|23|

 

I. Vorgegebenheiten

Kapitel 3

Genesis und Genealogie des Verbrechens

A

Die Grundprobleme des Strafrechts finden wir schon in der biblischen Geschichte vom Brudermord Kains (1. Mose 4). Sie nimmt ihren Ausgangspunkt zunächst von dem Gegensatz zwischen Hirten und Ackerbauern, dann aber von der Annahme der Verwerfung des beiderseitigen Opfers der Brüder durch Gott. Kain ist der von Gott verworfene. Das geht über einen moralisierenden Sinn hinaus, der zeigen will, daß sich der Böse gegen den Guten kehrt. Es rührt tiefer an die Frage der Vorherbestimmung ebenso wie an den Tatbestand der Sünde im umfassendsten Sinne als einer Macht, welcher in ihrer Konsequenz auch die am engsten verbundenen Menschen voneinander trennt und gegeneinander stellt. Gerade die Nähe der Beziehung unter diesen wenigen Figuren der Urgeschichte macht die Bedeutsamkeit und das Gewicht des Geschehens aus. Die Mächte, die mit einander handeln und im Gegensatz stehen, wirken sich aus in dem Handeln der zusammengehörigen Menschen. Kain kann erst zum Brudermord greifen, nachdem ihm sein Bruder als ein ganz Anderer, ganz Fremder erschienen ist. Der Sünde gegen Gott folgt die Sünde gegen den Bruder. Dieses Anderssein aber wird in dem Verdikt Gottes sichtbar. Es ist keine indifferente Andersartigkeit, die man im Stile moderner Toleranz für sich bestehen lassen könnte. Dieses radikale Getrenntsein durch die Sünde, nicht durch bloße Willkür und Andersartigkeit, hebt nun keineswegs das Unaufhebbare auf, daß beide Brüder Kinder der gleichen Ureltern Adam und Eva sind. Eben darin ist die Existenz des Menschen in unerhörter Weise radikalisiert. Nicht der Interessengegensatz verschiedener, aus einer Wurzel entsprungener Stämme mit relativ gleich gutem Recht treibt zum Konflikt. Dieser ist vielmehr an den Ursprung zurückverlegt. Leibliche Brüder, einander vom Ursprung her so gleich als möglich, treten in einen absoluten Gegensatz. Es ist kein Kampf gleich auf gleich. Es bleibt Mord. Alsbald aber wird Kain auf das angesprochen, was er ungeachtet dieser tiefen Entfremdung geblieben ist und immer bleibt — in der Frage Gottes nach dem Verbleib des Bruders. Kain geht nicht in die aussichtslose Flucht, sondern weicht moralisch

|24|

diesem Anspruch mit der berühmten Gegenfrage der Verteidigung und Selbstbehauptung aus: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?” Es wiederholt sich die Frage Gottes an Adam: „Wo bist du?” in einer anderen Lage und mit einer anderen Antwort.

Was hier geschieht, ist die dritte Spaltung in der Schöpfungsgeschichte. Die erste ist diejenige zwischen Gott und Mensch im Ungehorsam des ersten Paares. Die zweite ist die Spaltung der gefallenen Menschen, deren die Augen zum geschlechtlichen Sonderbewußtsein geöffnet werden. Sie sehen, daß sie nackt sind, und schämen sich. Es ist die Spaltung zwischen Sein und Bewußtsein. Die dritte ist diejenige der Mordgeschichte: Es ist die Spaltung zwischen Mensch und Mensch. Adam und Eva sind trotz der Trennung der Geschlechter und ihres Geschlechtsbewußtseins noch im Fall solidarisch. Sie bleiben zusammen. Erst ihre Söhne kehren sich gegeneinander, werden geschieden und scheiden sich.

Es ist nicht verwunderlich, daß der Mensch seither leidenschaftlich bestrebt ist, diese ihn aufs tiefste beunruhigenden Spaltungen unter Anspannung seines ganze Vermögens zu überwinden.

Die Geschichte endet nicht mit dieser neuen Lage. Vielmehr wird von Gott ein Fluch über dem Brudermörder ausgesprochen: Er soll unstet und flüchtig sein und seine Nahrung nicht vom Acker finden. Es wird ihm also etwas von der Verheißung genommen, die dem schuldigen ersten Menschenpaar gelassen wurde. Denn wenn diesem auch der Acker Distel und Dornen tragen soll, so doch darunter auch die Frucht der Erde, die er im Schweiße des Angesichts bebaut. Der Zorn Gottes über Adam ist kein vollkommener, sondern ein verhaltener. Von dem ihm Belassenen nimmt Gott Kain nun ein wesentliches weiteres Stück: die stabilitas loci und die Verheißung der Frucht für die gehorsame Arbeit. Nicht aber wird ihm das Leben genommen. Er selbst zwar betrachtet sich angesichts seiner Schuld als friedlos und rechtlos. Gerade dem aber tritt das Urteil Gottes entgegen. Der Mörder wird mit dem Kainszeichen für unantastbar erklärt und seine Tötung unter Androhung siebenfältiger Rache verboten.

Dieses Tötungsverbotes angesichts der vom Täter selbst als selbstverständlich und rechtens vorausgesetzten strafenden Rache ist sehr bemerkenswert. Warum wird dieses Verbot erlassen, während doch sonst durch das ganze Alte Testament hindurch Blutrache, Tötung für Tötung, ganz selbstverständlich beschrieben und geübt wird, ja sogar im gleichen Kapitel (1. Mose 4, 24) Lamech sich der Rache rühmt, die er sich selbst genommen hat?!

