2. Zur Kritik des Begriffs der apostolischen Sukzession

Die Lehre von der apostolischen Sukzession nach dem gemeinsamen Verständnis der Kirchen, die diese für wesentlich halten und sich auf sie gründen, enthält folgende Elemente:
1. Die Sakramentalität der Ordination durch Handauflegung (der mißverständliche Begriff „Charakter” ist hier zu vermeiden)
2. die Behauptung, daß die Amtsvollmacht in einer Verbindung von historischer Kontingenz und Haupt-Struktur ordinatorisch übertragen wird
3. den konkreten Vollzug durch mindestens drei Bischöfe als Repräsentanten der oekumenischen Gemeinschaft entsprechend Canon IV von Nicaea I.
4. Übereinstimmung des Bekenntnisses, also nicht einfach eine Abtrennung der Personaltradition von Kerygma und Lehre.
5. Intention, das bischöfliche Amt als Vollamt zu übertragen, welches die Ordinationsbefugnis einschließt.

Inwiefern werden diese Grundsätze durch die bisherigen Darlegungen und die reformatorische Kritik außer Kraft gesetzt oder modifiziert?

Jene Grundsätze sind in mehrfacher Weise belastet und verdunkelt:

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1. durch ihre Formalisierung auf Mindesterfordernisse
2. durch Ablösung von der ekklesia, in der sie und auf die hin die Ordination vollzogen wird
3. durch eine lineare Zeitvorstellung, die frühzeitig durch Bischofslisten usw. genährt wird
4. durch die Meinung, daß ein spezifisches esse der handelnden Bischöfe für die Ordination grundlegend sei.

Andererseits hat sich die reformatorische Kritik selbst belastet:
1. durch die der Schrift nicht gemäße Bestreitung des exhibitiven, konstitutiven Wesens der Ordination und ihres Charakters als personale traditio
2. durch eine der hierarchischen Stufung analoge prinzipienförmige Gleichheitsvorstellung
3. durch die Vernachlässigung der gesamtkirchlichen Dimension des Handelns.
Die reformatorische Kritik irrt, soweit sie den personalen Charakter der traditio zu leugnen unternimmt und den Vorgang auf die traditio des Kerygmas beschränkt. Mit der Sakramentalität geht auch die personale Dimension (um auch hier den falschen Ausdruck „character” zu vermeiden) der Ordination verloren.

Ferner steht dem Verständnis der successio eine anthropozentrische Umkehrung des Blicks entgegen. Sehen wir den geistlichen Weg des Menschen von der Missionspredigt über den Glauben, die Taufe, die Lehre bis zum Abendmahl, so findet sie hier keinen deutlichen Ausdruck. Die Geschichte der Kirche dagegen verläuft umgekehrt — sie ist immer schon vor uns da. Sie geht, wie schon ausgeführt, von der Gemeinschaftsstiftung durch Christus über die Verkündigung zur Geistmitteilung. Zum Verständnis der Succession müssen wir also zunächst die menschliche Selbstbezogenheit unserer Anschauung überwinden und uns der Vorgegebenheit der Kirche durch das vorangehende Handeln Gottes stellen.

Dem Verständnis der successio steht weiter entgegen das unbewältigte Phänomen und Problem des sog. apostolischen Zirkels. Wenn personale Vollmacht und Gemeinschaft auf der einen und der inhaltliche Handlungs- und Verkündigungsauftrag so ineinander verschränkt sind, wie es geschildert wurde, wenn es aber, mit Bultmann gesprochen, wiederum keinen Sinn hat, die Kirche gegen die Schrift, und die Schrift gegen die Kirche auszuspielen,15 so liegt doch die Versuchung nahe, eben diesen Zirkel von einem Punkte her aufzubrechen, um zu einer einfachen, einleuchtenden, aufweisbaren und handhabbaren Anschauung zu kommen. Man kann dann entweder die Person voranstellen, die Apostel und ihre Successoren als die Subjekte und Treuhänder eines Objektes, des depositum fidei, einer Art Leihgabe vorstellen, welche sie dann bestmöglich und unter der Verheißung des Geistbeistandes, aber praktisch souverän

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verwalten. Oder aber man kann das Kerygma oder die Schrift, in irgendeinem Sinne das Wort Gottes zu einer quasipersonalen, sich selbst auslegenden und nun die Menschen jeweils in ihre Dienste nehmenden Größe machen. Dadurch gerade fallen Person und Kerygma auseinander. Einmal sind die Personen alles, und das Kerygma wird zum Objekt, oder das Kerygma ist alles, und die Personen sind bedeutungslos. Es liegt ein eigenartiger Widerspruch darin, daß gerade eine so einseitige kerygmatische Auslegung des successio- und traditio-Problems sich als personale ausgibt.

