VII. Folgerungen

 

Zur Lösung so bedrängender Fragen hoffe ich einen Beitrag zunächst dadurch geliefert zu haben, daß ich eine zentrale Aufgabe formuliert habe, die mir durch das Bisherige nur verdeckt zu sein scheint. Einige Perspektiven habe ich anzudeuten versucht. Es liegt in der Natur eines solchen Lage und Aufgabe zugleich, daß unmöglich ein Einzelner ein solches säkulares Problem bündig zu lösen vermag. Mehr denn je wird dies die Aufgabe gemeinsamer

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Bemühung sein müssen. Schon die Aufgabenstellung als solche sollte als eine Befreiung von der bloßen Subjektivität begriffen werden.

Wenn wir heute erneut und so dringlich der Existenzsituation des Menschen nachdenken, so scheint mir aus dem Gesamt der Erscheinungen Kain deutlich hervorzutreten. In einer jahrzehntelangen strafrechtlichen Praxis wurde mir bewußt, daß das Verbrechen nicht eine banale und kurzschlüssige Gesetzesverletzung ist, sondern aus tieferen Beweggründen des Menschen zu verstehen ist, so sinnlos es im einzelnen sein oder erscheinen mag. Was in der Kains-Geschichte ausgesagt wird, bedeutet doch, daß der Mensch, wiewohl ein Brudermörder, weder gerichtet, noch begnadigt wird. Gen. 4, 15 schließt beides ausdrücklich aus. Von da an geht er seiner eigenen Wege, ohne das Kains-Zeichen loszuwerden, welches ihn vor der Rache schützt. Dies heißt aber in existenzialer Interpretation: der in der Lage der Schuld festgehaltene Mensch kann weder mit gutem Gewissen ganz für sich allein existieren, ohne auf die zerbrochene Verbundenheit ständig zurückverwiesen zu werden, — noch vermag er, aus eigener Macht die Schuld zu überspringen und die einmal verlorengegangene brüderliche Gemeinschaft wieder herzustellen.

Eine ähnliche Einsicht in die Grundlagen unseres Lebens scheint die Oedipus-Sage darzubieten. Wenn der rasche Jüngling den unerkannten herrischen Vater und König erschlägt und dadurch selbst mündig und Herrscher wird, so sind wir erneut dich an unserer Mündigkeitsfrage. Und wenn er umgekehrt blutschänderisch die Mutter heiratet, so kehrt er unerlaubt in eine Gemeinschaft zurück, die ihm verwehrt ist.

Diese beiden inhaltsschweren mythischen Geschichten drücken wesentliche Erfahrungen aus, die der Mensch mit sich selbst gemacht hat. Sie sind aus dem Zusammenhang und Horizont der Welt, in der sie entstanden sind, nicht abzulösen, und können durch unsere Auslegung und existenziale Interpretation gewiß nicht erschöpfend gedeutet werden. Sie bieten nicht einfach eine Grundformel oder ein Axiom für eine Anthropologie dar. Aber sie bieten doch eine hilfreiche Anregung für eine weitere Besinnung, die an ihnen nicht vorbeigehen kann. Was beide am tiefsten in Frage stellen, ist eine Vorstellung von der Einheitlichkeit des Subjekts, hinter die nicht mehr weiter gefragt werden dürfte. Von da aus ergibt sich zunächst die Einsicht, daß das Verbrechen in seinen wesentlichen Formen sich in Gewaltverbrechen und Täuschungsverbrechen auseinanderlegt. Im Gewaltverbrechen will der Mensch radikal sich auf sich selbst

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stellen, indem er die Anforderungen der Mitmenschlichkeit außer Acht läßt, alle Schranken niederwirft. Im Täuschungsverbrechen spiegelt er betrügerisch sich wie den Anderen eine bruchlose Übereinstimmung der Absichten und Interessen vor, die in Wahrheit nicht besteht, indem er dadurch zugleich aus seiner Isolierung heraustritt. Der Betrüger ist der, der das legitime Eigeninteresse nicht offen zu vertreten vermag. Das hier Gesagte läßt sich für die Straftaten gegen das Eigentum, gegen die Sittlichkeit, gegen die politische Ordnung gleichermaßen folgerichtig durchführen.39

Auch die großen Formen des Verbrechens sind geschichtlich bedingt. Raub und Diebstahl sind als Angriffe auf den Rechtsstatus älter als der Betrug, der als Vortäuschung gemeinsamen Willens erst in der Verkehrs- und Umlaufwirtschaft zur Blüte kommen kann. Wenn wir der Kriminalstatistik trauen dürfen, so sind die Gewaltverbrechen im Großen gesehen im starken Rückgang begriffen. Wo sie heute empfindlich wirken, im Taximord und Bankraub, setzen sie an verwundbaren Stellen der Verkehrswirtschaft an.