Der Tatbestand des Brudermordes ist hier ein ganz grundsätzlicher, prototypischer. Die Tötung des Mörders hier zu fordern oder zuzulassen, hieße den Weg des Rechtes gegen ihn zu eröffnen. Durch den Vollzug der Rache wäre die Tat gesühnt, das Recht wiederhergestellt. Mit dem dem Menschen verfügbaren Mittel der

|25|

Tötung wäre hier wieder Recht geschaffen. Das wäre aber gerade nicht eine Bereinigung, sondern eine Verkennung und Verharmlosung des Vorgangs. Das Ganz-anders-Sein zwischen Bruder und Bruder ist hier als eine Folge des Falls hervorgetreten. Diese unwiderrufliche Tatsache kann so nicht aus der Welt geschafft werden. Vielmehr wird die so eingetretene Externität, die räumliche und berufliche Sonderung, bestätigt und aufrechterhalten. Das Kainszeichen bezeichnet einen Fall, den sich Gott selbst vorbehalten hat, eine Ausnahme, eine rechtliche Exemption vom Sippenrecht. Er kann nicht auf der Grundlage dieses Rechts gelöst werden, weil mit ihm dieses Recht zerstört ist. Der Fall des Menschen vollendet sich im Brudermord. Die Geschichte als Heilsgeschichte nimmt ihren Fortgang. Nicht die Tötung Kains, sondern der Opfertod des anderen Abel, des Sohnes Gottes, bringt das hier geschehene wieder auf gleich.

Mit dem Tötungsverbot des Kain und der Bestätigung seiner Externität wird also zweierlei ausgeschlossen:
1. Die rechtliche Regelung dieses Tatbestandes als zwischen-menschliches Internum.
2. Die willkürliche Aufhebung der eingetretenen Trennung zwischen den Brüdern durch den eigenmächtigen Entschluß des Menschen durch Überspringung des Tatbestandes.

Der Brudermord schafft eine Lage, die weder nach vorwärts noch nach rückwärts zu lösen ist. Es kann weder mit der menschlichen Rache im Wege des Rechtes der vorige Zustand wiederhergestellt werden, noch kann die Tat einfach übergangen werden. Kain wird fortgeschickt und begründet einen eigenen Stamm. An Stelle des erschlagenen Abel wird ein neuer Sohn Seth geboren, der ebenfalls einen anderen Stamm begründet. Es kann also die einmal eingetretene Trennung der Stämme und ihre Scheidung ebensowenig wettgemacht werden. Weder durch Rechtsvollzug noch durch Rechtsverzicht, weder durch Rache noch durch Vergeltung kann mit menschlichen Mitteln der vorige Zustand wiederhergestellt werden. Weder durch ein positiv-absolutes Urteil zugunsten des „Guten” über den „Bösen” noch durch relativierende Aufhebung des Gegensatzes kann diese Scheidung überwunden werden — weil sie grundsätzlichen, protologischen, prototypischen Charakter hat.

Für diese Einsicht ist die Weiterverfolgung der biblischen Stammesgenealogie nicht entscheidend. Ob in Wahrheit nur ein Stamm, der des Kain, übrigbleibt, der in der Sündflut zugunsten des noachitischen Bundesvolkes ausgelöscht werd oder nicht, ist nicht entscheidend gegenüber der einmal eingetretenen Scheidung von Bruder und Bruder, die bis zur eschatologischen Aufhebung ebenso bleibt wie das Sonderungsbewußtsein der Geschlechter in der gefallenen Welt. Der vielleicht besseren exegetischen Annahme eines Stammes Kain, der allein

|26|

bleibt, steht freilich entgegen, daß das Kainszeichen jemanden voraussetzt, der es sehen soll, und der es selbst nicht trägt. Daß aber der Mensch gegen den Menschen, der Bruder gegen den Bruder sich kehren kann, das bleibt auch dem Geschlechte Kain für sich allein als erworbene Möglichkeit.

Aber der Radikalismus der biblischen Geschichte ist verdeckt und mißdeutbar. Was liegt näher, als daß man jenes Urteil Gottes über die beiderseitigen Opfer auf der einen und das Tötungsverbot auf der anderen Seite, daß man Voraussetzung und Folge überspringt, ausläßt, mißachtet — es sind ja nur mythische Aussagen — und nun eben jene Untat mit frischem Mut zu bereinigen sucht: im pharisäischen Endkampf der Guten gegen die Bösen, der Zivilisierten gegen die Rohen, der Verständigen gegen die Unvernünftigen?! Oder auch, daß man mit leidenschaftlicher Verbrüderung — diesen Kuß der ganzen Welt, seid umschlungen Millionen! — nun eben jene Trennung der Stämme enthusiastisch überspringt? Wie leicht läßt sich schließlich beides verbinden, wenn man nach dem Endsieg über die wenigen Bösen, die dem vergehenden Zeitalter Verhafteten, im metaphysischen Sinne „alten” Menschen und Mächte, eben jene Brüderlichkeit anbietet und in Aussicht stellt?

Schließlich zeigt die Kainsgeschichte deutlich, daß das Strafrecht als menschliche Möglichkeit, welches ja in der ganzen Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments nirgends in Frage gestellt wird, eine wesentlich, ja ausschließlich interne Tatsache ist. Im Verhältnis zu Gott gibt es keine Externität. Menschliches Strafen bleibt ein interner, an einen bestimmten Personenkreis gebundener Vorgang. Es kann die fundamentale Trennung von Stamm zu Stamm, von Mensch zu Mensch nicht aufheben; aber es kann den Menschen dort behaften, wo und soweit er mit dem Mitmenschen und mit seiner eigenen Art identisch und deshalb verantwortlich ist.

