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Die apostolische Sukzession als rechtsgeschichtliches Problem

 

I. Zur Methodik

Das Problem der apostolischen Sukzession kann ohne eine kirchenrechtliche Erörterung vom Theologen allein ebensowenig bewältigt werden wie es der Kirchenrechtler allein nicht zu klären vermag. Hierbei ist die Verbindung syste­matischer und geschichtlicher Fragestellungen erforderlich.

Vorweg habe ich zwei methodische Bemerkungen zu machen:

1. Im Vordergrund vielfacher Bemühungen zu gleichen und ähnlichen Pro­blemen steht die Erörterung patristischer Texte. Diese sind selbstverständlich unentbehrlich. Sie enthalten auf der einen Seite konkrete Zeugnisse über die Verfassung der Kirche ihrer Zeit, wie Gedanken, welche sich für die nachfolgende Zeit in der rechtlichen Gestalt der Kirche ausgeprägt haben können. Trotzdem ist davor zu warnen, die ecclesiologischen Texte ohne weiteres oder in zu weitem Umfange mit der vorfindlichen Rechtsgestalt der Kirche gleichzusetzen. Nicht alles, was in der Lehre über die Kirche gedacht und geschrieben worden ist, ist in die Wirklichkeit der Kirche gemeinschaftsbildend und insbesondere rechtsbildend übergegangen. Andererseits kann man sicher sein, daß auf lange Sicht eine kirchenrechtliche Anschauung in wesentlichem Widerspruch gegen die Theologie nicht durchgehalten werden kann. Ist also eine bestimmte kirchenrechtliche Ordnung in langfristiger Entwicklung mit Sicherheit und ganz konkret festzustellen, so bedeutet dies gleichzeitig die Möglichkeit einer gewissen Rückkontrolle für die Tragweite solcher Väterzitate. Wenn beispielsweise Prof. Goppelt der Auffassung ist, daß schon nach Clemens und Ignatius eine Trennung von Amt und Gemeinde eingetreten sei, so zeigt das vorfindliche Kirchenrecht ein wesentlich anderes Bild. Das bis ins 12. Jahrhundert überall durchgehaltene Bischofswahlrecht der Gemeinden, das Versetzungsverbot für die Bischöfe und das Rechtsinstitut der relativen Ordination zeigen in ihrem inneren Zusammen­hange an, daß eine völlige Trennung von Amt und Gemeinde nicht eingetreten ist, daß also die historisch bezeugte Trennung nur eine relative war. Vom vorfindlichen Kirchenrecht her ergeben sich also wesentliche Maßgaben für die Be­wertung patristischer Texte. Die Neigung, die Lehre über die Kirche mit der Wirklichkeit der Kirche gleichzusetzen, ist ein idealistisches Erbe. Das Kirchenrecht ist nicht eine Funktion des Kirchenbegriffs, sondern bildet sich im Zusammenhang mit dem Gottesdienstverständnis, ist liturgisches Recht. Theologische Reflexion und verbindliche Gestaltung decken sich immer nur zum Teil und sind zum Teil gegeneinander verschoben.

2. Emil Brunner hat in seiner Schrift „das Mißverständnis der Kirche” aus­gesprochen, die Schwierigkeit des Kirchenrechts liege darin, daß die Theologen zu wenig vom Recht und die Juristen zu wenig von der Theologie verstünden. Dieser Satz ist evident richtig. Aber er deckt nicht die eigentlichen Schwierig­keiten auf.

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Es müssen im Kirchenrecht immer die Theologen juristische, die Juristen theo­logische Urteile abgeben und sind dann der Kritik des anderen Fachs ausgesetzt.

Für die juristischen Bemühungen der Theologen liegt die Schwierigkeit an fol­gendem Punkte: Sie sind versucht, sich auf eine wissenschaftlich ungeklärte Vulgärjurisprudenz und Rechtserfahrung zu stützen, welche keinesfalls ausreicht und welcher dann ständig zeitbedingte Vorurteile unterlaufen. Soweit diese Theo­logen aber die gegenwärtige Rechtslehre benutzen, um sich zu informieren, tref­fen sie auf eine Wissenschaft, die in ihrem geistigen Bestände im wesentlichen von Aufklärung und Idealismus bestimmt ist. Die Theologen wissen dann nicht zu scheiden, welche Begriffe kategorial, und welche geschichtsbedingt sind. Gerade der rechtsphilosophische Idealismus ist mit einer Rechtsgeschichtsphilosophie verknüpft, nach der die Begriffe erst in der Geschichte und in der wissen­schaftlichen Bewußtheit zur vollen Entfaltung kommen, alle älteren Rechtsfor­men also abgewertet werden. Im Übrigen liegt nach einem treffenden Worte des Rechtsphilosophen Emge jeder Rechtsphilosophie eine bestimmte Religions­philosophie zu Grunde. Diese Hintergründe und folgenreichen Vorentscheidun­gen sind den Theologen bei der Handhabung juristischer Begriffe nicht genü­gend bewußt.

Dieser Umstand hat große Bedeutung gerade für unseren Gegenstand. Die ausgezeichnete Arbeit von Olof Linton über den Stand der Erforschung der Ver­fassung der Urkirche (Upsala 1932) läßt erkennen, wie sehr die bedeutendsten Forscher, wie etwa Hatch und Harnack in ihre so gut fundierten Darstellungen bestimmte rechtlich-soziologische Vorstellungen eingetragen haben. So wird die Arbeit Lintons geradezu zu einem kleinen Seitenstück zu Albert Schweitzers Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. Hier widerlegt jede Darstellung die vor­hergehende ohne weiteres durch ihre offenkundige Standortbedingtheit. Auch wir werden im Urteil späterer Zeiten dem gleichen Urteil nicht entgehen, weil eben der Betrachter vom Gegenstand seiner Betrachtung nicht abgelöst werden kann. Dennoch sind seither viele Erkenntnisse gewonnen worden, welche jener Zeit fehlten und die nun nicht wieder verloren gehen können. Aber grundsätzlich gilt jene Bedingtheit unserer Erkenntnis. Einen gewissen Schutz gegen Eintra­gungen bietet nur die Übertragung der exegetischen Faustregel, daß der schwe­rere Text dem einfacheren vorzuziehen ist. So haben wir hier auch diejenigen Rechtsvorstellungen vorzuziehen, welche den uns geläufigen Begriffen am we­nigsten entsprechen, sich unserem Verständnis nicht ohne weiteres erschließen.

 

II. Zum Verhältnis von Theologie und Recht

Es ist weder möglich noch nötig, den gegenwärtigen Stand des rechtstheolo­gischen Gesprächs hier darzustellen. Über die theologische Struktur rechtlichen Denkens habe ich mich in Heft 13/55 der Ev. Luth. Kirchenzeitung ausführlich geäußert. Aber ich sehe mit Sorge, daß eine bestimmte rechtsfeindliche Tradi­tion innerhalb der Theologie immer noch sehr wirksam ist. Anstelle umfangreicher

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systematischer Ableitungen muß ich hier eine Zusammenstellung derjenigen juristischen Irrtümer geben, welche in der theologischen Diskussion auftreten und vom Rechtsbegriff nicht gedeckt werden. Es handelt sich um eine Art „Lasterkatalog”.

1. Die Gegenüberstellung von Freiheit des Evangeliums und Zwang des Rechts. Der Jurist kann dem Theologen nur immer wiederholen, daß das Recht weder allein noch vorzugsweise auf dem realen Zwang und der Furcht vor Strafe, sondern ebenso, ja sogar überwiegend auf positiven Kräften der Freiwilligkeit, auf der natürlichen Liebe zur eigenen Gemeinschaft und auf der Selbstliebe beruht. Wer das weltliche Schwert selbst geführt hat, für den ist die Art befremd­lich, in welcher die friedlichsten Theologen von der Schwertgewalt reden. Dieser Scharfrichtertheologie muß ein Ende bereitet werden. Wenn das begrenzte Maß des unvermeidlichen Zwanges durch soziale Spannungen auch nur wesentlich erhöht werden würde, würde sich sehr schnell das Versagen dieser Schwertgewalt zeigen. Viele Theologen tun so, als ob der Staat auf Bajonetten sitze, was man bekanntlich nicht kann. Andererseits spricht etwa die Apologie Art. 28 von dem Gerichtszwang, der dem geistlichen Amt als Recht und Pflicht der Exkommu­nikation zukomme, zweifellos ohne Inanspruchnahme des weltlichen Arms.
Die dem Recht zugrundeliegende Exousia ist wie alle Macht immer zugleich fascinos und tremend, anziehend und schreckend (vgl. Dombois Pol. u. Christi. Existenz in „Macht und Recht”, Beiträge zur luth. Staatslehre der Gegenwart).

2. Analog, aber noch in höherem Grade verfehlt, ist die übliche Gleichsetzung von Recht und Gesetz und wiederum die Gegenüberstellung mit der Freiheit des Evangeliums. Der von namhaften Theologen formulierte Satz „Recht ist Ordnung, wenn sie zur Regel wird” ist deshalb falsch, weil es drei Formen des Rechtes und des Rechtsdenkens gibt: charismatisches, normatives und decisionistisches. Jene Definition verwechselt eine von mehreren Formen mit dem Rechtsbegriff selbst. Diese Formen sind sowohl geschichtlich wie syste­matisch zu unterscheiden. Charismatisches Recht ist solches, in dem personale Entscheidung und Sachgehalt noch ungeschieden beieinander liegen. Deshalb gelten hier die Gleichheitssätze (Behandlung des [feststellbar] Gleichen als gleich usw.) nicht. Decisionistisches Recht entwickelt sich dann, wenn die ratio­nale Regel des normativen Rechts nicht mehr ausreicht. Man versucht wieder die Sinneinheit durch Einzelentscheidungen zu verwirklichen. Dies aber sind jetzt rationale Entscheidungen — und der Versuch gelingt erfahrungsgemäß nicht mehr. Die Willkür wird ideologisch, pseudoeschatologisch überdeckt. In allen drei Formen ist ein personales Moment mit dem der Sinneinheit verbunden, und eben diese ihre verschiedene Art der Verbindung macht ihre Besonderheit und ihr Problem aus.
Systematisch wie historisch und genetisch folgt nicht, wie gemeinhin im Sinne jener Auffassungen angenommen wird, der Anspruch aus dem irgendwie in metaphysischer, unpersönlicher Objektivität vorgegebenen „Recht”. Ebenso­wenig ist der Prozeß ein Mittel zur Durchführung des Gesetzes. Es ist vielmehr

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der Anspruch vor dem Recht, der Prozeß vor dem Gesetz. Gerade die größten Rechtssysteme unseres Kulturkreises, das römische und das angelsächsische zeigen dies deutlich. Das Gesetz entsteht erst aus der Wiederholung gleich­bleibender Richtersprüche über gleichgelagerte Fälle. Gesetzgebung ist die ge­neralisierte Vorwegnahme solcher Urteile. Das Recht ist ursprünglich Richter­recht, Entscheidungsrecht, Recht der Präjudizien. Die allmählich gleichbleibende „gesetzliche” Entscheidung ergeht auf Ansprüche, Klagen. Erst ein geistesge­schichtlich beschreibbarer Vorgang, den man als rationale Inversion bezeichnen kann und der zugleich eine Objektivierung, Rationalisierung und Spiritualisierung bedeutet, kehrt dieses Verhältnis um, läßt den Anspruch aus dem Recht folgen, den Prozeß zur Durchsetzung des Gesetzes dienen. Es handelt sich um den Einbruch kausaler Kategorien. Daraus ergibt sich weiter,

3. daß jede Gegenüberstellung von Personalität und gesetzlich­-rechtlicher Regelhaftigkeit von Grund auf verfehlt ist. Das ursprüng­liche Richten vor jener Inversion ist ein charismatischer Akt. Der königliche Richter richtet kraft des ihm von Gott im institutionellen Raum verliehenen Charismas, seiner Weisheit über Person und Sache zugleich. Was dem Einen zukommt, kommt dem Anderen noch längst nicht zu und die gleiche Lagerung der Sache ist noch nicht allein ausschlaggebend. Es gibt noch keine Ab­lösung des Streitfalles, der Sache von der Person. Diese Ablösung bringt erst nachträglich die gesetzliche Rechtsregel hervor, weil der Richter sich in seiner Treue und Beständigkeit auf bestimmte sachliche Fälle und Klagformeln be­halten, ansprechen läßt. Doch trägt selbst dies noch sehr lange persongebundene Züge. So fällt etwa das prätorische Edikt mit der Amtszeit des Prätors hinweg. Die Gleichsetzung von Recht und regelhaftem Gesetz ist im Rechtsbegriff nicht begründet.