Angriff auf die etablierte Ordnung und Landesverrat als unerlaubte Solidarität sind beide alt. Aber die ideologische Auflösung des Staatsverbandes macht heute die letztere Form zur primären und bedeutenderen Erscheinung im politischen Strafrecht.

Im gerichtlichen Schuldspruch stellen wir fest, daß der Mensch aus Trieb oder Not, aus Leidenschaft oder Unvermögen unfrei geworden ist und gehandelt hat. Wir sprechen ihn im Urteil auf künftige Freiheit an. Wogegen der Mensch aber in seinen Taten angerannt ist, ist nur äußerlich Gesetz und Ordnung: es sind die Grenzen seines eigenen Menschseins: die Unmöglichkeit, für sich selbst zu sein wie ohne Differenz der Standorte und Interessen mit anderen übereinzustimmen.

Diese Einsichten haben auch deswegen für unsere Lage eminente Bedeutung, weil die überdimensionierten Verbrechen der Gegenwart die Menschheit tief beunruhigen und von ihr nur mühsam aus dem Bewußtsein verdrängt werden. Diese Verbrechen erscheinen wie Projektionen einer Innensituation in große, umfassende Zusammenhänge und haben heute selbst sichtbar Planungscharakter gewonnen.

Die großen ideologischen Bewegungen der Gegenwart weisen auf die gleiche Spannung in der Existenz selbst hin. Der Faschismus setzt den eigenen Durchsetzungswillen unter grundsätzlicher Aufhebung aller mitmenschlichen Bindungen und Verhaltensregeln absolut. Er benimmt sich, als ob er allein auf der Welt und in der

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Geschichte da wäre. Das ist in einer immer mehr interdependenten Welt archaisch und reaktionär. Es ist die Reaktion derer, die sich in der modernen Welt nicht wiederfinden. Der Marxismus dagegen spiegelt sich selbst und den Menschen eine subjektlose, insofern vom Eigennutz befreite umfassende Solidarität vor, in der alle Gegensätze aufgehoben und positiv vermittelt sind. Langsam und mühsam muß der zur Herrschaft gelangte und damit erst zur sozialen Verantwortung gezwungene Marxismus sich von neuem mit der realen Existenz des Menschen auseinandersetzen, die Erkenntnisse der Menschheit wiedergewinnen, deren er sich leichtfertig und gewaltsam zugleich entschlagen hatte. Er muß nicht einen formalen Freiheitsbegriff oder bürgerlichen Individualismus, sondern die Eigenständigkeit von Person, Ehe, Familie, Kunst, vielfältiger Lebensbereiche, die Mündigkeit von Person und Gruppe wiedergewinnen und verstehen lernen.

Von jener anthropologischen These aus werden die tiefen Gegensätze zwischen Mündigkeit und Plan, zwischen Einzelleben und Gesamtzusammenhang, zwischen Einzelexistenz und Welt als Gesamtexistenz deutlich und treten in ein neues Licht.

Eben darum ist eine einheitliche Vorstellung vom Menschen, die nicht in sich selbst die elementaren Widersprüche der Existenz aufweist, Versuchung und Ansatz zu weitreichenden Fehlern. Denn ein so verstandener Mensch steht dann immer nur als eindeutiger in Für und Wider Mitmensch und Welt gegenüber, während er gerade im wesentlichen, konstitutiven und zugleich belastenden Beziehungen zu ihnen steht. So wird auch übersehen, nicht verstanden, bleibt unausgewertet, daß eben dieser Mensch eine ihm belassene Mächtigkeit besitzt, die die Merkmale aller Macht, nämlich Anziehung und Abstoßung, und eben damit Geschichtlichkeit besitzt. Denn in Absonderung und Zuordnung vollziehen sich die geschichtlichen und institutionellen Prozesse. Ein einheitlicher Begriff des Menschen dagegen wird auf die Ebene kausaler Begriffe gedrängt, die ihn immer nur alternativ als frei oder unfrei erscheinen lassen, ohne daß seine Beziehungen noch institutional-konstitutiven Charakter besitzen, mit seiner Existenz selbst etwas zu tun haben. So wird schon im Ansatz die sich heute verschärft darstellende theologische Thematik beiseite gestellt, ihre Lösung damit unmöglich gemacht.

