Exkurs zum Vaterproblem in der Kirche

Karl Barth hat frühzeitig in der Kirchlichen Dogmatik49 zur Frage der Kirchenväter vor der Reformation und in ihr Stellung genommen. Er hebt sehr plastisch die grundlegende und bewährte Autorität Luthers und Calvins für die reformatorischen Kirchen hervor, von der diese sich auch in den gegensätzlichsten und abweichendsten Richtungen nicht

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haben freimachen können und dürfen. Er rechnet durchaus mit Vätern der Kirche als älteren und erfahrenen Mitschülern, welche wohl zu unterscheiden sind von kirchlichen Schriftstellern, die etwas Wesentliches zu sagen haben, aber nun doch jene eigentümlich persönliche Stellung und Autorität nicht erlangen. „Es gibt Kirchenväter und es gibt eine bestimmte Autorität dieser Kirchenväter” (674). Diese Autorität schließt Kritik ihnen gegenüber nicht aus, sondern ein (691). Gewiß ist das Auftreten solcher Lehrer ein besonderes Ereignis und Geschenk, das nicht einfach sozusagen zur regelmäßigen Ausstattung der Kirche gerechnet werden kann. Wir dürften uns nicht scheuen, unsere Armut an solchen Vätern zu bekennen, und hätten niemand deswegen anzuklagen. Aber hier geht es um eine ganz andere Tatsache: daß nämlich jene reformatorischen Väter in einer doch wohl nicht zufälligen Weise die ersten, aber auch zugleich die letzten gewesen sind, denen niemand vergleichbar gefolgt ist. Es geht darum, daß eben mit ihnen und nicht ohne sie, sondern vielmehr gerade durch sie ein Element der Väterlichkeit in der Kirche selbst zuendegekommen ist, daß wir selbst nicht mehr mit ihm rechnen, es erbitten, und eben darum die Autorität dieser zugleich ersten und letzten Väter so eigentümlich zu überfordern veranlaßt sind, sobald wir uns sehr zu Recht nicht auf unser praesentes Verstehen allein stellen wollen. Mit keinem Hauch gleichen diese großen Reformatoren eigensüchtigen Erfindern, die die Ergebnisse ihrer Forschung selbst nutzen, aber dann ins Grab nehmen. Ebensowenig haben sie selbst ihrer eigenen Person eine irgendwie ungebührliche und ausschließende Bedeutung beigemessen. Dennoch steht in der Tiefe und in der Konsequenz, nicht erst vermöge unseres Mißbrauches und Mißverständnisses ihr Werk und Anspruch der Reformation der Kirche — durchaus entgegen ihrer Meinung und Absicht selbst — sowohl der Väterlichkeit in der Kirche als auch der Entstehung neuer Väter der ecclesia perpetua reformanda entgegen. Deshalb schwanken wir zwischen einem fatalen, kritiklosen Traditionalismus, der die offenkundigsten Mängel, die jedes Menschen Werk anhaften, in geradezu jesuitischer Weise immer noch als probable, als mögliche und niemals endgültig zu verlassende Alternativen ansieht, und einer willkürlichen aktualistischen Freistellung von legitimer Autorität und Tradition. Wir haben unsere Mündigkeit im Sinne der Emanzipation verstanden, als ob man jemals aufhörte, der Sohn seines Vaters zu sein.

Das alles wäre ein schlimmer Mangel wie andere auch, wenn es nicht um die Offenheit und Zukunft der Kirche ginge, die gerade anderes und mehr ist als unsere sogenannte Offenheit, die nicht mehr das Ganze über Zeit und Raum hin sieht. Nun kann freilich niemand die Zukunft der Kirche versperren — und doch: haben wir in dem eigentümlich doppelschichtigen und zweideutigen Geschehen der Kirche uns nicht selbst den Blick versperrt? Was führt denn aus dem ewigen und ewig

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unfruchtbaren Zirkel von Tradition und Aktualismus heraus, dieser sublimen theologischen incurvatio in se ipsum, ebenso spiritualistisch wie die Massivität des Infallibilitätsdogmas?! Habe jene großen Vater gesegneten Andenkens das Charisma der Entscheidung für ihre Söhne ein für allemal aufgebraucht oder ist dieses Charisma der Kirche unverlierbar gegeben und unter uns neu zu erwecken? Der bescheidenste ruhige und gewisse Mut, der verbindlich zu sagen wagte, was sie zu sagen nicht veranlaßt waren und versäumt haben, oder was bei ihnen in ihrer Lage zu kurz gekommen und schief geworden ist, würde uns wenigstens in einem ersten Anfang aus diesem Dilemma herausführen.50

