4. Über den kirchenrechtlichen Ertrag des Kirchenkampfes

Eine interessante Erhellung des Widerspruchs in der Lehre Barths ergibt sich, wenn wir diese relativ neuen Gedanken mit kirchenrechtlichen Arbeiten aus seinem Gesinnungskreis vergleichen.

In einem Aufsatz über „Die kirchenrechtliche Ergebnisse des Kirchenkampfs71” hat Herbert Wehrhahn in einer greifbareren Form als in seinen sonstigen Schriften mit dem Ertrag des Kirchenkampfes seine

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eigene Position dazustellen unternommen. Er stellt drei Thesen voran72:
1. „Kirche ist nur dort, wo Gemeinden und Geistliche an dem Inhalt der Schrift festhalten und diesem Inhalt gemäß ihren Glauben in Worten und Handlungen bestätigen.
2. Eine Scheidung der äußeren Ordnung von dem Bekenntnis ist nicht möglich.
a) In Sachen der Kirche, ihrer Lehre und Ordnung ist die Kirche, unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechts, allein zu urteilen und zu entscheiden berufen.
b) Das Recht, die Kirche zu gestalten, zu leiten und zu vertreten, steht allein solchen Amtsträgern und Vertretungen zu, die das in den bestehenden Bekenntnissen bezeugte Evangelium als unveränderliche Grundlage der Verfassung und Rechtsgestaltung ihrer Kirche festhalten.
3. Eine echte kirchliche Einheit kann nur auf dem Wege gewonnen werden, daß die Kirchen
a) die reformatorischen Bekenntnisse wahren und einen organischen Zusammenschluß der Gemeinden und Landeskirchen auf der Grundlage ihres Bekenntnisstandes fördern; hierbei muß es ihr ernstes Anliegen sein, daß der Geist des Herrn Christus und nicht der Geist weltlichen Herrchens bestimmend ist und —
b) der Gemeinde als der Trägerin der Wortverkündigung ihren gebührenden Platz läßt; eine hierarchische Gestaltung der Kirche widerspricht den reformatorischen Bekenntnissen.”

These 1 beschreibt die Kirche als bekennende und Kirchenrecht als bekennendes Recht. Das ist in der Blickrichtung des Kirchenkampfes durchaus legitim. Als positive, systematische Aussage ist es jedoch nicht vollständig. Hier wird zunächst die schwierige Differenz zwischen dem aktualen Bekenntnis und der Dogmatik sichtbar. Jene Formulierung gewinnt einen sehr einseitig-subjektiven Akzent. Die Wendung „am Inhalt der Schrift festhalten” ist nicht nur von bedenklicher Unbestimmtheit, sondern liegt auch methodisch hinter dem Vollzugscharakter von CA VII (pure docere et recte administrare) zurück. Deutlicher als in manchen engen und traditionellen Auslegungen von CA VII tritt das „Festhalten” als ein gemeinsames Handeln von Amt und Gemeinde hervor.

Die von Barth erhobene liturgische Seite des Kirchenrechts wird von Wehrhahn nicht formell ausgeschlossen, tritt aber auch in keinem Wort hervor. So läßt diese Umschreibung einem Kirchenverständnis Raum, welches Kirchenrecht ausschließlich als bekennendes Recht und damit die Kirche als Kirche der reinen Verkündigung versteht. Insofern liegt Wehrhahn methodologisch sowohl hinter der CA als auch hinter Barth zurück.

These 2 formuliert die eigentlichen Ergebnisse der Kampfjahre. Der

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Vordersatz zeigt die Überwindung der falschen spiritualistischen Unterscheidung von innen und außen. Es kann nicht von vornherein bestimmt werden, an welcher konkreten Frage der punctus stantis et cadentis ecclesiae hervortritt. Dies kann auch ein scheinbar ganz äußerlicher Punkt sein. Es zeigt sich, daß der Begriff der (nur „äußeren”) Ordnung eine unzulässige negative Objektivierung enthält, welche einer falschen positiven Objektivierung entspricht. Die negative Objektivierung im Spiritualismus ist, weil sie sich eben in der Verneinung vollzieht, sehr schwer zu begreifen. An dieser Schwierigkeit setzt das Mißverständnis immer wieder an.

These 2a spricht die Eigenständigkeit des Kirchenrechts aus. Diese Unterthese ist Folge und Entfaltung des Vordersatzes. Die Nicht-Eigenständigkeit des Kirchenrechts wird häufig von der Voraussetzung her behauptet, daß der Staat selber wisse, was ihm zukomme, nämlich das Äußere, das ihm zugänglich sei — und was ihm (scheinbar) zugänglich sei, komme ihm auch zu. Die Kirche wird zum negativen Komplement des Staates als der allein legitimen Ordnung. Das stammt daher, daß die römische Kirche sich staatsähnlich gestaltet und verfaßt hatte, so daß mit der Staatlichkeit der Kirchenstruktur ein inhaltlich bestimmtes, negatives Widerbild sichtbar wurde, während man um so mehr über die eigenen ekklesiologischen Aussagen verlegen war. Dieser reaktiv gewonnene Verständnis von Staat und Kirche ist damit ausgeschaltet. Auf alle Fälle ist bei Wehrhahn die Eigenständigkeit der Kirche und der daraus folgende Anspruch auf eigene Entscheidung in eigenen Dingen (Jurisdiktion) unmißverständlich festgehalten. Dies muß entschlossen gegen die rückschrittlichen Bestrebungen des theologischen Neuliberalismus festgehalten werden. Es handelt sich hier nicht nur um verschiedene theologische Lehrmeinungen, sondern um kirchengeschichtliche Vorgänge und Entscheidungen, hinter die nicht mehr zurückgegangen werden kann.

