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Evangelium und soziale Strukturen

 

I. Thema

 

Die Schriften des NT1 berichten über ein Geschehen, in welchem sich Gott selbst in der Person Jesu mit dem Menschen in Beziehung setzt. Gott nimmt unser Fleisch und Blut an, spricht die Menschen an, fordert, sammelt und beruft, heilt und begnadigt in vielfältiger Weise. So entsteht eine soziale Beziehung. Alles dies ist ein soziales Geschehen. Wie dieser Sachverhalt zu verstehen ist, ist freilich umstritten. Zwischen zwei unserer namhaftesten Exegeten, Rudolf Bultmann und Ernst Käsemann, besteht in dieser Frage ein tiefgreifender Widerspruch, welchem der letztere in seinem Aufsatz „Gottesgerechtigkeit bei Paulus”1a Ausdruck verliehen hat. Er bestreitet insbesondere die Bultmannsche These, daß es dem Apostel Paulus bei der Verkündigung des Evangeliums um den je Einzelnen gegangen sei, im Sinne der Existenzphilosophie und -theologie, wonach unter dem Anruf des Evangeliums der je Einzelne seine Existenz zu übernehmen habe. Sicherlich begründet jenes soziale Geschehen mit und an vielen Einzelnen einen sozialen Zusammenhang. Nicht nur zwischen Gott dem Vater und der Person Jesu und diesem Einzelnen, sondern von vornherein zugleich zwischen allen Einzelnen, die von diesem Geschehen erfaßt werden. Es ist der Zusammenhang eines neuen Lebens, in welches sie gestellt werden. Dieser Zusammenhang hat seither fortgedauert und sich weiter fortgepflanzt. Das Evangelium ist nicht die Aussage über irgendetwas, sondern die Begründung und Anknüpfung eines (neuen) Lebenszusammenhanges, eine allein von Gott und durch Gottes Handeln eröffnete Möglichkeit, die wir als Menschen anzunehmen aufgerufen sind. Es handelt sich um einen Lebensvollzug und Lebensvorgang, über den vieles gesagt werden muß und kann, der aber nicht die Aussage selbst ist. Dieser Lebenszusammenhang, der sich mitten in der menschlich-geschichtlichen Welt ausbreitet, kann daher auch in den Formen menschlichen Zusammenlebens dargestellt und veranschaulicht, verständlich gemacht werden. Das geschieht gerade im NT selbst. Eben aus diesem Grunde brauchen wir die Frage der Auslegung und Deutung zwischen jenen beiden Theologen nicht im strengen Sinne zu entscheiden.

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Denn die Voraussetzung, die Bedingung der Möglichkeit einer Auslegung, wie sie Bultmann vertritt, liegt darin, daß in der konkreten menschlichen Geschichte eine soziale Struktur vorhanden oder wenigstens sinnvoll denkbar ist, welche auf den je Einzelnen hin ausgelegt werden kann. Jeder Ausleger steht von vornherein im Zusammenhang bestimmter sozialer Strukturen, die ihm als Gegebenheit oder Möglichkeit vorgegeben sind. Nun hat es ja soziale Epochen gegeben, wie die Spätzeiten bürgerlicher Lebensgestaltung, in welcher der Einzelpersönlichkeit eine überragende, ja primäre Stellung zugebilligt worden ist. Von diesem Ausgangspunkt und Vorgriff her wurden die sozialen Beziehungen, Verpflichtungen und Strukturen aller Art ausgelegt, welche durch die Vorrangstellung ja nicht aufgehoben, sondern nur umgedeutet, vielfach auch sinnentstellend verkannt wurden. Aber nur im Zusammenhang einer solchen gegebenen oder möglichen Ordnung menschlicher Dinge kann auch eine solche Existenzauslegung entstehen, als sinnvoll vertreten werden. Bultmann selbst hat es der Mühe wert gehalten, neben seiner Arbeit an der wissenschaftlichen Auslegung des NT in einem seiner Aufsatzbände „Glauben und Verstehen”2 einen Aufsatz älteren Datums über menschliche Gemeinschaftsformen zu veröffentlichen. Offenbar hat er diesem Gegenstande Bedeutung auch für seine theologische Arbeit beigemessen. Die dort vorgetragenen Vorstellungen entstammen etwa dem Gedankenkreis der älteren Soziologie zu Beginn unseres Jahrhunderts, wie der Zeit des Jugendstils und der frühen Jugendbewegung, der Zeit also, in der Bultmann selbst jung war und sich seine grundlegenden politisch-sozialen Anschauungen gebildet hat. Niemand würde heute die gleichen Probleme mit diesen Begriffen darzustellen und anzugreifen versuchen. Diese Gedankengänge haben für uns nur noch historischen, ja geradezu musealen Charakter. Bultmann hat sie offenbar nicht als völlig überholt angesehen. Methodisch gesehen sind sie ein Anzeichen dafür, daß parallel zur Schriftauslegung auch eine Besinnung auf die Weise menschlichen Zusammenlebens erforderlich ist, wenn man von Existenzverständnis redet. Nun spricht das Evangelium selbst ja zu den Menschen in den vielfältigsten Beziehungen und sozialen Verhältnissen, als Mann und Frau, Herr und Knecht, Dienstherr und Arbeiter, Arm und Reich, Gewalthaber und Untertan. Es  ruft andererseits den Menschen aus seinen Beziehungen heraus. Es fordert die Nachfolge und gebietet, die Toten die Toten begraben zu lassen. Wären aber alle diese Beziehungen nur schlechthin nichtig, nur wert, daß sie zugrundegehen, um mit

