1. Additiver und dialektischer Kirchenrechtsbegriff

Die Kirchenrechtslehre geht gemeinhin von der Tatsache aus, daß ihr Gegenstand ein Doppelbegriff ist. Es kann von der Kirche, mit oder ohne Einschluß rechtlicher Gesichtspunkte, allgemein und für sich geredet werden. Es kann auch ebenso vom Rechte allgemein und für sich geredet werden und der Kirchenrechtsbegriff muß mit dem Rechtsbegriff vereinbar sein. So finden wir fast durchgängig in den Einleitungskapiteln der Kirchenrechtslehrbücher eine wenigstens allgemeine Verhältnisbestimmung beider Größen.

Die Entwicklung des Begriffs Kirchenrecht bietet sich von selbst in den beiden Idealbegriffen Recht und Kirche dar. Dies drückt sich zugleich darin aus, daß die Juristen wie die Theologen, hauptsächlich die Vertreter der praktischen Theologie, jeweils von sich aus Entwürfe einer Kirchenrechtslehre vorlegen und das Recht in Anspruch nehmen, die erforderliche Verbindung mit dem fremden Fach zu vollziehen5.

Es stellt sich daher von beiden Seiten gesehen das Problem des Kirchenrechts als dasjenige der Verbindung dieser beiden Größen dar. Die so gestellte Frage kann aber nur unter der Voraussetzung einer Wesensverschiedenheit von Kirche und Recht durchgehalten werden. Dies ist nicht allein von Sohm in dem berühmten Satze von der Unvereinbarkeit von Kirche und Recht vertreten worden, sondern tritt auch in denjenigen Anschauungen hervor, welche Kirchenrecht nur auf Grund von staatlicher Verleihung zulassen wollen. Überwiegen bei Sohm die theologischen Motive, so in der letzteren Meinung die juristischen. Die Vorstellung von Kirche und Recht als zweier verschiedener Wesenheiten nötigt dazu, neben der Kirche, die ohnehin in irgendwelchen Subjekten des Handelns in Erscheinung tritt, ein von der Kirche gesondertes Subjekt der Rechtsbildung anzunehmen, welches dieses Recht der Kirche erst verleiht und in die Hand gibt, wenn es nicht von vornherein dieses Recht für die an sich rechtlose Kirche fürsorglich ausübt. Der zunächst als subjektlose Idee gefaßte Rechtsbegriff ordnet sich von allein einen Träger zu, ohne den er nicht leben kann. Das ist dann regelmäßig die weltliche politische Gewalt. Die Neigung zum Staatskirchentum entsteht von Seiten der Kirche und Theologie her nicht erst durch Reflexion über die beiderseitigen Aufgaben und die Wechselwirkungen von Kirche und Staat, Kirche und Welt, sondern weit voraus durch die Vorstellung vom Verhältnis von Kirche und Recht, als eine rein innertheologische Erwägung über das opus proprium der Kirche. Von der Seite des Staates entsteht die gleiche Anschauung im Maße der Ausbildung des

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Souveränitätsbegriff, wie besonders die vorreformatorische Tendenz zum Landeskirchentum in zahlreichen gut katholischen Fürstentümern zeigt. Sie bedeutet eine staatsrechtliche Rückwärtsrevision des konstantinischen Bundes, der mit der Verschränkung zweier eigenständiger Rechtsträger eine einschneidende staatsrechtliche Veränderung im Sinne einer Brechung und Begrenzung der staatlichen Souveränität enthielt.