„Apostolische Überlieferung” und „apostolische Nachfolge” definieren sich gegenseitig. Die Nachfolge ist die Gestalt der Überlieferung, die Überlieferung ist die Gestalt der Nachfolge”.16 Solange dieser Satz eines katholischen Theologen auch wirklich so gehandhabt wird, wäre er nicht zu beanstanden. Die reformatorische Kritik ist aber gerade deshalb auf die Sachtradition des Kerygmas übergegangen, weil sie behaupten mußte, daß in der praktischen Verfügung über das depositum fidei eben die wechselseitige Definition beider zugunsten einer Ableitung der inhaltlichen und Lehrtradition aus der präsenten Vollmacht des Lehramtes aufgebrochen und preisgegeben worden sei. Sie hat damit aber zugleich das Problem selbst fallengelassen, für welches sie keine bessere Lösung anzubieten hatte.

Wir stehen nicht selten in der römisch-katholische Ekklesiologie vor korrekten Darstellungen, welche in hartem Widerspruch zur kirchenrechtlichen Wirklichkeit, nicht nur zum Gebrauch, aber auch zu ihm stehen. Nur insofern hat sich die Lage weiter entwickelt, als wir allmählich die Denkmittel gewinnen, um jene Bezüglichkeiten und Verschränkungen zu begreifen und einigermaßen darzustellen. Um so deutlicher sehen wir aber auch, daß es gerade die Primatslehre ist, durch welche diese notwendigen Verschränkungen, von personaler und kerygmatischer Tradition, wie von Amt und Gemeinde aufgelöst, zerschlagen und verdeckt worden sind. Die römische Kirche bekommt vom Protestantismus regelmäßig die Quittung für die Rationalisierungen, welche sie selbst eingeleitet hat.

Wenn der Successionsgedanke mit dem Einwand bekämpft wird, er bedeute eine Übernahme griechischer Vorstellungen, so deckt dies angesichts der jüdischen Ordinations- und Successionslehre und ihres Verhältnisses zur biblischen Tradition (s.o. VIII/1) keinesfalls den Tatbestand. Diese Kritik sollte auch erwägen, wieviel Humanismus, Idealismus und Modernität in ihr stillschweigend als maßgeblich unterstellt wird.

Luther hat sich sehr lebhaft mit der Frage der Succession beschäftigt, weil für seine Verantwortung als Lehrer der Heiligen Schrift seine eigene Legitimation wesentlich war. Ihm war wichtig, daß er selbst ein ordnungsgemäß, unanfechtbar verordneter Diener der Kirche war. In

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seinen frühen Schriften hat er nach der Wiederentdeckung des Vocationsbegriffs von einer successio vocationis gesprochen.17 Das darin liegende Ausspielen der vocatio gegen die zurückzudrängende ordinatio beruht freilich, wie wir gesehen haben, auf einem Missverständnis beider. Später hat er den Gedanken einer personalen Successio dann aufgegeben und die Gleichung von Succession und Kerygma vollzogen. „Evangelium soll dye successio sein”.18

Die Frage, die mit dem Problem der successio gestellt ist, ist hier selbst abgewiesen, nicht nur die römische Lösung — die Frage nämlich, wie sich Person des Handelnden und Kerygma — richtiger: Handlungsinhalt überhaupt — zueinander verhalten. Diese Abweisung des Problems ist nur auf Grund der schon früher erörterten Vorstellung von der perspicuitas der Schrift und ihrer Selbstbezeugung möglich. Seither ist — vor jeder denkbaren oder behaupteten Lösung — die Frage selbst kaum noch verstanden worden, weil dieses Verhältnis entweder in jener Weise geklärt oder andererseits grundsätzlich unklärbar erschien. Hier verbinden sich — kaum scheinbar — ein bestimmtes Schriftverständnis, eine humanistische Wissenschaftlichkeit, welche die restlose Übertragbarkeit begrifflicher Erkenntnis (Dilthey) zur Voraussetzung hat, und ein Element der Skepsis.

Luther hat sich in der Bestreitung der Hierarchie auf die Taufe berufen (vgl. Kap. IV). In der reformatorischen Ekklesiologie spielt (einschließlich entschiedener Mißdeutungen) der Begriff der communio sanctorum eine zentrale Rolle. Daß es sich in beiden Fällen um Sätze des Sakramentsrecht, nicht des Rechts der Sakramentsverwaltung, sondern des aus den Sakramenten erfließenden Rechtes handelt, ist, wenn ich recht sehe, dabei kaum erwogen worden. Damit ist die Frage nach der Qualität solcher Sätze, nach dem konkreten Verhältnis beider, und schließlich danach gestellt, ob dies denn die beiden einzigen Sätze dieser Art seien. Beide aber beruhen, wie wir sahen (Kap. VI und VII) auf Vorgängen der traditio, der Selbsthingabe Gottes wie der Weitergabe durch Menschen. Beide aber sind im Gegensatz zum Postulat einer selbstverständlichen Gleichsetzung keineswegs einfach identisch. Sie stehen in einem heilsgeschichtlichen Zusammenhang. Je mehr wir diesen in den Blick nehmen, desto mehr gewinnt das Abendmahl wieder an Bedeutung, als Zielpunkt wie als Ausgangspunkt auch des Kirchenrechts. Der Streit um die Successio ist der Ausdruck dafür, daß mit dem Verhältnis von Person und Kerygma auch das von Verkündigung und Sakrament und sichtlich auch dasjenige von Taufe und Abendmahl in Unordnung gekommen ist.

