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II. Relationen

Kapitel 6

Täter und Tat — Tatstrafrecht und Täterstrafrecht

Die traditionelle Betrachtung des Strafproblems scheint mir, wie die Rechtsphilosophie im Allgemeinen, an dem hohen Grad der Abstraktion zu leiden, in der sie sich bewegt. Was Strafe ist, sein kann und sein soll, wird schwer erkennbar, aber um so leichter verzeichnet, wenn man sich nicht jederzeit streng vergegenwärtigt, was geschieht. Strafe setzt ein als schädlich beurteiltes Verhalten eines Täters gegen einen anderen voraus, für welches er in einer spezifischen Weise, welche wir Strafe nennen, verantwortlich gemacht wird.

Das erste Verhältnis, welches in diesem Geschehen erhalten ist, ist also das Verhältnis des Täters zu seiner Tat. Schon dieses Verhältnis ist kein ohne weiteres und selbstverständlich eindeutiges, sondern wird in einer bestimmten Weise aufgefaßt. Es wird unterstellt, daß der Täter mit seiner Tat ein Gebot oder Verbot verletzt hat.

Das ganze gegenwärtige Strafrecht setzt die ethische Sollensstruktur, den normativen Charakter ihrer Grundlagen, als einige und ausschließliche Kategorie voraus. Im Gegenteil: mit bewußterer Betonung als je zuvor wird eben darin die entscheidende Garantie für den Schutz der Personhaftigkeit des Menschen gesehen. In der Straftat tue ich etwas, was ich kann, aber nicht soll. Ich soll, weil ich kann. Warum ich soll, steht auf einem anderen Blatt. Wenn ich nicht kann, bin ich entschuldigt. Mit der Verantwortlichkeit für das Sollen versucht man die Personalität des Menschen grundsätzlich festzuhalten.

Der Mensch erscheint als der Kopf einer Ursachenreihe, von der bestimmte verbotswidrige Wirkungen ausgehen, die ihm sowohl kausal wie schuldmäßig zugerechnet werden. Die Umkehrung dieses Betrachtung des grundsätzlichen Indeterminismus ist die deterministische, sie sieht Täter und Tat als Produkt von Anlage und Umgebung. Die indeterministische Begründung hat vor der deterministischen den zweifellosen Vorzug, daß sie wirklich mit dem Menschen als Subjekt rechnet und ihn nicht zum bloßen Schnittpunkt fremder Faktoren macht. Aber dieser Vorzug ist doch nur ein sehr bedingter; es hält nicht durch. Über diesem zweifellosen

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Unterschied wird die Gemeinsamkeit beider Anschauungen allzu leicht übersehen. Beide stehen auf der gleichen Ebene kausalen Denkens, des Subjekt-Objekt-Schemas. Sachlich geht es jedoch um das Verständnis des Verhältnisses von Täter und Tat. Kausales Denken kann Verknüpfungen ausschließlich in eingleisigen Richtung vollziehen, es kann echte Antinomien und Wechselwirkungen nicht in sich aufnehmen. Determinismus heißt deswegen hier nur, daß man in der Kausalreihe über den Durchgangspunkt des Menschlichen Subjekts auf die dieses Subjekt bestimmenden Momente zurückgeht.

Deterministisches und indeterministisches Denken erzeugen jedoch einen verschiedenen Tatbegriff. Indeterministisch betrachtet ist die Tat die Folge eines aktuellen Handelns, wesentlich Akt mit gewissen Folgen. Deterministisch ist die Tat Symptom konstanter Gesetzlichkeiten, die an der Einzeltat nur sichtbar, aber durch sie nicht erschöpft werden. Sie sind Ausdruck biologischen und soziologischen Seins. Es gibt keinen „objektiven” Tatbegriff an sich, sondern dieser wird durch eine bestimmte Betrachtungsweise erst gebildet und konstituiert.

