1. Anspruch und Anerkennung als kirchenrechtsbildender Vorgang

Die methodologische Untersuchung führte uns auf die Frage nach dem Rechtstypus, welcher dem spezifischen Handeln der Kirche innewohnt.

Recht tritt zunächst in der Form des Anspruches auf, des Ansprechens zwischen zwei personalen Partnern, auf eine Forderung, in der Auffassung und Überzeugung von der „Richtigkeit”, der „Berechtigung” desselben. Der Anspruch setzt als Kommunikation zwischen den beiden Partnern eine vorauslaufende Vergemeinschaftung voraus, welche alle einzelnen nachfolgenden Akte erst ermöglicht. Die Kommunikationsfähigkeit ist keine selbstverständliche, natürliche Gegebenheit. Erst auf der Grundlage einer solchen konkreten Bündigung und in ihrem Rahmen entfalten sich die verschiedenen Rechtsphänomene, Rollen und Tätigkeiten, von denen im einzelnen zu reden ist. Der wesentliche Unterschied zwischen der Naturrechtslehre und der reformatorischen Rechtslehre besteht darin, daß jene diese Rechtsfähigkeit und Rechtsexistenz des Menschen voraussetzt, die letztere aber mit Entschiedenheit auf der ausschließlichen Rechtsverleihung durch einen Stiftungs- und Gnadenakt Gottes insistiert. Aber während die Naturrechtslehre auf einer biblisch anfechtbaren Grundlage das Ganze menschlicher Gemeinschaft und Geschichte thematisch festhielt, verengte sich die biblisch wohlbegründete reformatorische Lehre den Bund und die neue Gemeinschaft auf die Neubegründung wesentlich individueller (fälschlich als „personal” bezeichneter) Existenz, von der aus die Gemeinschaft sinnwidrig als ein sekundärer, ethisch wahrzunehmender Schritt erschien.

Andererseits setzt der Anspruch einen jenseits der Forderung liegenden Maßstab voraus, der eben diesem jene „Berechtigung” verleiht. Die Vorsilbe „be” drückt immer ein Einwirken oder Geben aus: Begeisterung, Begabung, Befremdung. Ist der Mensch allein wie der Robinson der Aufklärung, so fällt das Recht dahin. Recht ist untrennbar von der Sprache, vom Wort. Vielleicht kann der Hinweis auf den Wortcharakter des Rechts die Theologen anreizen, ihre Anschauungen zu überprüfen. Das Wort hat Rechtscharakter.

Wir verzichten mit diesem Beschreiben des Rechts als Anspruch darauf, vorweg das Recht in irgend einem Sinne als eine an sich gegebene metaphysische Entität oder Idee zu verstehen. Gründet sich der Anspruch immer auf einen ihn berechtigenden Grund und geht er gegen

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einen anderen, so ist Recht immer und toto coelo ein Relationsbegriff. Damit ist zweierlei ausgeschlossen: jedes Verständnis des Rechtes als Idee auf der einen, als nackte Setzung, als sich selbst rechtfertigende Thesis auf der anderen Seite.

Das Recht kann seinen rechtfertigenden Grund, von dem es herkommt, auf den es hin angelegt ist, nie erreichen. Das schließt seine Idealität nicht nur praktisch, sondern grundsätzlich aus. Es kann aber auch, ohne zu verfallen, leer oder willkürlich zu werden, jene Rückbeziehung nicht aufgeben. Rigoristische Anspannung wie skeptisches Sich-Bescheiden verfehlen gleichermaßen diese Zwischenlage. Sie ist freilich höchst unbequem und läßt das Rechtsproblem nie zu der dem Menschen so erwünschten Ruhe kommen. Der Titel der Studie von Klaus Ritter „Zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus” 1 drückt diese Lage aus, die nicht nur eine Augenblickssituation der philosophischen Erörterung darstellt.