Was im mythischen Bild menschlicher Urgeschichte als Urteil Gottes dargestellt wird, ist von erhabenster Einfachheit, ebenso fundamental wie monumental. Ja es geschieht eigentlich gar nichts. Es wird unausweichlich festgestellt, was geschehen ist und in seinen nicht mehr zu beseitigenden, echt geschichtlichen Folgen festgehalten. Es is deklaratorische Aussage wie konstitutive Gestaltung in einem. Das souveräne Handeln Gottes steht jenseits der menschlichen Denkkategorien von „ontisch” und „personal”. Die Flucht vor den Tatsachen wird durch ihre Aufdeckung unmöglich gemacht; durch das Zeichen werden sie ausgedrückt und in ihrer Wirksamkeit bekräftigt. Der hier bezeugte, persönlich sich offenbarende Gott steht hoch über der menschliche Rache, der er wehrt, wie über einer billigen Verzeihung, welche die geschichtliche Bedeutsamkeit und Verantwortlichkeit des menschlichen Handelns außer Kraft setzt. „Pardonner n’est pas son métier” — um das verächtliche Wort Voltaires umzukehren.

|27|

In beiden Fällen, im Ungehorsam des ersten Paares wie im Falle des Brudermordes, erleben wir Strafe. Aber bemerkenswerterweise ist in keinem der beiden Fälle diese Strafe einfache Vergeltung, Talion, welche ihr Maß an der Tat nimmt, und welche wir sooft mit dem Alten Testament verbinden. Die Tat der Ureltern ist ja kein Vergehen gegen das Feld- und Forstpolizeigesetz in Idealkonkurrenz mit Übertretung der Gartenbenutzungsverordnung. Es ist Ungehorsam, Untreue, Treubruch, Felonie gegen den Herrn, der ihnen die Welt anvertraut hat. Felonie aber setzt nach dem ganz folgerichtigen Lehnrecht den Treubrecher ohne weiteres aus dem Recht, macht ihn rechtlos. Aber eben dieses Urteil über die Felonie, den Hochverrat, das Majestätsverbrechen erfolgt nicht. Es erfolgt sehr viel weniger, eine Strafe, die den Schuldigen und mit ihm sein Geschlecht am Leben erhält, aber ihn mit Mühen und Schmerzen belastet. Er wird nicht getötet, aber er wird sterblich und so wird ihm eine Frist gewährt. Aber es wird ihm ebensowenig eine begrenzte Strafe zudiktiert, die er abbüßen, tilgen kann und die ihm einen Anspruch auf endliche Wiedereinsetzung in den alten Stand gibt. Es ist nach unseren Begriffen mehr als Tatstrafrecht. Es ist aber deutlich weniger als Täterstrafrecht, welches das Ganze des Menschen in einer Prognose seiner Möglichkeiten in Betracht zieht. Die Gerechtigkeit Gottes geht über diese beiden Betrachtungsweisen hinaus. Er will weder wie ein Tyrann unbedingt seine Ordnung durchsetzen um den Preis, daß seine Schöpfung zugrunde geht. Er will auch nicht einfach den Menschen zu dessen eigener Freiheit freisetzen. Er will etwas mit dem Menschen, was weder durch seinen Zorn noch durch die eigene Freiheit des Menschen erfüllt werden kann, die Erfüllung seiner Ordnung in neuem Gehorsam.

Etwas sehr ähnliches finden wir im Falle Kain. Auch hier wird die so naheliegende, von Kain selbst als Recht anerkannte Vergeltung verhindert, verboten. Auch hier tritt eine begrenzte harte Strafe an ihre Stelle, wiederum eine solche, die der Mensch nicht abverdienen kann, um von neuem ein intaktes Leben zu führen. Wieder ist es weniger als die Prognose des Täterstrafrechts, mehr als Tatstrafrecht mit Bewahrungsfrist. Wieder wird der Mensch tief und als Ganzer getroffen, in einen neuen harten Stand gesetzt und eben in diesem gehalten und erhalten.

Dieses Bild von der Lage des von Anbeginn her straffälligen Menschen und von dem strafenden Gott widerspricht gänzlich unseren gewohnten Vorstellungen über diesen vielerörterten Tatbestand, dessen Darstellung im Mythos durch seine Evidenz noch immer die Menschen bewegt. Denn wir rechnen nicht ernstlich damit, daß die verwirkte Strafe eine ganz andere ist als die verhängte. Wir fassen gemeinhin Strafe und Gnade als einander ausschließende Alternativen auf. Das kann weder vor der biblischen Geschichte noch vor der Theorie des Rechts standhalten. Indem hier bestraft wird, wird zugleich begnadigt. Der Mensch wird weder

|28|

vernichtet noch freigelassen. Gerade das Zerbrochene wird festgehalten und eine neue Ordnung, ein neuer Rechtsstand für den Menschen daraus gemacht. Die freie Gnade ist niemals Verzicht auf die Erfüllung des Rechts, sondern sie ist selber Erfüllung des Rechts. Die souveräne Macht ist stark genug, um an die Stelle der zu leistenden Schuld zu treten. Der Verzicht auf die Erfüllung durch den Schuldigen ist nicht der Inhalt, sondern nur die Folge der Gnade5. Indem die souveräne Gewalt sich selbst in bestimmten Rechtssätzen bindet, sich auf bestimmte Ansprüche ansprechen läßt, für ein bestimmtes Verhalten ein entsprechendes Gegenverhalten verheißt, beschränkt sie selbst ihre Souveränität, gewährt sie dem Unterworfenen einen für sie selbst verbindlichen Status. Das ist Gnade, weil es das Recht der grundsätzlich unbindbaren Souveränität einschränkt, weil es das Recht des Richters zu einem Privileg des Schuldigen macht. Wo immer jemand klagt oder verklagt wird, in bürgerlichen oder Strafsachen, steht er immer vor dem Richter nicht auf seine Gerechtigkeit, sondern darauf, daß der Richter seine Sache zu der seines, des Richters Recht macht. Es ist immer das Recht des Richters, um das es geht, und sekundär um die Konformität der Partei damit. Wer Recht und Gnade gänzlich trennt, sie scheidet und nicht nur unterscheidet, weiß nicht, was Recht und Gnade ist. Die souveräne Gewalt setzt gerade ihr Recht durch die Gnade durch, und indem sie Recht übt, erweist sie Gnade.