Die hier verwendeten Begriffe Tatstrafrecht und Täterstrafrecht verdecken die immanenten Tendenzen dieser Begrifflichkeit. Dem Tatstrafrecht geht es um den Täter! Vermöge der Betrachtung der Tat als aktuelle Einzeltat, durch ihre relative Abtrennung von den konstanten Bedingtheiten des Täters und deren Vernachlässigung wird der Täter geschützt, indem seine Verantwortlichkeit streng auf die Einzeltat begrenzt wird. Das Täterstrafrecht dagegen fragt zwar zunächst ebenso nach dem Täter wie das Tatstrafrecht nach der Tat. Es sucht die Determinanten zu erfassen, die in seinem Handeln zum Ausdruck kommen und voraussichtlich in Zukunft weiter kommen werden. Aber im Ergebnis geht es gerade diesem Täterstrafrecht um die Tat, um die Abwendung schädlicher Erfolge, um Sicherung, und zwar in solchem Maße, daß der zunächst als Beweisstück ins Auge gefaßte Täter als Person in sehr hohem Grade zurücktritt, wesentlich zum Objekt von sichernden Maßnahmen wird. Das Tatstrafrecht hat eigentlich nur Gegenwart, das Täterstrafrecht hat nur Vergangenheit, nämlich die mindestens logisch vorausgehenden deterministischen Kausalreihen, und die Zukunft der sozialen Prognose. Die Gegenwart ist das einzige, was hier nicht interessiert. Im Täterstrafrecht verschwindet der Mensch; er wird zum Durchgangspunkt, wo gewisse Kausalreihen zwischen Vergangenheit und Zukunft sichtbar werden. Im Tatstrafrecht aber verschwindet die Tat und kann nur einigermaßen mühsam von einer konservativen Praxis festgehalten werden. Je mehr man nämlich mit dem aktualistischen Verständnis der Tat Ernst macht, desto weniger hat die nachträgliche Einwirkung auf den Täter Sinn. Das Täterstrafrecht hat die Tendenz, sich zur Erfolgshaftung zu objektivieren. Das

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Tatstrafrecht hat die umgekehrte Tendenz, durch immer stärkere Subjektivierung, steigende Berücksichtigung subjektiver Entschuldigungsmomente und Infragestellung des Strafvollzuges sich zu verflüchtigen. Der wissenschaftliche Ausdruck ist die kritische Infragestellung des Strafrechts überhaupt, wie sie etwa Radbruch vertreten und in die Richterschaft hineingetragen hat. Beides steht aber in einer Verbindung wie kommunizierende Röhren. Je mehr sich die Tat subjektiviert, desto mehr müssen dabei objektive Determinanten, Not, Anlage, Schwächen usw., zur Entschuldigung ins Feld geführt werden. Dies aber schlägt eines Tages in den Täterstrafrecht um, welches die Frage nach den Determinanten ganz grundsätzlich und allgemein, nicht mehr zur Entschuldigung, sondern zur Belastung stellt. Das Täterstrafrecht ist die Frucht einer dem Tatstrafrecht innewohnenden Dialektik. Aus diesem Grunde genügt es nicht, wegen der schlechten Erfahrungen der vergangenen Jahre entschlossen seine Zuflucht beim Tatstrafrecht zu suchen und sich gewissermaßen dahinter zu verschanzen. Noch von jeher ist der Materialismus die legitime Gegenfrucht des Idealismus gewesen. Aber dies gilt auch zugleich in der Umkehrung. Die zerstörenden und denkerisch unmöglichen Konsequenzen einer wesentlich naturalistischen oder materialistischen Sicht biologischer und sozialer Determination erzeugen, wie wir heute sehen, gleichzeitig auch wieder die Gegenwirkung des ethischen Idealismus, auch wenn dieser den Menschen überlastet. Das ist ein ewiger Pendelschlag. Man kann nicht mit Fortschrittspathos auf diese Mängel des Idealismus verweisen, wenn man doch nur immer wieder — zur Entschuldigung oder Belastung des Menschen — auf seine Determinationen verweisen kann und damit jenem nur von neuem relative Berechtigung verleiht. Mit etwas allgemeiner Menschenfreundlichkeit, die den unvermeidlichen Schaden — lies die Strafe — möglichst klein halten will, ist ein solches Problem nicht zu lösen. Man muß denkerisch imstande sein, aus diesen Kreis wirklich auszubrechen.