Wir lassen weiter zunächst die Frage nach den materialen Gründen des Anspruchs beiseite und beschränken uns auf die genannte Struktur als solche. Aus dem Relationscharakter ergibt sich, daß Rechtfertigung und Recht nur dort zusammenfallen, wo derjenige, der den Anspruch erhebt, der Rechtfertigung seines Handelns grundsätzlich nicht bedarf, weil was er fordert, ipso facto gerechtfertigt ist. Das ist allein bei Gott der Fall. Die biblisch-theologische Aussage über die Gerechtigkeit Gottes hab neben anderen Aspekten die wesentliche Bedeutung, daß Gott in seinem Anspruch der Rechtfertigung nicht bedarf. „Es bleibt gerecht sein Wille.” Das Wesen der Souveränität, und zwar allererst derjenigen Gottes liegt darin, daß die Kontingenz des So — und nicht anders — Seins und Wollens weder a priori der Rechtfertigung noch a posteriori der Gewährleistung bedarf. Souveränität ist Erst- und Letztentscheidung in einem. Deswegen ist die staatsrechtliche Souveränitätsformel „von Gottes Gnaden” nicht eine lästerliche Gleichsetzung der historischen Willkür menschlichen Willens mit dem Willen Gottes, sondern das Bekenntnis zu der von Gott gegebenen Kontingenz der geschichtlichen Existenz, die weder in immanente Ideen aufzulösen noch von anderen vorgeordneten geschichtlichen Größen abzuleiten ist — die Unmittelbarkeit zu Gott, nicht die Gleichsetzung mit ihm.

Das Recht lebt von der Anerkennung: Recht sind anerkannte Ansprüche, die notfalls gegen die Willkür des einzelnen Widersprechenden durch den Richterspruch im Namen der Gesamtheit anerkannt werden. Fällt diese im allgemeinen freiwillige Anerkennung fort und wird der Anspruch bestritten, so zeigt sich sofort, daß es eben doch nur ein Anspruch war, der sich nun erst rechtfertigen muß. Die Subjektivität des Anspruchs und der Rechtsüberzeugung seines Trägers muß jetzt wieder zur Objektivität erhärtet werden. Das geschieht im Gericht im weitesten Sinne. In dem Streit stehen sich die Streitenden zunächst in gleicher

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Rolle gegenüber, mit den gleichen Waffen und Chancen. Recht geben heißt durch seinen Spruch und seine Zustimmung den subjektiven Anspruch zum objektiven Rechte machen. Das im Bestreiten uns plötzlich genommene Recht muß uns erst wieder gegeben werden. Deswegen ist der ausgeklagte Anspruch ein neuer: er beruht jetzt nicht mehr auf seinem ursprünglichen Rechtsgrunde, mindestens nicht allein, sondern auf der Rechtskraft des Urteils. Eben wegen der Gleichheit der Prozeßchancen gibt das Recht von jeher dem im Besitz Gestörten voraus einen Rechtsschutz, damit sich nicht der dreiste Störer durch die Störung und den Zwang des Rechtsnachweises in die Vorhand setzen kann. Naturgemäß wird die Rechtslage auch dadurch geklärt, daß etwa der Beklagte selbst den Anspruch anerkennt — dann bedarf des des Richters nicht. Anspruch und Anerkennung bilden erst in ihrem Zusammentreffen objektives Recht. Das gilt für das private wie für das öffentliche Recht. In Revolutionen werden Rechte umkämpft, welche bis dahin unbestritten waren und nun nicht mehr anerkannt werden, wie z.B. im 18. und 19. Jahrhundert die Vorrechte des Adels. Andererseits treten Ansprüche auf, welche es bis dahin nicht gab, z.B. das öffentliche Recht bisher nicht als aktiv berechtigt anerkannter Gruppen. Indessen geht es nicht um willkürliche Rechtsbestreitung: immer wird um die allgemeine Anerkennung gekämpft. Es ist dabei die Methode totalitärer Regierungen, den Mangel allgemeiner Anerkennung gewaltsam zu überdecken und eine nur äußere, nicht wahrhaft freiwillige Anerkennung zu erzwingen. Darin liegt der Unrechtscharakter solcher Regime. Ranke schließt seine Schilderung des vatikanischen Concils2 wie folgt: „Alles bildet eine einzige Kette von Anforderungen und Ansprüchen, die man nun zu einer allgemeinen Anerkennung zu bringen hoffte …” Obwohl der Beschluß des Conzils ja in der thetischen Form der Dogmatisch gefaßt ist,3 wird der Historiker Ranke in der Beschreibung des Vorgangs auf die kategorialen Rechtsbegriffe Anspruch und Anerkennung hingeführt. Diese gehen den subjektiven Rechtsvorstellungen und objektiven Begriffen voran, gleichgültig ob auf sie reflektiert wird.

