1. Die Eröffnung des Gottesdienstes

Die der Kirche anbefohlenen, ihr anvertrauten Handlungen, Taufe, Absolution, Predigt und Feier des Abendmahls stehen im Dienste Gottes, sind aber in verschiedener Weise, im engeren und weiteren Sinne gottesdienstliche. Taufe, Konfirmation, öffentliche Rekonziliation sind gottesdienstliche Handlungen, aber schon wegen ihrer begrifflichen Einmaligkeit oder Jeweiligkeit nicht mit dem regelmäßigen Gottesdienst der Gemeinde verbunden. Die Privatabsolution liegt völlig außerhalb dieses Geschehens und hat darin auch ihre besondere Problematik. Der regelmäßige Gottesdienst konzentriert sich daher auf Anbetung, Verkündigung und Feier des Abendmahls. Die am besten begründete Hypothese über den ursprünglichen Gottesdienst der paulinischen Gemeinden ist die, daß dieser seinen Höhepunkt in der Abendmahlsfeier hatte und daß in seinem Rahmen auch Unterricht und Predigt stattgefunden haben. Eine Unterscheidung und Scheidung zwischen einem gewöhnlichen, regelmäßigen Wortgottesdienst und einem gelegentlichen besonders gefeierten Sakramentsgottesdienst ist der Urkirche jedenfalls ganz fremd und eine willkürliche Rückwärtsprojektion modern-protestantischer Gewohnheiten. Auch die Stelle Acta 2, 42 deutet auf diese ursprüngliche Einheit des Gottesdienstes. Die Frage der Einheit des Gottesdienstes mit ihren großen verfassungsgeschichtlichen Konsequenzen wird nach Erläuterung aller Einzelhandlungen im nächsten Kapitel erörtert. Trotzdem muß von vornherein berücksichtigt werden, daß regelmäßig Predigt und Abendmahl in einem weiter entfalteten liturgischen Zusammenhang stehen, der als solcher ebenso wie die einzelnen Handlungen rechtliche Bedeutung besitzt. Daß es sich um eine historische Form handelt, die nicht zwingend sich aus der Stiftung ergibt, bedeutet nicht, daß wir ihren Bedeutungsgehalt vernachlässigen können.

Gemeinsam ist allen gottesdienstlichen Handlungen im engeren und weiteren Sinne ein unabdingbarer Öffentlichkeitscharakter. Freilich hat die frühe Kirche eine strikte Trennung des Lehr- und Verkündigungsgottesdienstes vom Abendmahlsgottesdienst durchgeführt (missa katechumenorum im Gegensatz zur missa fidelium). Diese Scheidung wurde erst mit der Annahme des Christentums als Volks- und Staatsreligion hinfällig, auf Grund deren damit gerechnet werden mußte, daß mit Ausnahme geduldeter Minderheiten jedermann ein getaufter Christ sei. Eine schlechthinnige Öffentlichkeit gehört nicht zum Begriff des christlichen Gottesdienstes. So wenig die Verkündigung wegen ihres

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missionarischen Elementes zum internem gemacht werden kann, so wenig liegt es schlechthin im Begriff des christlichen Gottesdienstes allgemein, und speziell im Wesen des Heiligen Mahles, die Feier auch dem sichtbar und zugänglich zu machen, der daran nicht aktiv teilnehmen kann. Das öffentliche Angebot der Gnadenverkündigung bedingt nicht die Öffentlichkeit der sakramentale Vergemeinschaftung. Jedoch bedingt die sanctorum communio als gemeinsame Teilhabe am Heiligen ebenso strikt, daß eine Abendmahlsfeier niemals exklusiv auf den veranstaltenden Kreis beschränkt werden kann. Wer überhaupt als Glied der Kirche anzuerkennen ist, muß auch zugelassen und vorbehaltlos hineingenommen werden. Das Abendmahl kann nicht zum Sondergut des jeweils feiernden Kreises gemacht werden. Wohl aber handelt die Kirche recht,  wenn sie den Ungetauften die Teilnahme verweigert.

Dies vorausgesetzt fragt sich, wie sich der christliche Gottesdienst als solcher konstituiert und ausweist. Schon frühzeitig hat sich dieser Frage entsprechend ein Vorgottesdienst ausgebildet, und zwar in zwei Richtungen. Einmal bereiten sich die aktiv Handelnden in einem besonderen Gebetsgottesdienst, Rüstgottesdienst auf ihr Tun vor. Dieser hat internen Charakter.