Die üblichen Begriffe Tatstrafrecht und Täterstrafrecht lassen sich also, von ihren Wirkungen her betrachtet, mit gutem Recht einfach vertauschen; jedes von ihnen hat dien ur schwer begrenzbare Tendenz, entweder die Tat oder den Täter aus dem Gesicht zu verlieren; deshalb ist die These berechtigt, daß in beiden Vorstellungsweisen das Grundproblem und Grundverhältnis Tat und Täter nicht zulänglich bewältigt werden kann. Dies liegt aber an der Struktur der beiden Betrachtungsweisen gemeinsam zugrunde liegenden kausalen Denkens.

Es ist ein disjunktives, ein Trennungsdenken, welches die grundsätzliche Trennung von Subjekt und Objekt voraussetzt.

Es ist zugleich spiritualistisch, indem es die subjektive Innerlichkeit des ethisch und gesetzlich verpflichteten Menschen gegen die Äußerlichkeit der Welt setzt und beide systematisch scheidet.

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Es ist zugleich ethisch, indem das Subjekt ein ethisches Handeln als Objekt aus sich heraussetzt.

Es ist zugleich umkehrbar, indem in einem Raum wertfreier kausaler Objektivität der Mensch zum Produkt eines anderen Subjekts, richtiger des zum Subjekt gewordenen „Objekts” werden kann.

Die Einführung kausalen Denkens in das Strafrecht bedeutet also paradoxerweise, daß es keine Brücke zwischen Täter und Tat gibt, beide einander ewig unerreichbar bleiben, und dies gerade in dem Augenblick, indem man meint, objektiv-kausal wie subjektiv-psychologisch zu einem Höchstmaß der Erklärbarkeit menschlichen Handelns gekommen zu sein. Die Kategorien der Kausalität verdecken hoffnungslos die Existenzbezüge. Es ist aber immer derselbe Mensch als Täter, den wir so oder so betrachten, gerade wenn es keinen objektiv-absoluten Tatbegriff geben kann, Taten, die es vorweg mit aller technischen Sachlichkeit festzustellen gelte, um sie dann zu werten. Um dieses Zentrum Mensch und seinen Bezug zur Tat geht es aber und muß es immer gehen.

Zu jenen Trennungen gehört auch die Trennung von Kausalität und Wertung, indem zunächst der angeblich objektive Tatbestand festgestellt und dann einer Wertung unterworfen wird, während wir gesehen haben, daß der vorausgesetzte Blickpunkt erst den Tatbegriff formt.

Im Täterstrafrecht wie im Tatstrafrecht wird in jedem Falle der Mensch als Subjekt, als geschlossene Größe, als eine Eins wie eine rationale Zahl betrachtet, von der, nämlich von deren vorausgesetzter Willensfreiheit, dann — mit verschiedenen Konsequenzen — mehr oder weniger viel abgezogen wird. Der Kampf geht wesentlich darum, den vollen Kurswert dieser Zahl zu erhalten und doch die Hypotheken der Determination gebührend zu berücksichtigen. So erscheint der sicherungsverwahrungsreife Gewohnheitstäter wie ein konkursreifer Gemeinschuldner, dessen Realbesitz haushoch überschuldet ist. In der Aufrechterhaltung dieser Vorstellung, dieses Menschenbildes von der Subjektzahl, hinter deren Eindeutigkeit nicht zurückgegangen werden darf, sieht man eine entscheidende Garantie für die bedrohte Würde des Menschen. Ich glaube jedoch, daß man andere Wege der Betrachtung einschlagen muß, wenn man das Problem nicht verfehlen und damit recht eigentlich durch unzulängliche Erhellung den Menschen gefährden will.