4. Verfehlt ist deshalb auch die Annahme, daß der Rechtsgedanke zwangs­läufig zu einer meritorischen Gnadenlehre führe. Die Meinung Luthers, daß die Juristen von ihrem Fache her an die Rechtfertigung aus den Werken glaubten, umschließt einen verhängnisvollen juristischen Irrtum. Wenn es für die huma­nistischen Juristen seiner Zeit und die idealistischen Juristen der Moderne zu­treffen mag, so verdeckt es doch zugleich den gänzlich anders gearteten Grund­bestand der Rechtslehre und Rechtswirklichkeit. Es ist ein unzulässiges argu­mentum ex abusu, welches die Juristen in eine falsche Autonomie und die Theo­logen in die Rechtsverneinung getrieben hat.
Ich weise auf die Ausführungen von van der Leeuw über das do-ut-des-Problem hin. Die Vorstellung des handelsrechtlichen Güteraustausches zwischen mehr oder minder gleichberechtigten Partnern trifft die existenzielle Tiefe des Rechtsproblems überhaupt nicht. Sie wird im Prozeß sichtbar, wie denn das Recht aus dem Geiste des Prozesses geboren wird. Denn grundsätzlich muß der seines Rechts beraubte Kläger die numinose Macht des Richters unter vollem Wagnis seines Lebens anrufen, so wie noch im Gottesurteil der Unterliegende

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als Frevler hingerichtet wird. Der Kläger klagt nicht aus seinem Recht, mindern darauf, daß der Richter um der von ihm selbst vertretenen Ordnung die Sache des Klägers zu seiner eigenen machen wird. Denn alles Recht beruht darauf, daß ihm eine rechtschaffende Communicatio, Vergemeinschaftung vorausgeht: der Eheschließung das Connubium, dem Handelsgeschäft das Commercium, dem Reisepaß die völkerrechtliche Anerkennung des fremden Staates usw. Über den fundamentalen Charakter der gratia praeveniens für die Rechtssystematik vgl. ELKZ 13/55. „Wir liegen hier nicht auf unsere Gerech­tigkeit, sondern auf Deine Barmherzigkeit.” Daraus ergibt sich auch die folgende These.

5. Der ursprünglichen Untrennbarkeit von Person und Sache entspricht auch diejenige von Recht und Gnade. Gnade ist nicht Rechtsverzicht, sondern Erfül­lung des Rechts durch eine höhere Macht, welche dann sekundär auf die For­derung an den Schuldigen verzichten kann, weil dem Rechte schon Genüge getan ist. Der richterliche Entscheid ist Bezeugung der Übereinstimmung des an ihn ergehenden Anspruchs mit der verpflichtenden Unbedingtheit der bestehenden Weltordnung (Recht) wie zugleich die Herstellung dieser Ordnung selbst kraft des freien, unbindbaren, ordnenden Charismas (Gnade). Gesetztsein und Setzen stehen nicht im grundsätzlichen Widerspruch, weil beide im Charisma, im eschatologischen Futurum des dynamischen Weltsinns ausgeglichen sind. Eine philo­sophische Gegenüberstellung von statischer Ontologie und dynamischer Perso­nalität ist eine geistesgeschichtlich bedingte Erscheinung, keine prinzipielle Erkenntnis.

6. Alles dies ergibt sich aus der Tatsache, daß das Recht im Ursprung ein Phänomen der Religion ist. Das Urphänomen der Religion aber ist Macht (van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, S. 1). Die Macht aber ist immer am­bivalent, tremend und fascinos, bindend und lösend. Daher ist auch der Gewalt­begriff — wer auch immer als Subjekt erscheint — so ambivalent: als Recht der positiven, förderlichen Ordnung, wie der strafenden ausschließenden Scheidung. Sobald der Gewaltbegriff einen negativen Akzent bekommt, liegt bereits eine spirituale Aufspaltung vor.

7. Deshalb können nicht dem Rechtsbegriff selbst, sondern nur bestimmten, geschichtlich-bedingten, meist späten Wandlungen desselben die Gegensätze

konstitutiv-deklaratorisch
kontinuierlich-aktual

zugeordnet werden. Wie Person und Sache, positive und negative Seiten des Ge­waltbegriffes entsprechen sich diese Momente komplementär. Ihre disjunktive Betrachtung zeigt ebenso sehr die Zerstörung des rechten objektiven Verhält­nisses wie des subjektiven Verständnisses an.

8. Gegenüber der spiritualistischen Bestreitung des Kirchenrechts schien es in der Gegenwart ein Fortschritt zu sein, daß exegetisch, systematisch und auf

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Grund des Textes der Bekenntnisschriften der Begriff des jus divinum wieder bejaht wurde. Man bestrebt sich allerdings, den Anwendungsbereich dieses Be­griffes möglichst klein zu halten. Als pädagogischer Hilfsbegriff ist er wie der Gegenbegriff des jus humanum vielleicht nicht zu entbehren. Grundsätzlich müssen beide in Frage gestellt werden, und zwar so weit und je mehr sie dazu verwendet werden, bestimmte Bereiche eindeutig gegeneinander abzugrenzen, den einen als absolut und unwandelbar, den anderen als verfügbar und relativ darzustellen.
Natürlich gibt es rein weltliche Rechtsbereiche des äußeren Kirchenrechts, für welche das Problem des ius divinum garnicht gegeben ist. Wir sprechen hier jedoch nur vom eigentlichen Kirchenrecht. Hier haben wir das jus divinum immer nur in der Form des jus humanum. Eben darum kann das Kir­chenrecht nicht im ganzen als jus humanum bezeichnet werden (Barth, Dedo Müller).

9. Das Recht ist nicht eine ideale Größe im Raum einer Metaphysik des Geistes, sondern eine Dimension der Existenz. Man kann also den Menschen und das Recht, die Kirche und das Recht nicht einander positiv oder negativ in Addition oder Subtraktion gegenüberstellen. Es ist deswegen gleichgültig, ob man mit Sohm Kirche und Recht für unvereinbar hält oder mit Holstein Geist­kirche und Rechtskirche einander zuordnet. Beides beruht auf dem gleichen Ansatz und beides ist unmöglich. Mit der Geschichte, welche Gott mit den Menschen hat, in welcher er seinen Anspruch an den Menschen geltend macht, ist das Recht mitgegeben. Jene Vorstellung der Addition oder Subtraktion von Kirche und Recht dagegen versteht das Recht als eine Art Konservierungsmittel für die Früchte des heiligen Geistes. Nimmt man zuviel, verdirbt es den Ge­schmack und womöglich die Früchte selbst, läßt man es weg, so verderben sie. Trennt man so Kirche und Recht und meint man, daß Geist und Recht in der Tiefe nichts miteinander zu tun haben, so kann nur in der Kirche der Geist recht­los und ihr Recht geistlos werden.
Ich fürchte, daß trotz der vielfachen Erörterung des Rechtsproblems der Evan­gelischen Theologie mit den Dimensionen des Geheimnisses und der Natur auch diejenige des Rechtes verlorengegangen ist. Das bedeutet nicht Freiheit vom Gesetz, sondern einen empfindlichen Wirklichkeitsverlust. Auf der einen Seite wird der Rechtsbegriff in eine große spirituale Höhe gestellt; in concreto aber gerät das Recht in den geistigen Rang der Technik oder allenfalls des Kunstge­werbes. Man wird ihm jedoch den geistigen Rang der großen Kunst einräumen müssen. In beiden werden gleichermaßen tiefe theologisch-existenzielle Ent­scheidungen sichtbar. Was wir auf dem Gebiete des Rechtes heute haben, entspricht allenfalls einer Ästhetik, nicht aber der vollmächtigen künstlerischen Gestaltung.
Wogegen ich mich hier also zu wenden habe, sind neben zahlreichen traditio­nellen Vorurteilen vor allem Neigungen zum Trennungsdenken.

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III. Die Rechtsbildung in der Kirche

Recht bildet sich durch einen Vorgang im strengen Sinne, einen Prozeß, näm­lich durch das Zusammentreffen von Anspruch und Anerkennung. Nun gibt es Ansprüche zweierlei Art aus zwei gegensätzlichen existenziellen Lagen: den Anspruch des Habenden und den des Nichthabenden. Der Habende beansprucht Respektierung seines Rechtsstatus. Unter Haben ist hier nicht in erster Linie das Haben von dinglichem Besitz, sondern das Sich-selbst-Haben, Leben, Freiheit, Integrität, Ehre zu verstehen, dann auch der äußere Besitz. Der so Habende beansprucht in seinem Status belassen, in Frieden anerkannt zu werden. Der Nichthabende, der nicht hat, was zum Leben gehört, beansprucht Wiederher­stellung und klagt in eigener Unmächtigkeit beim Richter. Wer sich selbst nicht helfen kann, bittet den Richter, daß er ihm Anerkennung verschaffe, ihm wiedergebe, was ihm entzogen ist. Mit dem Anspruchscharakter des Rechtes hängt seine Wortgebundenheit zusammen. Der Anspruch hat Wortcharakter, das Wort hat Anspruchscharakter. Es ist für unseren Bereich klar, daß der Mensch immer nur in der zweiten existenziellen Lage, der des schlechthin Nichthabenden hier auftreten kann. Jene Verbindung von Wort-Recht-Anspruch erklärt, warum die Heilige Schrift in ihrem ganzen Umfange in einem unerhörten Maße von Rechtsvorstellungen durchzogen ist. Dies ist in seiner Tragweite noch nicht erkannt.1

Auch geistliches Recht, Kirchenrecht bildet sich ebenso durch Anspruch und Anerkennung, dadurch daß der Anspruch des Wortes Gottes im Bekenntnis glaubend anerkannt wird. Der Vorgang ist im geistlichen und weltlichen Recht der gleiche, Subjekt und Gegenstand dagegen grundlegend verschieden.

Jener Grundvorgang ist überall in der Bildung pneumatischen Rechts nachweisbar. Die Missionierten, zum Glauben Erweckten unterstellen sich der Autorität des ihnen verkündeten Wortes, dessen Wahrheit sie im Bekenntnis anerkennen. Dies ist, wie Maurer und Elert dargetan haben, ein personaler Akt der Hingabe, der Homologie, des gleichlautenden Redens zu dem Ansprechen Gottes durch die Verkündigung. Gott bezeugt sich aber nicht in abstrakter Personalität, sondern er beruft und legitimiert sich selbst etwa im mosaischen Gesetz als derjenige, der das Volk Israel aus dem Diensthause geführt hat. Er wird ebenso personal durch die Heilstaten identifiziert und beglaubigt. Die heilsgeschicht­lichen Aussagen der ökumenischen Bekenntnisse spiegeln diese heilsgeschichtlich-personale Identifizierung wieder. Es gibt kein von der Person abgelöstes Bekenntnis als gedankliche Darstellung einer bestimmten Theologie. Zu dieser Anerkennung des Anspruchs in der Entstehung des geistlichen Rechtes ist jedoch der natürliche Mensch grundsätzlich nicht im Stande, da nur der Geist den Geist erkennen kann. Es muß ihm also dieser Geist zuvor gegeben sein. Ich wiederhole noch einmal,  daß alle pelagianischen und semipelagianischen Vorstellungen


1 Vgl. Theo Preiss, Die Rechtfertigung im johanneischen Denken, Ev. Theologie 1956, S. 289, der von einem „Rechtsanspruch” und einem Prozesse Gottes mit der Welt spricht.

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gerade juristisch ganz inferior sind, und verweise erneut auf die Tatsache, daß jedem konkreten Rechtsakt eine vorauslaufende Vergemeinschaftung voran­gehen muß, damit er zwischen den Beteiligten wirksam werden kann (vgl. auch Strukturprobleme des Eheschließungsrechts Teil I in Dombois-Schumann, Welt­liche und Kirchliche Eheschließung. Glaube und Forschung VI, Gladbeck 1953).

Die Entstehung geistlichen Rechtes durch Anspruch und Anerkennung voll­zieht sich demgemäß durch zwei einander ergänzende spezifische Vorgänge, die traditio und die receptio. Beide Begriffe gehören so­wohl dem biblischen Denken wie der Phänomenologie des Rechtes an. Übergabe, Weitergabe wie Empfangen und Anerkenntnis verhalten sich wie Zeugung und Empfängnis. Es sind im rechten Verstände personale Vorgänge, deren sachlicher Gehalt von ihrer Personalität niemals abgetrennt werden kann und darf.

Die traditio ist zunächst die Selbsthingabe Gottes, danach die bestimmungs­mäßige Weitergabe des Evangeliums, in dem Gott sich uns fort und fort gibt (sacramentum). Die receptio ist die glaubende Annahme des Empfangenden, der sich selbst hingibt, der lobpreisend und dankend antwortet (sacrificium).

Das Formalprinzip alles Kirchenrechts ist daher der Anspruch, daß das ge­schehe, was Gott durch den Auftrag der Kirche am Menschen geschehen lassen will. Dies schließt Handeln und — Ansichhandeln-Lassen ein. Das Materialprinzip der geschichtlich unterschiedlichen Kirchenrechtsgestaltungen ist das jeweils verschiedene Verständnis dessen, was in der Kirche geschieht und zu geschehen hat.