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Goethes Mephisto zu reden, so brauchte es sich andererseits in den zahlreichen Gleichnissen und Reden Jesu, in den apostolischen Schriften nicht mit dieser Dringlichkeit, Klarheit und Bildhaftigkeit mit eben diesen Verhältnissen zu befassen. Es handelt sich dabei keineswegs allein um die gut biblische Frage: „Was sollen wir tun?” Diese Frage setzt voraus, daß der Fragende selbst bereits in einem neuen Leben einen Standort gewonnen hat und nunmehr erwägt, wie er sich dementsprechend zu verhalten hat, wenn er diesem neuen Sein nicht widersprechen, sondern entsprechen will. Vor dieser berechtigten Frage und weit über sie hinaus geht es von vornherein um die Frage, wie wir uns in all diesen Beziehungen recht zu verstehen haben. Es ist eine Frage nach unserem Existenzverständnis, ohne welches wir die andere Frage nicht sinngemäß zu beantworten vermögen.

Die Frage nach den sozialen Strukturen und dem Verhältnis des Evangeliums zu ihnen ist für uns dadurch unabweislich geworden, daß erst in der Moderne eine radikale Umformung der sozialen Strukturen erfolgt ist, infolge deren wir jene Aussagen der Bibel nicht mehr mit hinreichender Klarheit auf unser Selbstverständnis und unser Handeln anzuwenden vermögen. Noch die Zeit der Reformation konnte dies in einer ungleich unbefangeneren Weise oder konnte es wenigsten meinen. Die Auslegungen, welche in dem genialen Volkslehrbuch des Lutherischen Katechismus dargeboten werden, zeigen das Evangelium in einer Umwelt und für eine Umwelt, welche derjenigen des NT noch einigermaßen nahe steht. Da dies aber anders geworden ist, stellt sich nunmehr nicht nur die Frage nach der rechten Auslegung jener Aussagen des NT für sich allein, sondern auch nach der Methode, der inneren Logik, nach welche das NT mit den sozialen Strukturen seiner Zeit umgeht, sich zu ihnen verhält. Die sozusagen gegenständliche, inhaltliche Auslegung jener Aussagen und Verhältnisse gelingt nicht. Wir müssen danach fragen, auf welche Weise bei ihrer Anwendung auf veränderte soziale Strukturen so verfahren werden kann, daß dabei das Evangelium Evangelium bleibt. Es darf nicht unter der Hand, wie viele heute mit einigem Grund befürchten, ein „anderes Evangelium” werden. Bei dem berechtigten Versuche, jene in die sozialen Strukturen ihrer Zeit eingebetteten Aussagen in die heutige Zeit zu übertragen, darf nicht gegen die Logik verfahren werden, mit welcher das NT selbst mit den Strukturen seiner Zeit verfährt. Logos heißt ja wesentlich „Verhältnis” und „Verhältnisbestimmung”. Wenn die veränderten sozialen Strukturen der Gegenwart wegen