Andererseits bildet sich eine Einleitung zum öffentlichen Gottesdienst selbst heraus. Ernst Lohmeyer hat gezeigt, daß die Anfangsgrußworte der paulinischen Briefe „Gnade sei mit Euch” wahrscheinlich eine liturgische Formel waren, mit der vermutlich die Mahlversammlung der Christen eingeleitet worden ist. Solche Grußformen finden dann eine sachgemäße Fortbildung.

J.A. Jungmann1 zitiert einen Bericht des hl. Augustin aus einem besonderen Anlaß, daß er das Volk begrüßt und dann mit den Schriftlesungen begonnen habe. Hier interessiert besonders die Begrüßung. Daß dabei nicht eine private, persönliche Begrüßung gemeint ist, liegt auf der Hand. Man darf annehmen, daß es sich kaum um etwas anderes gehandelt haben kann, als um die noch heute geübte (wechselseitige) Salutatio „Der Herr sei mit euch — und mit deinem Geiste”. Dieser höchst einfache Vorgang ist von vielseitiger Bedeutsamkeit.

1. Diese Nennung des Namens Gottes hat sowohl optativen, wie anamnetischen, wie epikletischen Charakter. Die entsprechenden Stellen Matth. 18, 20 und 28, 19 sprechen von Versammlung und Taufe „eis to onoma”, auf den Namen hin, in ihn hinein. Es soll auf die Zusage Gottes hin geschehen, der hier angerufen wird — und es geschieht auch daraufhin. „Der Name Gottes gehört zu seiner den Menschen zugewendeten Seite, der Offenbarungsseite und rückt in dieser Sicht ... mit doxa zusammen”.2 Der Name steht für die Person. Der sehr viel spätere Eingangsspruch „Im Namen...” enthält nicht mehr alle Elemente einer solchen Anrufung, oder wenigstens nicht mehr sehr deutlich.

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2. Der Liturg legitimiert alles folgende Handeln und sich selbst durch diese Berufung.
3. Er schließt dieses ganze Handeln, die ihn hörende und mitwirkende Gemeinde unter diesen Herrschaftsanspruch ein.
4. Die Gemeinde bekennt sich in ihrer Antwort dazu und unterstellt sich dieser Herrschaftsordnung.
5. In der wechselseitigen Salutatio vollziehen beide, Liturg und Gemeinde, eine epikletische Anrufung des Geistes.

Auch weltliche Versammlungen werden mit einer Feststellung ihrer Rechtsgrundlage eröffnet — aus dem einfachen kategorialen Grunde, daß alles Rechtshandeln einer legitimierenden Rechtfertigung, eines Rechtsgrundes bedarf. Es wäre ja auch für die Gemeinde sehr viel, wenn dieses so angekündigte Geschehen sich als von Gott legitimiert auswiese. Das Eigentümliche der christlichen synagogé aber wird dadurch noch nicht ausgedrückt: es ist ihr Charakter als praesentische Eschatologie, oder von Verbindung von Praesenz und Eschatologie.

Das Handeln der Gemeinde ist hier auch im Zusammenhang mit der Rechtsform der Akklamation zu sehen.3 Akklamationen sind nach Peterson „die Rufe einer großen Menge, die sich bei den verschiedensten Gelegenheiten äußern können. Bei dem Erscheinen des Kaisers, oder eines hohen Beamten, um sie zu feiern, aber auch in Versammlungen oder Ansammlungen, ... wenn es galt Beschlüsse zu fassen oder bestimmte Forderungen durchzusetzen. Diese Rufe wurden keineswegs als etwas Gleichgültiges angesehen, sondern hatten unter Umständen rechtliche Bedeutung, weswegen man sie nicht selten aufzeichnete.” 4

Akklamationen sind auch aus dem kirchlichen Bereich überliefert, in der Liturgie wie im Kirchenrecht (Konzilien). Sie „wurden auf eine Inspiration des Volkes zurückgeführt und besaßen kirchenrechtliche Bedeutung”.5 „Die vom Heiligen Geist getriebene Gemeinde nimmt in der Akklamation respondierend auf, was bei der Huldigung der Mächte im himmlischen Thronsaal geschieht. Sie ist also in das eschatologische Geschehen hineingerissen und Zeugnis der Inthronisation” (Käsemann).