Nun ist die These vom Rechtsmonopol des Staates im kirchenrechtlichen Territorialismus des absoluten Fürstenstaates vorbereitet, von Hegel philosophisch begründet, aber praktisch übernommen worden vom idealistischen Hochliberalismus des 19. Jahrhunderts. Sie führt dort zu dem Ansprüche, nur diejenigen kirchlichen Rechtsformen und Öffentlichkeitswirkungen zu dulden, die dem — in hohem Grade weltanschaulich bestimmten — politisch-polizeilichen Interesse der Staatsgewalt nicht zuwiderlaufen. Das beruht zugleich auf dem offen vertretenen Schlüsse, daß jedes solches Zuwiderlaufen nach dem maßgebenden Urteil der Staatsgewalt selbst dem Wesen und der Aufgabe der Kirche widerspreche. Der liberale Staat bildet selbst mit ausschließender Wirkung einen scharf umrissenen Kirchenbegriff und setzt eine extrem spiritualistische Kirchenrechtstheorie mit energischen Eingriffen durch. Er ist weder neutral noch tolerant6. In alledem sind Absolutismus und Liberalismus einander sehr verwandt. Es ist ein säkularer Anspruch und eine säkulare Intoleranz. Für totale Staaten ist diese Theorie sehr bequem, da sie das Kirchenrecht in den Anspruch bürgerlich-individualistischer Gesinnungsfreiheit auflöst.

Jene liberale Anschauung hat den Vorrang denkerischer Folgerichtigkeit. Sie tritt aber nur selten rein hervor. Es überwiegt die unklare und mehr praktische Tendenz, so viel als möglich aus dem Rechtsbereich als kirchenfremd und geistwidrig nach außen abzugeben und die geschichtlich erfolgte Abtretung als bequeme und doch grundsätzlich begründete Regelung festzuhalten.

Noch 1920 konnte im Preußischen Landtag von kirchlich-liberale Seite der anachronistische Vorschlag erwogen werden, das landesherrliche Kirchenregiment in der Gestalt dreier „minister in evangelicis” nach dem Vorbilde des Königreichs Sachsen fortzusetzen.

Es erscheint sodann die These von der Zuordnung zweier verschiedener Wesenheiten in milderer Form in der von Kahl formulierten Frage nach der „Möglichkeit oder Notwendigkeit des Eintritts der Kirche in die Rechtsordnung”. Diese Frage liegt die Anschauung zugrunde, daß die Kirche in das Recht wie in ein besonderes Kraftfeld, in einen besonderen Aggregatzustand eintrete.

Nun wird aber gerade die radikale Ausprägung des Trennungsgedankens, das Rechtsmonopol des Staates weit überwiegend von den Juristen abgelehnt — auch von Kahl selbst. So sagt etwa Friedberg7:

”Da das Recht als Inbegriff der Normen definiert werden muß,

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welche innerhalb eines ... bestimmten Kreises von Menschen deren Zusammenleben ordnet, so kann die Existenz des Rechts nicht von seiner staatlichen Anerkennung abhängig gemacht werden. Vielmehr setzt der Staat den Begriff des Rechts voraus. So kann es auch nicht zugestanden werden, ein Kirchenrecht nur soweit als existent anzunehmen, als es vom Staat geboten oder erzwungen wird”.

Die von den Juristen selbst als unhaltbar preisgegebene These vom Rechtsmonopol des Staates nimmt Beintker8 in der Form wieder auf, daß er von der „Hoheit des Staates über das Recht” spricht; der Staat habe der Kirche das Recht zu selbständiger Ordnung ihrer Gemeinschaft übertragen.

Freilich nehme sie bei der Gestaltung ihrer Ordnung am allgemeinen Rechtsleben teil. Dies gehöre zu ihrem Gestaltwerden als einer im Glauben verbundenen Gemeinschaft in dieser Welt. Die additive Kirchenrechtstheorie tritt in dem Schlußsatz klar hervor: „Es tritt auch das geschichtliche bedingte und von den Zeitanschauungen abhängige Recht hinzu9”.