In der These 2b braucht die Bindung der Kirchengewalt an das Bekenntnis die andere Seite des Kirchenrechts, die liturgische, nicht besonders zu nennen. Wehrhahns Formulierung läßt mit Mäßigung der Tatsache Raum, daß die Kirchengewalt in der Notlage des 16. Jahrhunderts auf Fürsten und Magistrate überging, die sich an das Bekenntnis gebunden wußten und jedenfalls vermöge der ihnen allein und nicht den Theologen eignenden Reichsstandschaft als Bekennende vor Kaiser und Reich auftraten. Es handelt sich aber nicht nur um die Bekenntisbindung, die selbst in der Reformationszeit keineswegs bei allen Notbischöfen hinreichend klar war73. Es ist bei alledem nicht verwerflich und kann gar nicht ausgeschlossen werden, daß in einer gegebenen Lage die weltliche Gewalt der Kirche unter dem Bekenntnis und um ihrer selbst willen gute Dienste leistet. Nicht aber kann die Kirchengewalt regulär und auf längere Sicht auf denjenigen übergehen, der gar nicht

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in der Lage ist, das ius proprium der Kirche von dem ius proprium des Staates zu scheiden, weil er in einer Person  sie beide vereinen muß. Hier liegt nicht nur eine subjektive Unzumutbarkeit und Überforderung, sondern eine objektive Unvereinbarkeit im Rechtssinne (Incompatibilität) von Kirchengewalt und Staatsgewalt vor. Der Grundsatz des Bürgerlichen Rechts (§ 181 BGB), welcher das Selbstkontrahieren, d.h. Rechtsgeschäfte einer Person mit sich selbst in zwei verschiedenen Rollen für nichtig erklärt, enthält einen axiomatischen Rechtssatz, der über das bürgerliche Recht hinaus für alle Rechtsgebiete gilt. Es ist Verhängnis und Schuld der lutherischen Reformation in Deutschland, daß sie trotz der Einsicht Luthers, daß Not Recht brechen, aber nicht Recht schaffen könne, nur allzu sehr bereit war, sich des angeblich nur äußeren Kirchenwesens zugunsten der fürstlich-konsistorialen Verwaltung zu entledigen. Nun hat die lutherische Kirche sich niemals in dem Maße auf ihr liturgisches Recht zurückgezogen wie die griechische, aber sie hat doch in einem weiteren Sinne sich auf ein innerkirchliches opus proprium nach CA VII mit einer sehr ähnlichen Wirkung beschränkt, daß gerade dadurch ihr bekennender Charakter und die Scheidung von Kirche und Welt zurücktrat74. Die Quittung erhält sie jetzt, indem nun von Barths Schülern das Kirchenrecht selbst unter Einschluss der Formel vom liturgischen Recht einseitig als Bekenntnisrecht interpretiert wird.

Eine als Einheit deutlich und klar unter einem eigenen Oberhaupt verfaßte Kirche: diese Mindestforderung wird durch die unaufgebbare Unterschiedenheit von Kirche und Welt, Kirche und Staat gestellt. Diese Mindestforderung ist in Deutschland überall unterschritten worden. Der Summepiscopus erfordert den Primas als Gegenüber. Der advocatus und curator ecclesiae kann nicht episcopus sein. Der Augsburger Religionsfriede von 1555 hat die Reformation um den Preis erhalten, daß diese vom Bischofsamt gerade die problematische Seite autoritativ-heteronomer Leitung, aber nicht die Wohltaten geistlichen Regiments und der Kircheneinheit mitbekam. Die Befreiung vom Papsttum ist teuer bezahlt worden — so tief ist die Abhängigkeit, daß selbst der bezahlte Preis vergessen wurde und ihn zu nennen fast als Ketzerei erscheint.

(These 3). Während in These 1 und 2 trotz ihres bedeutenden Sachgehaltes das methodische Gewicht überwiegt, ist dies in These 3 nicht im gleichen Maße der Fall. Hier wird nicht nur gezeigt, wie Kirchenrecht zu bilden sei, sondern wie es auch inhaltlich auszusehen habe. Darin liegt zugleich eine gewisse petitio principii. Im inneren Zusammenhang wird für die Ebene der Gesamtkirche ein föderaler Zusammenschluß und für die Ebene der Gemeinde eine Art Gemeindeprinzip proklamiert. Die Formel „Gemeinde als Trägerin der Wortverkündigung” läßt die Tatsache außer acht, daß diese Gemeinde durch Amt und Gemeinde in ihrem Wechselbezug konstituiert wird — nach lutherischem und altreformiertem Verständnis — und das Amt nicht einfach Funktion und

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Hervorbringung der Gemeinde ist, sondern ihr immer auch eigenständig gegenübersteht.

Methodisch gesehen wird durch diese inhaltliche These von den beiden Seiten des Kirchenrechts die liturgische nun tatsächlich ausgeschieden, die bekennende allein festgehalten. Denn liturgisches Handeln und deshalb auch Aufbau des Kirchenrechts von der Liturgie her erfordert Amt und Gemeinde. Diese Verdrängung im Ansatz wird regelmäßig in solchen Betrachtungen durch zwei Formen unangemessener Argumente zweiten Ranges verdeckt:
1. durch Übergang auf den modus der Verwirklichung: die Amtsfrage ist nicht durch Verneinung der Hierarchie erledigt.
2. durch Übergang auf den absusus: der Mißbrauch des Amtes im Sinne weltlichen Herrschens besagt über die Existenz des Amtes gar nichts.

Die Verschiebung der Frage auf modus und usus ist ein häufig benutztes Mittel, um einem evangelischen Kirchenrecht überhaupt zu entgehen. Sie kann wie hier auch dazu verwendet werden, um bei Bejahung eigenständigen Kirchenrechts von vornherein eine bestimmte materiale Lösung ohne offene Begründung einzuführen. Der tiefere Grund für diese Methode liegt indessen in einer Denkbewegung, die den berühmten Übergang Kants von der theoretische auf die praktische Vernunft unbewußt vorwegnimmt. Das apriorische Element des Amtes wird ausgeschieden und diese Ausscheidung von dem zur Regel erhobenen Mißbrauch und Verderb der Verwirklichung her begründet.