In dem ursprünglich personal-charismatischen Urteil des Richters wird nun nicht nur über den Gegenstand des Streites, sondern immer zugleich über die Streitenden selbst mitentschieden. Die Anrufung des göttlichen Urteils ist immer mit einer Selbstpreisgabe verknüpft, und die falsche Anrufung verdient den Tod, wie noch im Gottesurteil sichtbar wird. Der charismatische Richter richtet nicht ohne Ansehen der Person, sondern Person und Sache zugleich, die noch nicht voneinander geschieden werden können. Was dem einen zukommt, kommt dem andern noch längst nicht zu. „Wer da hat, dem wird gegeben werden.” Die Vorstellung, daß Gerechtigkeit die Behandlung des Gleichen als gleich sei, setzt eine ursprünglich nicht vorhandene Scheidung von Person und Sache voraus, setzt voraus, daß Menschen gleich, und deshalb für das Urteil

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auch gleichgültig seien. Die für die scholastische und aufgeklärte Naturrechtslehre so zentral wichtigen Gleichheitssätze der kommutativen und distributiven Gerechtigkeit gehören einem nachcharismatischen, rationalen Rechtsdenken, also einer historischen Form des Rechtsdenkens, nicht der Axiomatik des Rechtsbegriffes an. In dem Begriff des „Zukommenden” ist ein eschatologisches Moment im charismatischen Rechtsdenken enthalten.

In der Koinzidenz von Personalität und Sachgehalt drückt sich die Souveränität des Richters aus. Diese Art der Entscheidung liegt noch jenseits und vor der Unterscheidung von konstitutiv und deklaratorisch. Sie ist ebensosehr Darstellung einer bereits vorgegebenen Ordnung, eines bereits entschiedenen Willens wie freier Entschluß und Schaffung der Ordnung selbst. Dem Charisma ist die Transzendenz immanent.

Der Kläger erhält von daher vom Richter auch nicht Recht, weil und soweit er Recht hat, sondern weil und soweit sein Anspruch mit dem Rechte des Richters übereinstimmt. Der Kläger beruft sich vor dem Richter nicht auf seine Gerechtigkeit, sondern auf diejenige des Richters, auf dessen Geneigtheit und Gnade, um seines eigenen, des Richters Rechts willen den Kläger zu schützen.

Dieses Charisma des Richters, in dem die Weltordnung selbst sichtbare wird, ist streng personal, und kann auch verlorengehen. Es bindet sich grundsätzlich nie abschließend an eine Regel, erschöpft sich nie in ihr, und hat doch ein Moment der Treue und Beständigkeit an sich, auf die es sich behaften läßt. Wer daher im Bereich des charismatischen Handelns, und deshalb auch im Bereich des Kirchenrechts davon spricht, daß lediglich deklaratorische Akte zu vollziehen seien, zeigt eben dadurch an, daß sein Denken und Handeln nicht mehr dem charismatischen und pneumatischen Denken angehört. Denn diese ist ohne die Koinzidenz von Vollstreckung vorgegebener Entscheidung und schöpferischer Kontingenz nicht zu denken. Die Vorstellung ausschließlich deklaratorischen Vollzugs ist dem kausalen Denken ebenso verhaftet wie die umgekehrte Vorstellung einer Folge aus der verliehenen Qualität im Sinne des scholastischen Satzes „operari sequitur esse”. Beide kausal oder quasikausal strukturierten Konzeptionen widersprechen dem charismatischen Charakter geistlichen und kirchenrechtlichen Handelns und weisen sich bereits durch die Struktur, nicht erst den usus und modus als illegitim aus. Damit wird pneumatisches Handeln nicht einfach zu einem irrationalen; denn das deklaratorische Moment bleibt ihm eingestiftet. Aber es kann aus ihm allein nicht verstanden werden. Vielmehr verhalten sich das konstitutiv-kontingente und das deklaratorische Moment dialektisch zueinander. Eben darum aber ist es unzulässig, diesen Sachverhalt von der einen oder anderen Seite aufzurollen und einseitig zu begreifen. Für unser normativ-begriffliches Denken (auf für die Normativität der „Lehre”) ist die deklaratorische Seite die weniger

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umstrittene, scheinbar leichter zu erfassende. Wer aber vom Pneuma ohne das volle Moment der Kontingenz spricht, verleugnet es. Es kann also keine pneumatische Ordnung der Kirche auf der Verleugnung dieser Kontingenz aufgebaut werden.