Daß hier mit der Anerkennung der Rechtshoheit des Staates keine Allmacht des Staates begründet werden soll, trägt als Limitierung nicht viel aus. Die nachfliegende Erwägung wird nicht angestellt, daß der Staat, der der Kirche das Recht zur Ordnung ihrer Angelegenheiten verleiht, es ihr auch verweigern kann. Könnte er es aber nicht verweigern, so wäre es eben ihr eigenes, vom Staat nur anzuerkennendes Recht. Diese Frage bleibt unklar, weil die sekundäre Frage der iura circa sacra in dem Wunsche, möglichst wenig Kirchenrecht bejahen zu müssen, zur primären gemacht wird. Dadurch wird die entscheidende Frage nach dem iura in sacra beiseitegedrängt, sie werden durch die Betonung der Wandelbarkeit der Kirchenrechtsformen noch nach Möglichkeit relativiert. Die dem Protestantismus selbstverständliche, theologisch wohlbegründete Loyalität gegenüber dem Staate als einer Stiftung Gottes wird dazu benutzt, ohne letztlich eindeutigen Austrag der Frage das Kirchenrecht ins Zwielicht zu stellen. Dabei werden alle das Kirchenrecht limitierenden Stimmen in Richtung auf eine Beiseitedrängung ausgelegt und oft geradezu mißverstanden. Beintker stützt sich hier auf eine Kritik von Erdmann Schott an der Darstellung Heckels. Die scholastischen Begriffe des ius divinum und des ius humanum, welche in gefährlicher Weise abgrenzbare Bereiche objektivieren, werden benutzt, um die bestehende Unklarheit mit dem Ziel der Kirchenrechtsverneinung zu verwerten. Die hier entstandene Kirchenrechtstheorie des theologischen Neuliberalismus gehört methodologisch in den Bereich der additiven Kirchenrechtstheorie10.

Diese Lehre befindet sich freilich in einem Selbstwiderspruch. Sie lehnt eine theologische Begründung des Rechts in allen ihren vorfindlichen Richtungen ab und will die Rechtslehre ausschließlich der Zuständigkeit

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der Juristen überlassen, weil sonst eine unzulässige Vermischung von Kirche und Recht als Evangelium und Gesetz eintrete11. Wenn das so ist, werden die Theologen für das Kirchenrecht nicht wohl eine längst obsolet gewordene und als überwunden anzusehende Rechtstheorie wie die vom Rechtssetzungsmonopol des Staates ihren Erwägungen zugrundelegen dürfen12. Sie müssen sich mit der mindestens empirischen Eigenständigkeit des Kirchenrechts abfinden, die rein innerjuristisch aus ganz allgemeinen, nicht allein kirchenrechtlichen Erkenntnissen folgt, wie auch die zitierte Äußerung von Friedberg zeigt13.

Kann jedoch die Rechtstheorie selbst die Kirche als empirischem Verband die Fähigkeit der Rechtsbildung nicht bestreiten, so fällt jene grundsätzliche Trennung und anschließende Verhältnisbestimmung zweier verschiedener dynamischer Wesenheiten hinweg.