Die Akklamation hat den Charakter geistgewirkter Entscheidung für Christus und damit auch gegen die Welt und ihre Gegenkräfte. Das unterscheidet den Vorgang von jeder Form der Selbstversammlung. die Gemeinde versammelt sich nicht selbst, sondern sie läßt sich versammeln und berufen. Aber wiederum gehorcht sie nicht nur einem geistlichen Gestellungsbefehl, dessen Grundlage eben unbestritten ist und deshalb von niemand in Frage gestellt wird. Vielmehr begegnet wiederum hier der Geist dem Geist, der akklamierende dem berufenden. Die Freiheit der Autorität begegnet der Freiheit des Gehorsams, der sich selbst verdammen würde, wenn er nicht gehorsam wäre. Die Existenz der Gemeinde liegt in diesem Gehorsam, in welchem sich die Präsenz des Geistes in ihr erweist. Dadurch heben sich die Verkündigung im Sinne

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der Gegenwärtigsetzung und Akklamation als Bekenntnis von aller innerweltlicher Heteronomie und Autonomie ab — und eben in ihnen beiden und in ihrem Zusammentreffen vollzieht sich ein Rechtsvorgang, bildet sich Recht. Die Präzenz des Herrn in der liturgischen Verkündigung provoziert die Präsenz des Geistes in der Gemeinde. Selbst für die hochzivilisierte Spätantike war dieser Begegnungsvorgang noch unmittelbar verständlich, der für uns durch funktionale und intellektuelle Vorstellungen verdeckt ist. Er ist aber mehr als eine zufällig-historische Bildung. Solange die Kirche mit der Präsenz des Herrn und des Geistes in ihr rechnet, wird sie grundsätzlich auch diesen Vorgang vollziehen, verstehen und deutlich machen müssen.

Indem so der christliche Gottesdienst konstituiert und legitimiert wird, setzt er gleichzeitig voraus, daß die sich in actu versammelnde Gemeinde schon Gemeinde ist. Denn wenn sie es nicht wäre, könnte sie gar nicht so angeredet werden. Die Gemeinde kommt immer schon von der ihr früher verkündigten, über sie proklamierten und von ihr angenommenen Herrschaft Christi her. Eine Missionsrede wie die des Apostels Paulus in Athen oder eine vergleichbare kann nicht ebenso eingeleitet werden wie ein christlicher Gottesdienst. Der Gottesdienst auch unter Einschluß eines missionarischen Elementes setzt voraus, daß in ihm schon Gläubige sind. Der Gottesdienst steht nicht nur in der Tradition und Sukzession apostolischer Verkündigung, sondern auch in einer Gemeindesukzession. Diese Gemeindesukzession wird dort aufgehoben oder bis zur Unkenntlichkeit reduziert, wo ein priesterliches Handeln behauptet wird, welches des Mitbetens, des Hörens, Empfangens der Gemeinde grundsätzlich nicht bedarf. In dieser Richtung liegt trotz gegenteiliger Bestrebungen und Auslegungen die Tendenz der römisch-katholischen Opfermesse und Privatmesse, die gefeiert werden können, ohne daß die Gemeinde anwesend ist oder, wenn anwesend, das Heilige Mahl empfängt. Wenn die Gemeinde nicht notwendig ist, wenn sie auf einen Meßjungen beschränkt werden kann (wie umgekehrt die successio des Amtes entleert wird), so stehen die Salutationen leer in diesem Handeln. Eine solche Auffassung ist der alten und griechischen Kirche fremd: sie hat kein Recht, weil sie kein Recht bildet, statuiert und zuspricht. Man kann sagen, daß ohne einen solchen der salutatio entsprechenden Akt der christliche Gottesdienst als solcher nicht gut denkbar ist.

Wenn man nun für die tägliche Pflichtmesse des Priesters, welche sich ohne die Gemeinde vollzieht, die Salutationen wegläßt, so ist damit gewiß nicht geholfen!

Die älteste Vormesse begann ihrem sachlichen Handlungsinhalt nach mit den Lesungen. Diesen ging freilich die schon erörterte Salutatio voraus, welche Jungmann in diesem Zusammenhang anführt.6

Die Lesungen wurden mit Gebet abgeschlossen. Dabei ist zu beachten,

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daß ursprünglich weitgehend der Brauch bestand, die Vormesse an einem anderen Ort zu halten und dann erst in Prozession zur Kirche des eigentlichen Gottesdienstes zu gehen. Vor dieser Vormesse werden dann aber noch in vielen Schichten und formen ein oder mehrere Vorhöfe gebaut und ein förmlicher Einzugsritus gebildet, wobei später der Klerus in die Kirche einzieht, in welcher die Gemeinde schon wartet. „Dieser Einzug … soll sofort als ein Gang zum Gebet, als ein Hintreten vor Gottes Majestät, gekennzeichnet sein, eben in der Weise, daß die versammelte Gemeinde den Gebetsruf erhebt und der sie leitende Priester ihn aufnimmt und zum Abschluß bringt.” 7