Irgendwelche Ordnungsvorstellungen, auch der biblische Gedanke, daß in der Kirche alles ordentlich zugehen solle, sind demgegenüber sekundär. Ebenso se­kundär und eine Nebenlinie sind, worauf Ernst Wolf in seinem Sammelband „Peregrinatio” wiederholt hingewiesen hat, organologische Vorstellungen. Wo andererseits gewisse systematische, deduktive Ordnungsprinzipien wirksam werden, ist es mit dem pneumatischen und Bekenntnischarakter des echten Kirchenrechts am Ende. Die Fragen des kirchlichen Rechts entscheiden sich da­her an Vorzug und Gestaltung des Gottesdienstes, am Gottesdienstverständnis. Mit größter Bestimmtheit hat Karl Barth in der Schrift „Ordnung der Ge­meinde” = KD IV, 2 S. 67, das Kirchenrecht als eine Funktion der Liturgie be­zeichnet. Es erschiene mir verhängnisvoll, wenn angesichts der Arbeiten von Peter Brunner zur Lehre vom Gottesdienst auf der einen und dieser Erkenntnis Karl Barths auf der anderen Seite die lutherische Theologie in überlebten Vorstellungen Schleiermachers und des 19. Jahrhunderts hängen bliebe.

 

IV. Traditio und Receptio als Grundformen kirchlicher Rechtsbildung

Traditio und receptio als Grundformen geistlichen Geschehens wie kirchen­rechtlicher Rechtsbildung müssen nun im einzelnen dargestellt werden.

1. traditio ist nicht primär die gegenständliche Übertragung von irgend etwas, sondern ein personaler Akt, der eine Selbstpreisgabe des Tradierenden

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einschließt. Subjekt der Tradition ist immer Christus selbst. Sie ist ein Vorgang, nicht primär ein Gegenstand. Sie ist nach ihrer personalen Seite gesehen successio.

Sie ist geschichtlich und unumkehrbar. Traditionsrecht ist Missionsrecht. Die Weitergabe ist die auftragsgemäß vollzogene Mission. Das rechtshistorische Bild macht dies deutlich. Die Missionsgemeinden werden abhängig von ihrem Ursprung, von den Aposteln oder von den missionierenden Gemeinden und ihren Häuptern. Cullmann hat darauf hingewiesen, daß etwa Paulus seine Missionsgemeinden deutlich unterscheidet von denen anderer Apostel und sich hütet, dort einzugreifen, während er in seinen Gemeinden unbefangen eine weitreichende Leitungsgewalt ausübt. Die traditio hat durchaus Realcharakter im Sinne des biblischen Realismus, nicht im Sinne kausaler Gegenständlichkeit.

Tradiert wird die ganze Gabe des Evangeliums, der Geist, nicht allein eine für sich bestehende Lehre. Aus diesen Filiationsverhältnissen, aus dem Traditionszusammenhang der Mission entsteht die territoriale Gliederung der frühen Kirche, die 325 schon soweit ausgebildet war, daß sie auf dem ersten ökumenischen Reichskonzil von Nicäa nur festgelegt zu werden brauchte, also zu einer Zeit, als die Auswirkung des Reichskirchenprinzips noch relativ gering und jung war. Die Angleichung an die Reichsorganisation ist eine grundsätzlich sekundäre Erscheinung und in dieser Bedeutung lange Zeit weit überschätzt worden.

Um Traditionsrecht als Missionsrecht zu verstehen, muß man alle geistesgeschichtlich späteren körperschaftsrechtlichen Vorstellungen ebenso ausscheiden wie alle Organtheorien. Diese Vorstellungen haben die Lehre der Kirche insbesondere seit dem 19. Jahrhundert in unabsehbarer Weise verwirrt. Sie sind der alten Kirche ebenso fremd wie dem abendländischen Rechtsdenken vor dem Hochmittelalter. Das völlig andere Traditionsprinzip der Filiation finden wir dagegen noch bei einer Reihe von Ordensbildungen, z. B. bei den Zisterziensern, im weltlichen Bereich in den Städteeinungen der Hanse. Die Verleihung etwa des Stadtrechts von Magdeburg an Krakau ist nicht die Rechtsetzung im Bereich eines Gewaltunterworfenen, sondern eine charismatische Übertragung gerade auch dort, wo es sich um ein Rechtsbuch handelt. Der Tochtergemeinde wird mit der Verleihung des Rechtes auch die Fähigkeit, es in eigener Rechtsprechung zu handhaben, zugesprochen. Wo sie damit nicht fertig wird, greift sie auf die Muttergemeinde zurück. Dies ist keine allgemeine körperschaftliche Leitungs­gewalt, noch der Ausfluß eines universalistischen Subsidiaritätsprinzips, in welchem das Umfassendere das Engere ergänzt. Subsidiarität ist umgekehrte Hierarchie. Es ist vielmehr ein durchaus konkretes und geschichtliches Verhältnis. Denn auch die Ursprungsgemeinde ist und bleibt eine Einzelgemeinde. Sie ist keine Regierung im modernen Sinne, sondern ein Vorort. In den allerersten Anfängen gleicht die Missionsgemeinde einem Kind, welches der Leitung und Erziehung bedarf. Dies ist die Lage der apostolischen Frühgemeinden. Später ist es eine erwachsene Tochter mit eigenem Hausstand, die aber nie aufhört, ihrer leiblichen Mutter Achtung und Gehorsam zu schulden. Dieses pneumatisch-reale

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Verhältnis hat gerade die römische Kirche zunehmend zerstört, indem sie immer höhere Ansprüche konstitutiver, nicht nur regulativer Art stellte, sogar auch über die apostolischen Patriarchatsgemeinden, welche ebenso wie sie die Kopfpunkte einer Missionslinie sind. So wird etwa das Bestätigungsrecht des Metropoliten bei der Bischofswahl zu einem Einsetzungsrecht. Die römische Kirche zerstört gerade das Traditionsprinzip durch den universalistisch-prinzi­piellen Leitungsanspruch und verdeckt dies durch den doppeldeutigen Begriff des Primats. Bei steigender Ausdehnung des Primatsbegriffs wird sie sogar im äußersten Grade aktualistisch, indem der Papst als Universalbischof und Uni­versalpfarrer das Recht hat, in jede Handlung einzugreifen, jede Handlung zu vollziehen. Im Gegensatz dazu hat die orthodoxe Kirchenrechtsverfassimg die Autokephalie der Vollkonstituierten, nicht mehr im Missionszustand befindlichen Teil- und Nationalkirchen in hohem Maße, zum Teil in sogar bedenklicher Weite freigegeben. Unsere Betrachtung dieser Dinge wird durch die Fixierung des Blicks auf die römische Linie und die Vernachlässigung der altkirchlichen und orthodoxen in vieler Hinsicht einseitig. Die Geschichte der römischen Kirche ist die Geschichte der planmäßigen Vernichtung des Rechts der alten Kirche. In ihrem System bildet die stark reduzierte Stellung des Bischofsamts einen alt­kirchlichen Rest; dies zeigt sich in dessen Unaufhebbarkeit, der Pflicht des Pap­stes, terrae missionis möglichst bald in ordentliche Diözesen zu verwandeln. Aber aus dem ersten Stande der Kirche ist der Episkopat zum dritten geworden, und seine Versammlung im Concil hat wesentlich beratende Stellung.

Vorortsrecht ist auch etwas anderes als der scholastische Gedanke der prima causa, hinter der secundae causae folgen.

Der Traditionsvorgang bedarf nun, um Fehlschlüsse zu vermeiden, einer genauen Darstellung. Die Tradition des Königsamtes im sakralen und weltlichen Recht hat seine höchste Ausprägung im Erstgeburtsrecht. Die Prädestination zum Amt verknüpft sich mit der leiblichen Zeugung. Beim Tod des Vaters tritt der Sohn ipso facto in das Amt ein. „Der König ist tot, es lebe der König.” Aber auch hier ist Proklamation, Akklamation, Anerkennung durch das Volk und rituelle Krönung erforderlich. Im Kirchenrecht dagegen gibt es kein Sohnesrecht. „Fleisch und Blut werden das Reich Gottes nicht erben.” Es gibt auch keine Designation. Alle Ansätze dazu sind immer mit Recht unterdrückt worden. Der Vorgänger im Amt ist regelmäßig tot und jedenfalls ohne Einfluß auf die Bestellung des Nachfolgers. Die Bischofslisten erwecken äußerlich zu Unrecht den Schein, als ob der eine dem anderen das Amt weitergegeben habe. Dies ist aber gerade nicht der Fall.

Die traditio wird durch receptio bedingt. Das Bischofswahlrecht der apostolischen Konstitutionen weist dies deutlich aus. Kirchenrecht bildet und vollzieht sich in der nachapostolischen Kirche, die nicht mehr die Unmittelbarkeit apostolischer Autorität in ihrer Mitte hat, durch die wechselseitige Anerkennung geistlicher Entscheidung. Durch diese Erkenntnis gleicht sich das Gefälle zwischen apostolischer und nachapostolischer Kirche aus, welches der Erörterungen mit

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Recht soviel Schwierigkeiten bereitet hat. Praktisch vollzieht sich dies folgen­dermaßen:

Wird ein Kandidat vorgeschlagen, so anerkennt die Gemeinde den Geistbesitz, der sich im Leben und Lehre ausdrückt, also das Berufensein durch Gott. Dies ist niemals eine freie Verfügung über das Amt. Der Geist muß den Geist anerkennen, weil er ihn sonst verleugnen würde. Es ist eigentlich keine Wahl, son­dern eine Gerichtsentscheidung, ein Akt der Jurisdiktion. Dies ist mit eschatologischer Unbedingtheit und Schärfe in den apostolischen Konstitutionen ausgesprochen, wo es im Bericht über die Bischofswahl heißt, daß die Gemeinde den Kandidaten beurteile „gleich als ob Gott Vater und Jesus Christus richteten”. Schlägt aber die Gemeinde vor, so anerkennen die versammelten Bischöfe. Zu dem Rezeptionsakt gehört immer die Anerkennung durch das Gegenüber. Man kann nicht dem eigenen Willen, die eigene Verfügungsmacht und Entscheidung durch den subjektiven Anspruch des Geistbesitzes verkleiden und legitimieren. Dieser Akt der Anerkennung des Berufenseins ist ein Akt der Jurisdiktion im Sinne der von den Bekenntnisschriften ausdrücklich übernommenen Unterscheidung von Jurisdiktion und Ordination.

Hier taucht nunmehr ein dem ersten Begriffspaar von traditio und receptio analoges, sachlich entsprechendes zweites auf: Jurisdiktion und Ordination. Die Bekenntnisschriften übernehmen diese Begriffe ausdrücklich, jedoch in einer relativ unpräzisen Form an den einzelnen Stellen, so daß erst der Vergleich sämtlicher Stellen den vollen sachlichen Sinn ergibt. Dieser ist aber durchaus folgerichtig erhalten. Als potestas ordinis (Tätigkeitswort: ordinatio) wird alle den Menschen einordnende Heilsvermittlung des ministerium verbi divini verstanden, also Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung, unter jurisdictio das Urteil über die Lehre, die Exkommunikation, also wesentlich scheidende Akte mit Entscheidungscharakter. Der unmittelbare Bezug zur Schlüsselgewalt liegt auf der Hand.

Beide Begriffspaare sind analog, fast synonym, so daß die ordinatio der tra­ditio, die jurisdictio der receptio entspricht. Das zweite Begriffspaar findet sei­nen vorzugsweisen Platz im Handeln des Amtes; aber dennoch ist alle receptio bekennende Annahme des wahren Wortes, ist als Selbstverurteilung zum Gehorsam verbunden mit der Absage an falsche Ansprüche und deshalb echte juris­dictio.

Diese Begriffe sind dem Wesen geistlichen Handelns, pneumatischen Geschehens voll entsprechend. Das wird gerade an den Deformationen sichtbar, welche die kirchenrechtliche Theorie an ihnen vorgenommen hat. Sie dürfen nicht im Sinne der römischen Theorie getrennt werden. Ebenso zeigt die Einführung eines dritten Momentes, des der Leitungsgewalt eine Auflösung des Verständnisses an. Andererseits ist die protestantische Kirchenrechtstheorie niemals zu einer wirklichen Entfaltung dieser von den Bekenntnisschriften zu Recht übernommenen Begriffe gekommen, sondern hat sie ohne Interesse an einer Systematik fallen gelassen.

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Sachlich sind diese Begriffe in dem Sinne exklusiv, als sie alles geistige Handeln umgreifen. Sie haben ihre biblische und systematisch-theologische Grundlage in dem untrennbaren Miteinander von Prädestination und Inkarnation.

Jurisdiktion ist die Entscheidung über die Angezeigtheit geistlichen Handelns, der zu vollziehenden Handlung nämlich, der Ordinatio im weitesten Sinne. Als potestas ordinis fassen die Bekenntnisschriften alle spezifischen Verrichtungen des Amtes; ordinatio ist das Tätigkeitswort dafür.

Jurisdiktionelle Anerkennung ist ein deklaratorischer Akt der Bezeugung eines Geistbesitzes. Dann aber wird der Berufene durch Handauflegung ordiniert, durch einen konstitutiven Akt der Geistmitteilung und Vollmachtübertragung. Die deklaratorische Seite der negativen Aussonderung und die konstitutive Seite der positiven Einordnung, des Stellens an eine bestimmte Stelle im Gefüge der Kirche stehen nicht im Widerspruch. Rite vocati sind also diejenigen, die berufen und ordiniert sind. Die Ordination ist kein sekundärer Akt öffentlicher Kundmachung, förmlicher Ordnung und dergl. Beides ist vielmehr komplementär erforderlich wie Glaube und Taufe. Diese kirchenrechtlichen Grundformen stehen nun in einem sehr bemerkenswerten geistesgeschichtlichen und rechtsgeschichtlichen Zusammenhang. Die Bedeutsamkeit solcher Zusammenhänge ergibt sich freilich erst, wenn man aufhört im Recht wesentlich eine verfügbare Ordnungstechnik zu sehen.