Niemand wird bestreiten wollen, daß das Problem der Freiheit und die Anschlußprobleme des Irrtums, des Versuches usw. notwendige Fragen der Strafrechtssystematik enthalten. Und doch muß der Blick darauf gelenkt werden, daß diese Problemstellung in unvermeidlicher Verknüpfung mit dem Problem der Kausalität zugleich auch eine ausschließende und einengende, um nicht zu sagen verflachende, entleerende, verwüstende Wirkung im Strafrechtsdenken hervorgerufen hat. Unter dem Gesichtspunkt der Freiheit und der Kausalität

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sind alle Taten, die größte und die kleinste, gleich. Ja sogar alle Ursachen werden im Sinne der Äquivalenztheorie gleichwertig. Dadurch bleibt für die Lehre vom Verbrechen selbst nur wenig übrig. Das Verbrechen ist entweder formal Normverletzung oder material schädliches Verhalten. Über den naturrechtlichen Satz „neminem laede” hinaus kann vom Verbrechen inhaltlich nichts ausgesagt werden. Jede nähere Beziehung des Verbrechens zum Menschen wird geleugnet oder wenigstens unerkennbar. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die „obersten Grundsätze des Rechts” und der Kantsche Formalismus nur sehr wenig voneinander. Sie stehen auf derselben Seite, auf derselben Ebene.

Gehen wir deshalb von diesem menschlichen Zentrum aus, so ergeben sich über das Verhältnis des Täters zur Tat ambivalente, antinomische und zugleich komplementäre Aussagen. Der Täter ist mit der Tat sowohl identisch wie nichtidentisch. Die Gleichzeitigkeit dieser Aussage schließt die Tatsache ein, daß er keines von beiden ganz oder — richtiger — isoliert für sich zu sein vermag. Wäre er mit der Tat schlechthin und ausschließlich nichtidentisch, so könnte er ihretwegen nicht behaftet werden, sie wäre ein aktueller Ausbruch, aus dem für die Zukunft nichts hergeleitet werden darf. Wäre er schlechthin mit der Tat identisch, so kämen im Regelfall nur endgültige Sicherungsmaßnahmen in Betracht. Denn es wäre zu verneinen, daß der Mensch die Tat grundsätzlich transzendiert und zu transzendieren imstande ist, in ihr nicht aufgeht. Identität und Nichtidentität sind also nicht statische Tatsachen, sondern dynamische gegenläufige Tendenzen. Identität und Nichtidentität sind für den Menschen nicht überschreitbare Grenzen. Innerhalb ihrer lebt er und von ihnen her ist er als ein Wesen zu definieren, das zwischen diesen Grenzen lebt, von ihnen bestimmt wird. Wir treffen hier auf einen Tatbestand, welcher mit der bisherigen Methode expliziter Definition nicht zulänglich zu erfassen ist, sondern der impliziten Definition bedarf.

Diese Sicht ist nun geeignet, eine ganze Reihe von Erscheinungen zu erhellen, welche Theorie und Praxis ständig beschäftigen. Das Tatstrafrecht geht von der relativen Nichtidentität des Täters und der Tat aus und behandelt ihn so. Es nimmt die Tat bis zu einem gewissen Grade als eine für sich bestehende Größe. Es bietet dadurch dem Täter die wichtige Chance, die so abgelöste und für sich beurteilte Tat mit einer ebenso abgelösten und begrenzten Strafe zu sühnen und aus der Welt zu schaffen. Das ist aber nur durchzuhalten, wenn in eben diesem Grade die Berücksichtigung der Determinanten relativ zurücktritt. Um als Freier verantwortlich sein zu können und durch Übernahme dieser Verantwortlichkeit auch den positiven Erfolg der Ausräumung der Schuld zu erreichen, muß der Täter sich gefallen lassen, als Freier behandelt zu werden. Versucht er auch dem noch zu entgehen, indem er die Determinanten über ein gewisses Maß hinaus zur Entschuldigung benutzt, gerät er, wie

