3. Die Rechtsstruktur der Schlüsselgewalt

Die ausdrückliche, auf einen konkreten einzelnen Menschen bezogene auf die Schlüsselgewalt gegründete Absolution als Zuspruch der Sündenvergebung ist notwendig in den sehr verschiedenen Lagen, von denen wir sprachen, dieselbe. Ihr Grund ist der gleiche wie ihre Intention. Deshalb ist auch ihre Struktur die gleiche. Wir finden dies sehr deutlich schon in der von Sohm geschilderten altkirchlichen Rekonziliation ausgedrückt: deprekatorisches Gebet und nachfolgende Handauflegung als aufeinander folgende Akte. Deprekatorisches und exhibitives Handeln werden hier wie anderwärts nicht als Widerspruch verstanden: es ist der gestreckte restitutionell-institutionelle Akt, der Herauslösung aus dem Bereich der Sünde und Eingliederung unterscheidend verbindet. Die Rekonziliation ist ein zugleich jurisdiktioneller wie ordinatorischer Akt, ein Akt der Entscheidung und Loslösung, dem ein solcher der (Wieder-)Einordnung und Zuordnung folgt. Damit liegt ihre institutionelle Rechtsstruktur in ihren typischen Merkmalen schon offen zutage.

Die Absolution ist nach Luther und nach der Lehr der lutherischen Bekenntnisschriften als Sakrament zu verstehen. Roth hat in seinem schon wiederholt erwähnten Buch diesen Sakramentscharakter in der Lehre Luthers nachgewiesen und sämtliche Probleme der Sakramentstheologie an ihr einzeln durchgeführt und erörtert. Es zeigt sich hier von neuem der institutionelle Struktur des Sakraments.

Indessen hat das Bußsakrament deshalb — bei aller Parallelität zu den anderen Sakramenten und allem sakramentalen Handeln — insofern zu besonderen Mißverständnissen Anlaß gegeben, als in ihm begreiflicherweise das jurisdiktionelle Moment besonder klar — wenn auch nur scheinbar einseitig — hervortritt.

Nach Maurer ist die Schlüsselgewalt keine richterliche, keine strafende Gewalt33. Er beruft sich hier auf Apol. XII, insbes. § 103 und 138.

Hier sind zunächst zwei Dinge zu unterscheiden: richterliche Gewalt ist Entscheidungsgewalt überhaupt. Strafgewalt ist eine besondere Anwendung und  Richtung richterlicher Gewalt. In Vergleich zu ziehen ist die Übernahme des Jurisdiktionsbegriffs in Apol. XXVIII. Demnach gibt es als Schlüsselgewalt eine Entscheidungsgewalt, welche ausschließt und wieder zuläßt (geistlicher Gerichtszwang), jedoch nur in Bezug auf die dort genannten öffentlichen Laster usf. Eine generelle Bestreitung des richterlichen Charakters der Schlüsselgewalt verträgt sich also nicht mit der Apologie.

In Art. XII ist jedoch speziell die Buße gemeint (von der Beichte und Genugtuung). Die präzise Begründung gibt der lateinische Text:

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quia absolutionis beneficium est seu gratia non est judicium et lex. (105)

Der deutsche Paralleltext sagt: „Denn Gott ist der Richter, der hat den Aposteln nicht das Richteramt, sondern die Gnadenexekution befohlen, diejenigen loszusprechen, so es begehren.”