Aber da es nun eben doch nicht um den Menschen geht, sondern um das Evangelium: het uns nicht Luther aus der Tiefe, wo Wurzel und Hintergrund (mit Barth zu reden) schwer zu scheiden sind, eine eigentümliche Hemmung und Verzerrung in Bezug auf alles mitgegeben, was Recht heißt, so daß fast in jeder Arbeit lutherischer Theologie von daher schwer erträgliche juristische Einseitigkeiten und Vorurteile entgegentreten, dazu ein weitverbreiteter und unbehebbarer Affekt und Komplex in dieser Richtung? Es sind diese Dinge oft mit großer Vereinfachung und Verständnislosigkeit bisher hauptsächlich auf dem Felde der Sozialethik kritisiert und erörtert worden. Das schien noch nicht sehr bedrohlich. Aber mit der oekumenischen Bewegung und entschiedener Bemühung um Ekklesiologie und Kirchenrecht werden diese Dinge doch in ihrer zentralen Bedeutung sichtbar und haben zu so scharfen Fragestellungen von Kennern wie Ernst Wolf und Johannes Heckel geführt, die eingangs zitiert wurden. Haben hier die Söhne dieses Vaters alle miteinander einen Erbschaden davongetragen? Denn ohne eine traditionelle Vorprägung ist das immer neu Entstehen dieser oft geradezu gegenstandslosen Vorstellungen nicht zu erklären. Sind wir auf dem Punkte, wo wir, wie Barth die Prädestinationslehre Calvins, die Rechtslehre Luthers in aller Ehrerbietung einfach richtigstellen müssen?

Zum Vaterproblem in der Gegenwart ist in neuerer Zeit vielfach gearbeitet worden.51

So behandelt Adolf Köberle „Vatergott, Väterlichkeit und Vaterkomplex im christlichen Glauben” 52 mit wesentlichen Hinweisen auf Kleppers Vaterbuch, aber auch auf die Bedeutung des Vaterproblems für die Entwicklung Kierkegaards, ohne die Fragen der Kirche zu berühren.

Müller-Schwefe geht diese direkt an, wenn er sagt:

„Die schiefe Ebene wurde vom Papsttum betreten. Nicht daß die Gemeinde Christi in ihrer Gesamtheit von einem Hirten im Auftrage Christi geweidet wurde, ist der Anfang des Abfalls, sondern, daß dieses Amt sich überhob. Als er auf die Anfrage des Sohnes Luther

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nicht Buße tat, sondern das Amt als unantastbar hinsetzte, da stürzte das geistliche Vatertum der Christenheit in den Abgrund: Luther übertrieb nicht, als er den Papst den Antichrist nannte. Doch weil Luther von dem falschen Vater verstoßen wurde, wagte er nicht, selbst geistliche Vatertum aufzurichten. Wohl war er erfüllt vom Amt, der Welt den Herrn zu bezeugen. Aber er ließ den Sitz des Vaters in der evangelischen Kirche gewissermaßen unbesetzt. Und weil er hier eine Lücke ließ, stärkte er das weltliche Vateramt, das Amt der Obrigkeit über Gebühr. So war mit diesem ersten Schritt die Entwicklung angebahnt: Die Gemeinde der Christenheit löste sich in Hausgemeinden und Ortsgemeinden und Landeskirchen auf. Die Auflösung der weltlichen Ordnungen folgte. Wir sehen also eine doppelte Verfälschung am Vateramt in der Gemeinde Christi. Die katholische Verfälschung ist, daß der Vater der Christenheit unfehlbar ist und damit Gott den Vater beleidigt, so daß folgerichtig die Kinder nicht zur rechten Mündigkeit geführt werden. Der evangelische Fehler liegt umgekehrt: das Amt des Vaters der Gemeinde löst sich auf: jeder ist unmittelbar zu Gott: die Gemeinde besteht nur aus einzelnen, aus Söhnen und Töchtern. Es gibt dann keine geistliche Vaterschaft mehr, sondern nur noch die Entscheidung des einzelnen, die ihn zur modernen Werkgerechtigkeit verführt: er muß sein Christsein realisieren, so wie der Existenzialist sein Sein vollzieht (Sartre). Nichts mehr ist davon übrig, daß der Christ ein Haupt hat; das ihn leitet, einen Vater, der Raum zum Leben schafft.”

In der römischen Kirche gibt es vergleichbare Erscheinungen. Die verfaßte Kirche übersteigert das patriarchale Element zum papalen, ohne den christologischen Ausgleich der Brüderlichkeit.