Indem nun wieder und wieder entschieden wird, wird dennoch die Richtung, der Inhalt dieses Willen allmählich sichtbar und erkennbar, damit auch vorausberechenbar. So wird es möglich, für bestimmte Fälle bestimmte Entscheidungen festzulegen und zu formulieren. Dieser ganze Vorgang ist etwa in der Geschichte des römischen Rechts deutlich erkennbar; dieses hat den Vorzug, archaisch-prinzipielle Vorgänge in verhältnismäßig später Zeit noch klar darzubieten. Große Rechtsvölker sind immer sehr konservativ. So verkündet der römische Prätor alljährlich gewisse Klageformeln (actiones), auf die er sich ansprechen zu lassen bereit ist. Der Kläger, der die Formel ausspricht und den Tatbestand zu erhärten vermag, erhält Rechtsschutz und ein obsiegendes Urteil. Zunächst sind es nur ganz wenige, rituell einzuhaltende Formeln. Die Personalität des Vorgangs drückt sich noch darin aus, daß die Formeln nur für die kurze Amtszeit des Prätors Gültigkeit haben, seinen Nachfolger nicht binden. Erst auf einer weiteren Stufe wird daraus ein feststehender Katalog, ein edictum perpetuum, das die Person überdauert und damit gesetzesartigen Charakter erhält. Grundsätzlich aber ist der Prozeß, das Urteil nicht Weg und Mittel der Durchsetzung und des Vollzugs es vorausgesetzten Gesetzes, genau umgekehrt ist vielmehr das Gesetz die Frucht des Prozesses. Gesetze in dem uns geläufigen Sinne sind generalisierte und vorweggenommene Urteile über gewisse typische Lagen. Das Wesen des Gesetzes kann nicht richtig erkannt werden, wenn nicht sein Ursprung aus dem Prozeß, aus der richterlichen Gewalt festgehalten wird. Die Umkehrung der grundsätzlichen und genetischen Folge Urteil-Gesetz in die kausale Folge Gesetz-Urteil ist eine späte und geistesgeschichtlich typische „rationale Inversion”. Diese Inversion ist nur da möglich, wo der Mensch sich ablösend von einer vorausgesetzten transzendenten Souveränität und Ordnung, sich die Fähigkeit zu autonomer, verfügender Ordnung selbst zuspricht. Sie ist zugleich verknüpft mit dem Eindringen des kausalen Denkens und damit einer grundsätzlichen Trennung von Person und Sache. Gesetz ist also immer die Ablösung eines zur Verfügung stehenden sachlichen Handlungsgehalts aus dem Personalbezuge.

Anspruch und Anerkennung aber können sich überhaupt nur vollziehen, wenn zwischen den Beteiligten eine Kommunikation möglich ist. Das aber ist nur denkbar, wenn zwischen beiden eine — wie immer begründete, wie immer zu deutende — Gemeinschaft vorweg besteht. Der Angesprochene muß ansprechbar und entscheidungsfähig sein. Aber auch dies ist noch notwendig umgriffen von einer Gemeinsamkeit, innerhalb deren er im Hören, Entscheiden, Gehorchen überhaupt tätig

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werden kann. Ist der Angesprochene nicht von vornherein möglicher Partner, sondern Geschöpf des Ansprechenden, so muß ihm auch diese Möglichkeit der Antwort ebenfalls mit der Gemeinschaft geschenkt und verliehen werden, innerhalb deren er dann antwortet. Das Ansprechen hat einen formalen Charakter, weil es auf den vorausliegenden materiellen Grund der Vergemeinschaftung zurück, auf die zukünftige Entscheidung des Hörens oder Nichthörens vorwärts verweist. Es hat damit transitorischen Charakter, ist ein kritischer Durchgangspunkt. Zugleich muß man freilich Gemeinschaft und Anspruch auch noch enger zusammenhalten: im Anspruch realisiert und aktualisiert, erneuert sich immer wieder die Gemeinschaft. Wenn wir nichts mehr voneinander zu erwarten haben, ist die Gemeinschaft erstorben. Und doch geht dieser Aktualisierung die Begründung der Gemeinschaft immer schon ebenso voraus, wie jener Anspruch seinen Sinn nicht in sich selbst hat, sondern auf eine Erfüllung hinzielt.