Die Bestreitung des judiziellen Moments der Beichte würde zweierlei bedeuten:

1. Sofern der Beichtende Absolution begehrt, wäre kein Fall denkbar, in dem sie ihm verweigert würde. Es gäbe demnach allein einen Schlüssel des Lösens, keinen des Bindens. Das  widerspricht jedoch der Tatsache, daß auch Luther und die lutherische Theologie eine Retention, ein Behalten der Sünde kennt, in dem medizinalen Sinne, wie es Luther formuliert:
„Es dienet aber solch Binden dazu, das dem sunder seine Sunde offenbart, er vermanet werde zur furcht Gottes, und erschreckt und bewegt werde zur busse und nicht zum verderben”34.
Aber eben eine solche medizinale, aus der Einheit von Gesetz und Evangelium zu verstehende, nicht einfach alternative Retention enthält nun eben ein judizielles Moment, das Moment, welches in der Definition der Schlüsselgewalt durch Peter Meinhold35 klar zum Ausdruck kommt. Die Ablehnung des judiziellen Moments hat also nur insofern Berechtigung, als damit die alternative Gleichstellung beider Entscheidungen gemeint wäre und damit das Ziel der Gnadenbotschaft vernachlässigt würde. Die insofern berechtigte Bevorzugung der Absolution vor der Retention hat nun zu dem Fehlschluß geführt, als ob diese Seite überhaupt nicht vorhanden sei. Die Verwirrung der Begriffe wird dadurch gesteigert, daß mit dieser sachlichen Frage die ethische Qualifikation des Amtes als potestas oder ministerium verbunden wird. Die Sachlage wird vollends dadurch undurchsichtig, daß in das Bußwesen ein Moment des Strafrechts eingedrungen ist, das gleichzeitig mit Recht abgelehnt wird.

2. Auch die Absolution enthalte kein judizielles Moment. Das beruht auf einem — sowohl juristischen wie erkenntnistheoretischen — Denkfehler. Jeder konkreten Akt, auch der der absolvierenden Zuwendung enthält als Entscheidung zu diesem Akt und damit zu diesem konkreten Menschen ipso facto ein judizielles Moment, dessen andere Seite die kommunikatorische Zuwendung, der konkrete Zuspruch ist.
Auf diesem Irrtum beruht auch die Auslegung Maurers der Aussagen Apol. XXVIII über die potestas ordinis und potestas jurisdictionis36, wenn er die potestas ordinis als Wortgewalt, die potestas jurisdictionis als Schlüsselgewalt verstehen will. Im Gegenteil: in der hier gemeinten Exkommunikation werden beide potestates wirksam: es tritt dominierend hervor die potestas jurisdictionis als negatives Urteil.

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Die potestas ordinis ist darunter verborgen, weil der zu Exkommunizierende aus der Gemeinschaft und der Ordnung der Kirche ja herausgefallen und zugleich aus ihr zu entfernen ist. In der Rekonziliation wird wiederum das Urteil der potestas jurisdictionis wirksam, — die Gründe der vorgängigen Abschließung müssen ja weggefallen sein, und daß dies so ist, muß ja irgendwie beurteilt werden. Aber indem er rekonziliiert wird, wird gerade die Wortgewalt, die Gewalt der versöhnenden, zuordnenden Verkündigung der Gnade, also die potestas ordinis im höchsten Maße wirksam. Man könnte bildhaft allenfalls sagen: beide sind immer beteiligt, aber einmal liegt die eine, das andere Mal die andere oben und sichtbar zutage.

Folgt man der Maurerschen Auslegung von Apol. XXVIII, welche wahrscheinlich den Sinn des Textes wiedergibt, — freilich nicht unzweifelhaft — so ergibt sich, daß gerade damit die römische Zerreißung der beiden potestates fortgesetzt wird. Die inhaltliche Bestimmung beider je für sich ist wesentlich verändert: die Verhältnisbestimmung ist die gleiche geblieben. Da beide (wiewohl rezipierten) Begriffe mit Mißtrauen betrachtet werden en gegen sie polemisiert wird, sie aber entwicklungsgeschichtlich und systematisch nicht geprüft werden, bleibt man gerade ihrer Fehlentwicklung verhaftet. Der innere Grund liegt darin, daß der spirituale Ansatz dem neukatholischen und dem lutherischen Kirchenrecht gemeinsam ist. So wird die jurisdictio die externe und die Seite des Gesetzes, die ordinatio das Evangelium und damit das Internum.