Der historische Episkopat, an welchen die römische, griechische, anglikanische Kirche die Legitimität der Kirche geknüpft sehen, und den allein die übrigen Kirchen der Reformation als biblisch nicht begründbar aufgegeben haben — ohne damit das Bischofsamt sämtlich zu

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verneinen —, scheint mir demnach ein antinomischer Tatbestand zu sein. „Historisch” ist der Episkopat insofern, als damit eine in der Tradition und Kontinuität konkret erwachsene Amtsform als ein wesentliches, ja zentrales Merkmal der Kirche gemeint ist und bewährt wird. „Episkopat” ist er, insofern als damit für dieses Amt in einem besonderen und zentralen Sinne das repräsentative Vikariat Christi in konkreter Personalität gemeint ist. Historische ist eine solche Form insofern, als in ihr auf alle Fälle ein kontingentes unabweisbares Moment der Gestaltung enthalten ist, das als solches nicht begründet und deduziert werden kann, sondern in seiner Faktizität noch in der Gegenwart lebt. Als Episkopat dagegen bedarf diese wie jede andere kirchliche Lebensform der theologischen Begründung. Begründungsbedürftigkeit und Faktizität sind nicht gegeneinander ausgleichbar. Eine sachgemäße Erörterung kann deshalb nicht so geführt werden, daß auch für die Faktizität eine theologische Begründung gefordert wird, weil damit ihre historische Faktizität gerade aufgehoben wird. Andererseits kann die Faktizität für sich allein den hiermit verbundenen Geltungsanspruch nicht tragen. Aus diesem inneren Grunde ist die umfangreiche Debatte über diese Frage zwar nicht einfach ergebnislos geblieben, aber doch auch nicht entscheidend vorangekommen.

Auf der einen Seite wird die Faktizität durch leicht durchschaubare Scheindeduktionen überdeckt, auf der anderen Seite stellt sich die stets erneut geforderte und versuchte theologische Begründung oder Verwerfung nicht dem hiermit gegebenen Geschichtsproblem.

Man kann diesen breiten Riß durch drei Erwägungen verengen und die beiden Seiten der Frage näher aneinander heranrücken.

1. Läßt sich die historische Form nicht als solche ableiten, so ist doch eine konkrete und deshalb auch kontingente Form der kirchlichen Ordnung notwendig immer gegeben. „Die Kirche empfängt ihr Leben zwar nicht ,aus’ ihrer Gestalt, aber sie behält es nur ,in’ ihrer Gestalt”.19
Diese Gestalt ist also auch in ihrer aufweisbaren, vielleicht sogar lästigen Kontingenz nicht willkürlich; sie ist als solche respektabel, und sie ist auch nicht einfach zu jeder Zeit auf Grund theoretischer Überlegungen frei schiffbar und konstruierter. In diesen Gründen liegt auf alle Fälle eine hohe Dignität solcher Gestalt. Luthers strenger Gedanke vom „contemptus ecclesiae” (Kap. XVII) bringt dies in einer sehr entschiedenen, uns fremd gewordenen Weise zum Ausdruck.

2. Die Mißachtung dieser Dignität läßt aber nicht nur ein hohes, aber vielleicht doch entbehrliches Traditionsgut verfallen, sondern führt nun statt zu einer Lösung zu einem so schwierigen, wenn auch verdeckten Dilemma. Gegen eine mehr oder minder absolut gesetzte Dignität der historischen Form kann sich als Gegenposition nur eine funktionale Jeweilichkeit und Verfügbarkeit bilden. Diese verkennt nicht nur das Schwergewicht, das in dieser Form verfaßt ist, sondern gerät selbst in

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die Ungeschicklichkeit. Aber auch die schärfsten Verfechter einer solchen funktionalen Sicht kommen nicht um das Gesetz der Geschichte herum. Sie bilden, ob sie wollen oder nicht, selbst wieder geschichtlich-kontingente Formen von beträchtlicher Striktheit. Es ist dabei gleichgültig, ob diese Formen auf Kontinuität oder Diskontinuität angelegt sind und ausgelegt werden. Sie vermögen aber nun erst recht nicht, das Verhältnis zwischen ihrer funktionalen Theorie und ihrer historischen Eigenform, in die sie mit einbegriffen sind, zu verstehen und zu bewältigen. Mit der theoretischen Verneinung der Bedeutung kontingent-historischer Formen für die Kirche kommt die eigene Historizität außer Blick. Am Ende der radikalsten Kritik bildet sich so eine naive Verfassungsorthodoxie, welche die eigene Lebensform als selbstverständlich, als unbestreitbare Vernunftforderung, als gewichtlos oder jederzeit aufhebbar ansieht, während das Gewicht der Geschichte in ihr völlig verkannt wird. Und ebenso bildet sich anstelle einer Metaphysizierung der historischen Form, die einer Fortbildung nicht schlechthin entgegensteht, gleichsam unterschwürig ein archivalischer Historismus, dem von neuem Knochen und Pergamente abgelebter Zeiten in seltsamer Weise heilig werden.