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gezeigt, in die Gefahr, die Betrachtungsweise des Täterstrafrechts herauszufordern. Die Begrenzung des Tatbestandes im Tatstrafrecht ist eine wohltätige Veranstaltung zugunsten des Menschen, keine „objektive” Gerechtigkeit. Es wird gnädig übersehen und hintangestellt, in welchem Maße wirklich die Tat Ausdruck der Gesamtpersönlichkeit des Menschen ist und ihm die Möglichkeit offengelassen, sich in eine andere Art des Lebens zu transzendieren. Wenn aber die bewahrende Gnade dieser begrenzten Strafe, eines begrenzt strafenden Gesetzes selbst zum Gesetz gemacht und als unbedingter Anspruch verstanden wird, als eine schlechthin objektive Gegebenheit im Sinne kausaler Tatsächlichkeit, welcher die unbegrenzte Substraktion weiterer entlastender Determinationen zuläßt, dann schlägt das Tatstrafrecht in das Täterstrafrecht um und verschlingt den Menschen.

Auch die umgekehrte Richtung des Problems tritt im Gerichtssaal auf. In manchen Fällen versucht der Täter die Tat nicht in erster Linie zu verkleinern und zu entschuldigen, sondern identifiziert sich mit starkem Affekt unbedingt mit ihr. Er schließt damit die Möglichkeit der Wandlung in eine andere Auffassung und Bewertung der Tat für die Zukunft in einer gewissen Verkrampfung aus und setzt den Richter in Verlegenheit. Denn dieser kann nach den Grundsätzen des Tatstrafrechts den Täter nur von der Unterstellung aus behandeln, daß er sich über die Tat hinaus grundsätzlich transzendiere und irgendwann zu transzendieren bereit sein werde. Gerade dies stellt die Haltung des Täters in Frage. Durch diese Haltung wird der Richter gezwungen, diese Versteifung, diesen Trotz des Täters zu brechen. Genauer gesagt geht es nicht darum, den Täter zu brechen, sondern die von ihm vollzogene Identifikation mit der Tat aufzubrechen und ihn gerade dadurch frei zu machen. Hier kommen oft Verwachsungen und Verfestigungen vor, die das erschweren oder unmöglich machen. Die vollkommene Sachlichkeit der Prozeßführung und die Ausschöpfung der Beweismittel hat nicht nur den Zweck, zur Feststellung des Tatbestandes zu kommen, sondern auch darin, dem Täter soweit als möglich den psychologischen Ausweg in eine neue Versteifung auf die nicht erhobenen Beweise zu verbauen.

Genau so wie im Tatstrafrecht die Determinanten bis zu einem gewissen Grade außer Spiel bleiben müssen, so im Täterstrafrecht die Freiheit. Das Täterstrafrecht sieht unbarmherzig die Determinationen und muß zugleich eine Prognose stellen, wie sie etwa die Vorschriften über Sicherungsverwahrung ausdrücklich vom Richter fordern. Daß sich der Mensch prinzipiell über die Tat zu transzendieren vermag, daß immer ein Rest von Nichtidentität mit der Tat übrigbleibt, muß hier unweigerlich zurücktreten, genau so wie es niemals ganz außer acht bleiben darf — ebensowenig wie die Nichtidentität zur Aufhebung der Verantwortlichkeit führen darf.

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Diese Sicht ist also imstande, Spannungen zu erklären, welche dem Tatstrafrecht wie dem Täterstrafrecht eingestiftet sind und sich kräftig bemerkbar machen. Sie sind ebensosehr in der Struktur menschlicher Existenz wie in der Struktur unseres Urteilens über diese Existenz begründet und dürfen nicht übersehen werden.