In unseren Fällen der Urgeschichte kann die zerstörte Ordnung nur deshalb als eine vorläufige Ordnung bestätigt und neu geordnet werden, weil schon diese Geschichte auf die endgültige Erfüllung des Rechts Gottes durch den freien Gehorsam seines Sohnes hinblickt, weil schon die ersten Geschichten des Alten Testaments auf die letzten Dinge, auf die Wiederbringung der Welt hinweisen. Aber freilich: Die Lage ist nicht harmlos, leicht, bequem. Sie wird von dem redlichen Idealismus überhaupt nicht erfaßt, welcher von dem uns aufgegebenen „sittlichen Ideal” spricht. Sie ist höchst unbequem und bitter. Aber sie entzieht sich keineswegs der sehr klaren Erkenntnis und Beschreibung.

Auf den philosophischen Begriff gebracht, heißt das: Der Mensch nach der Vollendung des Falls im Brudermord, das Geschlecht Kain wie das Geschlecht Seth, ist mit dem Mitmenschen zugleich identisch wie nichtidentisch. Er bleibt Bruder und ist doch von ihm getrennt, ist nicht mehr Bruder. Es ist keine Rede davon, daß durch die Versetzung in eine andere Existenzform, in die Trennung der Stämme, die Verbindlichkeit des Bruderseins irgendwie aufgehoben wäre. Die Frage „Wo ist dein Bruder Abel?” bleibt mit dem Kainsmal unverlöschbar eingebrannt. Aber ebensowenig ist die eingetretene und zugleich verordnete Trennung aus der Welt zu schaffen. Von da aus ist der Satz „homo homini lupus” ebenso irreal wie die


5 Vgl. Evangelisches Soziallexikon, Artikel „Gnade”.

|29|

Forderung vollkommener Brüderlichkeit. Die so eingetretene und fixierte Lage wollen wir als die Zwischenexistenz des Menschen bezeichnen.

Von dieser Einsicht her ergeben sich sofort sehr präzise Maßstäbe für die Beurteilung der wesentlichen Strafrechtstheorien. Sie macht auf der einen Seite die absoluten Theorien grundsätzlich unmöglich, relativiert und begrenzt sie. Wer mit Kant beim Untergang der Welt noch den letzten Mörder hinrichten, wer mit Hegel die Negation der Negation vollziehen will — nach Edmund Mezger das Tiefste, was über die Strafe bisher gesagt worden ist —, meint nun eben doch mit diesem Handeln etwas metaphysisch Bedeutsames tun zu können — genau das, was das Kainszeichen ausschließt. Aber auch die relativen Theorien werden nicht weniger begrenzt, in Frage gestellt. In ihrer Zweckhaftigkeit umgehen sie Schuld und Verantwortlichkeit, machen sie lediglich den Menschen zum Objekt ihrer Berechnung. Hätte man nur Gewißheit, daß die Tat sich nicht wiederholte, so würde man jede Tat ungestraft übersehen. Im Rechtsstrafrecht gewinnen Tat und Strafe metaphysisch-absolute Bedeutung, im Zweckstrafrecht verlieren sie jeden eigenen Gehalt.

Die Zwecktheorien umfassen zwar Abschreckung und Besserung miteinander. Sie haben jedoch ihren stärkeren Zug und ihre größere Entfaltungskraft nach der Seite der positiven Resozialisierung, welche die Wiederherstellung eines intakten, um nicht zu sagen idealen Verhältnisses als Zielpunkt vor sich hat. Deshalb steht die Abschreckungsstrafe zwitterhaft zwischen Rechtsstrafe und pädagogischem Besserungsstrafrecht. Was nach dieser doppelseitigen Relativierung — genauer Begrenzung — als echter Raum der Strafe festzuhalten ist, soll später dargelegt werden.

 

B

Eine sehr vergleichbare Grundeinsicht in die Lage des Menschen finden wie in der Ödipussage.

Ödipus erschlägt den Vater Laios und heiratet die Mutter Jokaste, beides unwissentlich und doch nicht schuldlos. Bisher ist im allgemeinen hier der Vatermord fast allein betrachtet worden — die Blutschande erscheint wesentlich nur als eine Folgeerscheinung. In Wahrheit haben beide gleiches Gewicht. Der Mensch zerstört die ihm in heteronomer Fremdheit gegenübertretende väterliche Autorität und sucht die Vereinigung mit der Mutter. In beiden Richtungen werden Grenzen überschritten: die unerlaubte Trennung und die unerlaubte Vereinigung werden vollzogen. Im geschichtlichen Ablauf ist das eine die Vorbedingung für das andere. Das Tremendum wie das Fascinosum werden angegriffen und verderbt, nachdem der Schutz beseitigt ist, den das Tremendum dem Fascinosum gewährt. Daraus ergibt sich zugleich, daß die isolierte Betrachtung des Vaterproblems grundsätzlich unzulänglich und irreführend ist,

|30|

weil sie zu falschen Positionen und Negationen führen muß. Beides vollzieht sich miteinander: Haß gegen die fremd erscheinende Autorität und verderbte Sehnsucht nach bergender Gemeinschaft. Ist es nicht eine mythische Umschreibung des gegenwärtigen Zeitalters? Zugleich zeigt sich hier die tiefe Verbindung der Geschlechterordnung mit den fundamentalen Erscheinungen des Strafrechts, Mord und Blutschande. Von hier aus fällt auch ein neues Licht auf die heutige Erotisierung der Öffentlichkeit und die ständige Ausdehnung der Sittlichkeitsverbrechen.