3. Schließlich drängt sich auch eine praktische Rückrechnung auf. Die historische Form, die wegen ihrer Absolutsetzung oder Entartung abgelehnt wird, wird keineswegs umgebildet und erneuert. Die Aufgaben, die sie erfüllte oder hätte erfüllen sollen, werden nicht aufgenommen und in anderer Weise erfüllt, sondern sie fallen bei der kritischen Wende zum beträchtlichen Teil einfach dahin. Die Perspektiven und Dimensionen, in denen sie steht, gegen zum wesentlichen Teil verloren. So sind etwa die oekumenischen Zusammenhänge und Funktionen des Bischofsamtes weitgehend hinweggefallen, und es ist in den Stellungnahmen zum Bischofsamt gerade in der Reformationszeit deutlich sichtbar, daß der ursprüngliche Sinn und die durchaus nicht vollständig zerstörte Struktur dieses Amtes nicht mehr voll verstanden wurde. Die Abstoßung absolut gesetzter und entarteter Geschichtsformen führt keineswegs selbstverständlich zu gleichwertigen und kongenialen Bildungen, sondern durch den damit verbundenen Traditionsbruch zu Verkürzungen. Mit der Tradition ist es wie mit den Sibyllinischen Büchern: wer sich weigert, den vollen Preis der Historizität zu zahlen, muß es schließlich doch, aber je länger er sich weigert, desto weniger bekommt er schließlich für diesen vollen Preis.

Daß das Problem zwischen Geschichtspositivismus und theologischer Deduktion mit den bisherigen Mitteln unbewältigt ist, ist evident.

Schließlich kommt noch eine weitere Schwierigkeit hinzu, welche erst durch die Erkenntniskritik unserer Zeit sichtbar geworden ist. Je mehr wir die funktionale Seite des Problems betonen, desto mehr potenzieren wir eben diese Seite durch den Akt der Betrachtung und theoretischen

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Darstellung selbst; je mehr wir den in sich bestehenden Traditionsgehalt einer solchen Form in den Vordergrund stellen, desto mehr drängen wir unwillkürlich in Richtung auf eine Absolutsetzung. D.h. es gelingt nicht, bei bewußter Akzentuierung des doppelschichtigen Problems sozusagen gegenzusteuern, die andere Seite drinzubehalten. Ohne den Begriff zu überlasten, könnte man hier von einer Art Komplementarität sprechen.

Es ist so durchaus verständlich, daß beide Teile trotz aller scharfsinniger gegenseitigen Darlegungen einander in der Tiefe nicht verstehen. Die einen sehen nicht ein, wie man auf einen nur mangelhaft begründbaren Tatbestand soviel Gewicht legen kann, verwechseln Tradition und Romantik, und die anderen begreifen nicht, wie man verlangen kann, den sehr vielfältigen und per Definitionen nicht voll ausschöpfbaren Gehalt einer historisch bewährten Erscheinung auf das Urteil des Augenblicks zu stellen. Die Lage wird vollends verworren, weil die Verfechter der Historizität mit prinzipiellen Argumenten, und die Kritiker historischer Positivität mit historischen Argumenten arbeiten, also jeder mit den Waffen des anderen.

Aber man kann doch auch weiterkommen. Die Frage ist wegen des Elements der Geschichtlichkeit deduktiv nicht zu lösen. Bei induktiver Betrachtung jedoch löst sie sich im Verhältnis zu dem umfassenden theologischen Gedankenaufwand relativ leicht auf. Eine Kirche, in welcher Eucharistie und Handauflegung ihr volles biblisches Gewicht haben, wird ganz von allein und ohne Beschwer die Formen der apostolischen Succession und der apostolischen Gemeinschaft der Bischöfe suchen und, wo das konkrete Band abgerissen ist, wiederherzustellen trachten.

Den beiden streitenden Meinungen ist nicht der Wahrheitsgehalt, wohl aber die Stringenz abzusprechen. Gerade dann aber sollte man sich die Freiheit nehmen, in einer explizit nicht lösbaren Frage zweigleisig zu argumentieren. Das heißt: funktional gesehen, kann die Bewährung und praktische Unersetzlichkeit der Bischofsgemeinschaft solange nicht bestritten werden, als man nicht die tatsächliche Oekumenizität der Kirche aufgibt und sich mit einem dem Leib-Charakter der Kirche widersprechenden unverbindlichen Föderalismus und Congregationalismus verfügbarer Zusammenschlüsse zufrieden gibt. Die ganz unbiblische, frührationalistische Angst vor dem pouvoir personel, deren säkulare Verwandte wir aus der Geschichte des Staatsrechts gut genug kennen, dürfte hier kein echter Gegengrund sein. Andererseits verbürgt der nicht nur funktionale, sondern historische Episkopat den personalen Charakter, der als Merkmal unvertretbarer Verantwortung in der geistlichen Leitung nicht zu entbehren ist.