Methodologisch gesehen bedeutet die vorgeschlagene Lösung eines föderalen und kryptokongregationalistischen Kirchenrechts eine stillschweigende Verdrängung des liturgischen Kirchenrechts durch das Bekenntnisrecht. Diese Barth zeitlich weit vorausliegende, aber ihm geistesverwandte Konzeption erklärt sehr einleuchtend, warum die spätere Kirchenrechtslehre Barths das ihr eigene Element des liturgischen Kirchenrechts rein formal, ohne Inhalt und konkrete Folge werden läßt. Denn in Wahrheit handelt es sich bei beiden um den Kirchenbegriff der reinen Verkündigung.

Zugleich ist die Wehrhahnsche Konzeption eine Umkehrung der römischen. So wie dort alles von einem obersten Principium, dem Papsttum abgeleitet wird, baut sich hier die Kirche föderal von unten und von der undifferenzierten Einheit der Gemeinde auf. Was im Katholizismus die Kirche, ist hier die Gemeinde; was dort der Papst als Letztinstanz, ist dort die Synode, dem subjektiven Charakter entsprechend ohne formalen Unfehlbarkeitsanspruch. Der Kirchenmystik entspricht die Gemeindemystik, die mit der konkreten Wirklichkeit der vorfindlichen Gemeinde wenig zu tun hat, eigentlich auch darauf nicht zu behaften ist.

Dieser Ansatz sieht dann in der Folge den kirchenleitenden Reichsbruderrat völlig als Synodalausschuß. Der Interimscharakter verdeckt

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hier das Amtsproblem, welches damit nicht gelöst ist.

Dieser vor Barth konzipierte, aber mit ihm von Barmen her in einer Linie liegende Entwurf zeigt also mehreres:
1. Den inneren Grund für das Nichtdurchhalten des Gedankens des liturgischen Kirchenrechts.
2. Die in Barmen verdeckte Unausgetragenheit des Unterschiedes zwischen lutherischer und reformierter Lehre von der Kirche.
3. Als Rückprüfung vom Ergebnis her, daß der Gedanke des liturgischen und des bekennenden Kirchenrechts in einem einander tragenden Bezugsverhältnis steht: daß das liturgische Recht für sich allein zwar eine Innenstruktur, aber keine Außenstruktur für das Verhältnis von Kirche und Welt darbietet, daß aber andererseits das Bekenntnisrecht für sich allein die Innenstruktur zur Selbstverfassung von unten her verfälscht.

In einem Teil B erläuterte Wehrhahn seine Thesen. Er hebt mit Recht hervor, daß hiermit die Spaltung von Kirche und Recht, von Geistkirche und Rechtskirche im Sinne Holsteins überwunden sei. Indem er aber gleichzeitig den schwimmend-subjektiven Begriff des „Festhaltens” am Inhalt der Schrift hineinnimmt, betont er, daß  damit das „Monopol der christlichen Verkündigung” für jene irdische Institution gebrochen sei. Er nimmt damit die im Vordersatz gewonnene Einheit von Kirche und Kirchenrecht im Nachsatz wieder zurück. Nach Satz 1 und der angezogenen Schriftstelle Mt. 18, 20 wäre jede beliebige Gemeindebildung, die so an der heiligen Schrift festhalten will, ohne Unterschied je für sich rechtmäßige Kirche, ohne daß eine Wahrheitsfrage hier aufgeworfen und eine Entscheidung intendiert werden kann. Das Verhältnis von Bekenntnis und Bekenntnissen erweist sich als ungeklärt. Die Bekenntnisse werden nicht nur nebeneinandergestellt, sondern auch grundsätzlich relativiert. Sie drücken keinen Wanheitsanspruch, sondern nur noch theologische Auffassungen über das Festhalten am Inhalt der Schrift aus. Zur Begründung dient in herkömmlicher Polemik das Wort Institution. Gemeint ist damit nicht nur der gewöhnlich damit verwechselte Anstaltsbegriff, sondern sehr viel spezieller das von Wehrhahn in seiner späteren größeren Schrift leidenschaftlich angegriffene gebietsmäßige Kirchenregiment. Daß die Zusammengehörigkeit der Christen eines Ortes aus der Einheit des Leibes Christi herstammt, und daß der Pfarrzwang und die territoriale Kirchenbildung im Verhältnis dazu eine sekundäre Erscheinung ist, wird übersehen.

Wenn zu Ziffer 2 die sachliche Einheit von Bekenntnis und Kirchenrecht noch einmal hervorgehoben wird, so wird damit zu Recht auch ein konsekutives Verhältnis beider methodisch abgelehnt. Die konsekutive Kirchenrechtstheorie wird methodisch überschritten. Jedoch wird der Bekenntnisbegriff selbst vereinseitigt. Bekenntnis ist hier wesentlich Bekenntnis ad hominem: unwillkürlich belegt Wehrhahn die Funktion

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des Bekenntnisrechts allein mit der Abgrenzung zur Welt, zum Staat. Das Bekenntnis ad Deum tritt zurück, wird vorausgesetzt, erscheint aber in diesem Zusammenhänge selbst nicht mehr. Gehalt und Wurzel des Bekenntnisses aber ist doxologisch. Es weist der empfangenen und antwortenden Gemeinde eine sehr bestimmte Stelle zu. Nach Wehrhahn wäre die Gemeinde nur ein Durchgangspunkt zur Weitergabe der Verkündigung an die Welt. Die Kirche wird in der Verkündigungsfunktion aufgehoben. Sie ist nicht mehr selbst auch Anbruch der neuen Schöpfung, sondern allein Verweisung auf eine Verheißung. So wie im Gegenbild die auf sich selbst bezogene Kirche in der Konsequenz als Idealgebilde sich selbst verfügbar wird, so wird hier die Kirche bis zur Selbstaufhebung funktionalisiert.