Dem pneumatischen Realismus aller älteren Rechte entspricht ein klar ausgeprägter Dualismus der Formen: Entscheidung und Vollzug sind getrennt und in zwei aneinander anschließenden Akten ausgeprägt. So im Eherecht: eheschlie­ßendes Verlöbnis sondert die Partner aus, schafft die negativen Ehewirkungen; Trauung (traditio, Übergabe zur vollen Lebensgemeinschaft), hat Realcharakter; im Sachenrecht Einigung und Übergabe. So auch Vocation und Ordination: Vocatio ist Aussonderung durch Gott, Ordinatio Eingliederung, Stellen an einen bestimmten Ort.

 

Berufung und Bevollmächtigung sind zweierlei

Andererseits zeigt die Morphologie der Rechtsgeschichte deutlich, daß in späteren Zeiten die Tendenz besteht, die Vorgänge auf einen Entscheidungsakt zusammendrängen, den Realakt einzuschränken oder auszuscheiden. Das ist der Fall, wenn sich kausale Vorstellungen durchsetzen; dann wird nämlich nicht mehr verstanden, warum der Willensakt noch nicht zugleich die Wirkung hervorruft, weil dieser Willensakt als heteronome oder autonome Verpflichtung umgedeutet wird. Soweit es hier um das Handeln des Menschen geht, bildet sich ein Subjektbegriff aus, welcher Prädikate Gottes auf sich zieht: Aseität (Für-sich-sein) und Wirksamkeit des Wortes. Der vielgerühmte und in Gegensatz zur Ontologie gestellte imperativische Charakter solcher Vorstellungen ist nichts weiter als eine Spiritualisierung, welche den pneumatischen Realismus und Dualismus ablöst. Beide Formen sind sehr deutlich daran zu unterscheiden, daß die eine dualistisch, die andere monistisch ist.

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Es ist ein sehr schwerwiegendes und bedrängendes Problem, daß die Hl. Schrift und die Kirche des ersten Jahrtausends in ihren spezifischen Rechts- und Sozialformen nur auf der Ebene dieses dualistischen Realismus verständlich, also in sehr auffälliger Weise mit einer doch auch historischen Form verknüpft sind. Es ist ein Seitenstück zum Mythosproblem im Kirchenrecht, aber sehr viel eingreifender, weil es sich nicht um Aussageformen, sondern um verbindliches Handeln handelt. Andererseits ist der Befund unbezweifelbar, wenn auch noch selten erkannt. Schließlich ist auch die Tatsache beachtlich, daß wir heute Einsicht in diese Dinge wiedergewinnen, welche der unbefangenen Selbstsicherheit unserer unmittelbaren Vorgänger unzugänglich waren. Bei der strengen Präzision des Kirchenrechts, welches genauer ist als die Oberrechnungskammer, ist es auch nicht möglich, sich mit Interpretationen vorbeizuhelfen. Der Theologie sind diese geistesgeschichtlichen und morphologischen Probleme bisher fremd.

Wir finden den gleichen Vorgang schon präzise ausgebildet in Akta 6. Die auf Geheiß der Apostel von den Gemeinden erwählten Diakone werden den Aposteln vorgestellt, d.h. von ihnen gebilligt und anerkannt und dann durch Handauflegung ordiniert. Auch Calvin in seiner Exegese von Akta 6, 6 ist von der Schrift her genötigt, die durchaus unterschiedliche Funktion des Hirtenamtes und der Gemeinde anzuerkennen. Jedoch tritt bei ihm schon eine sehr deutliche vernünftig-zweckhafte Interpretation, fast im Sinne einer Gewaltenteilung auf. Diese rationalistische Umdeutung im Sinne einer Gleichsetzung von Offenbarung und Vernunft erbt sich dann in der Theorie des calvinischen Kirchenrechts fort.

Der pneumatische Charakter des Kirchenrechts schließt also die souveräne Letztentscheidung irgendeines individuellen oder kollektiven Geistträgers aus, welche der Rezeption durch einen anderen Geistträger nicht mehr bedürfte. Die Einführung des Souveränitätsbegriffs in das Kirchenrecht ist das peccatum ori­ginale der römischen Kirche; das protestantische Kirchenrecht ist ihr auf diesem verhängnisvollen Wege durch die Aufstellung partikularer Souveränitäten gegenüber der einen universalen gefolgt. Dies ist die große und berechtigte, von den Theologen nicht beachtete und verstandene Klage Sohms, die ihn wesentlich mit zum Kurzschluß der Kirchenrechtsverneinung getrieben hat. Denn mit dem organologischen Körperschaftsbegriff, welcher der alten Kirche völlig fremd war, ist der Souveränitätsbegriff als letzte Konsequenz untrennbar verbunden.

Wie stellt sich nun der Sachverhalt in der nachapostolischen Kirche dar?

Die wechselseitige Rezeption bewirkt zugleich die Fortsetzung der Tradition dadurch, daß auf der einen Seite die Tradierenden stehen.

Die Amtsübertragung aber vollzieht sich nie durch einen Einzelnen, sondern immer im Schöße der Gemeinschaft (Nicaea IV). Sie ist also gerade nicht Aus­druck einer individuellen Amtspotestät, auch nicht so, daß mehrere Träger ku­mulativ zusammenwirken. Das altkirchliche Kirchenrecht stellt ein großes, aber nicht aus einem abstrakten Prinzip abgeleitetes, sondern aus dem gebotenen geistlichen Handeln erwachsenes System dar, das wir uns am leichtesten in dem

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Bilde eines Achsenkreuzes vorzustellen vermögen. Die vertikale Achse ist jener Traditionszusammenhang des Missionsrechts. Die horizontale Achse ist das Phänomen der Koinonia, der Sakramentsgemeinschaft, welches Elert in seinem letzten Werk so ausführlich dargestellt hat.2 Das Recht der Koinonia ist sakra­mentales Verfassungsrecht, anknüpfend an die Gewährung oder Verweigerung der Sakramentsgemeinschaft zwischen Gemeinden und Kirchengemeinschaften. Hier greift der allgemein bekannte und anerkannte Satz des alten Kirchenrechts ein, daß eine jede Ekklesia, ob klein oder groß, ob Ortsgemeinde oder Konzil als Geistträgerin für die ganze Kirche stehe. Dies bedeutet aber nun gerade nicht, daß sie sich autonom oder gar souverän verstehen und eine gültige für sich bestehende Letztentscheidung beanspruchen kann. Im Gegenteil; alle ihre geistgewirkten Entscheidungen personaler und dogmatischer Art haben nur so­weit rechtliche Wirkung, als sie als geistgewirkt anerkannt, recipiert werden. Diese Reception aber ist für die einzelne Ekklesia lebensnotwendig, weil daran die sakramentale Koinonia mit der ganzen Kirche abhängt, ohne welche sie nicht meinen kann, in der allgemeinen Kirche zu sein. So wird das Traditions­recht der Mission durch das Rezeptionsrecht der Sakramentsgemeinschaft er­gänzt. Dieser Vorgang vollzieht sich aber nicht allein zwischen einzelnen Ge­meinden und Kirchengemeinschaften, sondern auch zwischen Einzelkirchen und Gesamtkirche. Bis heute ist es ein ebenso anerkannter Satz des gemeinchrist­lichen Kirchenrechts bis hinein in die Reformierte Kirche, daß jede Amtsüber­tragung eine solche der Gesamtkirche ist, auch wenn sie in der Partikularkirche vollzogen wird. Die Kirche lebt in zwei Formen, welche beide die eschatologische Verheißung der Beiwohnung des Geistes haben: Als Gesamtkirche als der eine Leib Christi über Raum und Zeit und als einzelne in Raum und Zeit in seinem Namen gottesdienstlich versammelte Gemeinde. Die Gesamtkirche ist also nicht nur ein sekundärer Überbau zum Eigentlichen, der Gemeinde, wie es auf Grund einer nominalistischen Tradition als Umkehrung universalistischer Deduktionen meistens angenommen wird. Beide haben die Verheißung des Geistes, wo immer sie als ekklesia in Erscheinung treten (vgl. Wolf, Peregrinatio, zitiert in Credo Ecclesiam S. 22).

Rezeption, Annahme oder Anerkennung ist eine allgemeine Erscheinung des Rechtes, die bewußte Annahme einer vorgegebenen rechtlich verpflichtenden Tatsache. Receptio kommt in der alten Kirche in zwei Formen vor: als ordentliche und als außerordentliche. Als ordentliche kommt sie z.B. wie geschildert in der Wahlentscheidung, in der Zuerkennung der Kirchengemeinschaft vor; als außerordentliche vollzieht sie sich losgelöst von allen regelhaften Formeln als rein pneumatischer Akt des Bischofs oder der Gemeinde, wenn irgendein Rechts­akt in seinem Bestände zweifelhaft geworden ist und die Frage vom canon, von der Regel her nicht entschieden werden kann. So wird Cyprian von seiner


2 Werner Elert, Abendmahl und Kirchengemeinschaft in der alten Kirche, hauptsächlich des Ostens.

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Gemeinde entgegen dem Vorwurf eines confessors, er sei traditor, als Bischof an­erkannt (Beispiel aus Sohm, Das altkatholische Kirchenrecht und das Decret Gratians, Festschrift für Wach 1917, dort ausführliche geschichtliche Darstellung).

Nun sind ursprünglich fast alle Gemeinden bischöfliche, oft mit einem mini­malen Bestand an Mitgliedern. Im Zuge der missionarischen Vorortsbildung wird überall der Charakter als Bischofsgemeinden den alten und großen Vor­ortsgemeinden vorbehalten, werden die späteren und kleineren mediatisiert. Das hängt auch mit der Richtung der Mission von Stadt auf das Land zusammen. Diese Vorortsgemeinden übernehmen ökumenische und überhaupt überörtliche Funktionen, zu deren Wahrnehmung die nachgeordneten Gemeinden weder personell noch sachlich in der Lage sind.

Daß die kleineren Landgemeinden von den größeren und städtischen Bischofs­gemeinden abhängig werden, der Land-(Chor)-Episkopat abgeschafft wird, ist eine historisch-kontingente Entscheidung von großer Tragweite, aber auch sehr positiver Bedeutung. Denn durch die Heraushebung des Bischofsamtes wurde die alte Kirche befähigt, die richtungsweisenden Entscheidungen der ökumeni­schen Concilien zu treffen. Niemals aber ist die Bischofswahl die Wahl in einer Körperschaft, in welcher die Repräsentanten des ganzen Sprengels oder der Diö­zese zusammenwirken. Sondern den Bischofssitz vergibt die Vorortsgemeinde für sich allein unter Mitwirkung der Bischofsgemeinschaft der Provinz. Die Ge­meinschaft der Vorortsgemeinden repräsentiert in der Folge in den Metropolitansynoden wie im ökumenischen Konzil gegenüber jeder einzelnen Gemeinde die Gesamtkirche. Dies tut nie der einzelne Bischof, sondern immer nur die Bischofsgemeinschaft. Unus episcopus nullus episcopus. In dem Bischofswahl­recht der apostolischen Konstitutionen wie in der völlig übereinstimmenden Darstellung des orthodoxen Kirchenrechtslehrers, des Bischofs Milasch v. Zara in unserer Zeit wird dies vollkommen deutlich. Schlagen die Bischöfe zur Wahl vor, so rezipiert die Gemeinde, schlägt die Gemeinde vor, so rezipieren die Bischöfe. Auf Grund dieses Konsensus erfolgt dann die Tradition des Amtes durch die Ordination und die Handauflegung. Vergl. im Einzelnen: Dombois, Altkirch­liche und evangelische Kirchenverfassung. Es gibt also keine Sukzession durch einen Einzelnen, sondern nur durch einen Akt der Bischofsgemeinschaft. Sie ge­schieht weiter nie ohne die Gemeinde.

Das Recht der alten Kirche wird somit durch eine ganze Reihe präziser Mo­mente gekennzeichnet:
1. Grundsätzliches Zusammenwirken von Bischofsgemeinschaft und Ge­meinde. Die Gemeinde ist das priesterliche Pleroma des Bischofs. (Chrysostomos)
2. Relative Ordination auf ein bestimmtes Amt in einer bestimmten Ge­meinde. Daher entsteht ein absolutes Versetzungsverbot für die Bischöfe, dessen Verletzung zur Nichtigkeit der Wahl auf ein anderes Amt führte. (Römische Totensynode von 897)

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3. Die Ordination begründet einen liturgisch vernichtbaren charakter delebilis, wenn sich die Unberufenheit des Amtsträgers, also eine Fehlent­scheidung der Beteiligten herausstellt.
4. Grundsätzliche Zusammenordnung von Ordo und Funktion, ohne Ordi­nation keine Funktion, ohne Funktion keine Ordination.
5. Aufbau nach dem Vorortsgedanken, nicht als Körperschaft. Metropolit und Patriarch besitzen zwar ein praktisch weitreichendes, aber grund­sätzlich begrenztes Bestätigungsrecht; sie sind nicht für ihre Person Quelle des Kirchenrechts.
6. Grundsätzlich und überall besteht eine Verschränkung von Gesamtkirche und Einzelkirche oder Gemeinde. Die Einzelgemeinde ist weder eine Orts­gruppe der Kirche noch baut sich die Kirche aus der Gemeinde auf. Die universalistische Ableitung alles kirchlichen Geschehens aus der päpst­lichen Spitze ist ebenso unmöglich wie der Grundsatz des Aufbaues der Kirche aus der Gemeinde.