Die Anspruchsstruktur enthält in sich die Versuchung, die Ansprechbarkeit als eine metaphysisch gegebene Vernunftmöglichkeit und Qualität der Existenz vorauszusetzen und aus dem Gemeinschaftsverhältnis auszuklammern, in welches sie doch gehört. Deswegen wehre ich mich gegen die von Adolf Reinach vorgetragene These, daß das Versprechen als solches das Grundphänomen des Rechtes sei.4

Die genau entgegengesetzte Denkmöglichkeit gegenüber diesem Apriorismus vernünftiger Freiheit ist die Meinung, daß erst durch und im Ansprechen die Gemeinschaft je und je geschaffen werde. Wo aber keine vorauslaufende, gemeinschaftsbegründende Schöpfung ist, da ist auch kein Raum für eine letzte Erfüllung. Der Zusammenhang von Anspruch und Anerkennung als eine verständliche Anknüpfung an die Rechtserfahrung kann deshalb hier auch nur vorangestellt werden, weil er nötigt, tiefer zu graben und auf seine Voraussetzungen in der freien Gabe zurückzugehen. Nur so können wir zugleich vorwärtsgehen.

Anspruch und Anerkennung können nun im geistlichen Geschehen der Kirche nur deshalb zusammentreffen und objektives Kirchenrecht hervorbringen, weil Gott sich zuvor zum Menschen bekannt hat. Gott hat die Gnade verheißen und angeboten und erwartet, daß wir sie glaubend annehmen. Deswegen ist die fides virtus sacramenti, weil sonst gegebener Anspruch und Anerkennung, Annahme nicht zusammentreffen. Deswegen kann aber auch ohne Taufbekenntnis nicht getauft, ohne Bußbekenntnis nicht absolviert werden. Der Anspruch Gottes geht auf weiter nichts — und es ist viel genug! —, als daß der Mensch sich von seiner Gnade beschenken läßt, an sich geschehen läßt, was Gott an ihm geschehen lassen will. Aber eben das setzt voraus und enthält, daß dieser Mensch sich als Geschöpf und Sünder dessen bedürftig bekennt, auf eigene Macht nicht vertraut, das freie Gnadenurteil annimmt. Das heißt: der Mensch selbst muß zuvor Gott sein alleiniges Recht geben

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und zwar gegen sich selbst, ohne Einschränkung, Vorbehalt, Bedingung. Dieser metanoia muß auch für das zu empfangende Amt die uneingeschränkte Dienstbereitschaft entsprechen.

Das Kirchenrecht ist etwa als Sakramentsrecht solange und soweit echtes pneumatisches Recht, als es nichts weiter zu entscheiden unternimmt, als: ob im konkreten Fall — in Taufe, Absolution, Gewährung der Abendmahlsgemeinschaft und Ordination zum Amt — Gott sich zu dem konkreten Menschen ihn erwählend bekannt hat und dieser sich zu der empfangenden Gnade als Geschöpf und Sünder bekennt. So ist offenkundig, daß der Zum Taufbekenntnis nicht Bereite nicht getauft, der Unbußfertige nicht absolviert, der öffentliche Sünder und Verächter des Evangeliums nicht zum Sakrament zugelassen werden kann: so ist der Amtsbewerber darauf zu prüfen, ob Gott ihn durch Verleihung der Gaben und des Wandels zum Amte berufen hat, so daß diese Berufung anzuerkennen ist. Das sind alles notwendige und selbstverständliche Akte kirchenrechtlicher Entscheidung über die später noch ausführlich gehandelt wird (Kap. VII und VIII).

Dieser echte personale Rechtsvorgang ist in den meisten Kirchengemeinschaften im Bereich des Sakramentrechts auch ohne zulängliche Vorstellung über seine geistliche und rechtliche Struktur mit relativer Sicherheit praktiziert worden, insbesondere im Tauf- und Bußrecht. Bedeutend schwieriger liegt es erfahrungsgemäß im Bereich der Abendmahlsgemeinschaft und des Amtsrechts, weil nämlich hier der überindividuelle Charakter des Vorgangs stärker hervortritt. Grundsätzlich geht es hier nicht um eine sachliche, sondern eine noëtische Frage: wer kann abgesehen von der evidenten persönlichen Unwürdigkeit beanspruchen, im Amte anerkannt und zu ihm bestellt zu werden, wem kann man Abendmahlsgemeinschaft gewähren?! Denn während der Taufbewerber und der Beichtende sich regelmäßig und ipso facto zur gleichen Kirchengemeinschaft hält, tritt in Amt und Abendmahlsgemeinschaft die Frage nach dem rechten Bekenntnis auf, welches wir wiederum anzuerkennen in der Lage sind. Nicht die Struktur ist mehr fraglich, sondern der Tatbestand.