Von dieser Sicht her wird das Verhältnis von Tatstrafrecht und Täterstrafrecht in neuer Weise verständlich:
1. Das Täterstrafrecht ist grundsätzlich eine ebenso legitime Betrachtungsweise wie das Tatstrafrecht, steht aber mit ihm in unaufhebbarer Wechselbeziehung. Der Täter selbst kann durch eine Intensität des Handelns, durch nicht zu übersehende Zeichen einer ihn beherrschenden Determination, durch eine Vorentscheidung zu einem antisozialen „status negativus”, aus dem dann Gewohnheitstaten hervorgehen, die Prüfung seiner Tatidentität herausfordern. Hinter die kriminologischen Erkenntnisse der Gegenwart kann nicht mehr zurückgegangen werden.
2. Anderseits wird zugleich verständlich, warum das Tatstrafrecht den legitimen Schwerpunkt unseres Strafrechtssystems und den Regelfall unserer Praxis bildet: nicht wegen einer angeblichen Objektivität des Tatbegriffs, sondern wegen einer grundsätzlichen Bereitschaft, den Menschen im möglichen Maße gnädig zu erhalten, gerade auch durch die Strafe und gegen die Folgen seiner Verfallenheit. Das aber geht nur um den Preis, daß die Tatstrafe in ihrer stellvertretenden Funktion wirklich durchgehalten wird. Denn durch die begrenzte Tatstrafe gilt der Täter die Tatsache mit ab, daß die Tat in viel höherem Grade seine Tat ist, mit ihm identisch ist, als hier zum Ausdruck kommt. Die Tatstrafe hat etwas von Homöopathie an sich. Aber auch die Homöopathie duldet keine beliebig fortschreitende Verdünnung ihrer Mittel.
3. Genau so wie hier eine Grenze gegen die immanenten Auflösungstendenzen des Tatstrafrechts gezogen wird, die freilich nicht formal begriffliche auszudrücken ist, so ist dies umgekehrt im Bereich des Täterstrafrechts nötig. Ein bloßer Determinismus führt zu einer einfachen Hoffnungslosigkeit der Prognose. In der hier vertretenen Sicht findet die grundsätzliche Offenheit der menschlichen Existenz ihren wirklichen Platz und ihre systematische Erklärung, auch wenn sie in noch so vielen Fällen praktisch zweifelhaft bleibt. Das „lasciate ogni speranza” des kausalen Determinismus kann ohne Verharmlosung der kriminologischen Wirklichkeit hier überwunden werden.

Eine Deutung dieser Erscheinungen und zugleich ihre echte Begrenzung ist also nur durch eine Revision des zugrunde liegenden Menschenbildes und durch die entschlossene Ausscheidung kausaler Kategorien möglich. Das setzt freilich die Preisgabe des spiritualistisch-ethischen Subjektbegriffs voraus, welcher als eindeutige

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Einheit im Bereich des kausalen Denkens ein Gegenüber zum Objekt darstellt und einen Einbruch naturwissenschaftlichen Denkens bedeutet — eines Denkens im übrigen, dessen Allgemeingültigkeit heute bereits nicht mehr besteht. Der Gültigkeitsbereich des kausalen Denkens im Strafrecht ist grundsätzlich nur ein negativer. Kausale Verknüpfungen erklären nicht positiv das Verhältnis von Täter und Tat, sondern können nur negativ diejenigen Zusammenhänge ausscheiden, welche für eine Verknüpfung von Täter und Tat grundsätzlich nicht in Betracht kommen. In der Ausscheidung des abergläubischen Versuchs scheint mir eine echte Anwendung des Kausalitätsbegriffs im Bereich des Strafrechts im Sinne dieser Negativität vorzuliegen. Die Grenzüberschreitung des kausalen Denkens ist eben dort eingetreten, wo man das existenzielle Problem von Täter und Tat positiv mit kausalen Kategorien zu erklären versuchte.