Was bedeutet hier die Blutschande? Daß der Mensch das unaufhebbar Andere als Ehegatten in der legitimen Ehe nicht erträgt und durchhält, sondern dorthin geht, wo er hergekommen ist, und im Schoß der Mutter von sich selbst frei zu werden trachtet. Es gibt nicht nur einen „Ödipus-Vater-Komplex” in Richtung auf den Vater, sondern einen „Jokaste-Mutter-Komplex” von tiefster Wirksamkeit. Ganz seiner selbst Herr zu werden in der Abschüttelung aller Heteronomie und ganz zu Entwerden im Schoß der Mutter, im Quellgrund, in der Urtiefe des Lebens sind die Wege, auf denen der Mensch der Zwischenexistenz ledig werden will, und beides treibt einander.

Die systematische Bedeutung des Ödipusproblems liegt in der Darstellung zweier Grundrichtungen menschlicher Machtanmaßung und Grenzüberschreitung: nach der tremenden wie nach der fascinosen Seite hin — unerlaubte Antastung des Fremden wie ebenso unerlaubte Herstellung der Gemeinschaft. Der Mensch kann nur in dem Raum leben, welcher von Tremendum und Fascinosum eingeschlossen, begrenzt wird, indem er beide respektiert, beide unangetastet bestehen läßt. In diesen Grenzen wird er durch die Strafe gehalten. Sie sind Bedingungen seiner Existenz.

Ödipus zwischen den Grenzen der beiderseitigen Geschlechtertabus, der kosmischen Grenzsetzungen: das ist eine menschliche Möglichkeit und ein klassisch klares Gefüge. Aber wie ist es mit den Nachkommen Kains und Seths?

Wie verhalten sich der alttestamentarische Brudermord und die Ödipussage zueinander? Die letztere stellt den Menschen in einer klar gegliederten klassischen Ordnung dar — Vater — Mutter — Sohn. Es ist ein zyklisches Gefüge, welches sich in jedem Verhältnis von Eltern und Kindern wiederholt. Ödipus handelt nicht sosehr als Mensch schlechthin, sondern als Sohn; er verletzt damit spezifische Ordnungen, die alles Menschliche umgreifen, für jeden Menschen gegeben sind.

Die Ödipussage stellt den Menschen dar, dessen Existenz durch die Tabugrenzen des Numinosen und des Fascinosen begrenzt wie zugleich konstituiert wird. Es scheint so, als ob er sie einhalten könnte; wenn er die Eltern als solche erkannt hätte, so hätte sich die Tat von selbst ausgeschlossen. Aber eine schicksalhafte Verblendung versperrt ihm die Erkenntnis und treibt ihn zur Tat, die den

|31|

Kosmos dieser Ordnung zerstört. Viel radikaler ist die Brudermordgeschichte. Das Urteil Gottes über beide Opfer ist ebenso offenkundig wie die Eigenschaft Abels als Bruder; und ebenso offen und bewußt ist die Verfehlung. Erst diese konstituiert die Zwischenexistenz des Menschen, die abgrundtiefe Trennung vom Anderen und mach zugleich die unauflösliche Verbundenheit erst recht sichtbar.

Die Ödipussage ist theologisch gesprochen sozusagen pelagianisch. Wenn der Mensch nur zu sehen vermöchte, was er tut, so könnte und würde er es lassen. Seine Verblendung, seine Verkennung der vorfindlichen Ordnung ist die Bedingung der Tat. Die biblische Geschichte ist prädestinatarisch: am Anfang und am Ende steht das bestimmende Urteil Gottes. Die Schuld Kains ist tiefer gesehen, so wenig Ödipus nach den Grundsätzen moderner strafrechtlicher Schuldlehre zutreffend beurteilt werden kann.

Soviel tiefer und radikaler die biblische Geschichte auch ist als die griechische Sage, so ist sie doch in der sachlichen Aussage vom Urwissen der Ödipussage nicht so weit entfernt, wie es scheinen möchte. Die Zwischenexistenz des Menschen zwischen Getrenntsein und Verbundenheit, seine Doppelexistenz in beiden, ist der Lage des Menschen zwischen Fascinosum und Numinosum grundlegend verwandt. Hier herrscht eine statische Ordnung, die sich für jeden Menschen mit der Geburt herstellt. In der Bibel ist es ein heilsgeschichtliches Geschehen in der Geschichte des Falles, welches auf die heilsgeschichtliche Überwindung angelegt ist.

Auf die gleiche anthropologische Grunderscheinung der Zwischenexistenz sind wir in einem anderen, ebenso streng systematisch wie historisch darstellbaren Rechtsbereich gestoßen, nämlich bei unseren Forschungen über Geschichte und Struktur des Eheschließungsrechts6.

