2. Die Geschichtlichkeit des Bekenntnisses

Die Bekenntnisbildung, auch bis zu jenem von Schlink bezeichneten Punkte ist ein geschichtlicher Akt. Das Bekenntnis wird formuliert in zeitbedingten Denkformen und an diese gebunden, in ihnen konkretisiert. Aber es will und muß in dieser Bedingtheit einen bleibenden und unverzichtbaren Inhalt ausdrücken und festhalten. Mehr noch: es gibt, wie Maurer16 sagt, eine Bekenntnisentwicklung — aber gerade wenn das Bekenntnis geistgewirkte Antwort ist, muß es als ausgeschlossen gelten, daß im Laufe der Geschichte sein Inhalt ein wesentlich anderer geworden sei oder werden könnte.17

Hat die Bekenntnisbildung von ihren neutestamentlichen Wurzeln bis zu jenem Einschnitt von etwa 381/451 bereits eine geschichtliche Erstreckung, so gibt es gegenüber den damit gegebenen Fragen, wenn ich recht sehe, drei verschiedene Haltungen:

1. Mit oder ohne Einsicht in den Strukturwandel geht auf der Basis der älteren Bekenntnisbildung die verbindliche Lehrbildung, mit oder ohne den terminus Bekenntnis weiter. Die Kirche läßt sich in das Abenteuer der Geschichtlichkeit im Fortschreiten ihrer Dogmenbildung ein. In dieser Linie liegt auch die Haltung der Reformatoren (Luthers wie Calvins), welche an den altkirchlichen Bekenntnissen einschließlich Chalcedon grundsätzlich festhalten, sie als intakt voraussetzen, lediglich die behaupteten Irrwege der nachfolgenden sekundären Lehrbildung, zwar unter Rückgriff auf die Schrift, aber nicht unter Überspringung jenes Bestandes zu berichtigen unternehmen. Es kann daher an Stelle des bisherigen als schriftwidrig (und auch bekenntniswidrig) abgewiesenen Lehre eine neue gleichen Stils entstehen, wobei die praktische Ausdehnung solcher Aussagen eine weitere, aber sekundäre Frage ist. Freilich wird dabei der Ausdehnung der Lehre auf für sich bestehende, more philosophico interpretierbare Sätze grundsätzlich widersprochen. Es tritt daher eine nicht ganz klar durchgeführte Beschränkung auf die bekenntnisfähigen Gegenstände ein (Bekenntnischarakter der Reformation).

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Oder

2. Dogma und doxologisch-liturgische Form, Liturgiefähigkeit werden in konstitutiver Verbindung gesehen. Damit wird eine geschichtliche Entwicklung nicht grundsätzlich verneint, aber auf die Wandelbarkeit der (ohnehin höchst konservativen) Liturgie begrenzt und auf dieses Gleis verschoben. Dadurch gewinnen liturgieunfähige Lehraussagen einen geringeren Grad an Verbindlichkeit, gewinnt das kirchliche Dogma einen mehr oder minder fließenden Charakter. Es gelingt jedoch nicht, diese volle Korrespondenz von Dogma und Liturgie durchzuhalten. So vertritt die Ostkirche etwa eine von der reformatorischen Erbsündenlehre abweichende Lehre vom status corruptus, welche aus den altkirchlichen Bekenntnissen und der Liturgie nicht eindeutig zu erheben ist.
Eine in diesem Raum vertretene Meinung, welche den gesamten dogmatischen Bestand bis zur effektiven Aufhebung der Kircheneinheit, etwa bis zum VII. oder VIII. ökumenischen Konzil anerkennt, ließe also unter der Voraussetzung der Wiederherstellung ökumenischer Einheit eine theoretisch und strukturell nicht begrenzte Lehrbildung offen und gehört daher sachlich als eine Variante des Kirchengeschichtsbildes unter Ziff. 1.