Jener Irrweg beruht letzten Endes auf der Verkennung der Tatsache oder mindestens ihrer Vernachlässigung, daß hinter dem objektiven Tatbestand als eigentliches Gegenüber der Mitmensch steht. Die mit Recht in der Theorie erörterte sog. „soziale Eigenbedeutung” der Tat darf nicht zu diesem Ergebnis führen. Jede strafrechtliche Verfehlung ist immer Verfehlung am Mitmenschen; sie ist objekt-vermittelt, aber sie endet nicht in der Objektivität der Tat. Das Paradox der gleichzeitigen Identität und Nichtidentität des Täters mit der Tat betrifft zugleich sein Verhältnis zu dem von der Tat betroffenen Mitmenschen. Auch mit ihm kann der Täter weder zu vollkommener harmonischer Identität gelangen, noch sich vollkommen aus dem Bezug zu ihm entfernen.

Aus dem Problem der Tatidentität ergeben sich auch Gesichtspunkte für die Teilnahmelehre. Daß man die Tat als fremde will, heißt noch nicht, daß man sie nicht auch als eigene wolle: es muß heißen, ob man sie nur als fremde, als eigene nicht wolle. Die Identität wäre bei der reinen Beihilfe eine personenvermittelte. Dieses Verhältnis ist z.T. rechtlich privilegiert.

Die in Kapitel 4 angeklungene Frage der Intensität und der Täterschaftstypen ist auch eine Identitätsfrage. Der subjektiv uneigennützige, ideal gesinnte Überzeugungstäter hat von jeher bis heute die scheußlichsten Massenverbrechen begangen. Man kann deswegen nicht davon absehen, wie Wolf es damals meinte tun zu müssen und heute wohl auch nicht mehr tun würde, aufhören, ihn als Verbrecher zu bezeichnen. Seine ideale Uneigennützigkeit ist deswegen so tief selbstsüchtig, weil er sich und erst recht alle anderen dem aufzuopfern bereit ist, was er — und seine Gruppe — in ihrem gewaltbereiten Idealismus für gut erklären. Sie können so leicht alles aufopfern, weil sie eben mit dieser Idealität radikal von aller Schuld, allem Leid und aller Unvollkommenheit dieser Welt zu entwerden, frei zu werden trachten. Sie bleiben deshalb nicht bei der primitiven

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Selbstsucht stehen, welche die Heteronomie des Fremden brutal beseitigt, indem sie mordet und raubt. Sie dringen in einer alles verklärenden Pseudologie bis auf die andere Seite der Genealogie des Verbrechens vor. Sie können sich mit der Teufelsmesse ihrer Tat identifizieren und ihre Opfer völlig übersehen, weil ja mit diesem Vollzug das Heil der Gesamtheit gewirkt wird und damit letztlich eine Wiederbringung aller erfolgt. Gerade dieser sich mit seiner Tat so bewußt identifizierende Täter verliert die Freiheit, sich über sie zu transzendieren, weil er sich ideologisch an sie bindet. Hier zeigt sich die Perversion des Glaubens in die Ideologie. Nicht von ungefähr behandeln die totalen Staaten den kriminellen Verbrecher besser als den politischen Gegner und sprechen es auch aus. Die einfache Selbstsucht des Kriminellen erscheint harmlos gegenüber der Verschmähung des dargebotenen geschichtlich-metaphysischen Heils. Weil diese ideologischen Überzeugungstäter mit der wahren Mächtigkeit, dem metaphysischen Geschichtssinn selbst identisch geworden sind, so können sie in dessen Erfüllung nicht mit den Grenzen der Menschheit kollidieren — wer will die Heiligen dieses Gottes beschuldigen?