Es gibt Eheschließung nur innerhalb zweier streng bestimmter rechtlicher Grenzen. Die eine Grenze bilden die Ehehindernisse, welche die Geschlechtsverbindung mit denjenigen Menschen ausschließen, welche, nach welchen Maßstäben auch immer, als wesentlich identisch angesehen werden. Die andere Grenze oder auch Voraussetzung der Ehe bildet das Rechtsinstitut des in älteren Rechten förmlich ausgeprägten Connubiums. Connubium bedeutet die vorauslaufend Vergemeinschaftung, durch welche eine positive Identität begründet wird, auf deren Grundlage Eheschließung erst möglich ist. Ich habe hier weiter gesagt (Band 6, S. 101 f.):

Jene beiden Grenzwerte sind echte existentielle Größen. Die Neigung, sich an die negative Grenze zu begeben und sie


6 Vgl. Dombois-Schumann: „Weltliche und kirchliche Eheschließung” und „Familienrechtsreform”, Band 6 und 8 der Schriftenreihe „Glaube und Forschung”, Gladbeck und Witten 1953 und 1955, insbesondere Dombois: „Strukturprobleme des Eheschließungsrechts” Teil I und II.

|32|

womöglich zu überschreiten, tritt dort hervor, wo der Ebenbürtigkeitsgesichtspunkt eine beherrschende Rolle spielt. Auch in der Ehe wird die Identität der eigenen Art mit starker Bestimmtheit gesucht und gesichert. Den stärksten Ausdruck dieser Tendenz finden wir in der Geschwisterehe des ägyptischen Königtums. Hier ist die Grenze der sonst allgemein gültigen Geschlechtstabus bereits bewußt überschritten. Wo der Mensch sich nur noch dem eigenen Blute verbindet, macht er sich zum Gott, der allein mit sich selbst identisch ist. Gegenüber dieser Tendenz und dem Anspruch der Identität steht die umgekehrte Tendenz zur Nichtidentität. Indem hier Grenzen gesetzt werden, wird die Beziehungslosigkeit der Partner vermieden und abgewehrt. Zwischen Identität und Beziehungslosigkeit liegt allein der mögliche Raum der Ehe. Das stimmt mit der psychologischen und soziologischen Unterscheidung von Gleichheitsehe und Kontrastehe überein. Wo die Bezüglichkeit auch des Kontrastes aufgehoben wird, versinkt die Ehe in die materielle Tatsächlichkeit des Physischen und droht in einen Bereich noch unterhalb des Tieres zu sinken, welches streng an seine Art gebunden ist und außerhalb dieser Dialektik steht.

Die weiteren Ausführungen beschäftigen sich mit der geschichtlichen Ablösung des Connubiums und brauchen hier nicht einbezogen werden. Die volle Parallelität der Erscheinungen zeigt die Echtheit dieser anthropologischen Sicht. Ihre strenge juristische Prägnanz beweist, daß gerade eine existentielle Deutung solcher Dinge aus dem Raum rechtlichen Denkens nicht herausgenommen werden kann (vgl. hierzu unter Kapitel 11).

 

C

Für das Verständnis dessen, was sich in menschlicher Verfehlung abspielt, leistet uns der Ödipusmythos, wenn wir nur den biblischen Radikalismus in Sicht behalten, unübertreffliche Dienste. Hier wird eine klare und scharfe Interpretation menschlicher Existenz gegeben. Das zeigt sich darin, daß von den Verbrechen des Ödipus, von Vatermord und Blutschande, die Genealogie des Verbrechens ihren Ausgang nimmt.

Diese beiden Hauptrichtungen menschlicher Existenzverfehlung sind in Vatermord und Blutschande prototypisch, zugleich antithetisch und parallel dargestellt. Diese beiden Haupt- und Grunddelikte bilden je für sich den Kopf von Deliktsreihen, die entweder den einen oder anderen Charakter tragen. Dem Morde, der die Unantastbarkeit des Fremden — in Wahrheit den eigenen Ursprung wie die Mitmenschlichkeit — verletzt, folgen die Minderformen von Gewalttaten aller Art: Totschlag, Körperverletzung, Beleidigung. Der Blutschande folgen die Formen des Sittlichkeitsverbrechens, in welchen immer irgendwie ein fehlgehender Versuch erotisch-geschlechtlicher

|33|

Verbindung enthalten ist. Konkurrenzen sind möglich und geben der Tat eine besondere Virulenz, z.B. Lustmord, Beleidigung auf sexueller Grundlage.

In diesen unmittelbar gegen die Person gerichteten Straftaten sind diese Grundzüge deutlich ausgeprägt. Die Unterscheidung zeigt sich als durchgängige jedoch auch in erstaunlicher Weise in den scheinbar rein sachlich bestimmten und neutralen Eigentumsdelikten und klärt deren Begehungsformen. Bekanntlich gliedern sich die Eigentumsdelikten nach der Art der Begehung in zwei Reihen:

  A   B
I. Unterschlagung Untreue
II. Diebstahl Betrug
III. Raub Erpressung

Von ihnen können Unterschlagung und Untreue, Raub und Erpressung, nicht jedoch die beiden mittleren Formen konkurrieren (räuberische Erpressung, ein mehr akademisch konstruiertes als real vorkommendes Delikt).

Beide Reihen sind genau parallel aufgebaut. Innerhalb ihrer unterscheiden sich die Delikte durch Momente der Zeit und der Offenheit. Bei Unterschlagung und Untreue sind die vorausgehenden Verfügungen intakt; ihr Ergebnis wird erst nachträglich von der Tat betroffen. Diebstahl und Betrug dagegen sind ausschließlich präsente Tatbestände ohne eine solche Vorausverfügung. Typ I und II haben ferner gemeinsam, daß das schädigende Handeln dem Geschädigten im Augenblick der Begehung der Tat verborgen bleibt. Raub und Erpressung sind in der Begehung ebenso präsentisch wie Diebstahl und Betrug, dafür aber von brutaler Offenheit. Sie haben beide insofern ein futurisches Moment in sich, als der Täter darauf rechnet, daß der Geschädigte trotz Kenntnis der Tat gehindert sein werde, das Weggenommene zurückzugewinnen. Die drei Delikte verhalten sich wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zueinander, aber differenzieren sich zugleich nach Verborgenheit und Offenheit.