Damit wird Kirchenrecht als Recht der Selbstverfassung und Selbstorganisation, als genossenschaftliches scheinbar einleuchtend begründet. Aber gerade diese Evidenz verliert sich bei näherer Betrachtung sehr schnell. Dieses kirchliche Genossenschaftsrecht gerät zwischen die Mühlsteine der Geistlichkeit der Kirche auf der einen, des politischen Anspruchs des Staates auf der anderen Seite. Denn das Vereins- und Körperschaftsrecht ist ein Teil der öffentlich-rechtlichen Ordnung und aus ihr nicht herauslösbar. Es gibt lange Perioden der Rechtsgeschichte, in denen vom Rechte selbständiger Korporationsbildung gar nicht die Rede sein kann. So kannte auch das römische Recht zur Zeit der Entstehung der Kirche kein Recht der freien Vereinsbildung. Das ist für die Existenz der ersten christlichen Gemeinden von großer Bedeutung gewesen. Die Ausnahme der Begräbnisvereine, welche die lebendige Pietät des römischen Denkens duldete, bot nur eine Aushilfe. Es ist jedenfalls das Recht der Genossenschaftsbildung ein historisches, kein Naturrecht. Nur über sehr weittragende und problematische Naturrechtssätze kann man das Eigenrecht der Kirche mit der Vereinigungsfreiheit begründen, da ja diese Begründung für alle sozialen Systeme gelten müßte. Auch auf einer solchen vagen Basis eines naturrechtlichen Postulats würde nun die kirchengründende und kirchenerhaltende Autorität des Wortes Gottes von der ethischen Selbstverpflichtung der einzelnen Subjekte abhängen, die sich zum Rechtsverband vereinigen. Der Stiftungscharakter der Kirche, ihre Vorgegebenheit vor der geistlichen Existenz jedes einzelnen würde geleugnet. Das heißt also: die naturrechtliche Selbstverfassungstheorie setzt an die Stelle des Rechtsmonopols und der Souveränität des Staates die gleichen Ansprüche der Einzelnen. Eine andere Frage ist es, ob man unter Berufung auf naturrechtliche Autonomievorstellungen gewisse Freiheitsrechte der Kirche mit einigem Erfolge verfechten kann, weil und soweit solche Anschauungen etwa anerkannt sind, also unter Benutzung kirchenrechtsfremder weltlicher Anschauungen. Eine Begründung des Kirchenrechts selber ist hier nicht zu finden.

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Die Selbstverfassungstheorie ist jedoch im Ansatz selbst mehrdeutig. Sie kann im Sinne der Holstein’schen Zuordnung vom Geistliche und Rechtskirche auf die letztere bezogen und also im Sinne einer dualistisch-additiven Theorie benutzt werden. Sie kann aber auch als eingestiftetes Rechtselement der Kirche gedeutet werden und führt dann in eine einlinige Kirchenrechtstheorie hinüber, die ich vorgreifend als konsekutive bezeichnen will.

Die additive Kirchenrechtstheorie ist jedenfalls zum Verständnis unseres Problems ungeeignet. Denn entweder verhalten sich Kirche und Recht nach den Gesetzen der Mechanik zueinander, verdrängen sich räumlich oder verändern gegenseitig ihren Aggregatzustand. Dann bleiben sie letztlich und in der Tiefe geschieden, kommen in Wahrheit niemals zueinander. In diesem Ansatz steckt die Vorstellung, das Recht sei etwas, was zum Leben des Menschen und insbesondere zum Leben der Kirche hinzukomme. Es ist leider wegen unserer Gefallenheit unvermeidlich. Die Früchte des Gemeinschaftslebens verderben, wenn man sie nicht schützt. Das ist eine Art Konservierungsmittel, um sie frisch zu halten. Man muß es im rechten Maß anwenden, damit es diesen Zweck erfüllt, aber nicht Qualität und Geschmack verdirbt. Diese Konservierungstheorie beherrscht zum großen Teil die Vorstellungen der in der Kirche rechtlich Handelnden. Oder aber: die Rechtsbildung ist eine genuine Lebensäußerung auch der Kirche — dann hebt sich die Frage von selbst auf. Mit einem additiven Verständnis ist die Frage also immer schon vorweg dahin entschieden, daß sich die Kirche gegen den Einfluß einer solchen anderen geistigen Größe wenden muß, sofern sie eben die These der Wesensverschiedenheit wirklich durchhalten kann und nicht nur als halbe und einschränkende Tendenz vertritt.