Der politische Gegner aber auch als Täter belangloser Gesinnungsäußerungen oder als nur des Umgangs Verdächtiger erscheint zur Gänze nicht nur mit seiner Tat, sondern mit einer umfassenden Macht identisch. In dieser präsumptiven Verfallenheit kommen deshalb von vornherein nur die Gesichtspunkte des Täterstrafrechts, nicht die des Tatstrafrechts in Betracht und zum Zuge. Die Ideologien kann man nur dämonologisch begreifen: aber sie haben ihre unmittelbare Auswirkung in millionenfacher Strafrechtspraxis unserer Zeit; man sollte es sich nicht so leicht machen, sie nur zu perhorreszieren statt sie wirklich zu verstehen.

Das heißt: Der Mensch gibt sich transpersonalen Mächten preis, welche ihn aus der Verantwortlichkeit und Unvollkommenheit der Zwischenexistenz durch die Eindeutigkeit der Scheidung in Gut und Böse befreien und traktiert jeden anderen eben danach. Roosevelt wollte nichts von einer deutschen Widerstandsbewegung wissen, weil dies sein eindeutiges Geschichtsbild, seine Kreuzzugsideologie gestört hätte. Jeder Amerikaner gibt heute die Erfolglosigkeit der Entnazifizierung zu, aber nur weil sie nicht weit genug gegriffen habe, nicht hart genug geübt worden sei. Ihre erstaunlichen Methoden stammen, wie Helmut Coing im einzelnen dargestellt hat, aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, nach welchem sich die Sieger als die erwiesenermaßen Guten gegen die ebenso eindeutig bösen Unterlegenen mit ungehemmter Brutalität wendeten. Nicht nur die aus dem objektiven Idealismus stammenden Ideologien der Determination der Rasse und Klasse können also diesen dämonologischen Charakter gewinnen, sondern auch der subjektive Idealismus des moralisch Guten, der Freiheit, des Indeterminismus. Die Ideologie

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zwingt das politische Strafrecht in die Linie des Täterstrafrechts und wird zum Exorzismus und zur modernen Hexenverfolgung: denn den Malefikanten wurde ja auch nicht Selbstsucht, sondern die illegitime Verbindung mit transpersonalen Mächten vorgeworfen. Indem der Mensch sich aber diesen Mächten preisgibt, wird er mit ihnen als Kommunikant identisch, verliert er die Möglichkeit, sich über die konkrete Tat zu transzendieren, weil er ja mit seiner ganzen Existenz schon im transzendenten Raum ist, und wird dadurch selbst zum Repräsentanten dieser Mächte, die nur vernichtet werden können, denen gegenüber es keine Begrenzung des Tatbestandes geben kann. Alles dies ist aber nur im Zusammenhang des Identitätsproblems, nicht mit normativen und ethischen Kategorien verständlich zu machen.

Im Vergleich dazu befindet sich der im Sinne von Erik Wolf „Gemeinlässige” im Raum des gewöhnlichen alltäglichen Strafrechts wie der einfache aktive Kriminelle. Es ist der passive amor sui, der als guter Bürger jedes fremde Recht achtete und sich erstaunt wehrt, wenn man ihn auf positive Verpflichtungen anspricht. Da er nichts tut, sondern nur alles versäumt, wird er auch nicht durch die Tatidentität schuldig, sondern durch die Verleugnung seiner Identität mit dem Mitmenschen, individuell oder kollektiv. Die strafrechtliche Sicherung positiver Gebote wird immer nur eine begrenzte sein können: um sie zu ermöglichen und rechtlich zu erleichtern, ist das Recht immer genötigt, möglichst viele formale Verbote, etwa Veräußerungsverbote u. dgl., aufzustellen und einen Quasistatus herzustellen. Der Normativismus hat hier keine Schwierigkeiten: er kann verordnen, was er will. Er erkauft dies aber mit dem um so schwierigeren Generalproblem des Verhältnisses von Recht und Ethik und der Ablösung seiner Probleme von der konkreten Existenz und dem Verzicht auf die Erkenntnis der Differenzierungen der Rechtswirklichkeit.