Suchen wir innerhalb dieses Zusammenhanges die Lösung, so würde sich eben damit die Schlußfrage nach der Übereinstimmung gegenwärtiger Transformation mit der ursprünglichen biblischen Aussage um vieles leichter darstellen, im Grunde schon beantwortet sein.

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Auch die moderne Aussage müßte die existenziale Wahrheit dieser mythisch-archetypischen Erkenntnisse bestätigen.

Biblische Verheißung ist Verheißung der Zukunft und Wiederkehr, sie ist aber auch Verheißung der Gegenwart bis an der Welt Ende — „so oft ihr dies tut”. Sie ist deshalb mehr als ein noch so vollgültiges Versprechen. Die Christenheit hat so sehr an die Verheißung der Gegenwart geglaubt und sich in sie vertieft, daß sie Gericht und Gnade der Zukunft aus den Augen verloren hat. Die Christenheit hat soviel von der Verheißung der Zukunft, von der Hoffnung gesprochen, daß unterweilen und unter ihren Händen alle Gegenwart unglaubwürdig und unerträglich wurde. Wo ist in ihrem Eifer um Hoffnung und Zukunft der Luther geblieben, der angesichts des Jüngsten Tages seinen Apfelbaum pflanzen wollte?! Wer kann das Himmelreich empfangen als ein Kind, wenn er gleichzeitig klüger und vorausschauender sein soll als die Planer der Welt, um diese Welt von ihr selbst zu bewahren?

Wenn das NT in zwei verschiedenen Zuordnungsformen denkt, so ist das Verhältnis der Braut, des Kindes, der Erben etwas gänzlich Anderes als das der Diener und Haushalter. Für den ersten Bereich schaltet die Ökonomie, die Zweckbestimmung des Dienstes völlig aus. Die Braut, die heimgeholt wird, ist keine Haushälterin, die einen Dienst antreten soll. Sie ist zur Lebensgemeinschaft berufen, nach dem patriarchalischen Verständnis der Zeit unter der Schutzherrschaft ihres Mannes. Die Kinder tun gewiß gehorsam, was der Vater will. Sie verfügen nächst ihm über das Eigene. Aber ihre Stellung zur Ökonomie, zur Arbeit, zum Dienst ist hier nicht entscheidend. Dieses Verhältnis der Familiarität trägt also seinen Sinn in sich. Es ist Lebensgemeinschaft mit demjenigen, dem sie zugeordnet sind, aber eben darum unter vollem Einschluß und voller Entfaltung dieses Lebens. Es bedarf keines besonderen „Mutes zum Sein”, sofern man in diesem Verhältnis steht. Genau umgekehrt ist es mit der Zweckbestimmung des Dienstes. Er ist streng und ausschließlich darauf gerichtet, daß nach Willen und Bestimmung, zum Nutzen des Herrn das geschieht, was in seinem Hauswesen zu geschehen hat.

Der Mensch will mit gutem Gewissen er selbst sein und kann es doch nicht in der leeren Selbstbezogenheit eines isolierten Lebens. In dem Leben aber mit dem, der ihn zum Kind annimmt, ist dieses Selbstsein überhaupt erst positiv legitimiert. Auf der anderen Seite aber wird alle Finalität, alle Zweckbestimmtheit des Lebens, alle Expansion nach außen in den Dienstgedanken einzubegreifen sein.

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Unterscheidet man nicht diese beide Richtungen in ihrer Widersprüchlichkeit, so kann man auch nicht sagen, daß, wie und warum der in ihnen liegende Widerspruch durch die Identität der Beziehung zu demjenigen überwunden ist, auf den sich diese Beziehung richtet. Auch das Doppelgebot, Gott und den Nächsten zu lieben, kann nicht mehr entfaltet und verstanden werden. Mit Recht sagt die Schrift, daß niemand Gott lieben könne, der nicht seinen Nächsten liebe. Aber sie setzt zugleich selbstverständlich voraus, daß der Fromme Gott liebt, mit dem er im Bunde steht. Wenn nicht mehr von beidem die Rede ist, so würde das Evangelium selbst den Gegensatz, den es überwindet, nicht auszusagen vermögen. Eine materielle Bestimmung der Freiheit, von der hier die Rede ist, ist in dem konstitutiven Gedankenbereich nicht mehr enthalten. Mit dem Verlust der Konkretion verliest das Evangelium die befreiende Wirkung. Die Einheitlichkeit des Personbegriffs und Glaubensbegriffs, der fides, qua creditur, nimmt der fides quae creditur, Gehalt und Aussagekraft.