Mit Recht sagt Wehrhahn zum dritten Punkt, daß nunmehr methodisch außer dem Dualismus vom Wesenskirche und Rechtskirche auch derjenige von Bekenntnis und Recht überwunden sei.

Barmen läßt mit geschichtlicher Wirksamkeit auch den von Günther Holstein de lege lata als deutsches gemeinprotestantisches Kirchenrecht dargestellten Trialismus von episcopalen, synodalen und konsistorialen Elementen hinter sich75.

Der Kirchenkampf hat dem letzteren Moment ein für allemal den Boden der Eigenständigkeit entzogen. Es wurde sichtbar, daß die beiden ersten Faktoren einen bleibenden biblischen Grund habe, der dritte jedoch nur historisch erworben war. Mit dem Verlust dieser Eigenständigkeit mußte das konsistoriale Element in Nachordnung und Abhängigkeit zu den beiden anderen treten. Der Grund dafür ist jedoch durch die Krise des Kirchenkampfes nur sichtbar geworden, nicht geschaffen worden. Er liegt darin, daß das geschichtliche Subjekt der konsistorialen Verwaltung, der Landesfürst, schon seit 1918 weggefallen war. Sobald ein innerkirchliches Subjekt für die Verwaltung hervortritt, kann sie keine Eigenständigkeit mehr durchhalten. Das subjektlose Konsistorialwesen hat solange weitergelebt, bis in der Mißbrauchbarkeit und Auswechselbarkeit seiner Leitung seine Unfähigkeit sichtbar wurde, im Sinne Holsteins eine dritte Kirchengewalt zu bilden76.

Wehrhahn sieht als dritten Gegensatz denjenigen von Kirche und Gemeinde überwunden. Dies trifft jedoch nicht im gleichen Maße zu. Die wirkliche Sachfrage nach dem Verhältnis von Gesamtkirche und Gemeinde wird wieder durch Übergang auf den abusus, durch Verweisung auf sicherlich unsachgemäße verfassungspolitische Gleichgewichtsvorstellungen, wie auf die Überlebtheit des landesherrlich-konsistorialen Elements verdeckt. So wenig die Frage gestellt wird, so wenig wird sie gelöst. Der richtige Vordersatz, daß „jede Gemeinde für das Leben der Gesamtkirche eine Mitverantwortung trage, wie sie auch ihrerseits von dem Leben der Gesamtkirche getragen und begrenzt wird” (S. 320), wird im Nachsatz in sein Gegenteil verkehrt: es sei erforderlich, daß

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die Aufsichtsbefugnisse der kirchenleitenden Organe auf dasjenige beschränkt werden, was um der rechten Verkündigung des Evangeliums willen unerläßlich sei, also eine fast independentistische Tendenz ausgedrückt. Statt Ausgleich und Verschränkung zwischen Gesamtkirche und Einzelgemeinde wird eine Art Rechtsvermutung zugunsten der letzteren geschaffen. Die exegetisch und kirchengeschichtlich von Harnack wie von Campenhausen und anderen seit langem gewonnene Erkenntnis, daß in der Urkirche die Einheit der Kirche der Einzelgemeinde entschieden vorausgestanden hat, wird gegenüber der Tradition der Partikularismus nicht einmal in Erwägung gezogen.

Bleiben wir bei einer überwiegend methodologischen Betrachtung der Wehrhahnschen Arbeit, so ist das Ergebnis eigenartig: Wehrhahn hebt mit Recht die Fortentwicklung seines Gegenstandes an drei entscheidenden Punkten hervor: Kirche und  Recht, Bekenntnis und Recht, Kircheneinheit. An allen drei Punkten verwandelt er den Fortschritt in den Monismus eines sehr einseitig und subjektiv verstandenen Bekenntnisbegriffs. Daß jene ersten beiden früheren Dualismus falsch und unsachgemäß waren, rechtfertigt nicht den stillschweigenden und schnellen methodischen Schluß, daß überhaupt kein Dualismus, richtiger: kein Ergänzungsverhältnis wesentlicher Elemente stattfinden dürfe. Daß gerade eine Einlinigkeit die Dinge in ungeistlicher Weise dem Menschen in den Griff legt, mag allenfalls ein argumentum ex abusu sein, welches nicht in die erste Linie gehört. Grundsätzlich scheint es mir darum zu gehen, die richtigen Ergänzungsverhältnisse anstelle der falschen Antithesen herauszustellen. Nicht von ungefähr scheiden bei Wehrhahn liturgisches Kirchenrecht, Amt und Gesamtkirche in mehr oder minder entschiedener Rückbildung aus dem Ansatz aus. Die Methode entscheidet über das Ergebnis, und dieses widerlegt sich durch seine Unvollständigkeit. Ein sehr einseitiges Bild wird uns mit großer Unbefangenheit als das verpflichtende Ergebnis eines kirchengeschichtlichen Vorgangs dargeboten. Der methodische Fortschritt ist nur der Übergang zu einer monistischen Konzeption, welche der sinnvoll sich ergänzenden Fülle des Kirchenrechts nicht gerecht wird. Die Frage, of diese Konzeption das Ganze des Gegenstandes, aber auch allein die vorfindliche Größe der lutherischen Kirche und Theologie auch nur in den Blick bekommt, für welche sie unbefangen Gültigkeit beansprucht, drängt sich auf. Aber das Programm des liturgischen Kirchenrechts bedeutet die Proklamation einer Revolution. Ein solches Wort hat Macht — man kann nicht eine Revolution einleiten und dann zurücktreten. Sie geht ihren Lauf.