Alle diese Momente zeigen eine enge Verschränkung der Elemente des Kir­chenrechts, dessen Einheit einer trennenden Begrifflichkeit entgegensteht. Dieses ganze System ist sowenig deduktiv und abstrakt entstanden, daß es bis heute nicht in völliger Darstellung systematisch verarbeitet ist, obwohl alle Einzel­tatsachen bekannt und belegbar sind. Einer solchen Darstellung stehen vor allem unsere zeitbedingten Rechtsvorstellungen entgegen.

Sukzession geschieht also immer im Schöße einer bestimmt strukturierten Gemeinschaft, nie durch einen Einzelnen als Verleihung einer ihm gegebenen Potestas oder Qualitas.

 

V. Liturgie und Kirchenrecht

Wenn es richtig ist, daß das Kirchenrecht eine Funktion der Liturgie ist, so müssen sich seine positiven Gestaltungen wie seine Wandlungen und Entartungen an die Ausprägung und Wandlung des Gottesdienstverständnisses anschlie­ßen. Dies ist auch in der Tat nachweisbar. Eine jede vorfindliche Kirche hat das Kirchenrecht, welches ihrer Gottesdienstlehre und ihrem gottesdienstlichen Voll­zuge entspricht. Jene These Karl Barths ist nicht ein Postulat, sondern eine empirische Tatsache. Der Verfall der Lehre vom Gottesdienst bedingt auch den Ver­fall des Kirchenrechts in weltliche Rechtsformen. Für die Betrachtung des Suk­zessionsproblems ist nun wesentlich, die Wandlungen festzuhalten, welche sich von der alten Kirche in die scholastische Kirche vollzogen haben. Denn wir ha­ben uns insbesondere mit dem römischen Sukzessionsbegriff auseinanderzu­setzen. Jungmann hat nun in seinem großen Werk „Missarum solemnia” deutlich gezeigt, daß im Hochmittelalter sich überall der Gemeinschaftscharakter des Meßgottesdienstes zur ebenso vollständigen wie isolierten Einzelcelebration jedes Priesters aufgelöst hat. Damit ist zugleich die Ablösung der Gemeinde vom priesterlichen Vollzuge vollendet, welche immer noch in der Stifts- und

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Klerikergemeinschaft repräsentiert gedacht werden konnte. Neben Jungmann hat insbesondere der französische Dominikaner Congar mit großer Schärfe auf diese grundsätzliche Wandlung hingewiesen. Dem Gemeinschaftscharakter des Gottesdienstes im Wechselvollzuge von Priester und Gemeinde entspricht aber die Grundzeption des alten Kirchenrechts in der Frage der Amtsübertragung. Später entspricht der Ablösung des priesterlichen Vollzugs von der Gemeinde auch die ebenso isolierte Übertragung des Amtes innerhalb und durch die Hier­archie. Deswegen hängt auch heute die Gewinnung eines rechten Kirchenrechts­verständnisses und der konkreten Ordnung der Kirche von der Wiederherstel­lung und Reinigung des Gottesdienstverständnisses ab. Wir dürfen behaupten, daß die Gottesdienstlehre Luthers (Torgauer Predigt) und Melanchthons (Ge­genüberstellung von Sacramentum und Sacrificium) in der Gegenwart durch die liturgische Bewegung, insbesondere die Forschungen und Darlegungen Peter Brunners wieder zu Tage gekommen ist und in ihrer Grundstruktur der alt­kirchlichen entspricht. Damit ist aber auch eine Grundstruktur für alles kirchen­rechtliche Geschehen, auch für das Problem der Sukzession gegeben.

Dem Problem der Kontinuität der Kirche, ihrer legitimen Fortsetzung über Raum und Zeit und die Zufälligkeiten der Personen hinweg, muß sich jede ein­zelne Kirche stellen. Es besteht wohl Einigkeit darüber, daß eine Abweisung des Problems durch die bloße Berufung auf die ständige Aktualität und Aktuali­sierung des Geistes in der Kirche grundsätzlich nicht zureicht. Ist dies aber der Fall, so gelten für das Problem alle die eingangs angestellten Erwägungen, daß eine trennende Entgegensetzung aller dort genannten Denkelemente unzulässig ist. Die deklaratorische Bezeugung des Berufenseins eines Amtsträgers vermindert in keiner Weise die Notwendigkeit, ihn konstitutiv zu ordinieren. Ebensowenig erscheint es zulässig, die Sukzession der Person von der Sukzession der Lehre zu trennen oder beide in Gegensatz zu stellen. Ist das Bekenntnis unter Einschluß seiner Sachaussagen ein wesentlich personaler Akt, so kann die Kontinuität der Kirche als aufgegebenes Problem von der successio fidei allein her nicht gelöst werden. Vielmehr gehören successio fidei und successio personae zusammen.3 Schon Harnack hat in seiner Dogmengeschichte (I, S. 415) die alte Erkenntnis ausgesprochen, daß die Kontinuität von Gemeinschaften weit eher durch Personen als durch Ideen gewährleistet werden könne. Theologische Begriffe und Formulierungen zwingen zu dem immer neuen Versuch einigermaßen eindeutiger Bestimmung und wirken daher trennend und verengend. Personen verbinden.

Dies ist freilich ein argumentum a posteriori. Wohl aber müssen sich Theologie und Kirchenrechtslehre unausweichlich der heute aufgebrochenen Frage des Verhältnisses von Person und Funktion, von Person und Kerygma stellen. Wohin der Funktionalismus führt, sehen wir in einer total funktionalisierten Welt. Um so sonderbarer ist die kritiklose Betonung des Funktionsgedankens in der Kirchenrechtslehre und die ständige Verwechslung von Funktion und Dienst.


3 Vgl. H.D. Wendland, Succession im N.T., in „Credo ecclesiam”.

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Der Versuch, die Kontinuität der Kirche wesentlich auf die Lehrsukzession zu gründen, scheint mir aus zwei Wurzeln zu stammen. Einmal bestand in der Reformation die faktische Verlegenheit, die Tradition des Bischofsamtes fortzusetzen, da sich die katholischen Bischöfe fast durchgängig der Reformation versagten. Sodann wirkte in unberechenbarem und steigendem Maße ein humanistisches Element, eben jener Glaube an die Lehre, den Begriff, die Formulierung mit, an der man sich festzuhalten trachtete. Drittens kam auf Grund der uner­meßlichen schlechten Erfahrungen mit der Hierarchie der römischen Kirche ein Mißtrauen gegen die Personen hinzu. Zusammengenommen aber läuft dies auf einen spiritualen Ansatz hinaus. Spiritualistisch ist dieser Ansatz, weil er den Gegensatz zwischen Innen und Außen auf das Verhältnis von Person und Lehre überträgt.

Entgegen weitverbreiteten Meinungen setzt die Kirchenrechtsgeschichte in der Reformation nicht neu ein. Morphologisch betrachtet setzt im Zuge der Kirchen­rechtsgeschichte die Reformation die Formtradition der spiritualen Bettelorden des 13. Jahrhunderts fort. Sie sind im Gegensatz zur damaligen Großkirche durch folgende Momente gekennzeichnet:
1. Funktionale Ämter, die ständig ablösbar und ohne ordo sind.
2. Sorgfältige Wahrung der Mitgliedschafts- und Gemeinschaftsrechte, welche erst in den radikalen Sozialformen des Jesuitenordens und des Puritanismus angetastet werden können.

Auf der anderen Seite ist morphologisch das protestantische Kirchenrecht beider Konfessionen ein Gegenbild zum scholastischen Kirchenrecht der Groß­kirche des Hochmittelalters. Diese hat ihre entscheidende Ausformung auf dem zweiten, dritten und vierten Laterankonzil (1139, 1179, 1215) erfahren. Die protestantische Kirchenrechtslehre und ihre Kritik am Recht der römischen Kirche ist weithin dem Mythos unterlegen, daß die scholastische Kirche als die Grundlage des heutigen Katholizismus die folgerichtige Fortsetzung eines früh­kirchlichen Ansatzes etwa vom Clemensbrief her sei. Es wird dabei völlig verkannt, daß im 12. Jahrhundert mit der Änderung der Papstwahlordnung, der Beseitigung des Gemeinderechts und der Bildung des Kardinalkollegiums ein radikaler Bruch mit der alten Tradition der Kirche eingetreten ist.

Von diesem alten Recht der Kirche hat die Reformation noch etwas gewußt; trotzdem war die Tradition zu sehr verschüttet, um an sie anzuknüpfen.

Jener Bruch entsprang einer geistlichen Erfahrung, dem Kampf der Kirche mit dem Reich gegen die Verweltlichung, gegen die Inanspruchnahme für politische Zwecke. So vollzog sich eine Spiritualisierung der Kirche. So paradox es klingt, ist das massive System der römischen Kirche eine radikal spiritualistische Konzeption. Das Innen des Klerus wird in radikaler Trennung gegen das Außen der Laien gestellt, welche auch bei subjektiv bestem Willen immer von den Kräf­ten und Mächten dieser Welt bewegt sind und die Eigentlichkeit der Kirche stören oder zerstören müssen. Diese Trennung führt wie viele spiritualistische

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Konzeptionen zu maßlosen theokratischen Ansprüchen und dadurch erst recht zur Verweltlichung. In der Reformation kehrt sich diese Situation um. Der Inner­lichkeit des Glaubens, der Gewaltlosigkeit des Wortes Gottes wird die Äußer­lichkeit der bloßen Ordnung und der weltlichen Gewalt entgegengesetzt. Wir müssen daher damit rechnen, daß auch unsere Beurteilung der Sukzessionsfrage das Widerbild der römischen Mißbildung des Sukzessionsprinzips darstellt. So wie dort die Sukzession allein als successio personae ausgebildet ist, von der Funktion und der Gemeinde abgelöst ist, so wird jetzt bei uns die successio fidei als alleinige von der successio personae gelöst. Diese umgekehrte Verein­seitigung der Problemstellung ist nicht geeignet, ein rechtes Verständnis zu er­möglichen. Das Problem der Sukzession kann deswegen uns nur dort recht in den Griff kommen, wo wir successio personae und successio fidei wieder zusammen­zusehen vermögen. In der Moderne kommt noch mehr als früher der denkerische Gegensatz von Kontinuität und Aktualität hinzu.

Das Gottesdienstverständnis Luthers und Melanchthons, wie es in unseren Tagen Peter Brunner neu erhoben hat, ist nicht wirklich durchgehalten worden und hat auch keinen gestaltenden Einfluß auf die Ordnung der Kirche gehabt. Entscheidung geworden sind vielmehr die engeren Formulierungen von CA V und VII. So ist folgender Zustand entstanden: Predigt und Sakramentsverwaltung konstituieren die Kirche. An die Stelle des sakramental handelnden Priesters tritt das nach CA VII handelnde geistliche Amt. Die Wechselbezüglichkeit mit der Gemeinde wird nicht durchgehalten. Bei Luther heißt doctrina personale Einordnung, Anteilgeben am Heil; bei Melanchthon wird eine fast akademische Lehre daraus. Dementsprechend unterschiedlich sind auch die Vorstellungen über die Ordnung der Kirche und des Amtes. Bei Luther geht dieses bis an den Rand demokratischer Vorstellungen aus der Gemeinde hervor, bei Melanchthon wird eine ziemlich einseitige Lehrgewalt daraus. So kann das Gemeinderecht ebenso­sehr als allumfassend erscheinen wie nur mehr zufällig in Erscheinung treten und durch andere Rechtsträger ersetzt werden. Das entscheidende Miteinander, die Verklammerung beider Elemente tritt nicht hervor.