C.G. Jung, der mit Respekt vor der Grenze des religiösen Bereichs stehen blieb, und übrigens vor einen Auflösung der Aussagen der christlichen Dogmatik warnte, hat davon gesprochen, man müsse den Menschen mit sich selbst versöhnen. Davon kann keine Rede sein, wenn man ihm die Freiheit des Evangeliums undifferenziert, univok in einer von allen Qaulifikationen und Konkretionen abgelösten Weise darbietet. Diese Vereinheitlichung und Vereinerleiung des Freiheitsbegriffs ist eine Umsetzung, die sich in einer bedenklichen Weise in die sozialgeschichtlichen Zusammenhänge einordnet, die ich aufzudecken versucht habe. Denn der Mensch vor und jenseits jener sozialen Qualifikation im Sinne der entsprechenden Theologien ist, wie gezeigt, der bürgerliche Mensch. So entsteht auch die fatale Gleichsetzung von Dienst, Funktion und Liebe. Auf diese Weise kann gerade die radikale Antithese zum Gesetz zur Verdeckung und Verhinderung der Lehre vom Evangelium werden. Wir sind zugleich Familienangehörige und Diener. In dem Durchhalten und dem Miteinander dieser zweifachen Bestimmtheit liegt das Wesentliche, was zur Erhellung der Existenz und zur Überwindung des Widerspruchs zwischen Selbst-Sein und Für-Sein auszusprechen ist. Eine immer radikalere, immer folgerichtigere Finalisierung der Theologie verschließt gerade das Tor, das geöffnet werden sollte, so notwendig und folgerichtig in einem bestimmten Bereich, eben dem der Dienstbarkeit und Verantwortung, dies alles sein mag. Diese Entwicklung hat eine bedenkliche Verwandtschaft

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mit der Einführung von Zweckkategorien in der Scholastik. So weit unser heutiges Denken von deren subtilen Distinktionen entfernt ist, so ungegenständlich und unmetaphysisch wir im Gegensatz zu ihr denken: schon die Scholastik war der groß angelegte Versuch, sich an eine soziale und geistige Welt anzupassen, in der die Finalität erstmalig zum bedeutenden Ausdruck und zur vollen Ausbildung kam. Die verhängnisvollen Folgen dieser höchst scharfsinnigen und weitsichtigen Anpassung von vielleicht tragischer Notwendigkeit sind uns heute einigermaßen deutlich.

Neben der von Ebeling folgerichtig herausgearbeiteten Linie „transformatorischer” Theologie steht bei Luther jene zweite Linie des biblischen Realismus. Dieser Realismus ist sehr viel bestimmter als selbst die objektivierende, im Grund aber vom Augustinischen Zeichenbegriff her spiritualistische römisch-katholische Sakramentstheologie. Beide Linien sind aber niemals gegeneinander ausgeglichen worden. Die Lutherische Theologie hat bis heute diesem Widerspruch und Gegensatz gegenüber die Augen verschlossen. Dies hat verhängnisvolle Folgen für sie gehabt.

Wir können dagegen heute die Dualität, die Zweilinigkeit der biblischen Aussagen über Gegenwart und Zukunft, über Kindschaft und Dienstbarkeit, über Sakrament und Ethik neu entfalten.

