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Schlußbemerkung

Mit dem vorliegenden Versuch wird unternommen, das Strafrecht von einem sehr bestimmt umschriebenen Menschenbild her zu begründen und in seinen Hauptproblemen zu durchdenken. Erwägung und Kritik im Einzelnen sollte hinter dieser Hauptaufgabe zurücktreten. Eine Summe von Einzelheiten hätte mir nicht gelohnt. Anderseits muß ein solches Menschenbild seine konkrete Bedeutsamkeit und Schlüssigkeit an diesen Hauptproblemen erweisen. Ich habe versucht, den hauptsächlichen Ertrag am Schluß in Thesen zusammenzufassen.

Die hier vertretene Auffassung vom Menschen ist nicht romantisch. Sie schaut nicht zurück auf sein goldenes Zeitalter der Vollkommenheit, Freiheit und Harmonie. Die Rückwendung dort hin und zu dem, was an diesem mythischen Bild echte Rückerinnerung der Menschheit sein kann, ist dem Menschen verwehrt. Eben darum ist dieses Bild auch nicht optimistisch im Zuge einer Selbstverwirklichung zu neuer Idealität. Die Rückwärtsromantik wie die Fortschrittsromantik verfehlen gleichermaßen die menschliche Existenz und haben ihre Entsprechung im Verbrechen.

Das Ergebnis dieser Interpretation menschlicher Existenz ist herbe. Das Urteil über Kain zerschlägt alle menschliche Idealität und gibt dem menschlichen Leben Konturen von archaisch-strenger Großartigkeit. Es fordert von dem Zuchtlosen Zucht und begründet mit seinem begrenzenden Gesetz eine den Menschen tief bewegende Lebensnot. Dieses Richterwort begründet die Grundverfassung des Menschen — es ist keine heile Welt mehr —, aber dieser Mensch ist auch nicht einfach dem Unheil, dem Chaos seines Innern preisgegeben. Er ist in diesen strengen Grenzen gehalten.

Jene Lebensnot macht die verzweifelten Versuche des Menschen verständlich, sich durch Selbstbehauptung wie durch Selbstentäußerung aus dieser Lage zu befreien. Der äußersten Steigerung menschlicher Eigenmacht, menschlicher Selbstverwirklichung steht heute der fast noch wirksamere Glaube an die Entmachtung gegenüber. Über beide ist das gleiche Urteil gesprochen. Von jener Einsicht her rücken die bürgerlich-moralischen Delikte des Strafgesetzbuches mit den politischen Irrlehren um viele Grade näher zusammen, als wir das gewohnt sind. Schuld und Irrtum berühren sich, wenn dieser Irrtum aus der Weigerung stammt, sich

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der Wirklichkeit zu stellen. Über die Fluchtbewegungen politischer Häresien habe ich in der wiederholt zitierten Schrift über „Politische und christliche Existenz” ausführlich gehandelt. Diese Einsicht in die Grundverfassung des Menschen hat deshalb sehr konkrete Bedeutung für die allgemeine wie für die politische Ethik. Wer heute die Erhöhung des Milchpreises ablehnt, gilt als ein Feind der Bauern, wer eine Gewerkschaftsforderung zurückweist, als ein Feind der Gewerkschaften, usf. Es tritt eine vollkommene Identifikation von Person und Sache ein, welche jede gegenständliche Begrenzung von Beziehungen, Verhandlungen, Auseinandersetzungen und damit das Zusammenleben unmöglich macht. Anderseits besteht die umgekehrte Tendenz, sich auf Handlungen und Meinungen in keiner Weise mehr behaften zu lassen, gerade auch die eigenen Dinge nach Belieben abzuschütteln wie die Ente das Wasser. Das geht weit über die Verdrängung von Schuld hinaus. Ja der Mensch erscheint nur als Mensch, wenn er unbelastet von Vergangenheit und Vorentscheidungen ist. Hier gelingt also, umgekehrt wie dort die Trennung, die Zusammenhaltung von Mensch und Sache nicht mehr. Sache ist hier Inbegriff seines Verhaltens zu sachlichen Fragen, zur Umwelt. Radikale Identifizierung und vollkommener Identitätsverlust sind einander entsprechende Erscheinungen; sie machen zusammen eine lebensbedrohende Desintegration des Menschen aus, der in der Nichtidentität nicht sozial und in der Identität nicht individuell leben kann.

Diese Erscheinungen haben ihre echten Gründe. Die geschichtliche wie die technische Entwicklung haben eine Schnelligkeit erreicht, welche die Anpassungsfähigkeit des Menschen übersteigt; dadurch wird seine Fähigkeit, geistige Kontinuität zu halten, überfordert und zur Abschüttelung jeder, auch der eigenen Vorentscheidung veranlaßt. Er erlebt jedoch diese Vorgänge als eine globales Gefüge allumfassender Zusammenhänge und Rückwirkungen, wo jedes auf jedes Einfluß hat. Infolgedessen sieht er auch jede Handlung als systemgebunden und gibt die Möglichkeit preis, sie auch als einzelne zu verstehen und zu vertreten.

Aber die eigentliche Lähmung des heutigen Menschen liegt gerade nicht in diesen ihn scheinbar überwältigenden Lebensbedingungen, sondern in seinem eigenen Selbstverständnis und dem Glauben an das kausale Denken, mindestens an ein einziges logisches Axiom: an den Satz vom Widerspruch. Weil er sich zwar entweder als Subjekt oder als Objekt, aber nicht als beides zugleich zu verstehen bereit ist, ist er von der geschilderten Zwangsläufigkeit abhängig. Er hält es sogar eher mit seiner Würde und seinem Selbstbewußtsein für vereinbar, sich als Produkt von Anlage und Umwelt zu definieren, als den Widerspruch anzunehmen. Die konsequente Vernichtung der Freiheit (vielleicht wird es „so schlimm nicht sein”, und ein Vorbehalt des eigenen Lebens ist verborgen

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dabei) ist immer noch leichter zu ertragen als das Leben im Widerspruch. Subjektbewußtsein und Widerspruchslosigkeit hängen deswegen so eng zusammen, weil das Unwidersprüchliche übersehbar und damit beherrschbar ist, der Widerspruch auf eine unverfügbare, nicht voll erkennbare Auflösung hinweist. Und noch nicht einmal eine Anschauung erscheint tragbar, welche — der Ratio ihr Recht gebend — die auflösbaren Widersprüche auflöst und die unauflösbaren in klarer Bewußtheit dem Menschen zu tragen aufgibt, damit er eben darin frei leben — er will nur schlechthin Alles oder Nichts.

Die hier gemeinte und gezeigte Not ist nicht die alltägliche und oft mißbrauchte Entschuldigung der Schwachen. Er ist die Not der starken Herzen, die tiefen Leidenschaften und Verstrickungen, so wie die großen Häresien nicht die Sache kleiner Köpfe sind. Aber die Einsicht in den schmalen, scharf begrenzten, harten Lebensraum der Söhne Kains ruft nach der großen Barmherzigkeit Gottes, die sich nicht an die Nichtigkeit des Banalen verschwendet. Ein Stück von dieser Barmherzigkeit Gottes muß auch in dem Amt des Richters sichtbar werden. Wenn er die Einsicht in jene Lage des Menschen hat, bedarf es nicht dessen, daß man ihm künstlich das Gewissen schwermacht. Von ihm ist der getroste, der große Gehorsam gefordert, der in dem Worte des Königs Josaphat aufleuchtet:

und tuts!