Ähnlich geht es beim Bischofsamt. Es zerspaltet sich auf der gesamtkirchlichen Ebene, indem das äußere Kirchenwesen einschl. des jus reformandi dem Landes­fürsten durch Reichsrecht übertragen wird: die kirchlich-theologische Seite fällt den Professoren und Fakultäten zu. Diese nehmen die Lehrautorität in Anspruch und führen sie in einer formell unverbindlichen Weise fort. Zugleich tritt wieder­um eine Abspaltung zu der lokalen Kirchengewalt der Superintendenten und Pfarrer ein. Es ist also ein völliger Zerfall von Innen und Außen ebenso wie von gesamtkirchlicher und örtlicher Funktion. Für diese Mißentwicklung, in der alle Verknüpfungen ausfallen oder bis zum äußersten verdünnt werden, ist eine ver­hängnisvolle, bis in die Gegenwart dauernde Selbsttäuschung entscheidend: Der Versuch nämlich, die Kirche minimalistisch unter Ausscheidung der sogenannten adiaphora in zeitloser Unbedingtheit zu umschreiben. Man gibt sich dem Glau­ben hin, daß die Merkmale von CA V und VII von jeder historischen Zufälligkeit

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gereinigt das unwandelbare Wesen der Kirche und ihre absoluten Merkmale wiedergäben. Dagegen ist gerade diese Konzeption schon in sich auf einer Tren­nung von Innen und Außen aufgebaut. Sie ist bedingt durch den vorausgehenden scholastischen Kirchenbegriff und gerade in ihrer strengen Exklusivität im aller­höchsten Grade kontingent und geschichtsbedingt. Diese Konzeption hätte we­der im zweiten noch im elften Jahrhundert formuliert werden können und steht und fällt mit bestimmten geistesgeschichtlichen Voraussetzungen. Dies berührt naturgemäß die entsprechende Vorstellung einer reinen Lehrsuccession im höch­sten Grade. Denn die Vorstellung der Lehrsuccession entspricht genau dem minimalistischen Versuch, das Wesentliche und Eigentliche der Kirche von der historischen Kontingenz und der Äußerlichkeit gereinigt für sich allein fest­zuhalten. Lehrsuccession in diesem Sinne ist deswegen auch etwas anderes als das gleiche Wort etwa im altkirchlichen Gefüge.

 

VI. Bemerkungen zu Elerts Auffassung

Diese Dinge werden sehr sichtbar in einer typischen Stellungnahme zum Successionsproblem, wie sie Elert in seinem Buch über die Abendmahlsgemeinschaft gibt. Die alte Kirche, so sagt er, habe sich gegen die Haeretiker durch drei Merk­male oder Mauern zu schützen versucht, die bischöfliche Succession, den Canon und die regula fidei. Er stellt dann fest, daß die bischöfliche Succession Kirchen­spaltungen nicht habe vermeiden lassen und in ihnen keine klare Entscheidung ermöglicht habe, wo die rechte Kirche sei. Auch der Canon genüge nicht, da ja jeder Haeretiker sich gerade auf die Schrift berufe. Von der Unzulänglichkeit der bischöflichen Succession werde formell auch das dritte Moment, die regula fidei, mitbetroffen; materiell dagegen hätte diese, insbesondere die ökumenischen Bekenntnisse, bis in die Gegenwart verbindende Kraft bewahrt und sich als wirksam erwiesen. Von da aus kommt er dann wieder zu dem Schluß, die Übereinstimmung der Lehre als das einzig wesentliche, durchhaltende Merkmal und die entscheidende Voraussetzung für die Kirchengemeinschaft anzusehen.

Ich bin der Meinung, daß hier sowohl grundsätzliche Fehler vorliegen wie auch der Gedanke nicht bis zu Ende durchgedacht worden ist.
1. Zuerst ist diese Auffassung positivistisch. Man addiert eine Reihe von Gesichtspunkten und streicht dann ebenso die als untauglich erkannten wieder ab. Der innere Zusammenhang kommt nicht in den Blick.
2. Zu Unrecht spielt hier ein Zweckgesichtspunkt die entscheidende Rolle. So gewiß die alte Kirche jene Kriterien zu apologetischen Zwecken benutzt hat, so handelt es sich doch grundsätzlich zunächst um die Frage der Merkmale der Kirche, unabhängig von der Frage, ob diese in jedem Momente sich in der Entscheidung voll brauchbar erweisen. Hier ist die Rangordnung zwischen der grundsätzlichen Bedeutung und der praktischen Verwendbarkeit verkehrt. Der Gesichtspunkt der jederzeitigen Anwendbarkeit ist nicht allein entscheidend, so gewiß sie sich bewähren müssen. Andererseits scheint mir unbestreitbar, daß

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die so generell verworfenen Elemente des Bischofsamtes und des Canons sich in erheblichem Maße, wenn auch nicht überall als abgrenzend und scheidend bewährt haben.

Vor allem aber scheint mir der Gedanke nicht voll durchgeführt zu sein. In der Elertschen Konzeption verbindet sich zweierlei: Die nominalistische Vereinze­lung der Gesichtspunkte und der humanistisch-akademische Glaube an den Vorrang und die sichere Erfaßbarkeit des Lehrbaren, der Lehrformulierung. In­folgedessen wird das heute unabweislich aufgebrochene Problem von Person und Kerygma, von successio fidei und successio personae nicht gestellt und aufge­nommen.

Mit Recht sagt Heubach,4 daß in der alten Kirche diese komplexe Mehrheit von Merkmalen (Canon, Regula fidei, Successio) als ein Ganzes vorliegt. Ähnlich formuliert für die Gegenwart die Konferenz von Lund 1952. Gerade diese Kom­plexität aber löst dann die Interpretation von Heubach wieder auf, wenn er sagt, es sei zunächst um die Traditio der „Wahrheit” gegangen und diese sei dann auf das Bischofsamt monopolisiert worden. Aber diese Wahrheit hat unablösbar personalen Charakter. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.” Die Wahrheit kann von der Person nicht abgetrennt werden, weder auf der Seite Gottes noch beim Menschen. Heubach und Elert meinen, daß die Idee der apo­stolischen Sukzession ebenso wie das Bekenntnis aus apologetischen Gründen entstanden sei. Daß beide in weitem Umfange zu solchen Zwecken benutzt worden sind, ist ja unbestreitbar. Aber Maurer und Elert selbst haben nachge­wiesen, daß gerade das Bekenntnis nicht lehrhaft-apologetisch, sondern als Taufsymbol, als homologia, als personaler Akt der Hingabe an den Offen­barungsanspruch Gottes entstanden ist. Wenn schon für das Bekenntnis dies primär, der apologetische Gebrauch sekundär ist, so liegt das für die Sukzession erst recht nahe. Die Frage der Sukzession ist eine systematisch notwen­dige, ist die Frage der personalen Identität. Einer Kirche, die zentral von der koinonia lebt, die davon spricht, daß der Christ mit Jesus Christus „syssomos” wird, kann dies nicht nur für die jeweils gegenwärtig lebenden Christen aus­sagen, sondern muß es auch für die Kirche in ihrer zeitlichen Ausdehnung über Generationen hinweg aussagen können. Die Vorstellung einer apologetischen Entstehung ist im übrigen selbst das Produkt einer funktionalistischen Vorstel­lung, in der die Kirche wesentlich in dem aufgeht, was sie nach außen tut.

Zu Heubach muß ich noch bemerken: Sukzession und Primat sind zwei ver­schiedene, nicht notwendig verbundene und sogar relativ gegensätzliche Dinge. Die orientalische Kirche lehnt den Primat ab und beansprucht doch Succession. Succession ist nämlich Succession aller Apostel, zwischen denen es allenfalls ein Ehrenvorrecht geben kann. Dies ist genau der Punkt, an dem folgerichtig die Union der Anglikaner mit Rom in der Gegenwart gescheitert ist. Primat heißt dagegen Alleinigkeit — in die Begriffe der Lehre von der Succession übersetzt:


4 Heubach, Die Ordination zum Amt der Kirche, Berlin 1955. S. 136 ff.

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es müßten alle Kirchen von Rom gegründet sein. Ebensowenig ist die Ver­knüpfung mit einem geschichtlichen Ort der römischen Auffassung eigentümlich. Sie ergibt sich aus der historischen Kontingenz, die dem geschichtlichen Charak­ter des Christentums durchaus adaequat ist, freilich nicht einer humani­stischen Vorstellung von zeitloser Lehre. Die christliche Wahrheit ist ge­schichtlich und personal: sie ist aussagbare Verheißung und unaussprechliche Gegenwart. Heubachs Hinweis auf Augustin ist nicht ganz unberechtigt. Dieser bedeutet in der gedanklichen Entwicklung einen Abschnitt. Aber die kirchen­rechtliche Entwicklung ist anders gelaufen. Der Spiritualismus Augustins treibt auf der einen Seite zu Objektivierungen, auf der anderen zur Subjektivierung und so das Problem auseinander. Der Augustinismus hat für die abendländische Kirche in seiner Zukunftsträchtigkeit etwas von einem Danaergeschenk an sich. Das pneumatische Recht der alten Kirche aber ist stark genug gewesen, den Augustinismus noch 700 Jahre zu überleben. Erst die Scholastik hat vermocht, die Mauern dieses Reiches einzureißen. Bis dahin hat in dem Rechtsinstitut der relativen Ordination die Zusammenbindung von Amt und Funktion, von Per­son und Kerygma in ihrer Reziprozität und Komplementarität noch durchge­halten. Die Scholastik trägt mit dem Subjekt-Objekt-Schema kausale Vorstellungen in das pneumatische Recht hinein. In der Kirchenrechtsgeschichte gibt es bisher überhaupt nur zwei große Typen, Konzeptionen, Ansätze, Systeme: das pneumatische und das spiritualistische Recht. Zum ersteren Bereich gehört die altkirchliche Entwicklung bis 1179 in der allgemeinen Kirche, darüber hinaus zum Teil in den partikularen bischöflichen Kirchen bis heute. Der zweite Bereich umfaßt den römischen Katholizismus und den Protestantismus, welcher gerade in ihrer Gegensätzlichkeit einander sehr viel näher stehen als beide zusammen den Rechtsformen des pneumatischen Rechtes.

Nach dem scholastischen Generalsatz „operari sequitur esse” muß ein Sein als Subjekt des Handelns vorausgesetzt werden, welches zu kirchlichem Handeln befähigt ist (die Kirche im Allgemeinen wie der einzelne Priester). Beide ent­stehen in relativer Trennung von dem Haupt der Kirche, Christus. Der innere Widerspruch wird durch den Vicariatsgedanken unvollkommen überbrückt. Oder die Kirche wird secunda causa hinter Gott als der prima causa. Alle diese quasi­kausalen Vorstellungen lösen die Wechselbezüglichkeit von Person und Kerygma auf. Dieser Vorstellung entspricht die die relative Ordination ablösende abso­lute Ordination, welche die alte Kirche bis gegen Ende des ersten Jahrtausends heftig bekämpft hat. Sogar der katholische Kirchenrechtslehrer Plöchl stellt das dar, ohne die eigentlichen Gründe aufzudecken.

Die Reformation hat das Problem nicht richtiggestellt, sondern die Konzep­tion nur umgekehrt. Von jenem Satz blieb nur das „operari” übrig, d.h. eine wesentlich funktionale Vorstellung. Durch die Subjektlosigkeit der Lehre auf der einen, die reine Spiritualität (fälschlich: Personalität) des Gottesverhältnisses auf der anderen sollte das Problem gelöst werden. In Wahrheit wurde es nur aufgelöst. Es hat auf der einen Seite einen Funktionalismus erzeugt, welcher

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weitreichende geschichtliche Folgen hatte — Zerstörung des Gleichgewichts zwischen der Wendung ad deum und ad hominem — eine ebenso gottesdiensllidie wie sozialethische Frage; auf der anderen personalen Seite entstand eine mehr oder minder weit durch geschichtliche Vorentscheidungen gebremste, aber nicht überwundene Willkür.

Während auf der römischen Seite die beiden Seiten des Problems in einer verderbten und verfehlten Weise zusammengeordnet und verfügbar gemacht wurden, wogegen sich mit Recht der Protest wendet — auch derjenige der Ortho­doxen! — läßt die reformatorische Theologie das Problem fallen, von dem al­leinigen Interesse bewegt, die Cooperation des Menschen auszuschließen. Anders ausgedrückt: die römische Lehre hat eine ausgesprochen monophysitische Ten­denz, verletzt das chalcedonesische „Unvermischt”. Die Position der reforma­torischen Theologie ist hier dem Gegenvorwurf der Verletzung des „Ungetrennt” ausgesetzt, vielleicht noch eher der entsprechenden Sätze des 6. Konzils im monotheletischen Streit.

Kirchenrechtlich bedeutet das sehr konkret: in der römischen Kirche wird das „kirchliche” Recht (als Gegensatz zum ius divinum hier nicht „ius humanum” genannt) so sehr in die Nähe des ius divinum gerückt, daß es trotz Dispensierbarkeit fast die gleiche Dignität erlangt. Das hat für die Reformationsgeschichte sehr bedeutende Folgen gehabt und von jeher die römische Kirche um große Missionserfolge gebracht. Im reformatorischen Kirchenrecht wird alles grund­sätzlich zum ius humanum (Barth, Dedo Müller). Die eigentümliche Verknüp­fung und die grundsätzliche Unscheidbarkeit beider wird übersehen. Keines von beiden läßt sich für sich allein objektivieren, herausfällen wie ein Vitamin. Wir haben das ius divinum immer nur in der Form des ius humanum, deshalb aber auch kein reines ius humanum (in den zentralen Bereichen der Kirche).