Die bisherigen hauptsächlichen methodischen Ansätze der Kirchenrechtslehre, die sich als additiver und als konsekutiver kennzeichnen lassen, befinden sich in einem wesentlichen Punkte in Übereinstimmung: in der Nicht-Existentialität des Rechtes.

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Die klassischen Kirchenrechtstheorien verlaufen in dem Zirkel von Naturrechtslehre und Rechtspositivismus, in welchem sie sich immer nur gegenseitig widerlegen können, aus dem sie aber nicht herausführen. Die eine Linie führt zu deduktiven Konstruktion ohne wirksame Begrenzung und Bindung an den Gegenstand, die andere verliert erfahrungsgemäß die Substanz ihres Gegenstandes, so wie einem Wasser zwischen den Fingern zerrinnt. Im nachbürgerlichen Zeitalter, im Gegenschlag gegen die Objektivierungen älteren Stils und die entsprechenden Subjektivierungen des „ius humanum” tritt auch das Kirchenrecht in die Form des Existenzdenkens ein. Der „existenzielle Liberalismus” Bultmanns (Tillich) interpretiert bürgerlich-individualistisch wie den Menschen so die Kirche unter selbstverständlichem Ausschluss der (sozialen) Dimension des Rechtes. Der oben aufgezeigte Selbstwiderspruch Bultmanns macht sichtbar, daß er die Frage nach dem Recht gar nicht erreicht, weil das Recht als etwas „Äußeres”, „Nichtexistenzielles” vorausgesetzt wird.

Die Barmen-Interpretation Wehrhahns machte deutlich, warum Barth von seinem eigenen Schritte zurückweicht. In späteren Arbeiten hat sich jedoch Wehrhahn mehr als jeder andere in dem freilich nur kleinen Kreise der Kirchenrechtswissenschaft im deutschen Sprachgebiet mit dem Methodenproblem beschäftigt und sich mehr oder weniger bewußt zu einer existenzialen Interpretation des Kirchenrechts gedrängt gesehen. Diese Bemühungen sind aufschlussreich. Drei Arbeiten liegen hier vor, von denen die zweite die umfassendste ist77.

Wehrhahn begründet Kirchenrecht von einer Umschreibung christlicher Existenz als Dialektik von Gesetz und Evangelium. Den Einheitspunkt dieser Anschauung sieht er schließlich im paulinischen „hos me”, „Haben als hätte man nicht”.

Die Durchführung in der erstgenannten Arbeit brachte freilich befremdliche Ergebnisse. Die Kirchenrechtsfähigkeit erschien als die theologische Fähigkeit, die Dialektik von Gesetz und Evangelium zu vollziehen. Das war völlig aktualistisch, ungeschichtlich gedacht. Es mußte folgerichtig zu einer Bruderrätedikatur der Existenzdialektiker führen, ein fragwürdiger Fortschritt von der liberalen Synodaldemokratie in die „Volksdemokratie” theologischer Schulen. Diese Tendenz ist noch keineswegs überwunden und lebt etwa in der Theorie vom grundsätzlichen Vorrecht der aktivistischen Minderheiten fort.

Aus jener kurzschlüssigen Zuspitzung geht Wehrhahn in der größeren Arbeit zu einer ausführlichen und geschichtliche begründeten Erörterung der Regimenten- und Ususlehre für das Kirchenrecht über. Man muß zum Verständnis zunächst die entscheidenden Stellen zitieren:

„Noch schwieriger wird es, die Verwirklichungsweise des Christlichen (!) positiv zu umschreiben. Da Christus die Seinen befreit hat, dürfte sich hier kaum mehr sagen lassen, als daß seine Selbstbezeugung

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sich in eben dieser Freiheit... vollziehen wird, und da diese Freiheit des Jüngers vor allem eine Freiheit von sich selbst ist, in einem „Haben als hätte er nicht” sich ausdrücken wird, ... Vielmehr kulminiert hier das Positivum in Abwehr jedes einschränkenden Positivum: selbst Gottes eigenes Gesetz soll der Verwirklichung dieser von ihm selbst gewährten Freiheit keine Schranke mehr setzen.
Wir finden uns mit dieser Aussage im Bereich der Kirchenordnung, im Vollzug also nicht etwa der Justitia civilis, sondern der „fortgehenden Verwirklichung des Reiches Gottes” und somit der Justitia Dei ... Für die Autorität des Rechtes, das stets auf die Seite der „Form” gehört, scheint mit dem Gefälle der christlichen Existenz von der Form zum Inhalt und von der Norm zum Sein das Ende gekommen. Man steht hier vor dem äußersten Maß der Verflüchtigung jeder normativen Autorität. Aber man darf nicht vergessen, daß Ethik und Recht nicht einen Augenblick lang ihre Autorität verlieren, sondern lediglich „verfügbar” im Verhältnis zu einer anderen Autorität, zu Christus werden. ... Das „Gesetz” bleibt und wird zugleich verfügbar: es bleibt Gesetz und hört dennoch auf, letzte Autorität zu sein, es wird „mediatisiert” (S. 133/4).
„Da für weltliche Augen diese Autorität des Evangeliums in nichts anderem als in der freien Entscheidung von einzelnen oder Gruppen zutagetritt, läßt sich für säkularisiertes Denken die Feststellung nicht umgehen, daß das reformatorische Verständnis des Evangeliums potentiell jeden Christen zum Rechtsbruch ermächtigt ... Mit dieser Ermächtigung zum Brüche oder zum Dispens von bestehenden Normen, die das reformatorische Verständnis des Christlichen jedem wirklichen, d.h. hos me sein Dasein führenden Christen potentiell zueignet, dürfte die Aporie des neuzeitlichen Rechtsverständnisses gegenüber dem Christlichen dargetan sein. Recht kann sich nicht anders als durch Gelten verwirklichen: Verwirklichung des Christlichen (!) aber kann sich nicht in einem ,Gelten’ irgendwelcher Art erschöpfen.” (S. 138/9)