3. Eine dritte Haltung geht den Weg der kirchlichen Geschichte nicht vorwärts, — weder im Sinne der Fortsetzung einer intakt bewahrten Kontinuität, noch unter Korrekturen zwischeneingekommener Brüche und Abwege, — sondern geht ihn zurück. Sie hat demnach nur zwei Punkte: das Einst der Schrift und das Jetzt des Christen, der Kirche und des Theologen. Die gesamte dazwischenliegende Bekenntnis- und Lehrbildung dienst dann nur als ein höchst respektables, aber auch belastendes und letztlich unverbindliches Material.
Dieser grundsätzliche Rückgang nötigt aber dazu, hinter das apostolische und als solches schon geformte Kerygma und den damit verbundenen kultisch-liturgischen Gehalt und Vollzug auf einen zulänglich nicht objektivierbaren Hintergrund zurückzugehen. Von daher ist ein auf eine einfachste Grundformel (etwa „Christus kyrios”) reduzierte Bekenntnis noch möglich, aber nichts darüber hinaus und erst recht keine weitere verbindliche kirchliche Lehre. Bekenntnis und Lehre der Kirche können noch als Selbstentwurf der Kirche gewagt werden, aber ohne allgemeinen Gültigkeitsanspruch. Es wird jedoch nicht nur das Bekenntnis aufs äußerste reduziert, sondern es wird auch sachlich tangiert. Der Heilige Geist als Person und als personale Einheit des Handelns und Denkens der ekklesia kann nur als ein theologoumenon, als eine Selbsthypostasierung der Kirche verstanden werden. Ebenso wird die Apostolizität der Kirche in Frage gestellt. Der Weg dazu ist freilich schon durch die simultane Verwendung der Begriffe „christlich” und „apostolisch” im Bekenntnis eröffnet, welche

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auch dem Gebrauch des letzteren seine eigentliche Verbindlichkeit nimmt (weil es das apostolische Zeugnis als vollmächtiges nicht mehr quia, sondern nur noch quatenus anerkennt).
Die kirchenrechtlichen Fragen kommen bei dieser Haltung freilich nicht zum Austrag, weil alles dieses Verständnis Überschreitende als zum äußeren Kirchenwesen gehörig oder als unvermeidlicher Gegenstand der Entscheidung auch innerhalb der Kirche angesehen und ertragen wird. Die Lehre von den „zwo Kirchen” erlaubt diese Haltung.18 Es ist nach alledem verständlich, daß alle Kritik an den Aussageformen der altkirchlichen Dogmen niemals von dem Versuch begleitet ist, an ihre Stelle etwas Angemesseneres zu setzen. Es geht dieser Kritik um ganz andere Dinge, nur daß sie es nicht sagt.

Inmitten dieser Widersprüche von Doxologie, Lehrorthodoxie und (existenzialistischer wie typologischer) Selbstinterpretation muß die Kirchenrechtslehre die ihr nicht zu Unrecht aufgebürdete Aufgabe erfüllen, die Verbindlichkeit kirchlichen Handelns zu konkretisieren und zu begrenzen. Die Bekenntnisbildung zeigt in den Formen des Charismatischen (geistgewirkte Antwort des doxologischen Charakters), des Normativen (explizite dogmatische Definition) und des Dezisionistischen (aktuelle Selbstinterpretation) die gleichen Urteilsformen, welche in der Rechtsgeschichte und der Kirchenrechtsgeschichte auftreten. Die Strukturanalogie zwischen theologischem und juristischem Urteil tritt hervor. Wie sich bei analogen Fragen des Schriftgebrauchs beim Kanon ergeben wird, präjudiziert die Strukturform des Bekenntnisses nicht nur die inhaltlichen Ergebnisse, sondern vor allem auch die kirchenrechtlichen Verfassungsformen. Die letztgenannte Form gibt sich gern als charismatisch, während sie ideologische Züge zeigt. Während in Wahrheit auch das aktuale und sich aktualistisch verstehende Bekennen immer von der Tradition herkommt, durch sie geprägt ist und mit seinen Lösungen in der Formgeschichte der Lösungen unweigerlich zu stehen kommt, ist in der Tiefe das Verhältnis von historischem und aktualem Bekennen in Unordnung gekommen. Die besondere Bewertung etwa des Barmer Bekenntnisses als eines aktuellen, kann den Irrtum hervorrufen, daß das aktuelle Bekenntnis den Vorrang vor dem geschichtlichen habe. Aktuell ist immer unser Bekenntnis im Jetzt und Hier: aber unser Bekenntnis muß immer die ganze Fülle und Kontinuität der geschichtlich-trinitarischen Offenbarung aussprechen. Ohne das im eminenten Sinne historische Bekenntnis ist auch das aktuale nicht möglich oder wird es der Willkür verfallen. Das aktuale Bekenntnis kann nicht das historisch, das historische nicht das aktuale ersetzen.