In seiner Absage an Bultmann hat Ernst Käsemann40 es ausgesprochen, daß Sakrament und Ethik gerade im Lichte der Frage nach Gottes Gerechtigkeit bei Paulus keinen Gegensatz darstellen. Sein und Für-Sein stehen auf diese Weise nebeneinander. Je weniger wir sie ineinander aufzulösen unternehmen, desto mehr werden sie ihre Bedeutung für uns gewinnen. Das heißt dann aber, daß so allein die Existenzsituation zur positiven Umkehrung kommt, die in der Auslegung der Kains-Geschichte hervorgetreten ist. So darf der Mensch in der Gegenwärtigkeit sein, und er darf zugleich seinen Dienst tun und für Andere sein. Nur so, scheint mir, läßt sich die Antinomie zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen radikaler Isolierung und umfassender Planung und Inanspruchnahme für uns sinnvoll auflösen. Indem wir diesen Gegensatz so verstehen lernen, ist er für uns nicht etwa aufgehoben, aber in der Tiefe überwunden von der Zuversicht in die Verheißung.

In dem Augenblick aber, in dem wir den bürgerlichen Monismus des Personbegriffes, des Glaubensverständnisses hinter uns zu lassen vermögen, entsteht ein neues, schwerwiegendes Problem. Vieles deutet darauf hin, daß eben diese beiden Hauptaspekte sich in einem komplementären Verhältnis zueinander befinden. Wir wissen

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und glauben zwar, daß sie im letzten Sinne und gerade unter einem eschatologischen Aspekt konvergieren. Tief fraglich dagegen ist, ob sie auch gleichzeitig begriffen, zur Anschauung gebracht, ergriffen und gelebt werden können. Fassen wir jene Dienstbarkeit für die Zukunft radikal, so droht uns alle Gegenwart zu verschwinden. Und nehmen wir die Gegenwart radikal, so entschärft sich der Blick und die Anspannung auf die Zukunft. Dieser Widerspruch ist nicht einfach gedanklich zu beheben. Er liegt auf der hohen Ebene, auf der Niels Bohr vor Jahrzehnten die Struktur der Komplementarität in dem Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes darzustellen versuchte, die für uns nicht gleichzeitig in den Blick genommen werden können.

Jene von wachen und verantwortlich denkenden Naturwissenschaftlern uns nahegebrachte Erkenntnis und Denkform der Komplementarität ist also ambivalent, weil sie uns eine Einsicht darbietet, die zugleich mit prinzipiellen Schwierigkeiten verknüpft ist. Sie zeigt uns eine Möglichkeit des Verständnisses zugleich mit der Unmöglichkeit der Verwirklichung. Der Naturwissenschaftler wird durch diese Erkenntnisse nicht gehindert, sondern veranlaßt sein, die Einheit seiner Erkenntnis unter der Voraussetzung dieses nicht zurücknehmbaren Schrittes neu zu gewinnen. Der Theologe, dem von hier aus der Widerspruch in der Existenz neu einsichtig wird, hat von eh und je hier seinen bedeutendsten Gegenstand.

Bemerkenswert ist zugleich, daß diese Erkenntnisse nicht von der Schrifttheologie, sondern von zwei Lebensbereichen und den ihnen zugehörigen wissenschaftlichen Disziplinen ausgehen, die in jener zentral thematisch längst nicht mehr vorkommen, der Natur und dem rechte, die beide heute, je für sich, sich als geschichtlich verstehen. Jener Erkenntnis vom Widerspruch in der Existenz selbst aber wird heute von Christen wie Nichtchristen leidenschaftlich widersprochen. Sie protestieren nicht gegen kontroverse Bezeugungen des Glaubens, nicht gegen theologische Aussagen, die auslegbar, relativierbar, womöglich ideologisierbar sind. Aber sie wehren sich einmütig gegen jede antinomische Auflösung der Einheit der Existenz selbst.

Geben wir aber jene so leidenschaftlich verteidigte Einheitlichkeit von Person, Subjekt, Wort, den Formalismus der „fides, qua” auf, so zeigt sich gut biblisch, daß die verheißene Kindschaft, die Familiarität sich in unserer sakramentalen Existenz, die Dienstbarkeit in der ethischen Forderung darstellt und beide in der Zukunftsverheißung zusammentreffen. Wie nahe diese These und Fragestellung

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zentralen Streitfragen der heutigen Exegese ist, zeigt das nachfolgende Zitat aus dem schon früher erwähnten Aufsatz von Ernst Käsemann:

„Herrschaft über uns verwirklicht sich ganz, wenn sie Gewalt auch über unser Herz gewinnt und uns in ihren Dienst nimmt. Umgekehrt ist alle Gabe, welche nicht mehr als Präsenz ihres Gebers gedeutet wird und darum den Charakter des Anspruchs gewinnt, mißbrauchte und zu unserm Unheil wirkende Gnade … Der gleiche Herr, der uns zu seinem Dienst beruft, ermöglicht diesen Dienst auch und fordert ihn so, daß seine Gabe weitergegeben wird. Beim Werkzeug der Gnade kann man nicht sinnvoll mehr von eigener Leistung sprechen … So besteht auch keine wirkliche Spannung zwischen Sakrament und Ethik mehr … (372) … Nicht bewährte und weitergegebene Gabe verliert ihren spezifischen Gehalt … (369). Unser Problem ist jedoch, aus welcher einheitlichen Mitte heraus (Paulus) präsentische und futurische Eschatologie, ,gerecht erklären’ und ,gerecht machen’, Gabe und Dienst, Freiheit und Gehorsam, forensische, sakramentale und ethische Betrachtungsweise miteinander verbinden konnte … (369/370).”42

Hier ist der Sitz des Problems bei Paulus aufgewiesen. Freilich ist nicht seine Verwurzelung in der Existenz selbst, die differente Aussage des Evangeliums in den Relationen, und erst recht nicht die volle Radikalität der Tatsache aufgedeckt, daß hier der Ort der äußersten Spannung und Belastung ist.

Dieser Widerspruch in der Existenz ist freilich ein doppelter, erscheint in zweifacher Weise. Er erscheint jederzeit in der Existenz des Einzelnen wie der Gruppe im Widerspruch zwischen Selbstsein und Mit-Anderen-Sein. Ist er hier in der Breite des vorfindlichen Lebens aufweisbar, so zeigt er sich zugleich in der geschichtlichen Erstreckung der Zeit, im Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft, vermittelt in der Gegenwart. Dadurch, daß die verschiedenen Dimensionen der Existenz — beim Einzelnen wie in der Gruppe — verkannt und übergangen werden, wird der Weg zur Klärung versperrt.

Deshalb handelt es sich auch keineswegs darum, daß wir etwa mit schmerzlicher Trauer, mit viel oder wenig Verständnis und Achtung eine sich von selbst ablebende Tradition und Vergangenheit mit mutigem Entschluß hinter uns lassen. Diese Gegenwart ist, wenn es sich lohnt, von ihr zu reden, eine unvergänglich gültige; sie ist alle Tage neu, und sie bringt in positiver Aufhebung alles das zu Ende, was in Geschichte und Tradition auf sie zuführt. Wenn es irgendwann

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eine gültige Gegenwart gegeben hat, so ist sie ein terminus a quo, von dem alle Zukünftigkeit erst ein neues Gesicht bekommen hat. Eben darum beschäftigen sich die Evangelisten in ihren Formen der genealogischen Aussage und in ihrem Weltbilde bereits mit der Geburt Jesu, mit den prophetischen Weisungen auf diese, mit der Verkündigung des Täufers. In einem radikalen Sinn sind Gegenwart und Zukünftigkeit bereits in der Aussage Jesu selbst „Ich bin die Auferstehung und das Leben” miteinander verknüpft.

In diesem doppelten Riß durch das Leben des Menschen, der ihn tödlich zerreißt, in die Schizophrenie treibt, ist nach dem Glauben der Christenheit Gott in der Person Jesu Christi selbst getreten. Wer sich den ganzen radikalen Ernst dieses Sachverhalts vor Augen hält, wird die sehr vorläufigen menschlichen Vermittlungen nicht gering achten oder mutwillig zerstören, die nach der Langmut Gottes das Miteinanderleben der Menschen erträglich machen. Er wird vollends einsehen, daß nach der radikalen, geradezu brennenden Aufdeckung dieses Tatbestandes praesentische Eschatologie im strengen Sinne notwendig ist. Wir müßten an der Aufdeckung der letzten Dinge sonst erst recht zugrundegehen. Darum meint kainé ktisis im NT eben doch einen wirklichen Anbruch, Anfang neuer Schöpfung.