Formeln wie „personal-funktional” (Heubach),5 differenziert durch theolo­gische Akzentsetzungen, besagen nichts. Es handelt sich um die Zuordnung zweier Elemente, die komplementär sind und sich wechselseitig aus dem Blickfeld bringen. Blicke ich auf die kerygmatische Seite, so verliere ich die personale und umgekehrt. Irrig ist die Annahme, die kerygmatische Seite sei personal, die sakramentale gegenständlich. Im Gegenteil: Die kerygmatische Seite umfaßt immer Aussagen, welche in die Form der Lehre, wenn auch sekundär gegenständ­lich umgesetzt werden können. Die sakramentale Seite ist dagegen in ihrer Un­mittelbarkeit gerade personal. Deswegen haben die sakramentalen Kirchen Succession als personales Moment. Dieser Tatbestand zeigt die völlige Um­kehrung des Sachverhalts.

Ich kann nicht dringend genug wiederholen, daß die Auflösung des Verhältnis­ses von Person und Kerygma, von Amt und Funktion sich im Übergang von der relativen zur absoluten Ordination ausprägt, über welche Sohm so ausführlich im Decretum Gratiani gehandelt hat.


5 Heubach a.a.O., S. 105.

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Faktisch läßt sich beides jedoch nicht trennen. Auch wir leben nicht ohne eine Personalsukzession; eine alleinige successio fidei ist ein erkenntnistheore­tischer Irrtum. Es handelt sich auch um mehr als eine successio fidelium, weil die Kirche durch das apostolische Amt fortgepflanzt wird. Es handelt sich nicht darum, sie zu bejahen oder zu verneinen, wie etwas, was man sich anschaffen kann oder nicht. Es handelt sich nur darum, eine Wirklichkeit anzuerkennen, von der auch die reformatorischen Kirchen leben, und die sinngemäßen Folge­rungen daraus zu ziehen.

Die Kirche — gerade die lutherische Kirche — steht vor der Entscheidungs­frage, ob sie einem humanistischen Wahrheitsbegriff abzusagen imstande ist, der sich sowohl positiv in einer Bekenntnisorthodoxie wie negativ im theolo­gischen Kritizismus ausprägen kann. Die erkenntnistheoretische Lage der Ge­genwart, nämlich die Einsicht, daß der Erkennende von dem Gegenstand seiner Erkenntnis nicht abgetrennt werden kann, verbietet es, bei dem herkömmlichen Funktionalismus zu bleiben.

 

VII. Das Kontinuitätsproblem in den großen Kirchen der Gegenwart

Peter Brunner hat in der Grundlegung des Abendmahlsgesprächs gelegentlich ausgesprochen, daß in der Gegenwart die historischen Bekenntnisse nicht allein ausreichen, um die erforderlichen Klärungen und Abgrenzungen vornehmen zu können. Bejahen wir das Kontinuitätsproblem und demgemäß die Aufgabe, diese Kontinuität auch konkret darzustellen und durchzuhalten, so müssen wir uns dieser ernsten Lage stellen. Sie stellt sich nun bei näherer Betrachtung wie folgt dar:

Die römische Kirche ist seit einem Jahrhundert in einer lebhaften Bewegung dogmatischer und kirchenrechtlicher Neubildung begriffen, vom Dogma der un­befleckten Empfängnis 1854 über das Vatikanum bis zur Assumptio von 1950. Was sich hier vollzieht ist eine unerhörte Aktualisierung. Man hat die Lage dahin formuliert, in der römischen Kirche sei endlich die Neuzeit eingebrochen, nachdem sie sich von Schrift und Tradition gleichzeitig freigemacht habe. Dies ist nicht nur ein bitteres Wort, sondern eine tiefgründige Wahrheit. Es wird nicht mehr ex consensu ecclesiae, sondern ex sensu ecclesiae argumentiert und streng dogmatisch entschieden. Pius IX. wird das vielleicht apokryphe Wort zugeschrieben, „die Tradition das bin ich”. Was sich hier ausprägt, ist fast so etwas wie ein früher kirchenrechtlich-dogmatischer Existenzialismus. Auf dem Wege des Postulats geschieht dies unter Umgehung von Schrift, Bekenntnis, Lehrtradition, während diese formell unangetastet, aber materiell entscheidend verändert werden. Das ganze Leben der Kirche drängt sich in die Präsenz und Aktualität des Lehramtes zusammen. Es gelingt trotz aller Verkleidungen nicht mehr, die Präsenz und ihre Aussagen mit dem gesamten historischen Bestände in Einklang zu halten. Hier sind Denkformen und Rechtsformen in der Ausbildung,

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welche die alten Begriffe, auch den überlieferten theologischen Wahrheitsbegriff grundsätzlich überschreiten und in der evangelischen Abwehr noch keineswegs erkannt worden sind.

Eine sehr ähnliche Erscheinung haben wir in den Bereichen des Protestantis­mus, welche sich gegen die Bekenntnisgebundenheit im strengen und konkreten Sinne wehren. Auch hier tritt ein scharfer Aktualismus hervor. Aus der Vor­stellung der ständigen Präsenz des Geistes vollziehen Synoden und andere Gre­mien unausgesetzt theologische Entscheidungen, deren Deckung durch Schrift und Bekenntnis nur noch eine sehr bedingte ist. Andererseits rechnen sie gar nicht damit, daß diese Entscheidungen, synodalen Verlautbarungen und dgl. wirkliche Entscheidungen von Dauer sind. So wie sie keinen vollen Anschluß an die Kontinuität von Schrift und Bekenntnis nach rückwärts haben, so auch keine Dauer nach vorwärts. Dieser reine Aktualismus, welcher sowohl schwärmerische wie säkulare Wurzeln hat, greift ebensowenig wie die römische Kirche von heute formell den Bekenntnisstand an, windet sich aber an diesem mit viel Kunst vorbei.

Auf der anderen Seite aber ist die Lage nicht viel besser. Die griechische Kirche hat es sich seit dem Schisma versagt, dogmatische Entscheidungen mit ökume­nischem Anspruch zu fällen, trotz allen exklusiven Anspruchs auf Orthodoxie. Sie erklärt sich formell dazu als Teilkirche außerstande. Sie entgeht damit in einer ebenso angenehmen wie verhängnisvollen Weise dem Zwange der ge­schichtlichen Entscheidung und darin scheint mir eine tiefe Wurzel für ihre ge­genwärtige Katastrophe zu liegen. Der Platonismus hat sie in eine Vorstellung von Zeitlosigkeit des geistlichen Geschehens hineingeführt und dadurch ent­scheidend entmächtigt.

Sie hat infolgedessen auch die Organe für gesamtkirchliche Entscheidung, ihre effektive Ökumenizität durch die fortschreitende Freigabe der Teilkirchen zur Autokephalie verfallen lassen, obwohl formell ihr altkirchliches Gefüge noch erhalten ist und ihre Kirchenrechtstheorie es festhält. Sie ist also aktual aus die­sem doppelten Grunde entscheidungsunfähig und verwaltet lediglich einen hi­storischen Lehrbestand, welcher im wesentlichen mit dem achten Konzil für sie abgeschlossen ist.

Sehr ähnlich ist die Lage der lutherischen Kirche. Auch sie hat die Organe für gesamtkirchliche Entscheidungen vierhundert Jahre hindurch verfallen lassen und ist trotz des formellen Anspruchs jeder Kirchengemeinschaft, Lehre zu urteilen, faktisch außerstande, verbindliche dogmatische Entscheidungen zu treffen. Ihr einziger Zusammenschluß, der Lutherische Weltbund, ist kirchen­rechtlich ein Verein kongregationalistischen Typus und bisher ohne kirchenrecht­liche Verbindlichkeit. Die Notwendigkeit gesamtkirchlicher Existenz als Merk­mal der Kirche ist von ihr eigentlich noch nicht erkannt worden.

Auch sie bewahrt einen historischen Lehrbestand, den des 16. Jahrhunderts, und ist gezwungen, weit über den Anspruch der Reformatoren diesen für

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ausschließend und zureichend zu erklären. Wenn auch theoretisch nicht bestritten wird, daß die Bekenntnissituation immer wieder eintreten kann, so hat sie doch keine Organe dafür und beruht stillschweigend auf der Voraussetzung, daß dies als regelmäßige Funktion der Kirche, so wie es in den ökumenischen Konzilien ständig gehandhabt worden ist, der Kirche von heute nicht gegeben ist. Würde sie dies als regelmäßige Aufgabe und Möglichkeit ansehen, so könnte sie sich nicht damit zufriedengeben, daß sie in der gegenwärtigen Form, nationalkirchlich und landeskirchlich gespalten existiert. Die Einheit als notwendiges Merk­mal der Kirche wird für sie nur durch das historische Bekenntnis, aber nicht als kirchenrechtliche und aktuale Größe sichtbar.

Es wird daraus erkennbar, daß die Verweisung auf die successio fidei, wie sie typisch Elert vollzieht, das Problem noch gar nicht trifft. Die großen Körper der Kirche fallen in der Gegenwart hoffnungslos zwischen Aktualität ohne Bekenntnis und Bekenntnis ohne Aktualität auseinander. Es gelingt also auch die successio fidei nicht mehr, weil sie nicht mehr in verbindlichen Entscheidungen, auch ohne den Anspruch der Unfehlbarkeit in der gleichen Weise realisiert werden kann, wie dies die alte Kirche in dem auch von uns anerkannten Bestände unausgesetzt getan hat. Das heißt: Trotz aller Bekenntnis­bindung hat die successio fidei den Charakter der Unverbindlichkeit gewonnen. Das zeigt sich darin, daß nirgends auch nur versucht wird, der Summe der offen­kundigen Haeresien entgegenzutreten. Auf der einen Seite wird das historische Bekenntnis ständig überlastet, indem es für Fragen beansprucht wird, welche von ihm aus gar nicht beantwortet werden können. Auf der anderen Seite wagt man nicht Fragen anzuschneiden, weil deren Inangriffnahme lawinenartig un­absehbare Folgerungen nach sich ziehen würde. Die Berufung auf die successio fidei ist also gegenwärtig irreal und kann mit der Berufung auf die reformato­rischen Bekenntnisse nicht gedeckt werden. Der völlige Auseinanderfall von Bekenntnisbindung und aktualer Entscheidungsfähigkeit ist aber identisch mit dem Auseinanderfall von successio fidei und successio personae. Äußerlich freilich ist es so, daß der aufgewiesene Tatbestand sozusagen rittlings zu un­serem Problem steht. Denn auf beiden Seiten stehen Kirchen mit und Kirchen ohne bischöfliche Succession. Aber de facto ist es anders.

In ihnen allen ist das historische Organ gesamtkirchlicher Entscheidung, die Bischofsgemeinschaft außer Funktion gesetzt, in der griechischen Kirche durch deren Zerspaltung, in der römischen Kirche durch die Mediatisierung des Bi­schofsamtes, dessen Konsensus im ökumenischen Konzil für die Lehrentscheidung nicht mehr wesentlich ist, und welches als wesentlicher Rest alter Kirchenver­fassung nur mühsam in das System des Neukatholizismus eingefügt worden ist; für die reformatorischen Kirchen liegt es auf der Hand. Für die lutherische Kirche ist die Lage noch dadurch besonders verschärft, daß sie trotz der zeitweiligen und stets fehlgeschlagenen Anknüpfungen mit der Orthodoxen Kirche selbst nie versucht hat, das Problem gesamtkirchlicher Existenz in Angriff zu nehmen,

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während die Reformierten etwa in Dordrecht 1619 völlig im Stil eines ökumenischen Konzils presbyterianischen Typus zusammengekommen sind und gehandelt haben.

Es geht also darum, successio fidei und konkrete Entscheidungsfähigkeit, die immer nur personal sein kann, zusammenzuhalten. Dies ist der eigentliche Sinn der altkirchlichen Kirchenverfassung, des Bischofsamts und der bischöflichen Succession.

Es handelt sich hier nicht allein um die Funktionsfähigkeit und Legitimität der Einzelgemeinde, sondern um die der allgemeinen Kirche im Sinne des Be­kenntnisses. Mit der Verlagerung des Bischofsbegriffs auf das Pfarramt jeder Einzelgemeinde und der faktischen Preisgabe des gesamtkirchlichen Bischofsamts, dem widerstandslosen Auseinanderfall der lutherischen Kirche in souveräne Teilkirchen ist das bekenntnismäßige Merkmal der Allgemeinheit der Kirche dahingefallen. Sie kann nicht behaupten, daß sie im Sinne des Bekenntnisses verfaßt sei; aber von alledem steht in der CA faktisch nichts.

Die Konferenz von Lund hat die apostolische Succession wie folgt definiert: „Sie ist ein Element in einem organischen Gefüge des Lebens und der Anbetung, des Glaubens und der Ordnung, die in ihrer Gesamtheit das Prinzip der Konti­nuität ausmachen.”

Es geht also nicht darum, ob man sie in einem vorfindlichen Sinne habe oder genau entsprechend nicht brauche. Es geht vielmehr durchaus um ein Gefüge. Schon das zentrale Gefüge des Gegenübers von Amt und Gemeinde ist trotz jener Ansätze in der Gottesdienstlehre als durchgängiges Verständnis nicht durchgehalten worden. Völlig übersehen worden ist das Verhältnis von Einzel­gemeinde, örtlichen Kirchengemeinschaften und Gesamtkirche, und ebenso ist außer Blick gekommen das Verhältnis des Organs aktualer Lehrentscheidung, des ökumenischen Konzils und der Bischofsgemeinschaft zu allen partikularen Größen. Und ebenso ist zerspalten das altkirchliche Miteinander von Tradition und Rezeption, von Apostolizität und Katholizität, von Leitungsgewalt und Gemeinschaft, Koinonia.