Die bisherigen Anschauungen des evangelischen Kirchenrechts, welche Recht als verfügbare Gestaltung außerhalb des Bereichs des Evangeliums oder als konsekutive Erscheinung verstehen, sind hier sorgfältig auf das Schema der Existenzdialektik von Gesetz und Evangelium aufgetragen. Recht ist Norm, deren Verbindlichkeit diejenige des Gesetzes im theologischen Sinne ist, welche aber von Christus in Dienst genommen ist, daher von der christlichen Existenz her immer grundsätzlich aufgebrochen werden kann und muß. Auch die justitia dei ist so zu interpretieren — auch weil und soweit Kirchenrecht justitia dei verwirklicht, ist diese ebenso auf Freiheit, auf Durchbrechbarkeit auszulegen. Das Gesetz ist Form und Norm, das Evangelium Inhalt und Durchbrechung der Norm und Form vom Inhalt her. Die „Form” wird „hos

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me” gebraucht, und vom „Inhalt” her jeweils eschatologisch in Frage gestellt. Der Untergrund liegt wohl in Barths Theorie der Grenzsituationen, in denen jede durchgängige Aussage gleichviel welcher Art immer durchbrechbar erscheint.

Man muß freilich sagen, daß dieser recht große methodische Aufwand in der Umsetzung der Kirchenrechtslehre auf eine neue Denkform im Ergebnis hier nur wenig austrägt. Er bringt wenig, weil er wenig kostet, d.h. weil an keinem wesentlichen Punkte eine herkömmliche Anschauung kritisch betrachtet und preisgegeben wird. Es ist die Form neu, der Inhalt fast konventionell.

Wir sehen einen rein normativen und sogar rein voluntaristisch-positivistischen Rechtsbegriff: wir sehen eine extrem spiritualistische Unterscheidung von Gesetz als Form und Evangelium als Inhalt, und schließlich eine supranaturale Durchbrechung der immanenten Formgesetzlichkeit. Die Ermittlung des theologiegeschichtlichen Standorts dieser Lehre wäre schon interessant, ist aber hier nicht nötig. Liegt sie, wie Wehrhahn behauptet, in der mit gewissen Schwankungen durchgehaltenen „gesunden” Traditionslinie lutherischer Kirchenrechtslehre, dann hätte er das Verdienst, unter Abstoßung von Verkleidungen deren spiritualistischen Charakter mit unvergleichlicher Schärfe herausgehoben zu haben. Sachlich wird hier nach wie vor theologisches Gesetz und Recht exklusiv als Norm verstanden und zugleich Existenz im Recht damit ineinandergesetzt, Existenz unter dem Evangelium dagegen als freier Gebrauch und Durchbrechung des Rechts (Gesetzes). Damit ist Recht wohl eine zur Benutzung angenommene, aber außerhalb der Existenz unter dem Evangelium liegende Größe. (Bemerkenswert ist, daß dieser Rechtsbegriff ständig als „modern”, „säkular” bezeichnet, wobei die Verbindlichkeit dieser Modernität nicht problematisch ist.) Das Kirchenrecht vollzieht sich so wesentlich in der ständigen Durchbrechung seiner selbst, seiner ständigen Selbstaufhebung. Die Kapitulation vor dem säkularen Rechtsbegriff ist nicht nur vollständig, sondern vor allem notwendig. Denn nur der extreme, reine Nominalismus dieser Anschauung, die völlige Reinigung vom „Inhalt” rechtfertigt den Radikalismus der permanenten Infragestellung — Nur so kommt die Schwarz-Weiß-Malerei dieser Dialektik heraus.

So hat Gott alles Recht, ist alles Recht bei Gott — und keines beim Menschen — insoweit gut und recht. Aber dieser allmächtige Gott ist zufolge der theologischen Rechtslehre außerstande, dem Menschen sein Recht zu schenken. Er darf nur lösen, nicht binden. Vor Judentum und Islam haben wir nur so noch die Kritik am religiösen Gesetz voraus, aber nichts Evangelisches, was etwa in der Kirche — horribile dictu — „inhaltlich” festzuhalten wäre.

Die ganze Existenz der Kirche wird in dieses dialektische Schema hineingepreßt und dies noch mit der eigenartigen Antithese von Form

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und Inhalt verbunden, während gemeinhin eine Freiheitsethik eher als formale, also gerade in umgekehrter Verwendung des Begriffes erscheint.

Die Achillesferse dieser so schart umrissenen Lehre liegt darin, daß sie von einer extrem nominalistischen Rechtsontologie abhängig wird. Diese (negativ gewertete) Rechtsontologie (Recht = rein willensmäßig gesetzte Norm = theologisches Gesetz) wird zur Voraussetzung eines evangelischen Kirchenrechts oder seines evangelischen Gebrauchs, so daß fraglich ist, ob material vom Kirchenrecht als einem spezifischen Rechtsgehalt gesprochen werden kann. Die positive Substruktion des katholischen Kirchenrechts, des ius divinum durch das ius naturale und das ius positivum in der scholastischen Stufenordnung wird umgekehrt in eine negative Substruktion, eine negative Voraussetzung, in Aufhebung, ständiger Durchbrechung oder Funktionalisierung. So klärt sich auch die Frage, ob hier Tradition oder Sondermeinung vorliegt: die Übereinstimmung mit Heckel ist verhältnismäßig groß. Es fehlt vom Herkömmlichen nicht viel, was hier nicht in etwas veränderter Terminologie wiedererscheint. Keinesfalls bleibt — etwa in der Lehre vom Amt, die hier nicht recht hineinpaßt — genug übrig, um eine durchgeführte Kirchenrechtslehre aufzubauen.