Es können auf Grund des vorher Gesagten nun aber auch weitere juristische Zweifel und Fragen ausgeräumt werden, mit denen sich die reformatorische Kritik herumgeschlagen hat und die bei Roth deutlich sichtbar werden37.

Über die unzulässige Verschiebung der Buße in den metaphysischen und moralischen Bereich ist bereits gesprochen. In der Tat ist der einseitige Tatstrafcharakter, der den existenziellen und zugleich relationalen Charakter der Buße in Frage gestellt hat, auszuscheiden und zu überwinden. Über das Verhältnis von Sünde und Sündhaftigkeit ist bereits gesprochen.

Ein nicht zufälliges Mißverständnis ist der Angriff auf die in Apol. XXVIII übernommene „potestas ordinis”. Denn in der Wiederaufnahme beansprucht ja gerade die lutherische Lehre die Vollmacht zu ordinatorischem Handeln. Wenn Luther nichts wissen wollte von einer „potestas regiminis, iudicandi, definiendi, discernendi et statuendi”38, so sind damit höchst widerspruchsvoll unterschiedliche Dinge gemeint. Anschließend definiert Roth die potestas jurisdictionis als die Handhabung des kleinen Bannes. Wenn der Begriff der jurisdictio irgendeinen Sinn haben soll, dann muß er ja eine „potestas judicandi” sein, die eben zuvor abgelehnt (und nun auch wieder, wie wir sahen, von Maurer bestritten

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wird, weil sie mit dem Strafbegriff in eins gesetzt wird). Sofern nach CA XXVIII auch Lehre geurteilt wird, ist es eben auch Lehrjurisdiktion und insoweit auch „definire und discernere”. Das „statuere” zeit, daß hier die Unterstellung und Voraussetzung obwaltet, daß souverän Lehren und Ordnungen (ohne Schriftgrund) gesetzt werden. Die Schriftwidrigkeit liegt aber nicht im Begriff. Andererseits ist die Schlüsselgewalt vermöge ihres speziellen Charakters nicht der Grund der Bekenntnisentscheidung und Lehrentscheidung, der Bildung legitimer kirchlicher Ordnungen überhaupt. Sie liegt im Raum und als ein spezieller Fall des Bekenntnisrechts parallel zu Lehre und Ordnung der Kirche, die in ihr auch akut wird, aber sie ist nicht ihr eigentlicher Ort. Der Mangel einer geklärten Begrifflichkeit macht sich hier ebenso bemerkbar wie die Vermischung verschiedener Situationen und die Ineinanderschiebung von Grundsatz und Mißbrauch — und schließlich ein hohes Maß von Mißtrauen, das gewiß hinreichenden Grund besaß.

Auf einer anderen Ebene liegt Luthers Ablehnung der clavis errans, der clavis conditionalis und die Beschränkung auf den kleinen Bann. Indessen haben sich hier Luther und das Tridentinum in Wahrheit nicht getroffen, wenn dieses den Satz verwarf, daß nicht „propter contritionem, sed per verbum Christi” absolviert werde. Luthers Lehre war gewiß richtig und betonte die Wirksamkeit des Sakraments stärker als selbst die katholische Kirche. Aber er wollte damit gewiß nicht die Möglichkeit der Retention ausschließen, noch konnte er angesichts der beiden, unausgeglichen nebeneinander stehenden Fälle bei Paulus den großen Bann ausschließen. Dies allein ist hier kirchenrechtlich von Bedeutung.

Die handgreifliche Unklarheit über den Jurisdiktionsbegriff und das Verhältnis von Schlüsselgewalt und Kirchenregiment zeigt die Bedeutung dieses Themas für die Kirchenrechtslehre überhaupt, führt aber auch zugleich schon über das eigentliche Thema hinaus.