Es ist damit nicht gemeint, daß wir die Lehrunterschiede, welche die luthe­rische Kirche von den alten Kirchen, wie von den Anglikanern und Reformierten trennen, einfach überspringen. Aber nur dann kann die lutherische Kirche selbst behaupten, eine legitime Kirche zu sein, wenn sie bis an den Rand der wirklich kirchlich trennenden Lehrunterschiede ihre Ökumenizität in realer Verfassung und Verbindlichkeit entscheidungsfähig ausprägt. Davon ist bisher ernstlich nicht die Rede.

Ich bin daher der Meinung, daß wir in einer gespaltenen Personalsuccession stehen, zwischen dem traditionellen landesherrlichen Kirchenregiment und seinen Ableitungen und dem Lehramt der Professoren auf der anderen Seite. Aber es ist dringend an der Zeit, die unendlichen Spaltungen dieses Gefüges wieder sinngemäß zusammenzuführen und zusammenzufügen. Die einzige Kirche, welche diese Spaltungen nicht bis in die Tiefe erlitten hat, ist die anglikanische.

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Sie ist zwar eine Nationalkirche, aber von weltweitem Ausmaß; sie ist in ihrer Verfassung, in Oberhaus und Unterhaus, in Bischofsgemeinschaft und Konvokationen dogmatisch entscheidungsfähig, ohne sich aktualistisch vom Bekenntnisstand und den geschichtlichen Vorentscheidungen abzulösen. Hier wird deutlich, daß es keineswegs notwendig war, alle diese Dinge auseinanderfallen zu lassen.

Inhaltlich hat also die Succession zwei voneinander nicht trennbare, aber un­terscheidbare Seiten. Die eine ist die historische Kontinuität von einem Ursprung her (Missionsrecht), welche bei uns vielfach historisch geknickt, zerfasert, aber doch nie ganz aufgehoben worden ist; auf der anderen Seite die Koinonia der Bischofsgemeinschaft, d.h. unabhängig vom Titel derjenigen, welche die kon­krete und personale Verantwortlichkeit des Leitungsamtes und Lehramtes inne­haben. Von dieser Seite allein scheint mir eine legitime — ich will nicht sagen Wiedergewinnung, aber — Auffüllung der Succession möglich zu sein, indem sich diejenigen Organe wieder bilden, welche personal allein imstande sind, die notwendige Aufgabe der positiven und negativen Lehrentscheidung zu voll­ziehen. Eine nur historische Bekenntnisgebundenheit, welche nicht aktual weiter­gebildet werden kann, reicht ebensowenig aus wie ein nur aktualer Glaube, welcher sich stillschweigend oder ausdrücklich vom geschichtlichen Bekenntnis entfernt oder befreit. Die successio fidei ist ohne verbindliche Entscheidungs­fähigkeit eine res de nudo titulo.

Es scheint mir demnach, daß sich unser Blick von der formalen römischen Auf­fassung, von der Bestreitung oder Bejahung der äußeren Objektivation der Suc­cession darauf zu richten hat, wo das Problem seinen Sitz im Leben der Kirche hat. Die Frage stellt sich heute zwingend. Nicht allein dadurch, daß andere Kirchen wegen des Mangels formeller Ordnung auf diesem Gebiet der luthe­rischen Kirche die Legitimität bestreiten. Sondern von der Tatsache aus, daß mit der Beendigung des landesherrlichen Kirchenregiments und dem Sichtbarwerden der Eigenständigkeit und Ökumenizität der Kirche sich diese Fragen unausweichlich stellen. Es sind eminent moderne Fragen, weil das Problem von Kontinuität und Diskontinuität, von Sein und Entscheidung sich heute in einer neuen Weise von der Erkenntnistheorie her stellen. Diese Fragestellung ist von dem Wahrheitsbegriff vergangener Zeiten nicht zu verstehen.

Wir werden weder dem Aktualismus unserer protestantischen Brüder, noch dem Marianismus der Römer wirksam entgegentreten können, wenn wir dieses Problem nicht überzeugend lösen. Dem steht vor allem eine positivistische Tra­dition entgegen, welche alle Dinge hoffnungslos vereinzelt und genau wie der juristische Positivismus mit dem Gefüge auch die Substanz ihres Gegenstandes verliert, welchen sie jederzeit haben zu können meint, wenn sie sich nur hin­reichend saubere Mühe in der Exegese gibt.

Am Kirchenrecht zeigt sich ein bedeutendes geistiges Gesetz, nämlich das seiner Präzession, der Tatsache nämlich, daß sich hier wesentliche geistige Ent­scheidungen vor allen Ereignissen im säkularen Raum vollziehen. Die

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Formbildungen des Kirchenrechts bestehen nicht in der Übernahme der jeweiligen Rechtsformen der Zeit. Dies geschieht auch; in mancher Hinsicht erscheint die Kirche wie ein unsterbliches Chamäleon, welches die Bodenfarbe seiner Umwelt annimmt. In der Tiefe aber ist es genau umgekehrt. Die wesentlichen Entscheidungen einer Zeit fallen im Schöße der Kirche und werden sichtbar im Kirchen­recht. Die Kirche, gerade die lutherische Kirche, versäumt hier ihre missionarische Aufgabe und verkennt ihre Vollmacht. In verhängnisvollem Maße verhindern traditionelle Vorurteile die Kirche wesentliche Entscheidungen, die ihr aufge­tragen sind, in der notwendigen institutionellen Form auszuprägen. An der Fähigkeit zur institutionellen Form bewährt sich und entscheidet sich, ob wir imstande sind, den Auftrag der Kirche so ernst zu nehmen, wie es ihm gebührt. Die Institution ist nicht eine äußerliche Sicherung, die vielleicht hinderlich ist und auf die man verzichten könnte. Sie beruht genau im Gegenteil auf einem immer neuen Wagnis, sie beruht auf der Vollhingabe, ja dem Opfer. Nur so kann auch die von Elert und Maurer erhobene Tatsache ihren vollen Sinn be­halten und wiedergewinnen, daß das Bekenntnis nicht die Annahme eines Lehr­inhalts, sondern ein personaler und existenzieller Akt ist, der nicht nur einmal geschieht, sondern immer wieder geschehen muß, und nicht nur vom Einzelnen, sondern von der ganzen Kirche.

Nach alledem kann die lutherische Kirche die Sukzession nicht im römischen Sinne der absoluten Ordination annehmen. Sie kann auch nicht einräumen, daß sie erst durch die successio in diesem Sinne Kirche werde. Sachlich steht die ihr mögliche Auffassung des Problems der altkirchlich-orthodoxen Linie am näch­sten: Succession in und durch die Gemeinschaft der Kirche. Alle Kirchen der Succession setzen freilich eine sehr deutlich konstitutiv verstandene Amtsordination voraus. Die lutherische Kirche wird im Anschluß an Apologie XIII ihr Ordinationsverständnis stärker zu klären haben als bisher geschehen. Entschei­dend scheint mir die Gewinnung eines kirchlichen Gefüges, welches den Kirchen der Sukzession die Herstellung der koinonia, rechtlich gesehen die Rezeption in die Kirchengemeinschaft ermöglicht. Zu diesen Vorbedingungen gehört die Ausgliederung des einen Amtes der Kirche in die Vielfalt der Ämter und Dienste und die Herstellung wirksamer und verbindlicher gesamtkirchlicher Ordnung im Bereich des Augsburgischen Bekenntnisses.

 

Thesen zum Problem der apostolischen Sukzession

1) Für die Klärung kirchenrechtlicher Fragen ist eine Überwindung des ide­alistisch-normativen Rechtsbegriffs und antijuristischer Vorurteile erforderlich. Recht enthält immer zugleich ein personales wie ein sachlich-inhaltliches Mo­ment, welche nicht voneinander getrennt oder auseinander abgeleitet werden können.
2) Kirchenrecht ist nicht eine Funktion des Kirchenbegriffs, sondern ist zu­gleich liturgisches wie bekennendes Recht. Es entsteht durch den auftragsgemäßen

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Vollzug geistlichen Handelns. Objektives Kirchenrecht entsteht durch die wechselseitige Anerkennung geistlicher Entscheidung. Die geschichtlichen Wandlungen des Kirchenrechts entsprechen der Wandlung des Gottesdienstverständnisses.
3) Kirchenrecht kommt nicht zum Wesen und Handeln der Kirche hinzu, son­dern ist eine Dimension ihres Lebens. Es ist nicht auf äußere weltliche Ordnung oder taxis im Sinne der apostolischen Schriften zu beschränken, sondern bezieht sich auf das eigentliche Handeln der Kirche. Kirchenrecht und agape verhalten sich zueinander wie Glaube und Liebe, oder wie Wahrheit und Liebe. Lex fidei und lex caritatis sind aufeinander bezogen. Glaube ohne Liebe ist leer, Liebe ohne Glauben, ohne Wahrheit ist schwärmerisch.
4) Im Recht der alten Kirche sind zwei Hauptlinien festzustellen: das aus der Mission sich herleitende Recht der Leitung (Missionsrecht der Filiation) und das Sakramentsrecht der wechselseitigen Anerkennung und Gewährung der koinonia ton hagion. Beide Linien: traditio und receptio: ergänzen einander.
5) Jus divinum und jus humanum sind nicht in Bereiche zu trennen: wir haben das ius divinum immer nur in der Form des ius humanum.
6) In der Kirchenrechtsgeschichte scheiden sich zwei Hauptepochen und -For­men: pneumatisches und spiritualistisches Recht — alte Kirche und bischöfliche Kirchen auf der einen, römische Kirche und Protestantismus auf der anderen Seite.
Pneumatisches Recht ist ein offenes Gefüge real-personaler Akte in dua­listischen Strukturen von Entscheidung und Vollzug unter Beteiligung einander ergänzender Geistträger.
Spiritualistisches Recht scheidet Außen und Innen und ist positiv und negativ an kausalen Kategorien orientiert, ist monistisch strukturiert.
Obwohl der Typus des pneumatischen Rechtes eine geschichtsbedingte Form ist, steht ihm die hl. Schrift und die Urkirche unzweifelhaft näher (pneumatischer Realismus).
7) Das Recht der alten Kirche wird gekennzeichnet durch
a) Zusammenwirken von Bischofsgemeinschaft und Ortsgemeinde
b) Zusammenordnung von Ordo und Funktion (relative, vernichtbare Ordination).
c) Aufbau nach dem Vorortsgedanken.
d) Geistbesitz jeder Ekklesia, der Gesamtkirche, des Concils wie der Ein­zelgemeinde, wirksam durch Rezeptionsakte.
8) Das altkirchliche Bischofsamt ist eine kontingent-geschichtliche Form. Durch die Mediatisierung der Landgemeinden wurde die ökumenische Kirche in den Stand gesetzt, auf den großen Concilien ihre richtungweisenden Entscheidungen zu fällen, weil sie im Bischofsamt ein bestimmtes Kriterium für die Mitgliedschaft im Concil besaß.

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9) Wahl ist deklaratorische Anerkennung der von Gott gegebenen Berufung (jurisdiktioneller Akt). Ordination ist konstitutive Verleihung der Amtsvollmacht. Dieser echt biblische Gegensatz im pneumatischen Realismus ist nicht aufzulösen, sondern durchzuhalten.
Ordination und damit Succession erfolgt im Zusammenwirken von Bischofs­gemeinschaft und Ortsgemeinde, niemals als Akt eines Einzelnen als Aus­druck individueller Potestät. (Vorgang im Gefüge, gesamtkirchlicher Akt).
10) Es ist ein erkenntnistheoretischer Irrtum, successio fidei von successio personae zu trennen. Personale Identität ist für die Kontinuität der Kirche ebenso wichtig wie die lehrmäßige. Der personale und sakramentale Charakter des Amtes steht in Wechselwirkung zum funktionalen und kerygmatischen.
11) Das gesamtkirchliche Bischofsamt ist der Kirche um der dauernden Be­kenntnisaufgabe in eben dem Maße nötig wie das gemeindliche Pastorenamt. Der Verlust der gesamtkirchlichen Dimension ist ebenso wie der Verlust der Vielfalt der Ämter und die Abhängigkeit vom Staate ein konstitutiver, nicht nur sekundärer Mangel.
12) Im Ausgleich von Kontinuität und Aktualität versagen heute alle großen Konfessionskirchen: Sie entscheiden aktual ohne echte Kontinuität oder halten an einem überlieferten Bestände fest, ohne aktual entscheidungsfähig zu sein.
13) Das Sukzessionsproblem kann weder durch nachträgliche Annahme der Sukzession noch durch Ablehnung erledigt werden, sondern nur durch eine Ordnung unserer Kirche als entfaltetes Glied der Gesamtkirche, welche Kirchen der Sukzession ihre Anerkennung (Rezeption) zu voller Kirchengemeinschaft ermöglicht.
Aufnahme der nuda successio ohne Aufbau des kirchlichen Gesamtgefüges ist ein leerer Formalakt.