Jesus hat sich in die geistliche Tradition seines Volkes gestellt, indem er die Summe des Gesetzes — unter Annahme des großen Synagogengebets! — in dem Doppelgebot zusammenfaßte, Gott und den Nächsten zu lieben. Die Christenheit hat, wie die Frommen aller Völker und Religionen, allzuoft in der Meinung, das erste Gebot zu erfüllen, das andere mißachtet. Das wird ihr mit Recht vorgehalten —, wobei zugleich alsbald der Glaube zum Mittel menschlicher Erfüllungserwartung degradiert wird. Schwerlich aber wird die Christenheit meinen können, in der Nachfolge zu bleiben und das andere Gebot zu erfüllen, wenn sie das erste und oberste verleugnet. Daran sollte erinnert werden, daß die Geschichte des Alten und Neuen Bundes die sehr herbe und unsentimentale Geschichte einer Liebesbeziehung, und daß die Logik des Glaubens die Logik der Liebe ist — ein großes, unzeitgemäßes Thema für mutige Religionsphilosophen.

Der christliche Glaube schließt Verheißung und Hoffnung ein. Aber nach den viel zitierten Worten des Apostels ist das „Prinzip Liebe” größer als das „Prinzip Hoffnung”. Der christliche Glaube lebt vollends von einer Vorgabe und beruft sich auf eine Vorgabe, die sogar in der Vergangenheit geschehen und in der Gegenwart gültig ist. Erst in der Erfüllung dieser Vorgabe gibt es wiederum Verheißung.

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Aller geforderten Konversion ist Gott selbst vorangegangen, indem er unser Fleisch und Blut annahm und seine Herrschaft zum Dienst erniedrigte. Er gab zuvor, mit Augustin zu reden, was er forderte. Deshalb entscheidet sich alle christliche Theologie an der Bedeutung und der Weise, welche sie der Gegenwart Gottes in der Geschichte zuweist.

Die Christenheit müßte daher genau das tun, was die Welt unserer Zeit schlechthin verweigert, die Aporie in der Existenz selbst in einem durchaus jenseits des Moralischen liegenden Sinne aufzudecken und zu bekennen. Das könnte die Kirche freilich nur, wenn sie selbst die Spannung in ihrem eigenen Leben aufdeckte. Es geht nicht nur um die res futurae, sondern auch um die res praesentes und umgekehrt. Beides ist ineinander verschränkt, aber eben nicht identisch. Die Gegenwart in den Sakramenten und im Geist ist unmittelbar eine eschatologische Aussage, und alles, was wir über Zukunft und Hoffnung zu sagen vermögen, verweist zurück auf die einmal geschehene Geschichte von Johannes dem Täufer bis zu Pfingsten. Nur wenn dies beides miteinander in seiner Besonderung positiv durchgehalten wird, kann hierin die Umkehrung der kritischen, aporetischen Situation gefunden und geglaubt werden, in der sich der Mensch vorfindet und zu verstehen hat. Denn nur so im esse cum Christo, in der Rechtfertigung, im Neuen Sein kann er mit gutem Gewissen er selbst sein, zugleich aber mit den Menschen und den Dingen Frieden haben, ihnen zum Frieden dienen.

Alle Theologie der Zukunft muß darum bemüht sein, die Verwechslung der „absoluten” Zukunft des Menschen mit der „innerweltlich-kategorialen” zu vermeiden (Rahner). Ihre ganze Legitimität hängt daran, daß weder Differenz noch Bezüglichkeit aufgegeben wird.

Durch die Menschheit geht ein mächtiger Zug und Ruf nach Brüderlichkeit und Solidarität. Aber hörten wir das nicht bereits bei Schiller oder Marx, fanden wir es nicht dort am stärksten, wo der Mensch der Gegenwart dem Menschen der Zukunft rücksichtslos und unmenschlich aufgeopfert wurde? Jener Zug hat insofern geschichtliche Objektivität, als damit die zunehmende Unwirksamkeit ehedem wirksamer und sinnvoller, vorbürgerlicher und bürgerlicher Vermittlungsformen ins Bewußtsein tritt. Verwirklicht, wirksam ist bisher eigentlich nur der Dialog, dessen tatsächliche Funktion gerade nicht der Austrag von Sachfragen, sondern die Aufrechterhaltung einer wesentlich unbestimmten Beziehung ist.

„Gerät die christliche Hoffnung in den Verdacht, nur eine spirituelle Größe zu sein, welche für die Innerlichkeit des einzelnen Menschen

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und auch für die geistliche Koexistenz in der Kirche Bedeutung hat, nicht aber eine konkrete Weltverantwortung zu begründen vermag”43 so gerät umgekehrt jene Bewegung zur Weltverantwortung in den entsprechenden Verdacht, alles das in eine irreale und bedeutungslose Spiritualität zu verweisen, was darin nicht aufgeht.