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ihrer existenzbestimmenden Bedeutung auch eine Übersetzung der biblischen Aussagen in die Gegenwart erfordern, entsteht zugleich die Gegenfrage, in welcher Weise und in welchem Maße denn der Mensch sich verändert habe, an den sich diese Aussagen wenden. Ist es nicht derselbe Mensch, der, vom Weibe geboren, sein Leben lebt und dahinfährt wie ein Strom? Diese Gegenfrage wird durch die philosophische Frage nach den Denkformen, nach Sein und Geschichte im griechischen oder jüdischen Denken noch keineswegs beantwortet. Im Gegenteil, die Verschiebung der Frage auf allgemeinphilosophische Fragestellungen nimmt unserem Problem die reale Bezogenheit auf den Menschen selbst, jene erfrischende Unmittelbarkeit, mit welcher gerade das NT überzeugend zu uns spricht.

Von der Existenz des Menschen kann nicht unter Absehung und Ablösung von den historisch-sozialen Strukturen zulänglich geredet werden, in denen er sich selbst ebenso vorfindet wie auch der Ausleger der Heiligen Schrift und jeder, der sich über die gleichen Dinge Gedanken macht. Es fragt sich aber, welche wissenschaftlichen, d.h. methodisch gesicherten und folgerichtig durchgebildeten, nachprüfbaren Mittel und Wege uns zur Verfügung stehen, um diese Frage anzugehen. Man könnte sie mit den Mitteln der Soziologie behandeln. Die Soziologie ist eine beschreibende Wissenschaft mit relativ unscharfen Schwerpunktbegriffen, die sozusagen nach den Rändern hin sehr viel undeutlicher werden und leicht ineinander übergehen. Sie besitzt auch keine so allgemein anerkannte Begrifflichkeit, um nicht schon in der Terminologie beträchtliche Unklarheiten und neue Schwierigkeiten zu erzeugen. Vor allem aber bietet die Soziologie wiederum abgezogene Begriffe, während die juristisch auslegbaren Rechtsstrukturen im Lebensvollzug selbst unmittelbar Gültigkeit besitzen. Wie erhellend immer die allgemeine Soziologie für die Auslegung sein mag, so bietet doch die Rechtswissenschaft, als Rechtsgeschichte, Rechtssystematik und Rechtssoziologie griffigere Hilfsmittel. Das bedeutet nicht, daß die hier gemeinten Sachfragen in ihrem Gehalte schlechthin als juristische Fragen betrachtet würden. Die Rechtswissenschaft und auch die Rechtsgeschichte bieten jedoch relativ eindeutige, in bestimmter Weise belegbare Begriffe und Tatsachen, mit welchen die gemeinten sozialen Strukturen dargestellt und abgegrenzt werden können. Diesem methodischen Weg kommt die Tatsache zugute, daß das NT selbst in zahlreichen einzelnen Aussagen und ganzen Gleichnisreden sich juristischer Begriffe und konkreter Rechtsverhältnisse bedient,

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um das Gemeinte für jedermann anschaulich werden zu lassen. Dies geschieht, wie die neuere Auslegung in steigendem Maße erkennt, in viel höherem Maße, als man bisher angenommen hat. Der Jurist darf hinzufügen, daß dies bei genauerer Untersuchung mit einer Staunen erregenden, souveränen, von hoher geistiger Überlegenheit zeugenden Genauigkeit und Schärfe geschieht. Vielfach hat man angenommen, solche Gedankengänge würden als Bilder eingeführt, die alsbald unbefangen in anderer Bilder und Bildzusammenhänge übergeleitet werden. Im Gegenteil muß man feststellen, daß die verwendeten Rechtsgedanken regelmäßig in ihrer vollen Konsequenz bis zu Ende durchgeführt werden und gerade dadurch ihre Überzeugungskraft und schlagende Wirkung erhalten. Der Verwertung dieser Erkenntnis darf eine seit langem und insbesondere seit der Ausbreitung der neukantianischen Philosophie eingewurzelte Rechtsfremdheit, ja Rechtsangst der Theologie nicht entgegenstehen. Es wäre ein unwürdiges Bild, wenn eine kritische Theologie zwar jedes denkerische Risiko einer säkularen Welt einzugehen bereit wäre, aber ein sich ihr bietendes Erkenntnismittel innerhalb der Exegese selbst aus einem traditionellen und übrigens relativ spät ansetzenden Vorurteil zu benutzen verweigerte3.