Als eine theologische Spielart der additiven Kirchenrechtstheorie ist die Form dialektischer Zuordnung von Kirche und Recht zu bezeichnen. Diese dialektische Zuordnung beschreibt Herbert Wehrhahn in der einleitenden Studie zu seinem Buche14 wie folgt, ohne sich mit ihr zu identifizieren:

„Die Werke v. Zezschwitzens und Th. Harnacks hatten an den Tag gebracht, daß die lutherische Theologie im Laufe des 19. Jahrhunderts ein radikal dialektisches Denken ausgebildet hatte, daß sie ihre bestimmenden Begriffe, und auch gerade diejenigen, die für die Kirchenrechtstheorie die Bedeutung von Grundbegriffen haben, wie die Begriffe Kirche, Amt und Bekenntnis, als Funktion verstand,  die ihren Sinn dem Verstehenden in seiner jeweiligen Situation neu enthüllen, während die Kirchenrechtswissenschaft sie nach wie vor nicht anders als statische oder Substanzbegriffe — Kirche und Amt als Institutionen, Bekenntnis als Norm von grundsätzlich zeitlos gleichbleibendem Inhalt — verstehen konnte”.

Die Bedeutung dieses Gedankens kann man erst erkennen, wenn man

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die hier polemisch verwendeten Begriffe wie Institution, statisch, Substanz usw. als verdunkelnde ausscheidet, deren Unangemessenheit hier nicht besonders zu begründen ist. Ein dialektisches Verhältnis bedeutet abgesehen von jedem Sachverhalt die Zuordnung zweier gegensätzlicher Momente, die aufeinander angewiesen sind, einander gerade in ihrer Gegensätzlichkeit bedingen, also nicht voneinander gelöst werden können. Die dialektische Zuordnung behält deshalb die Gegensätzlichkeit der von ihr umschlossenen Elemente scharf im Blick, setzt aber doch ihre formale Gleichwertigkeit in einem Maße voraus, wie es in dieser Auffassung kaum ernstlich gemeint sein kann. Die innere Dialektik der theologischen Begriffe überträgt sich hier auf das Verhältnis von Kirche und Recht. Die Dialektik, um die es dann geht und die in einer früheren Studie Wehrhahns selbst zur Grundlage des Kirchenrechts zu nehmen versucht hat, ist diejenige von Gesetz und Evangelium. Es drückt eben das aber den geschichtlichen Zustand des lutherischen Landeskirchentums sehr gut aus, und nicht von ungefähr stammt dieser Entwurf von führenden praktischen Theologen des Luthertums. Denn was beiden Elementen des Kirchenrechtsbegriffs an Gleichwertigkeit qualitativ abgeht, wird durch das überragende Gewicht des Staatskirchentums quantitativ ersetzt. Die begrifflich unvollständige Dialektik besteht also immerhin in den tatsächlichen Gewichtsverhältnissen.

An diese Stelle gehört Günther Holstein als der letzte Autor, der ein zusammenhängendes System des evangelischen Kirchenrechts in Deutschland vorgelegt hat. In seinem deutlich vom Geist der deutschen Idealismus geprägten Entwurf ist am bewußtesten der Dualismus von Kirche und Recht vertreten und durchgeführt worden. Es ist in mehrfacher Richtung bemerkenswert.

1. In seiner ausführlichen Einleitung über die Reichs-Gottes-Theologie, von welcher er ausgeht, macht sich die im 20. Jahrhundert eingetretene Theologisierung der Kirchenrechtslehre entschieden bemerkbar.

2. Holstein schreibt über die Kirche der Altpreußischen Union und von ihr aus mit einem gewissen Führungsanspruch dieses damals nicht nur größten, sondern auch allein gesamtkirchlich verfaßten deutschen Kirchenkörpers. Er kann aber auch de lege lata auf einen weitreichenden Bestand gesamtevangelischen Kirchenrechts in Deutschland und darauf hinweisen, daß der Gegensatz von unierten und bekenntnisgebundenen Kirchen hier trotz aller Unterschiede keine durchgreifende Bedeutung besitze. Die theologische Bekenntnisbindung wirkt sich damals jedenfalls im Kirchenrecht nicht entscheidend formbildend aus.