Diese sich ergänzenden Erwägungen gewinnen ihren Ort, wenn wir das geschichtliche Schicksal des historischen Episkopats betrachten. Daß er hier und dort erhalten, anderwärts aufgegeben ist, sagt darüber

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wenig aus. Der Episkopat ist das eigentliche Opfer der neueren Kirchenrechtsgeschichte. Durch den päpstlichen Anspruch der plenitudo potestatis wird er schrittweise ausgeschaltet, die Metropolitanverfassung und die kanonische Wahl über päpstliche Provisionen und Reservationen, vor allem seit dem 13. Jahrhundert, schrittweise abgebaut. Durch den Federstreich der Kanzleiverfügung Urbane V. vom 4. 8. 1363 wird jeder erledigte Bischofsstuhl der päpstlichen Reservation vorbehalten, das kanonische Wahlrecht umgestürzt. Andererseits wird er durch die Familieninteressen des Hochadels in weitem Umfange seiner geistlichen Aufgabe entfremdet. Er steht schließlich vor der Wahl, endgültig zum episcopus „dei et apostolicae sedis gratia” oder von der Territorialgewalt abhängig zu werden: mit schlechtem Gewissen und Vorbehalt den Suprematseid auf den König von England zu schwören, durch die Staatsraison des Fürsten- und Beamtenstaates verdrängt zu werden, wie im herzoglichen Preußen des 16., im königlichen des frühen 18.,20 wesentliche theologische Entscheidungen von staatskirchlichen Organen hinnehmen zu müssen, wie die skandinavischen Bischöfe des 20. Jahrhunderts in Höllenstreit und Frauenordination. Aber dieses fürstliche Staatskirchentum war doch eigentlich nur der Vorläufer und Bahnbrecher laikaler Selbständigkeit und national-partikularer Letztentscheidung. Zwischen dem Papsttum des einen Pontifex und dem Papsttum aller ist die Mittelstellung, Mittlerstellung, Brückenstellung der Bischofsgemeinschaft zwischen Gesamtkirche und Einzelekklesia so oder so aufgerieben worden. Dementsprechend hatten die einen noch eine korrekte, tradierende Ordination, aber keine kanonische Wahl und womöglich keine Diözese mehr hinter sich, wie die zahlreichen maßgebenden Bürobischöfe der Kurialverwaltung — wo bleibt da die Gemeinde als ihr pleroma nach dem Wort des Chrysostomus! Die anderen hatten oder wollten keine Sukzession und Tradition, aber besaßen dafür auch keine Unabhängigkeit vom Staat und keine oekumenische Gemeinschaft mehr. Man muß beiden Tendenzen, derjenigen zur universalen wie zur partikularen Souveränität einmal nur den selbstgeschaffenen monarchisch-absoluten oder laikal-freiheitlichen Nimbus entnehmen, um zu sehen, wie sehr sie sich in der einen Leidenschaft entsprechen, mit theologischer Rechtfertigung und kirchenrechtlicher Legitimation sich von niemandem mehr richten zu lassen. Zwischen beiden steht in Bruchstücke die Bischofsgemeinschaft als die Repräsentantin der nicht-souveränen Kirche, deren souveränes Haupt im Himmel ist.

In diesen absolutistischen wie demokratisch-laikal-nationalen Tendenzen ist nach dem äußeren Bild mit der Kirchenrechtsgeschichte auch die unseres Problems von der politischen Verfassungsproblematik überfrort und überfremdet worden. In einer tieferen Schicht aber gilt immer noch das Gesetz der Praecession des Kirchenrechts, in dem die eigentlichen Entscheidungen fallen. Noch immer ist, auch in Mißbrauch und

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Umdeutung, das Sakramentsrecht für die Kirchenrechtsgeschichte bestimmend. Das Taufrecht jedes einzelnen und das Vorsitz- und Leitungsrecht der Eucharistie haben uns zum Antagonismus unseres Souveränitätsstrebens gedient, in dem das Unrecht das Unrecht, die Selbstmächtigkeit die Selbstmächtigkeit rechtfertigt.

Es hat die Kirche ihre Identität wie ihre Legitimität immer durch den jeweils anderen, der sie ergänzt, anerkennt, ihr aufhilft, von dem sie empfängt. Kirche lebt konstituierend im Gegenüber von Oben und Unten wie vom Miteinander. Sie hat sich zwischen Relationalität und Souveränität zu entscheiden, und in der Lebensform der Relationalität liegt auch die Rechtfertigung der apostolischen Sukzession als eines Gefüges pneumatischer Aushilfen.

Wenn das Geschehen in der Kirche nicht in sich umkehrbar ist, aber in zwei entgegengesetzten Richtungen verstanden und betrachtet werden kann, in der Linie von der Taufe zum Abendmahl, in jenem auch von Barth so gedeuteten Raum, der eine bestimmte Erstreckung hat, — wie auch von dem Abendmahl zur Taufe, von der geschehenen Vergemeinschaftung zu der zu vollziehenden, weiterzugebenden, dann ergeben sich zwei konkurrierende Linien auch der Kirchenrechtsbildung, die doch sinngemäß nicht konkurrieren können und dürfen. Dann gibt es Recht, das an die Taufe anknüpft, und solches, welches von der Eucharistie ausgeht, von dem Zukünftigen, wie schon dem uns zuvorkommenden, immer schon Geschehenen.