Die völlige Parallelität des Aufbaus weist aber vor allem darauf hin, daß beide Deliktsreihen in sich jeweils etwas Spezifisches gemeinsam haben. In der Reihe A bricht der Täter mit eigener Macht und Hand den Rechtsstatus, er mißbraucht seine Besitzdienerschaft in der Unterschlagung und bricht damit den fortbestehenden Oberbesitz des vertrauenden Eigentümers, er nimmt in Diebstahl oder Raub die Sache heimlich oder öffentlich weg. Ganz anders in Reihe B. Hier ist immer der Geschädigte selbst der Verfügende, vorausgehend in der Bevollmächtigung oder gegenwärtig bei Betrug und Erpressung, unwissentlich bei Untreue oder Betrug, wissentlich bei der Erpressung. Der Untreue richtet sich mißbräuchlich gegen die eingeräumte Vertretungsmacht.

Es steht also dem Einbruch in den zu respektierenden fremden Machtbereich die unrechtmäßige Herstellung oder Verwendung einer

|34|

Willenseinigung gegenüber. Angriff auf das Fremde und Erschleichung oder Erpressung der Gemeinschaft treten also auch hier einander gegenüber und in deutlicher typologischer Gegensätzlichkeit hervor. Deswegen sind auch Betrug und Erpressung so besonders geeignet, sich mit sexuellen Motiven zu verknüpfen (Heiratsschwindel, Erpressung durch Preisgabe von Intimitäten).

Er ist für die nominalistisch-vereinzelnde Denkweise der Jurisprudenz kennzeichnend, daß solche offenkundigen Zusammenhänge und morphologischen Merkmale weder systematisches noch pädagogisches Interesse gefunden haben.

Die Struktur der beiden Hauptgruppen der klassischen Delikte wird in dem Augenblick sichtbar, in dem man das anthropologische Vorverständnis des Menschen als eines Individuums oder Atoms, einer mathematischen Subjekt-Eins aufgibt, welche verbietet, hinter diese Urzahl zurückzugehen. Aber bekanntlich gibt es dieses strukturlose Atom gar nicht. Alle Mächtigkeit, auch die des Menschen, ist in dieser Weise sowohl fascinos wie tremend, anziehend wie abstoßend, lebt zwischen diesen Grenzen in der geschilderten Komplementarität und Gegensätzlichkeit. Von da aus sind auch die Grenzen zu bestimmen und zu verstehen, welche das Strafrecht sichtbar macht, nicht erst schafft. Hier treten Grenzen hervor, die seiner Existenz anhaften, nicht eine einigermaßen beliebig vermehrbare oder verminderbare oder einfach nur zu summierende Zahl von „Rechtsgütern”, die als Accidentien zu dem „An-sich” des Menschen gehören und ihm zuzubilligen oder auch abzusprechen sind.

Mit der Übertragung jener typologischen Grundunterscheidung auf die Eigentumsdelikte zeigt sich zugleich, daß diese im Verhältnis zu den unmittelbaren gegen die Person gerichteten Grunddelikten einen sekundären Charakter haben, eine geringere existentielle Dichte besitzen. Daraus ergibt sich auch ihre relativ geringere Wertigkeit. Die extreme Gegensätzlichkeit von Mord und Blutschande verliert auf diesem Gebiet ihre Schärfe und vermindert sich äußerlich auf Unterschiede der zivilrechtlichen Begehungsform. Der Gegensatz ist nichtsdestoweniger deutlich genug. Zugleich zeigt sich, daß die menschliche Sachherrschaft, die wir in ihrer gegenwärtigen rechtlichen Gestalt Eigentum nennen7, nicht ein Rechtsgut für sich und sui generis, sondern ein in die Außenwelt verlängerter personaler Lebensraum ist.

Es könnte an sich genügen, diesen Gesichtspunkt für die Hauptdelikte des klassischen Strafrechts durchzuführen. Er bewährt sich jedoch auch im Bereich der Straftaten gegen die öffentliche Ordnung. Die Formen dieser politischen Delikte sind freilich in hohem Grade abhängig von den geschichtlichen Formen des Verfassungsrechts.


7 Zur Geistesgeschichte des Eigentums vgl. Dombois: „Mensch und Sache”, Z. f.d. ges. Staatswissenschaft 1954, S. 239ff.

|35|

Die Strafvorschriften gegen Hochverrat, uralt und ewig, solange es politische Existenz gibt, schützen den verfassungsmäßigen Status vor dem willkürlichen Zugriff, die konkreten Rechte der Amtsausübung der legitimen Gewalt wie die Unversehrtheit des Gebietes.

Dem Hochverrat korrespondiert im Sinne unserer Unterscheidung der Landesverrat. Der Hochverrat ist immer die Wendung gegen die Heteronomie der legitimen öffentlichen Gewalt, welche in der Identität mit dem eigenen Gewaltunterworfenen nie ganz aufgeht, deren Existenz Raum zu Konflikten bietet. Landesverrat ist umgekehrt die unerlaubte Verbindung mit einer fremden Macht, welcher man Einfluß, Wirksamkeit, Verbindlichkeit dort einräumt, wo nur die Heteronomie des eigenen Regimes Rechte beanspruchen kann.

Im politischen Strafrecht finden wir beide Linien dann auch in Delikten geringerer Bedeutung ausgeprägt. Neben Widerstand gegen die Staatsgewalt, Mißachtung der Staatssymbole, Bannbruch usw. finden wir auf der anderen Seite in erster Linie und typisch das Koalitionsdelikt, die unerlaubte Verbandsbildung. Diese ist zuweilen unerlaubt, weil sie aktiv und unmittelbar auf eine Änderung der Verfassung zielt. Dann erscheint sie als Vorbereitungshandlung zum Hochverrat. Zuweilen ist sie jedoch schon an sich strafbar, weil sie ohne Rücksicht auf eine verfassungspolitische Zwecksetzung eine Störung oder Gefährdung der Gesamtordnung darstellt. Keine politische Ordnung, gleichviel welcher Art, auch die liberalste, anerkennt und duldet schlechthin beliebige Verbandsformen. Gerade der liberale Staat kennt und anerkennt Verbände nur als Vereine, in denen der Verbandszweck immer zur Verfügung der Mitglieder steht, welche also keinen stärkeren Grad der Vergemeinschaftung mit sich bringen. Soweit sie es doch tun, versagt er dem streng die rechtliche Wirkung. Der grundsätzlichen Koalitionsfreiheit entspricht also hier die strenge Beschränkung der Verbandszwecke.