3. Holstein steht insofern jenseits des theologischen Liberalismus, als gerade der radikale Unterschied zwischen der Autorität des Wortes Gottes und dem Stiftungscharakter der Kirche auf der einen, und allen genossenschaftlichen Elementen der Selbstverfassung auf der anderen Seite ihn zu seinem Schema von Wesenskirche und Rechtskirche

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nötigt. Damit ist das Gefälle zur weiteren Theologisierung des Problems geschaffen. Aber er steht über Aufklärung und Liberalismus hinweg zugleich selbst im Zuge einer dualistischen Tradition, welche durch die Luther-Renaissance wieder hervorgetreten ist, freilich mit sehr einschneidenden Verschiebungen.

Die einschlägigen Untersuchungen sind schwer hier in Ansatz zu bringen, weil sie grundsätzlich nur die historische Erhebung der Kirchenrechtslehre Luthers — sogar unter Zurückstellung ihres Verhältnisses zum positiven Kirchenrecht der entstehenden lutherischen Kirche — zum Ziele haben, nicht die Darbietung einer eigenen Systematik. Die Bearbeiter sind Kirchenhistoriker, nicht Dogmatiker des Kirchenrechts. Tatsächlich entsteht dann als Zusammenfassung des historischen Gedankenbestandes eine Konzeption im Geiste des Darstellers — ein Holl-Luther, ein Heckel-Luther.

Folgt man aber der letzten großen Darstellung, derjenigen Heckels, so ergibt sich folgendes:

Heckel hebt Luthers Unterscheidung der ecclesia spiritualis als Geistkirche oder Wesenkirche und der ecclesia universalis als äußeres Kirchenwesen scharf und systematisch hervor.

Er hat auch darauf bestanden, daß nach Luthers Auffassung die Wesenskirche nach einem ihr eigentümlichen Recht, nach einem ius divinum, nicht in rechtloser Spiritualität, lebe. In diesem Sinne kennt also Luther eine außerrechtliche Geist- und Wesenskirche überhaupt nicht, begründet er den Dualismus des Problems ganz anders.

Nach dieser Lehre soll die ecclesia universalis nach den drei christlichen Grundrechten (richtiger Grundprinzipien) Brüderlichkeit, Gleichheit, Freiheit (!) verfaßt werden, ihrerseits aber dem geistlichen Rechtsurteil der Glieder der ecclesia spiritualis nach  der lex charitatis et fidei unterliegen — ein letztentscheidendes Urteil, zu  welchem allein diese freilich nicht aussonderbaren Geistträger befähigt sind. Der Dualismus reduziert sich also auf dua genera diversa juris, die nicht vermischt werden können und dürfen.

Der Dualismus zwischen dem ius divinum der ecclesia spiritualis und dem ius humanum der ecclesia universalis verschiebt sich in der Gegenwart auf den Dualismus der außerrechtlichen, spiritualen Wesenskirche und der Rechtskirche des ausschließlichen und einzigen, des humanen Rechts. Es war wohl kaum vermeidbar, daß dieser des konkreten Gehaltes und einer bestimmbaren Struktur entbehrende Begriff spiritualen Rechtes in der Folge als außerrechtliche Spiritualität verstanden  wurde. Unter der Voraussetzung des Dualismus kann man daraus weder Holstein noch den zahlreichen Theologen einen Vorwurf machen, welche das Kirchenrecht als ausschließendes jus humanum verstehen. Die mächtige Stromversetzung, die demnach bei Holstein — verdeckt durch die Tradition des dualistischen Schemas — sichtbar wird, ist also  doch nicht

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zufällig und nicht ohne ein gewisses Recht.

Die Begriffe „ius divinum” und „ius humanum” selbst brauchen hier in der Sache nicht erörtert zu werden. Ich greife vor, wenn ich hier nur kurz bemerke, daß sie m.E. die Dinge ebenso bedenklich objektivieren wie Zusammengehöriges auseinanderreißen.