Jene Gegenläufigkeit des Sakramentsrechts erklärt einige wichtige Dinge. Es gibt zwei große Kirchengemeinschaften, die sich selbst als die echte und rechte Mittelposition innerhalb der gespaltenen Kirche betrachten. Die Anglikanische Kirche versteht sich als die Brückenkirche zwischen den historisch-bischöflichen Kirchen und dem Protestantismus.21 Die lutherische Kirche sieht sich, wo sie auf die oekumenische Verantwortung angesprochen wird, seit Löhe als die Mitte zwischen römischer Kirche und Calvinismus. Daß zwei so unterschiedliche Größen die gleiche Rolle beanspruchen, ist jedoch noch nicht in Betracht gezogen worden.

Indessen trügt dieses Selbstverständnis. Denn auf der Seite jener traditionsgebundenen Kirchen stellt die anglikanische den linken weit vorgeschobenen Flügel dar. Im Bereich des Protestantismus dagegen ist das Luthertum der rechte, entschieden konservative Flügel. Jene gehen, in unserer Sicht verstanden, von der Eucharistie und deswegen vom historischer Episkopat aus, diese vom Taufrecht aller Christen. Beides aber trifft sich praktisch nicht. Denn die Anglikaner haben ohne die Vermittlung des Luthertums ein unmittelbares Verhältnis zu den ihnen zunächst stehenden Presbyterianern, an die sie über ihre eigene „low church” angrenzen. Die Lutheraner haben, ebenso ohne Vermittlung der Anglikaner, ein unmittelbare Verhältnis im Für und Wider zu den

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römischen Katholiken und zur Orthodoxie. In ganz Westeuropa gibt es kein bodenständige Luthertum, ja dessen eigentliche Intention, der Primat der Rechtfertigungslehre wird überhaupt kaum verstanden. Ebensowenig gibt es auf dem Kontinent eine bodenständige, kirchengeschichtlich bedeutsame und wirksame bischöfliche Kirche und deren Anliegen werden ebensowenig begriffen. Die behaupteten Mittelpositionen sind also historisch und örtlich begrenzt und keineswegs von begrifflicher Allgemeingültigkeit. Im Gegenteil — sie sind recht eigentlich unwirksam, weil einseitig. Denn die Anglikaner machen im großen gesehen den Versuch, unter wesentlicher Zurückstellung der Lehr und Wahrheitsfrage im Rahmen der institutionellen Tradition durch einen offenen Ausgleich der Formen die Ganzheit der Kirche auszudrücken und zu fördern. Sie geraten damit aber, dogmatisch höchst unschärf, leicht in die Nähe eines gewissen fundamentalistischen Formalismus, der nicht überzeugt. Die Lutheraner dagegen, die unter bewußter Zurückstellung der institutionellen Probleme und Verschiedenheiten vom Zentrum der Lehre meinen ausgehen zu können, erreichen die Bedeutsamkeit der institutionellen Tradition überhaupt nicht. Im Gegenteil: diese beiden Vermittler und Mittelpositionen machen den Auseinanderfall von personaler traditio und Lehre, Aussage, Inhalt erst recht deutlich, wenn man hinter diese optima fide in Anspruch genommen, aber nicht bewährten Titel dahintersteht. Es ist die große Frage, ob eine Bildung wie diejenige der Kirche von Südindien einen echten Ausgleich und damit eine echte Neubildung darstellt, solange diese Spaltung am Ort ihrer Entstehung durchaus nicht überwunden, ja noch nicht einmal erkannt ist. Denn so rätselhaft, mit Barth zu reden, der Riß durch die Kirche geschichtstheologisch ist: beschreibbar und in hohem Grade erklärbar ist er dennoch: es ist jenes auch anderwärts beschriebene geschichtliche Abenteuer und Abenteuer der Geschichtlichkeit, welches die abendländische Kirche avantgardistisch eingegangen ist und welches sie mit ihrer eigenen Einheit bezahlt hat. Man muß eben die Unkosten dieses Vorgangs und seine nicht bewältigten Gefahren mit einrechnen und sehen, daß der Protestantismus wesentlich die Konsequenzen der scholastischen Kirche darstellt und ein genuiner Zweig der abendländischen Kirche ist, die mit ihren eigenen Mitteln ihre Einheit nicht nur nicht zu bewahren vermocht, sondern die Bedingungen der Spaltung selbst gesetzt hat.

Die abendländische Christenheit hat mit der souveränen Kirche auch den souveränen Menschen hervorgebracht und ist weder mit sich selbst noch dieser ihrer Frucht fertig geworden. Die gespaltene Welt ist die überdimensionierte Außenprojektion der gespaltenen Kirche. Wie seltsam nimmt sich demgegenüber der Titel der societas perfecta aus, wie fragwürdig und harmlos ist der Versuch Barths, in „Christengemeinde und Bürgergemeinde” dem Staat die vorbildliche Kirche per analogiam fidei vor Augen zu stellen!

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Die Vorstellung von der successio ist von abstrakten Begriffen überfrort und auf diese rationalisiert worden. Die tatsächliche apostolische Succession ist nicht abhängig von der nachweislichen Bewährung der von uns zu ihrem Verständnis nachträglich gebildeten Begriffe.