Diese dialektische Zuordnung von historischem und aktualem Bekenntnis wird deswegen vielleicht gern aufgenommen werden, weil sie einleuchtet, ohne — scheinbar — zu etwas zu verpflichten. Die einen werden fortfahren, alles aus dem Bekenntnisbestande zu deduzieren, und

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die anderen werden weiterhin — unter Beteuerung ihrer Achtung vor dem Bekenntnis — sich in ihren längst gefallenen Vorentscheidungen nicht beirren lassen. Die gesuchte übergreifende Verbindung von Kontinuität und Aktualität kann nicht in einem von ihnen beiden oder im bloßen Problem des usus gefunden werden.

Bekenntnis wird bei uns in zweierlei Weise aufgefaßt: entweder wird es als ein in besonderer geschichtlicher Lage gegebenes Wort verstanden, so daß die Kirche ohne den Kairos einer solchen Lage in diesem Stil und Rang nicht bekennen könne. Oder aber das Bekenntnis wird als jeweilige aktuale Entscheidung verstanden. Bei alledem fällt die jederzeit kontinuierlich und aktual sich vollziehende Bekenntnisfunktion der Kirche und damit die Identität des einen Geistes und die Einheit der Kirche zu Boden. Sie zerfällt in besondere kirchengeschichtliche Ereignisse und die Jeweiligkeit vieler einzelner Situationsentscheidungen. Das bedeutet praktisch, daß hundert Synoden Entscheidungen treffen, deren Lebensdauer und Gewicht höchst fraglich ist. Sie entbehren der wirklichen, scheidenden und bindenden Verantwortlichkeit. In Wahrheit geht niemand an wirkliche Fragen heran, wie es die alte Kirche unausgesetzt in mutigem Gehorsam getan hat. Wir haben Bekenntnisse, die in der Theorie reformabel sind wie die Kirche, aber praktisch irreformabel, weil niemand befugt, ja auch gar nicht ernstlich gewillt ist, sie weiterzubilden, ja auch nur verbindlich zu interpretieren. Daher der Traditionalismus und die Überforderung der historischen Bekenntnisschriften, die man entgegen dem Anspruch ihrer Verfasser so behandelt, als enthielten sie alles Wesentliche für ewige Zeiten. Oder aber, die unverbindliche Jeweiligkeit des Bekennens wird zur theologischen Willkür. Zwischen Traditionalismus und Aktualismus klafft eine Lücke, und in ihr verschwindet das bekenntnismäßige Merkmal der Allgemeinheit der Kirche. Wir haben bekenntnisgebundene und bekennende Kirche zu unterscheiden. Bekennende Kirche kann nur diejenige sein, die mit dem Anspruch der Verbindlichkeit imstande ist, trennend und verbindend zu entscheiden. Der Bekenntnischarakter der Kirche erfordert eine bekenntnisfähige kirchliche Ordnung. Geistlich entscheidungsfähig zu sein, gehört zu den Merkmalen der Kirche, aber eben nicht nur für jede Gemeinde, sondern auch für die Gesamtkirche bis an die Grenzen der kirchentrennenden Merkmale. Das Bekenntnis fordert nicht nur eine Ordnung, sondern setzt zugleich eine solche voraus. Ordnung heißt hier eine anerkannte Form, in der mit bindender und scheidender Wirkung die historische Bekenntnisbildung sich als aktuelle fortsetzen kann.

Die Verbindung von Kontinuität und Aktualität liegt also in dem kontinuierlichen Vorgang der geordneten Bekenntnisbildung, der durch die Bindung an das historische Bekenntnis ebensowenig ersetzt wird, wie durch das zusammenhanglose aktuale Bekennen. Dies ist vielmehr eine ständige verantwortliche Aufgabe der Kirche, von der sich gerade

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die Kirche des Bekenntnisses und der Lehr sehr bald dispensiert hat. Die bloße Kontinuität (vollends der auf goldene Zeitalter blickende Historismus) wie die bloße Aktualität sind im strenge Sinne ungeschichtlich.