Der Dualismus von Wesenskirche und Rechtskirche wird bei Holstein zugleich überlagert durch einen Trialismus episkopaler, synodaler und konsistorialer Elemente, in welchem er das Wesentliche dieses gemeindeutschen Kirchenrechts sieht. In diesem Trialismus ist jener Gegensatz in demjenigen zwischen theologisch begründeten Elementen und geschichtlich erworbenen Rechtsformen der Kirche mit enthalten.

Dieser Trialismus ist nicht mehr direkt eine methodologische Frage. Wenn er den geschichtlich erwachsenen Zustand von etwa 1555 bis in die Gegenwart ungefähr wiedergibt, so wäre doch seine grundsätzliche Berechtigung zu erweisen und mit der Schilderung des Vorfindlichen ja noch nicht gegeben. Holsteins Bejahung dieser Frage ist dann methodologisch eine inhaltliche Ausfüllung seines Ansatzes. Aber gerade diese Durchführung erweist die Unechtheit der Verbindung genuiner und erworbener Elemente auf einer Ebene, die sich wenige Jahre nach seinem Buche im Kirchenkampf bestätigt hat. Denn entweder muß man dem Staat qua Staat ohne Rücksicht auf den Glauben seiner Träger ein quasinaturrechtliches Aktienpaket von 33 Prozent an der Regierung der Kirche zusprechen oder man muß zugestehen, daß mit dem Fortfall einer traditionellen, vorgegebenen, von der Entscheidung der Staatsbürger selbst unabhängigen, christlichen „Obrigkeit” die Dreiständelehre für die Kirche ihren Sinn verloren hat. Gerade die liberalsten Theologen klammern sich hier am meisten an überlebt Vorstellungen. Die historisch ererbten Momente des Dreiersystems sind dahin.

Dieser Trialismus von episcopalen, synodalen und konsistorialen Elementen ist freilich sehr viel mehr als eine von ihm neu gewonnene Interpretation des Vorfindlichen. Die Konzeption hat eine lange und große Geschichte. Sie entstammt der lutherischen Dreiständelehre.

Diese Lehre (und vergleichbare Sozialkonzeptionen) sind nicht im strengen Sinne Bestandteile der kirchlichen bekenntismäßigen Dogmatik, sie sind, römisch gesprochen, nicht „de fide”. Sie anzunehmen ist sicherlich nicht heilsnotwendig. Aber sie sind unvermeidliche Früchte theologischer Besinnung, welche die Struktur des menschlichen Lebensraumes sinnvoll deuten muß, um in ihm leben, sich orientieren zu können. Wenn sich nun in der Kirche die drei Stände, der status ecclesiasticus als Amt, der status politicus als Obrigkeit, der status oeconomicus als Gemeinde und Synode zusammenfinden und wiederfinden, so ist damit einer bestimmten geschichtlichen Verfassungssituation ein theologisches Schwergewicht verliehen, sie ist geradezu hypostasiert worden. Die Obrigkeit als Stand der Kirche mit verschieden begründeten

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Funktionen als advocatus, curator, praecipuum membrum ecclesiae ist nur im konstantinischen Bund möglich, wo sich der Regent in seinem Amt als Christ versteht und verstehen muß, nicht lediglich auf Grund seiner persönlichen Glaubensentscheidung. Damit ist es seit der Säkularisation des Staates, bei uns seit 1918 vorbei. Gemeinde und Synode als dritter Stand, status oeconomicus im Gegensatz und in Unterscheidung zum status politicus setzen voraus, daß die Gemeinde normalerweise nur Rechte der Zustimmung, der Akklamation, der Prüfung des Vorgeschlagenen hat, als aktiv Handelnde ebenso regelmäßig nicht in Betracht kommt, vom Fall der Not abgesehen. Wie auch immer man die Synode verstehen mag: die Unterscheidung dieser beiden Status ist in der geistigen, sozialen und rechtlichen Situation der Gegenwart gegenstandslos geworden.

Die Methodenbewegung führt damit allmählich zu immer stärker Theologisierung des Problems und schließlich zu einer Theorie, die man als die konsekutive bezeichnen kann.