Die gesellschaftliche Selbstorganisation steht immer in einer gewissen Spannung zur Staatsgewalt. Diese kann versuchen, die Verbandsbildung in sich hineinzuziehen, zu monopolisieren und dadurch politisch unschädlich zu machen. Dann kommt sie in Konflikt mit den freien Kräften, die nie völlig im geordneten politischen Verbande aufgehen, sondern immer bis zu einem gewissen Grade überschüssig bleiben. Entschärft der Staat diesen Gegensatz durch die möglichst weite Freigabe der Verbandsbildung, so muß er doch zugleich verhindern, daß die Verbände staatsähnliche Gewalt über ihre Mitglieder erlangen, Staat im Staate werden, der den Staat verdrängt und ihm vor allem die aktiven Kräfte für seinen Dienst, seine Aufgabe nehmen. Die Koalitionsfreiheit kann deshalb nie bis zur Selbstaufhebung des Staates ausgedehnt werden. Bei weitreichender Freigabe der Verbandsbildung, bei wesentlicher und durchgreifender Trennung von Staat und Verbänden wird zugleich der Staat wesentlich auf seinen Zwangscharakter, auf äußerliche und

|36|

mechanische Dinge abgedrängt, verliert er die Kräfte der Freiwilligkeit und Spontaneität an andere Bereiche. Der absolute Staat, sowohl in der fürstlichen wie in der liberalen Form höhlt und hebt sich schließlich selbst auf. Verzweifelt ruft Friedrich Wilhelm I. „lieben, lieben sollt ihr mich, nicht fürchten”, während er mit landesväterlicher Strenge seinen Staat aufbaut. Die Erben des Absolutismus, die Vertreter des liberalen Staates, wundern sich darüber, daß die ethischen Postulate individueller Selbstverpflichtung nicht ausreichen, um die konkreten Bindungen zu ersetzen. Die Verbände können also weder vollständig in die politische Verfassung einbezogen noch vollständig freigegeben werden. Daraus ergeben sich immer illegitime Formen der Verbandsbildung und damit ein besonderer und typischer Bereich des politischen Strafrechts, der mit dem Schutz der konkreten Staatsorgane nicht identisch ist.

Die Weimarer Republik ist politisch daran zugrunde gegangen, daß sie einerseits weder willens noch imstande war, die sich bildenden halbmilitärischen Verbände entscheidend zu beschränken, auf der anderen Seite die nach Bindung und Verpflichtung drängenden jungen Kräfte in Pflicht zu nehmen, weil dem der Versailler Vertrag entgegenstand. Aber gebunden müssen solche Kräfte werden; die Rückverweisung auf die Einzelexistenz reicht nicht aus und bleibt so ein wirklichkeitsfremdes Postulat. Weil totalitäre Staaten die freie Verbandsbildung fast völlig aufheben, welche auch mit unpolitischen Zwecksetzungen ein Politikum bleibt, müssen sie alle Verbände in den Staat hineinziehen — und sei es noch so gewaltsam und künstlich; sie müssen jedermann in ständiger Bewegung halten, damit nicht dieser Gegenpol wiedererscheint. Das ist wiederum nur dadurch möglich, daß die Kräfte der Hingabe und Anhängigkeit in einer übertriebenen und gewaltsamen Weise vom und für den Staat gefordert werden. Anderseits nimmt ein allzusehr von der vereinsmäßigen Selbstorganisation her aufgebautes Gemeinwesen der notwendigen Heteronomie des Staates die innere Bindungskraft. Dieses Polaritätsverhältnis läßt sich nicht grundsätzlich rationalisieren, sondern nur durch die Erhaltung traditioneller Verbandsformen bis zu einem gewissen Grade stabilisieren, weil diese allmählich bedeutende Objektivität gewinnen. Der totale Staat wie der Vereinsstaat sind einander entsprechende Mißbildungen. Hier werden Grenzen und Grenzwerte deutlich, die in anthropologischen Grundstrukturen angelegt sind.

Wiederum erscheinen hier nebeneinander, wenn auch wie überall, in naher Beziehung der Angriff auf die heteronome Gewalt wie der Mißbrauch der positiven Verbindung. Der Mensch in seiner Selbstmächtigkeit und verantwortlichen Eigenmächtigkeit steht dem einzelnen Mitmenschen wie der Gemeinschaft als Mächten gegenüber, zu denen er sich in zweifacher Weise verhalten kann und die in zweifacher Weise auf ihn wirken. Die Mächtigkeit des

|37|

Menschen ist wie alle Mächtigkeit zugleich sowohl tremend wie fascinos. Diese Grundbestimmtheit des Menschen hält ihn in einem sehr konkret begrenzten Raum seines rechtlichen Lebens. Überschreitet er diese Grenzen, so ruft er mit Notwendigkeit die Reaktion des Strafrechts hervor. Der Mensch ist nicht explizit, sondern implizit von den Grenzen seiner Existenz her zu bestimmen. Seine Existenz wird ebensosehr durch den Versuch gefährdet, sie mit dem Staate zur uneingeschränkten Deckung zu bringen, wie dadurch, diesen zu einem letztlich unverbindlichen, bedeutungslosen Außen seiner Eigentlichkeit und Innerlichkeit zu entwerten.