Die geläufige Warnung, man solle sich nicht auf diese „Innerlichkeit” zurückziehen, fixiert eine falsche Alternative im Bewußtsein und hindert, daß beide Seiten in ein rechtes Verhältnis kommen.

H.E. Tödt hat das Verhältnis zwischen Eschatologie und Weltverantwortung, zwischen der Zukunft Gottes und dem, was in unserer Verantwortung und Möglichkeit steht mit der Formel des Chalcedonense, dem „ungemischt und ungetrennt” zu bestimmen, zu klären und zu sichern versucht. Der Friede Gottes ist etwas anderes als der Friede unter Menschen, der Friede, den Menschen herstellen können, aber er schließt diesen ein. Freilich muß jene ehrwürdige und keineswegs veraltete Formel in ihrer traditionellen Ausdrucksweise erst noch in die Lage unserer Zeit übersetzt und auf sie angewendet werden. Sodann hebt eine dogmatisch korrekte Formel allein die mächtige Schwemmwirkung noch nicht auf, die zu einer Vermischung und Verwechslung von Gottesfrieden und Menschenfrieden schon deswegen drängt, weil der letztere als das einzig Sichtbare, Konkrete, als das erscheint, woraufhin man antreten kann. Der dialektische Charakter dieses Verhältnisses wird ständig in einer pragmatischen Einlinigkeit des Denkens und Handelns und durch jene falsche Entgegensetzung von Verantwortung und Innerlichkeit abgeschwächt oder aufgelöst. Die Kirche von Chalcedon hatte in der pneumatischen und institutionellen Realität eben der Kirche selbst eine vorbehaltlos bejahte Größe vor Augen, und zugleich ein Band des „katholischen Friedens”, um mit Augustin zu reden, welches einem Aufgehen in der innerweltlichen Friedensordnung entgegenstand. Eben dies aber wird — mutata mutanda vorausgesetzt — mit der durch eine Ethisierung der Theologie verbundene Entwertung der Kirche ausgeschaltet. Die Kirchengeschichte lehrt, daß es gegenüber solchen Kräftebewegungen der Verweisung auf wirksame, konkrete Lebenszusammenhänge bedarf.

Aber auch in dem Maße, in dem wir einen theologisch unanfechtbaren christlichen Universalismus folgerichtig unter den Bedingungen unserer Zeit ausbilden, muß sich ein entsprechender christlicher Partikularismus neu bilden — so viel Rückständigkeit, geistige Wasserscheu, Fremdheit gegenüber der modernen Welt, Quietismus,

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Individualismus oder was immer an sehr menschlichen Hemmnissen darin wirksam sein mag. Seine eigentliche Kraft und Berechtigung wird dieser Partikularismus daraus ziehen und darin besitzen, daß er aus der Struktur der Existenz selbst stammt, daß kein christlicher Universalismus das Ganze der Existenz zu umfassen vermag. Je mehr wir das erkennen und verdecken — auch um jene durchzuhalten —, desto unguter, schiefer, verhängnisvoller werden die Gegensätze und Spannungen sich ausdrücken. Und keine vom Glauben erleuchtete Vernunft wird in der vorausgesetzten Einheit des Subjektes in sich auszutragen vermögen, was grundsätzlich extra nos ausgetragen worden ist und im Glauben ergriffen wird. So wird sich, anders gesprochen, auch der christliche Universalismus als eine letztlich partikulare Größe zu begreifen haben.

Von Brüderlichkeit kann objektiv erst dann gesprochen werden, wenn der Dialog zur Dialektik vorschreitet — das heißt, wenn der Bruder, mit dem man solidarisch sein soll und will, als ein wirklich Anderer, nicht als der Gleiche begriffen und angenommen wird. Die egalitäre Struktur ist noch keine Brüderlichkeit. In diese Richtung müßte die Konversion der Christen heute liegen. So konnte von einer „qualifizierten” Brüderlichkeit gesprochen werden, in der sich koinonia und diakonia, geschenkte Gemeinschaft und Dienst verbinden. Dafür aber ist die Einsicht in die Dualität des Gottesverhältnisses in Kindschaft und Dienstbarkeit erhellend und befreiend. Das tertium aber, das sie verbindet und trägt, ist im strengen Sinne „extra nos” die Zukunft des Herrn selbst.