Aber es entsteht im Luthertum im Gegenschlag gegen die römische Kiriche mehr als eine eines Elementes ermangelnde Größe. Es entsteht gewissermaßen eine negativ verfaßte Kirche der einseitigen und extremen patriarchalen Linie gegenüber. Das ministerium ecclesiasticum kann theologisch nicht geklärt werden, weil in ihm die Tendenz zum Funktionalen überwiegt und das personale Moment keinen legitimen Platz finden kann. Die geschichtliche Dialektik von Selbstbehauptung und Selbstentäußerung tritt in der bewußten, extremen Machtübung der römischen Kirche und der lutherischen Entäußerung von geschichtlicher Eigenexistenz, durch die Preisgabe eigenständigen Kirchenregiments, seinem grundsätzlich sekundären oder gar nur äußerlichen Charakter radikal auseinander. Auch die noch so offenkundigen theologischen, kirchenrechtlichen und soziologischen Fragen, die mit der Existenz eines geistlichen Amtes und konkreter lebenslanger Träger gegeben sind, treten zurück und werden beiseitegedrängt. Sekundäre Einflüsse, wie etwa ein gewisser traditioneller Nominalismus erklären das nicht zureichend.

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Der Schwerpunkt liegt nach wie vor in dem leeren Raum einer mehr oder minder folgerichtig durchgehaltenen Subjektlosigkeit der Kirche mit zahlreichen, aus diesem Punkte zu erklärenden, in der Sache selbst höchst unterschiedlichen Folgen. Eine kritische Distanz zu den eigenen Lebensformen kann man freilich von einer Kirchengemeinschaft und Theologie nicht erwarten. Nur die unter diesen Formen Leidenden gewinnen sie ungewollt.

Am Vaterproblem zeigt sich eine grundlegende Wandlung des ganzen Weltbildes und Lebensgefühls. In den bischöflichen Kirchen (nicht nur der römischen) wird der Bischof als Vater der ekklesia betrachtet und bleibt deshalb — von der Ausnahme der resignatio, des Amtsverzichtes abgesehen, bis zum Tode im Amt. Soweit er durch das Alter behindert ist, erhält er einen Koadjutor und wird sonst entlastet. Nicht im gleichen Maße wird der Gedanke beim Pfarrer durchgehalten, der zwar häufig auch lebenslang bleibt, dessen Zurruhesetzung aber eher vorkommt. Es zeigt sich hier, daß beim Bischofsamt, das als Vollamt verstanden wird, die sog. relative (bereichsgebundene) Ordination auch in der römischen Kirche zwar nicht vollständig, aber doch wenigstens zum Teil bewahrt worden ist, wie Mörsdorf mit Recht bemerkt.53

In den protestantischen Kirche ist jedoch der Gedanke der Vaterschaft so sehr zurückgetreten und geschwunden, daß bei allen Ämtern die Zurruhesetzung wegen Alters ganz selbstverständlich ist. Entweder sind feste Altersgrenzen gesetzt oder ähnliche Regelungen getroffen: so muß der Bischof der lutherischen Kirche in Bayern zurücktreten, wenn ein in der Verfassung vorgesehener Dreierrat ihm die verbindliche Weisung erteilt. Mit dieser Übung ist der Vatergedanke aufgegeben: denn Vater ist und bleibt man in der Familie, auch wenn man den Beruf aufgegeben und das Hauswesen dem Sohne übergeben hat. Das Seinsverhältnis Vater-Söhne ist in die Funktion verwandelt. Dabei ist der Funktionsgedanke, wenn er sich auch so ausgibt, nicht neutral: er zielt auf die aktuelle Tauglichkeit, nicht auf die Reife und das Vorangegangensein, die Erfahrung.

Der lutherische Reformation ist der Gedanke der Vaterschaft in der Kirche keineswegs fremd, wie jene Worte Luthers und die Struktur der traditionsreichen lutherischen Kirche in Siebenbürgen zeigen. Aber stark kann dieses Element eben nicht gewesen sein, da es spätestens mit der altprotestantischen Orthodoxie verschwunden und auch mit der Lutherrenaissance nicht wieder hervorgetreten ist. Die Frage wird mit den dogmatischen Problemen des Ordinationsrechts noch nicht erfaßt — aber das Bewußtsein für das Ausmaß des hier vollzogenen Wandels fehlt ebenfalls.

Ist der stillschweigende Übergang vom (personalen) Vatergedanken zur (transpersonalen) Funktion schon schwerwiegend genug, um unsere Aufmerksamkeit zu wecken, so besteht noch ein spezielles

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Mißverständnis zur lutherischen Soziallehre. Diese gründet die Autorität in allen Lebensbereichen auf das vierte Gebot und das von der Vaterschaft her verstandene und geordnete matrimonium. So auch heute E. Kinder54 und W. Maurer55 als Vertreter einer bekenntnisgebundenen lutherischen Theologie.

