, weil in der Konsistorialgerichtsbarkeit geistliche und weltliche Gesichtspunkte grundsätzlich miteinander verbunden wurden. Wenn die Standeszucht der Prediger an die Synoden verwiesen wurde, so wechselte der Träger der Jurisdiktion, nicht die Rechtsstruktur als Entscheidung. Diese Struktur wird auch bei Scheuner noch in dreifacher Weise überdeckt:
1. durch den Dienstgedanken, der in wenigstens relativen Gegensatz zum Jurisdiktionsbegriff gestellt wird: hierzu ist in Auseinandersetzung mit Diem schon Stellung genommen worden.
2. Durch die Übernahme der Wehrhahnschen Formulierung, Kirchenrecht sei menschliche Ordnung, die über etwas verfügt, das im Kern nicht verfügbar sei. Hier wird „Innen” und „Außen” in Gegensatz gestellt.

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3. Durch den Gedanken der kirchlichen Jurisdiktion als Schlichtung unter Christen, ausgehend von der episcopalis audientia. Hier geht es jedoch um Streitigkeiten zwischen einzelnen Christen, nicht um ein Handeln der Kirche gegenüber dem Gemeindeglied. Die anzufechtende Verwaltungshandlung kann nicht ohne weiteres und nur auf dem Wege einer erst noch zu erwägenden Analogie hierzu in Vergleich gestellt werden.

Nachdem Scheuner den Weg in dieser Umkehrung gegangen ist, sagt er dann jedoch deduktiv, kirchliche Gerichtsbarkeit sei Funktion des geistlichen Amtes unter Übertragung an besondere Organe. Ziff. 3 „Zur kirchlichen Gerichtsbarkeit gehört ihre Verbindung mit der geistlichen Gewalt” ist deshalb etwas überraschend. Denn dies ist nach dem eben zitierten Vordersatz (1.) eigentlich selbstverständlich. Es besagt sicherlich zu Recht, daß auch die jurisdictio delegata in Verwaltungssachen an Schrift und Bekenntnis gebunden bleibt und die Tendenz zum gütlichen Austrag konstitutiv erhalten muß. Sie kann sich also nicht als abgelöst nach rein innerjuristischer positivistischer Sachlichkeit verstehen. Dieser Satz steht in gewissem Gegensatz zu 1., indem er den Rückschluß erlaubt, daß die Jurisdiktion nun doch wieder als ein zweites neben der geistlichen Gewalt zu stehen kommt.

Daß der „Ursprung aller kirchlichen Gerichtsbarkeit in den Bereichen der Kirchenzucht liege”, ist dem äußeren Bilde nach richtig, als hierin naturgemäß eine besonders manifeste Triebkraft lag. Im Grundsatz ist es wegen der Entscheidungscharakters geistlichen Handelns jedoch zu bestreiten. Deshalb vermag ich auch dem Satz 4 Scheuners nicht beizutreten: „Kirchliche Gerichtsbarkeit sei begrenzt auf judiziable Fragen des Rechtes. Es sei nicht ihres Amtes, allgemeine Entscheidungen über Fragen der Lehre zu treffen, und sie urteile nicht über Fragen der Verkündigung oder der geistlichen Amtsausübung, es sei denn über Fragen der Gültigkeit einer Amtshandlung.” Hier ist schon der sekundäre Begriff der Verwaltungsgerichtsbarkeit zum Gegenstand genommen. Natürlich ist die Entscheidung von allgemeinen Lehrfragen nicht Sache eines Gerichtes, sondern der Synode. Aber deren Bekenntnisbildung und Lehrverwerfung ist eben auch, jedenfalls nach einer Seite jurisdictio. Die geistliche Gewalt muß sich in allem ihrem Tun entscheiden — und das ist immer jurisdictio. Kann sie nicht entscheiden, das heißt sich und andere unter dem Worte Gottes so und nicht anders verpflichtet und gebunden urteilen, so kommt sie zu einem non liquet. Dann ist das Handeln frei, aber nur deshalb, weil es vom Standpunkte des Glaubens her indifferent ist. Nur in diesem Sinne taucht hier die Frage der Judiziabilität auf. Das geistliche Handeln dagegen unterliegt immer einer Beurteilung auf seine Rechtmäßigkeit, d.h. Schriftgemäßheit — geistlich und nicht gesetzlich.

Die Sicht Scheuners ist für die kirchenrechtliche Lage der Gegenwart

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sehr charakteristisch. Die Eigenständigkeit der Kirche und die Tendenzen zur Entwicklung des Justizstaats nötigen diese, sich auf ihre eigenen jurisdiktionellen Elemente zu besinnen. Die spirituale Tradition, wie sie besonders deutlich bei Wehrhahn hervortritt, führt dazu, den Jurisdiktionsbegriff vom Schwanze der Verwaltungsgerichtsbarkeit her aufzuzäumen. Die widersprüchlichen Formulierungen Scheuners „Funktion der Kirchengewalt” „mit der geistlichen Gewalt verbunden” (also doch von ihr zu unterscheiden?) zeigen diese immer noch unausgetragene Lage an.

Die antijuristische Tradition der Theologie hindert auch die Juristen, einen zulänglichen Jurisdiktionsbegriff zu bilden. Diese nehmen ungewollt die Vorentscheidungen an, die aus der theologischen Mißbildung des Gesetzesbegriffes folgen.35