Erhält mit dem gesamten Introitus die Gemeinde ihre Rechtsgrundlage als gottesdienstliche versammelte und ihre Struktur als congregatio, so ist liturgierechtlich von hoher Bedeutung auch die in der alten Kirche noch ausdrücklich geübte Entlassung der Katechumenen. In der Volkskirche ist diese Ausweisung naturgemäß verschwunden und nur noch im Fortgehen der Konfirmanden vor dem Abendmahl sichtbar. Die Abtrennung der Gemeinde von der Welt wird hier ausdrücklich als Abgrenzung vollzogen. Die Abgrenzung kann in der Sache nicht fehlen. Das jurisdiktionelle „ti kolyei” der Selbstprüfung und der Zulassungsprüfung durch den Handelnden ist auch in dem „non sum dignus” und der Aufforderung zur Vergebung „keiner sei wider den anderen” als Warnung vor unbereiteten Empfang deutlich enthalten.8

Außer Wilhelm Maurer (Bekenntnis und Sakrament) haben auch Ernst Käsemann und Günther Bornkamm in den paulinischen Abendmahlstexten nicht nur vereinzelte Spuren, sondern eine Fülle „juridischer oder rechtsverwandter Begriffe und Wendungen” entdeckt, die auf alle Fälle den prinzipiell antijuristischen Auslegungen des biblischen Kerygma entgegenstehen.9

Im Vordergrund  der Deutung der hauptsächlich behandelten Stellen I. Kor. 11 und 16 steht der Entscheidungscharakter, der Gegensatz von Anathema und Maranatha, das Ereignis, das die Gemeinde „in die Gegenwart des Erhöhten und seit seinem Tod Herrschenden” „in die Konfrontation mit dem Weltenrichter” stellt. Daher die Unverbrüchlichkeit der Anweisungen, der „dekretale Jussiv” (!), die Gerichtsdrohung und der Aufruf zur Selbstprüfung. Wie die kerygmatische Theologie schlechthin alles, in scharfer Überbelichtung auf Verkündigung und Gehör interpretiert, so die existenzialistische Theologie alles auf Entscheidung. Das Vorverständnis tritt handgreiflich hervor. Und während bestimmte Züge oft mit wunderbarer und überzeugender Schärfe hervortreten, bleibt jede andere Dimension in umso tieferen Schatten. Während die einen das Reden zu aller Zeit und an allen Orten nur schwer mit der eigentümliche Dichte biblischen Geschehens in Einklang bringen können, gewinnt das eschatologische Freudenmahl bei den anderen etwas von der düsteren Großartigkeit eines Inquisitionstribunals. Gegenüber

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diesen Aspekten des Geschehens  tritt dieses Geschehen selbst, treten die Rollen und Tätigkeiten in ihm seltsam zurück — die Deutung geht dem Geschehen beinahe voraus. So kann der zitierende Stoodt10 sagen, daß das Sakrament Ansatz für das Kirchenrecht „nicht im formalen Sinne, mit Bezug auf die Verwaltung der Gaben und die Leitung der Feier allein sei, wie Sohm meinte, sondern vom Wesen des Herrenmahls her, der Epiphanie des Herrn”. Dies kann sehr leicht im obigen Sinne verstanden werden und nähert sich ihm durch den hier konstatierten relativen Gegensatz von Leitung und Epiphanie. Vom historischen Material her hat sicherlich Sohm recht — hier mehr in Nähe zu der Auffassung von Maurer —, daß der Abendmahlsvollzug in seiner Differenzierung den Ansatz zur Ausbildung des Sakramentsrechtes bot. Man muß dann schon zweierlei Sakramentsrecht annehmen: ein paulinisches, und ein altkirchlich-historisches, einen Gegensatz und eine Spaltung hineintragen, die mindestens Käsemann in einer erneuerten Sündenfalltheorie nicht fernliegt. Sachlich liegt indessen eine entschiedene Überbetonung der jurisdiktionellen Strukturelemente des Abendmahls vor. Dies ist wesentlich bedingt durch die lateinische Tradition wie durch die geistesgeschichtliche Situation der Exegeten selbst, die von der rechtsgeschichtlichen Formvergleichung her besonders deutlich gemacht werden kann. Die Theologie ist hier deutlich in ihre eigene Geschichte eingeschlossen. Trotz Kerygma und Eschatologie ist der bürgerliche Rechtshorizont nicht durchbrochen. Der Aktualismus der Verkündigung und der Formalismus der existenziellen Entscheidung liegen in ihrer gemeinsamen Akthaftigkeit ganz innerhalb desselben, und gehen so weit, daß der Vorgang des sakramentalen Handelns selbst wesentlich zurücktritt. Das sakramentale Handeln wird von einer ganz anderen Geschichtlichkeit her interpretiert, als die Struktur des Sakraments selbst voraussetzt und ausdrückt.