Grundsätzlich wird der Gedanke für weltliches und geistliches Regiment untrennbar verbunden.56 Aber praktisch, d.h. in der großen geschichtlichen Wirkung lutherischer Lehre und Kirchenbildung war der geistliche Vatergedanke fast wirkungslos, während er im weltlichen Bereich durch vier Jahrhunderte hindurch eine oft beschriebene, ganz außerordentlich starke Entfaltung bis in den grundsätzlichen Patriarchalismus der lutherisch-konservativen Sozialreformer des 19. Jahrhunderts hinein gefunden hat. Das evidente Mißverhältnis der Entwicklung in beiden Linien ist nicht zu verkennen. Während nun im Raum der Kirche der mehr theoretische, fast akademisch wirkende Vatergedanke sich verliert, steht ihm im Gedanken der Gemeine (Gemeinde) zwar nicht ein Genossenschaftsprinzip, aber doch ein genossenschaftliches Element zur Seite, dessen Verhältnis zum Amt und seiner Autorität freilich nicht auf eine schlüssige Form gebracht ist. Im Bereich des extrem ausgebildeten Vatergedankens im weltlichen Regiment dagegen fehlt jede Anknüpfung und theologische Verständnismöglichkeit für genossenschaftliche Elemente. Diese sind immer im Verdacht falscher menschlicher Selbstmächtigkeit. Da aber Vaterschaft kein soziales Formprinzip, sondern ein konkret-historisches Verhältnis ist, läßt sich ein revolutionär abgebrochenes Verhältnis lediglich durch Festhaltung des Grundsatzes nicht bewahren. Der konkret-historische Anknüpfungspunkt war jedoch im weltlichen Bereich nicht verloren. So verlagerte sich alles nach dieser Seite. Die mächtige, durch den aufsteigenden Fürstenstaat bis zum barocken Extrem begünstigte Überbildung macht den Eindruck einer Überkompensation der im geistlichen Bereich verlorenen Vaterschaft in die weltliche. Und wie der extreme Patriarchalismus der römische Kirche sich so schwer tut, genossenschaftliche Mitrechte anzuerkennen und einzubeziehen, so hat das romantische Luthertum noch des 19. Jahrhunderts im wesentlicher Verkennung des repräsentativen Charakters des Königtums57 bis zum Sturz der Monarchie gemeint, der göttlichen Weltordnung etwas abzubrechen, wenn der König auf konkrete Regierungsrechte verzichte. Dies war noch nach 1918 jedenfalls die Überzeugung der Väter der heute lebenden älteren lutherischen Pfarrergeneration in Deutschland. Dies ist jedoch nicht, wie meist angenommen, eine Frage der theologischen Sozialethik als solcher, sondern gehört in seiner Wurzel in die Geschichte und Lehre des Kirchenrechts.

Aber selbst die patres des römischen Senats sind eben „patres conscripti” — versammelte Väter, die durch ein in ihrer Eigenschaft als

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patres familias nicht enthaltenes Moment versammelt, gebündigt sind. Sowenig jene Begründung aller Autorität aus dem 4. Gebot als Prinzip sozialer Genese verstanden werden will, so sehr gerät trotzdem dieser Gedanke in ein schwieriges Verhältnis zu der Mehrschichtigkeit sozialer Bildungen, in denen patriarchale, bündische und unterschwellig auch matriarchale Momente sich verbinden.

So tritt die paradoxe Lage ein, daß die lutherische Sozialethik Einseitigkeiten entwickelt, die denjenigen des römischen Kirchenrechts vergleichbar, und von diesen gerade durch die Opposition nicht unabhängig sind.

Der nicht weniger autoritative Calvinismus dagegen setzt neu ein, indem er diese Autorität streng aristokratisch-presbyterial verfaßt. Er ist autoritativ, aber eben nicht patriarchal. Der Vater ist immer ein unverwechselbarer einzelner — und das stärkste Motiv ist hier gerade der Ausschluß dieser unvertretbaren Autorität des einzelnen — und damit auch des Vatergedankens. Für das Geschehen in der Kirche hat der I. Glaubensartikel keine aufweisbare Bedeutung mehr — erkennbar ist nur die exklusiv bruderschaftlich auszulegende lex Christi. Die Christologie hebt in der Lehre von der Kirche die Trinitätslehre formell nicht auf, macht sie aber praktisch gegenstandslos. Die meist nicht beachtete Folge ist, daß es dann auch keine von der Christologie abhebbare Pneumatologie geben kann.