Der formale Übergang in die Struktur des Existenzdenkens hat nun doch den Vorzug, uns bei der Frage nach der existenzialen Interpretation des Kirchenrechts festzuhalten. Dabei zeigt sich ein weiteres durchgreifendes Bedenken gegen Wehrhahn. Ist überhaupt die Existenzfrage richtig gestellt? Denn der tertius usus legis, auf den alles zuläuft, ist ein modus des Verhaltens des Christen in und gegenüber der Welt. Im Kirchenrecht geht es aber darum, wie der Christ überhaupt zum Christen wird, wie der Leib Christi als solcher im Gegensatz zur Welt auferbaut wird. „Ut hanc fidem consequamur, institutum est ministerium” usf. (CA V). Hier mach sich unheilvoll die vollkommene Ablösung der Kirchenrechtslehre von allen konkreten Fragen des Kirchenrechts bemerkbar. Es wird nicht nur alles Rechtliche normativiert, sondern auch durch die Verallgemeinerung des Normbegriffs der spezifische Gegenstand des Kirchenrechts verloren — genau so wie der Normativismus des Katholizismus beliebige Dinge zweckhaft in das Kirchenrecht einbeziehen kann, auch wenn sie nach Form und Gehalt mit dem geistlichen Charakter der Kirche in Widerspruch stehen, wie z.B. das kirchliche Strafrecht. Sieht man aber auf die im Kirchenrecht wirklich anstehenden Fragen, Bekenntnis, Lehre, Ämter, Sakramentsverwaltung, so zeigt sich, daß hier die Hos-me-Dialektik gar nicht paßt. Hier muß — wenn überhaupt echte Entscheidungen anstehen! — mit aller Gewissenhaftigkeit, aber auch Entschlossenheit im Vertrauen auf die Verheißung des Geistes gänzlich undialektisch entschieden und gehandelt werden, — auch die Nichtentscheidung ist hier eine Entscheidung. Das Kirchenrecht

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interessiert sich überhaupt nicht für die Individualexistenz des Menschen, sondern um den Auftrag und die Vollmacht allein, vermöge deren Menschen Gott zur Auferbauung der Kirche dienstbar werden.

In ähnlicher Richtung bewegt sich auch die Kritik Johannes Heckels in einer Besprechung78 der Wehrhahnschen Arbeit:

„Ist es methodisch richtig, den tertius usus legis so zur Ausgangsposition zu machen, wie es der Verfasser tut? Es wird darauf abgestellt, daß Christus die Seinen von dem Zwang des Gesetzes befreit hat, so daß dieses für die Gläubigen — wie Luther sagt — eine lex sine lege geworden ist. Analog wird die Kirchenordnung als ein Gesetz beschrieben, dessen Geltungsanspruch im konkreten Fall um der Verwirklichung des Reiches Christi willen zensiert. Aber hat diese Argumentation nicht einen Sprung? Die Befreiungstat Christi bezieht sich doch auf das göttliche Gesetz in seiner Wirkung als lex irae. Trifft denn auf eine menschliche Kirchenordnung dasselbe Merkmal zu? Steht sie unter dem Fluch des göttlichen Gesetzes?”

Unter 4 wird ebenso mit Recht darauf hingewiesen, daß die Handhabung des Bindeschlüssel eben nicht in beiden Regimenten steht, sondern allein geistliches Regiment ist. Heckel hat gegen Wehrhahn sicherlich mit dem Einwand Recht, daß der theologische Ort des Kirchenrechts nicht der tertius usus legis ist. Seinem Anliegen und dem Problem selbst wird freilich Heckel damit nicht gerecht. Indem Wehrhahn das Kirchenrecht aber in einer ständigen Zweideutigkeit zwischen Evangelium und Gesetz hält, denkt er im Grunde gar nicht dialektisch. Daß im Kirchenrecht in einer unerhörten Weise Gericht und Gnade, Zukunft und Gegenwart in proleptischer Eschatologie (Linton) zusammentreffen, wird gerade nicht von ihm wahrgenommen. Auch der Heckelschüler Siegfried Grundmann übt an der Verwendung des tertius usus legis als Grundlage einer Kirchenrechtstheorie ausführlich Kritik79.

Diese berechtigte Kritik an der Durchführung läßt das Verdienst des Wehrhahnschen Versuchs, eine andere Methodik einzuführen, nicht hervortreten.

Kirchenrecht ist Dienstrecht. Obwohl Wehrhahn sicher sagen wird, daß es diese christliche Existenz nicht ohne die Gemeinde gibt, steht faktisch zunächst die Einzelexistenz zur Erörterung und dann erst die Kirche, in der dieser Christ etwas kirchenrechtlich Bedeutsames tut. Es liegt eine Verwechslung der Existenzsituation vor, von der überhaupt zu reden ist.

Wenn dieser Versuch existentieller Interpretation des Kirchenrechts nicht befriedigt, so ändert dies nichts daran, daß die methodologische Lage auf Lösungen in dieser Richtung drängt. Die Aufgabe steht freilich unter besonderen Bedingungen. Es muß die Heilige Schrift in der Exegese unter Ausschluss des regressus ad infinitum zu ihrem unverkürzten Recht kommen — aber es kann nicht einfach aus ihr deduziert werden,

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schon weil die philosophisch-begriffsgeschichtliche Auslegung die rechtlichen und sozial-geschichtlichen Strukturen und ihren Stellenwert nicht erreicht. Es kann aber auch das Kirchenrecht nicht ohne die Einbeziehung der geistlichen Erfahrung der Kirche selbst, der Erfahrung behandelt werden, welche sie miete dem Heiligen Geist und sich selbst in Geschichte und Gegenwart gemacht hat. Die Frage nach dem, was geschehen darf und soll, kann nicht beantwortet werden ohne die strenge Prüfung, was im geistlichen Handeln der Kirche seit jeher konkret geschieht und in diesem Raum überhaupt geschehen kann. Mit diesen beiden Blickrichtungen verbindet sich schließlich unvermeidlich die Geistesgeschichte des Rechtes als Formgeschichte, und seine Phänomenologie. Die Rückrechnung von dort aus erschließt unentbehrliche kritische Einsichten gegenüber der Selbstverständlichkeit von Entscheidungen, die ihre eigene Herkunft verkennen. Die Kirchenrechtslehre ist der Schnittpunkt, der geometrische Ort dieser drei Blickrichtungen. Deshalb kann auch dieser Versuch nicht einfach die Durchführung vorangestellter Grundsätze sein, sondern muß sich am Gegenstande selbst bewähren. Diese methodische Anlage im Auge zu behalten, ist der Leser gebeten.