Das Zusammentreffen von Anspruch und Anerkennung zum objektiven Recht als ein allgemeiner Vorgang der Rechtsbildung ist eine formale, allem Recht zugehörende Struktur. Sie wohnt auch dem Kirchenrecht inne, jedoch sind hier Subjekt des Anspruchs und Gegenstand der Anerkennung andere als im weltlichen Recht.

Es wird damit dem Rechtsbegriff die ihm eigene Lebendigkeit wiedergegeben: Recht als Gefüge von Anspruch und Anerkennung, Recht als Relationsbegriff.

Damit ist, wie mir scheint, auch hier ein dem pneumatischen Charakter der Kirche angemessener Rechtsbegriff gewonnen, weil er den Rechtsbildungsprozeß im Auge behält und mitumfaßt. — Nun tritt von

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Ursprung an der Anspruch in zwei ganz verschiedenen gegensätzlichen Formen auf: es ist der Anspruch auf die Respektierung der Herrschaft, die Anerkennung des Bestehenden, und der Anspruch auf die Wiederherstellung des Verletzten. Der erstere ist der Anspruch des Habenden, der letzte der des Nichthabenden, oder des Nichtmehrhabenden.

Das „Haben” in jenem Sinne ist nicht in erster Linie im Sinne der Beherrschung der materiellen Welt zu verstehen. Wir sind dadurch zuallererst Habende, daß wir und selbst, unser Leben, unsere Ehre, unsere Freiheit haben. Erst danach kommen die Dinge, die wir uns zuordnen und aneignen. Haben ist also eine Herrschaft des Menschen über sich selbst und das Seine von zuständlicher Dauer, ein Status, ein Rechtsstand und Rechtszustand. Das Nichthaben ist umgekehrt ein Nicht-Status, in welchem wir darauf angewiesen sind, daß ein anderer etwas tue, um zu erfüllen, wozu wir selbst nicht imstande sind. Werden wir geschädigt, geschlagen, bestohlen, so können wir das entweder hinnehmen oder wir müssen den Weg des Rechtes beschreiten, um uns mit Hilfe einer übergeordneten Macht das Genommene oder Ersatz zu holen. Beide existenziellen Lagen kommen im Kirchenrecht vor: Gott als der allein und ausschließlich Habende fordert Respektierung seiner Herrschaft. Aber im Evangelium fordert er allein die Annahme seiner Gnadengabe im Glauben. Die Gnadenoffenbarung in Christus beansprucht Glauben, und in der Anerkennung des tradierten Evangeliums vollzieht sich wiederum der Vorgang von Anspruch und Anerkennung, auch in der Abweisung falscher Ansprüche.5

Andererseits kann der Mensch niemals in der Lage des Habens gegenüber Gott sein. Aber die Lage des Nichthabens ist auch eine spezifische Rechtslage. „Wir liegen vor dir mit unserem Gebet, nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf Deine Barmherzigkeit.” Es ist die Rolle des Klagenden, der nicht hat, faktisch nicht im Rechte ist, sondern den Richter bittet, ihm Recht zu verschaffen, ihm Recht zu geben. Hier wird eingewendet, der Richter gebe dem Kläger deshalb Recht, weil und soweit dieser Recht hat, in Wahrheit im (nur verletzten) Rechte ist. Diese Auffassung beruht auf dem schon geschilderten Rechtsirrtum geschichtlichen Ursprungs. Der Kläger bittet in Wahrheit den Richter, seinen Anspruch, seine Prozeßbitte um Schutz und Hilfe zu der seinigen zu machen, um seines, des Richters Recht und seiner Gerechtigkeit willen, weil die Klage mit dem Recht des Richters übereinstimmt. In der Interpretation der existenziellen Lagen des Menschen aber kommen nicht diese gegenwärtigen Vorstellungen in ihrer rationalisierten Abwandlung in Betracht, sondern das ursprüngliche Phänomen, dessen Genesis das Grundsätzliche hervortreten läßt. In dem wir um einen günstigen Spruch bitten, berufen wir uns auf das gnädige Recht, welches Gott in Christo über die Welt offenbart hat.