Linton hat gezeigt, daß Vorstellungen von der Urgemeinde durch Begriffe von Gemeinschaft, Genossenschaft, von Gleichheit usf. unangemessen geprägt sind. Die von ihm aufgewiesene „ungleichmäßige beschließende Gemeinschaft” setzt voraus, daß die Gemeindeglieder verschieden in ihren Gaben, deshalb auch verschieden in ihrer Stellung innerhalb der Gemeinschaft des Einen Geistes sind. Sie sind also weder (rational) gleich, noch ist ihre Ungleichheit als eine lediglich coram deo bestehende grundsätzlich (irrational) unerkennbar. Das rationale und das agnostizistische Urteil entsprechen einander. Der Geist aber weist sich durch unterschiedliche Wirkungen und Kräfte aus. So wenig ein Gemeinschafts- oder Genossenschaftsprinzip oder -gedanke diese solidarische Gemeinsamkeit begründet und zulänglich ausdrückt, so wenig ein Autoritätsprinzip und eine formale Qualifikation bestimmter Personen den Autoritäts- und Traditionscharakter der biblischen diadoché und paradosis. Die allein gelassene Gemeinde, die ihrer apostolischen Häupter beraubt ist, verfügt nicht einfach über ihre Ämter, sondern bleibt im Horizont der auctoritas patrum. Die überlebenden Ältesten und confessoren stehen und treten in die successie. Ohne einen Rest vertikalen Zusammenhangs, an den man wieder anknüpfen kann, ist eine so sehr auf Autorität und Tradition gestellte Gruppe, wie sie und biblisch gezeigt wird, nicht denkbar. Wenn man nicht so schnell an Stelle der Lebfensvorgänge des Gebens und Empfangens und der entsprechenden Haltung aus den späteren Amtsformen Prinzipien abgeleitet hätte, so wäre für uns dieser Sachverhalt nicht so schwierig zu erfassen. Die Rationalisierung dieses Tatbestandes in ein Prinzip hat Bedeutung und Recht nur als ein Mittel, den Gehalt eines sehr viel tieferen Lebenszusammenhanges mit Entschiedenheit festzuhalten und gemeinverständlich deutlich zu machen. Aber dieses Prinzip ist nicht die Sache selbst, sondern nur ein Hinweis auf die Sache. Danach kann man sagen: in der bischöflichen Succession hat die Personal-Tradition eine konkret-historische Form gewonnen, welche dann via abstractionis zu einem Prinzip ausgebildet worden ist. Sie hat ihr Recht darin, daß sie in dieser rationalen Form den Kern der Personaltradition bewahrt. Ihr steht in der Kontroverse nicht eine in höherem Grade pneumatische Form desselben Gedankens gegenüber, sondern die Verleugnung der Sache selbst zugunsten einer rein kerygmatischen Sachtradition als inhaltlicher.

Dieser Spannung entgeht die existenzialistische Theologie durch den verblüffenden Kunstgriff, daß sie das Kerygma radikal reduziert und dadurch sozusagen auf die personale Seite des Problems herübertritt, indem sie Person und Kerygma punktuell in eins zusammenfallen läßt.

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Jede personale Kontinuität nach der einen, jede explizitere kerygmatische Aussage nach der anderen Seite muß diese punktuelle Einheit in Frage stellen. Jene Theologie hat das Problem, wie das Wort von Bultmann zeigt, sehr scharf gesehen, freilich nicht gelöst. Nach wie vor besteht die Aufgabe, in der gespaltenen Kirche Successio und Kerygma wieder zusammenzuführen.

Eine sehr scharfe Formulierung gibt Ernst Käsemann unserem Problem in einem Aufsatz „Amt und Gemeinde im NT.”, in dem Sammelband „Exegetische Versuche und Besinnungen (I)” erstmalig veröffentlicht (S. 109-134).

Er stellt die paulinische Charismenlehre („Amtsträger sind … alle Getauften, die mit ihrem Charisma ja alle in Verantwortung stehen …”) der judenchristlichen Tradition des Amtscharismas gegenüber. Er sieht dabei, daß jene charismatische Ordnung etwas wesentliches anderes ist als das neuprotestantische Priestertum aller Gläubigen, unter dem nur noch das private Verhältnis des einzelnen Christen zu seinem Gott verstanden wird. Auch die Sohmsche These stellt er erneut richtig, weil ja gerade nach seinen Forschungen Paulus selbst mit der größten Entschiedenheit pneumatisches Recht übt. Von der geschichtlichen Situation des Kampfes gegen den Enthusiasmus lasse sich die Strukturänderung durchaus rechtfertigen. „Was den Vorgang, jedenfalls von Paulus her, so fragwürdig werden läßt und den Übergang in frühkatholische Anschauungsweise markiert, ist, daß diese Umwandlung nicht mit Not und geschichtlicher Notwendigkeit, sondern mit einem Traditions- und Legitimitätsprinzip verknüpft und begründet wird, der Geist als Organ und Sinn eines Prinzips erscheint.” (S. 130).