Diese Arbeit ist aus einem lebhaft empfundenen Ungenügen an Verkündigung und Theologie entstanden, welche mir wesentlich erscheinende Aussagen der Schrift — besonders, aber nicht allein diejenigen rechtlichen Gehaltes — beiseitestellte oder mißzuverstehen schien. Aber erst der Blick auf das konkrete Handeln der Kirche zeigte mir den festen Boden, auf dem allein die Kirchenrechtstheorie zur Kirchenrechtslehre werden kann. Andererseits vermißte icht ebenso von jeher bei den Vertretern meines eigenen Faches das Interesse an der existentiellen Bedeutung der Denkstrukturen des Rechts, welche sie zu Unrecht der Philosophie überließen. Eine durchgeführte und anerkannte Phänomenologie des Rechtes fehlt uns bis heute. Der gewaltsame hegelsche Schematismus in Dulckeits „Philosophie der Rechtsgeschichte” bietet keinen Ersatz dafür.

Dabei sollte nicht vergessen werden, daß die Jurisprudenz nach der berühmten römischen Definition eine Kunst, und erst in zweiter Linie eine Wissenschaft ist. Die Rechtsbildung als elementarer Lebensvorgang verhält sich zu ihrer wissenschaftlichen Klärung wie Erwin v. Steinbach und Schinkel, wie Rembrandt und van Gogh zu Kunstakademie, zu Ästhetik, Kunstkritik und Kunstgeschichte. Deshalb geht es auch im Kirchenrecht zu allererst um jene gültige Gestaltung, welche von einer tieferen Lebenswahrheit zeugt.

Das Kirchenrecht handelt von der Begründung und Erhaltung geistlicher Existenz, einer neuen Existenz coram deo. Es ist der Inbegriff der (Rechts-)Vorgänge, in denen sich Gott der Menschen bedient, um sein existenzbegründendes Gnadenrecht inmitten der Welt wirksam werden zu lassen. Wenn wir hier endlich schlicht zur Sache kämen, statt

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über Recht, Norm und Existenz allgemein zu reden, so brauchte nicht jede Kirchenrechtslehre wieder ab ovo anzufangen, um längst vor den konkreten Fragen sich in der Allgemeinheit zu verlaufen, zu erlahmen. Nachdem man einmal Recht und Existenz künstlich getrennt hat, ist es ein fast hoffnungsloses Unternehmen, ihre Zusammengehörigkeit, die existenziale Dimension des Rechtes in den Blick zu bringen.

Die hier anstehenden Existenzfrage ist diejenige der Kirche: Bonhoeffer hat sie in „Sanctorum communio” als „Christus als Gemeinde existierend” formuliert. Worin und wie die rechte Kirche recht lebt, ist die Frage des Kirchenrechts. Wehrhahn enttäuscht mit seinem positiven Versuche auf dem traditionellen Grunde von Nominalismus, Spiritualismus und Supranaturalismus wirksamer, als alle Kirchenrechtsbestreitung es vermag. Wie kann man mit dieser Umkehrung des scholastischen Spiritualismus — denn ein solches System ist das römische! — diesen überwinden, wenn man im Grunde doch immer nur an den Problemen des Gesetzes bleibt?!

In allen Konzeptionen, Theorien, Terminologien besteht längst vor Sohm, vielleicht schon seit der Reformation über Sohm, Holstein, Heckel hinweg bis zu Wehrhahn ein magnus consensus darüber, daß das Recht im Lichte des Evangeliums eine negative Existenzbestimmung des Menschen ist. Wehrhahns Existenzialismus sieht deutlicher als die herkömmliche Verwerfung des Rechtes als neues unerfüllbares Gesetz, daß in der Rechtsfrage ein illegitimes „Haben”, nicht nur ein Sollen auftritt — richtiger — auftreten kann. Aber diese ganze Erwägung wird gegenstandslos, wenn Gott selbst frei gibt. Diese positive Existenzbestimmung des Menschen im Recht ist die Gnade. Aber wiederum handelt das Kirchenrecht nicht von der Gnade, sondern von der anbefohlenen Begnadigung: es handelt nicht vom Stand des Christen, sondern von dem zu instituierenden Christen, von der Auferbauung des Leibes Christi, von der oikodomé. Das Kirchenrecht hat einen eigentümlichen transitorischen Charakter: es läßt das Gesetz hinter sich und wird als Gesetz mißbildet und mißverstanden — es hat die letzten Dinge vor sich. Aus dieser Spannung schöpft es seine Kraft und Fülle des „Nicht-mehr” und „Noch-nicht” zugleich.

Begriff und Vorgang der Gnade als Rechtsbegriff und Rechtsvorgang ist jedoch dem theologischen wie dem säkularen Recht verlorengegangen. Auch dieser Einengung der Perspektive erklärt sich die ständige Selbstverhinderung des evangelischen Kirchenrechts, das vor lauter Grundlagenproblematik nicht zu sich selbst kommt. Die Theologie weiß nicht mehr von der Gnade als Recht, und die Jurisprudenz weiß nicht mehr vom Recht als Gnade. Aber Theologie und Kirche verlieren dabei mehr als die Jurisprudenz.