Das geschichtliche Problem verschärft er selbst durch die Feststellung, daß der Protestantismus selbst … nie ernsthaft versucht habe, eine Gemeindeordnung unter dem Aspekt der paulinischen Charismenlehre zu schaffen, sondern das den Sekten überlassen hat (133). „Fragt man nach dem Grunde dafür, scheint bereits die frühkatholische Kirche zu antworten, daß ein solcher Versuch mit Notwendigkeit der Schwärmerei Haus und Tür öffnet. Das läßt sich ja kaum bestreiten, daß die paulinischen Gemeinden, soweit sie sich nicht … einer anderen Führungsgewalt anvertrauten, bereits nach einem Menschenalter vom Enthusiasmus verschlungen wurden. Ist es also Illusion, alle Verantwortung und jeden Dienst in der Gemeinde auf die Taufe zu gründen, und kann man das allgemeine Priestertum aller Gläubigen proklamieren und üben, ohne alsbald dem religiösen Individualismus zu verfallen und Kirche als Kirche preiszugeben? … Beruht … seine (des Paulus) Bedeutung wesentlich auf dieser kritischen Funktion seiner Theologie? (an dem konstruktiven Charakter jenes Kirchen- und Amtsbegriffs und der dahin treibenden Ideologie). Sollte es so sein, daß Paulus, der zeit seines Lebens das Schwärmertum bekämpft hat, kirchliche Tradition nicht zu

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begründen, sondern nur zu zersetzen vermag, weil der den Christen und die kirchliche Gemeinschaft überfordert und darum doch auch seinerseits zum Schwärmertum anleitet?” (134)

Der Historiker könne diese Frage nicht beantworten. Käsemann will die Sorge um die Kontinuität der Kirche allein dem überlassen, der allein Gnade dauern lassen kann.

Es ist ein großer Fortschritt, daß hier der naiven Idealisierung des Paulinismus abgesagt wird, dessen Konzeption nie riskiert worden ist und unter dessen Deckmantel sich ganz andere Kräfte ausgewirkt haben.

Aber jene schöne Bezeugung glaubenden Vertrauens ist doch zugleich ein Versagen gegenüber der kirchlich-theologischen Aufgabe. Die Einschränkung „jedenfalls von Paulus her”, macht die Fragwürdigkeit der These deutlich. Ist Paulus denn der einzige Apostel — leben wir in der paulinischen oder schlechthin in der apostolischen Kirche? Mehr noch: ist die Taufe denn das einzige hier in Betracht kommende Geschehen? Hat das Abendmahl, hat die Aussendung und Bevollmächtigung der ja selbst nicht getauften Apostel keine Bedeutung? Vielmehr wäre der Ort jedes für sich und ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen.

Die hier gestellte geschichtliche Frage hat eine sehr viel spätere Epoche der Kirchengeschichte in etwa doch beantwortet. Erst die radikale Trennung des Amtes in jenem Traditionsverständnis von der Gemeinde hat in der Spaltung der Kirche die Gemeinde so radikal von der Tradition des Amtes getrennt. Das Ergebnis war freilich zwar eine paulinische Theologie, aber keine paulinische Ekklesiologie.

Aber die Aporie bei Käsemann liegt tiefer darin begründet, daß er zu einer Kritik des von ihm selbst entdeckten Rechtsbefundes und seiner eigenen Rechtsbegriffes außerstande ist. Echtes pneumatisches Recht sind für ihn allein die Entscheidungen des Apostels wie der Gemeinde im corpus Paulinum — und er interpretiert sie ganz modern dezisionistisch. Alle übrigen Rechtselemente im NT sind für ihn in ihrer ekklesiologischen Bedeutung doch nur Ausdruck von tradierten Prinzipien, letzten Endes zweckhaft und verfügbar, insbesondere die institutionalen Formen. Der alte liberale Dualismus von Geistkirche und Rechtskirche verschiebt sich in einen Gegensatz von pneumatischem und traditionalem Recht. Die Existenztheologie hat keinen Platz für die Existenzialität des Rechtes. Darin zeigt sich ihr geschichtlichen Standort.

Sie nimmt noch nicht einmal die rechtsphilosophischen Ansätze und Grundgedanken auf, die sich in der sonst, mindestens von Bultmann als maßgeblich unterlegten Heideggerschen Philosophie finden.21a Es ist hier die in Kap. II/6 geübte Kritik an Käsemanns Auslegung der Sätze Heiligen Rechts zuendezuführen. Wiewohl er wie Bultmann die traditionsbildende Wirksamkeit der Pneumatiker keineswegs betreutet, sondern bestätigt, sieht doch hier Käsemann im Wirksamwerden der Tradition

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alsbald ein Traditionsprinzip. Daß selbst die Sohmsche Darstellung dieses Gesamturteil über das Sakramentsrecht nicht trägt, wurde schon ausgeführt. Das Urteil erklärt sich wesentlich aus dem Vorverständnis. Die dezisionistische Struktur des praesentischen Entscheidungsdualismus kann nur bei negativen Urteilen, wie der oben beschriebenen Exkommunikation durchgehalten werden, nicht dagegen bei zusprechenden, wie bei der Wahl und Amtsbestellung. Die abendländische Spaltung zwischen Jurisdiktion und Ordination ist zuendegebracht, indem jetzt nur noch die (ausschließende, scheidende) Jurisdiktion als rechtlicher Akt erscheint, der bejahende Zuspruch wie die ordinatorischen Elemente außerrechtlich gedeutet werden.