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III. Teil:
Folgerungen und Forderungen

Nach dem Gesagten genügen drei Standpunkte oder Haltungen, die heute weit verbreitet sind, nicht, um unserer Verantwortung in der gegenwärtigen Lage zu genügen.

1. eine rein individualethische Stellungnahme unter der gebräuchlichen Formel: es kommt letztlich darauf an, daß an jedem Platz ein rechter Christenmensch steht. Denn dieser kann dort nicht stehen, wenn er garnicht weiß, was er zu tun hat und die Forderung, dies zu wissen, ihn einfach überlastet.

2. eine Verweisung auf die Situationsethik in dem Sinne, daß die grundsätzliche Einzigartigkeit jeder Situation es verbiete, Grundsätzliches und Allgemeingültiges auszusagen. In beiden Vorstellungen wird die Einzigartigkeit der persönlichen Entscheidung und diejenige der jeweiligen Lage zu einem völlig isolierten Absolutum erhoben; das ist schlicht und einfach unzutreffend; das erweist sich ständig.

3. Der Standpunkt der sogenannten Interimsethik; ausgehend von den eschatologischen Gedanken der Aufhebung aller Dinge in den letzten Tagen wird jedes Handeln grundsätzlich entwertet, mit der Folge jedoch, daß nicht die letzte Freiheit, sondern die Verneinung hervortritt. Hinter dieser Verneinung kann sich dann, gern und leicht jedes Ressentiment verstecken. Die beiden letzteren Standpunkte haben eine grundsätzliche Diskontinuität des menschlichen Lebens zur Voraussetzung, die theologisch und erkenntnistheoretisch eben so unhaltbar ist wie politisch und existenziell. Hierzu ein Wort meines naturwissenschaftlichen Kollegen Dr. Howe aus dem Gespräch zwischen Theologie und Physik, welcher schreibt:

„Kontinuum und Diskontinuum sind in der heutigen Physik in dem früher beschriebenen Sinne komplementäre Begriffe geworden. Durch die kleinste Längeneinheit und die mit ihr trotz des nicht zu übersehenden Unterschiedes zwischen Raum und Zeit zusammenhängende kleinste Zeiteinheit wird nun eine Vorstellung von. Raum und Zeit geschaffen, die gleichsam in der Mitte zwischen Kontinuum und Diskontinuum und damit in der Mitte zwischen der makroskopischen und der mikroskopischen Welt steht. Ebenso sucht die heutige Theologie nach einer Zeitvorstellung, die der in Jesus Christus geschehenen Inkarnation von Gottes erfüllter Zeit in unserer verlorenen Zeit der Kalender und Uhren gerecht wird, oder einfacher gesagt, die Theologie sucht zu erläutern, daß Gott für uns sündige Menschen Zeit hat. So wird der Zeitbegriff der gegenwärtigen Physik zu einer Analogie für das von der Zweinaturenlehre aus zu interpretierende Miteinander von Gottes Zeit und der verlorenen

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Menschenzeit. (Das Wort Analogie ist trotz der an ihm hängenden schweren theologischen Gewichte kaum vermeidbar, da sachnähere Ausdrucksformen fehlen). In der evangelischen Kirche wird die Gegenwart des Auferstandenen infolge der besonderen Betonung der Aktualität und Freiheit des göttlichen Handelns diskontinuierlich gesehen, wobei man freilich in der Kanonisierung der einzelnen Punkte des Diskontinuums recht weit geht. (Augsburg 1530, Bekenntnissynoden!) Durch die Hervorhebung der Aktualität des göttlichen Eingreifens in die Kirche wird aber der Raum für das göttliche Handeln an der Kirche in einer der Geduld und Treue Gottes widerstreitenden Weise beschränkt, so daß die Basis für die irdische Existenz der Kirche zu schmal wird.
Hier könnte der Physiker dem Theologen einfach durch die Bemerkung helfen, daß Kontinuum und Diskontinuum komplementäre Begriffe sind, so daß man bei Beleuchtung des einen den anderen nicht mehr zu sehen vermag. So ist zu hoffen, daß der bedeutende und zumeist nicht klar erkannte Einfluß, den der Zeitbegriff auf die Vorstellungen vom Wesen der Kirche ausübt, durch die neuen, noch im Anfang ihrer Entwicklung stehenden Theorien stärker ins Bewußtsein erhoben wird und daß der Kirche damit ein neuer Ansatz zum Gespräch zuwachsen wird.” (Glaube und Forschung I, S. 107)

Aus dem früher Entwickelten ergeben sich drei grundsätzliche Feststellungen, die uns nunmehr den Ansatz zum Weiterdenken bieten:

1. Der Mensch lebt in einer geschichtlich-eschatologischen Existenz, in der er der Verantwortung des Politischen nicht entrinnen kann und deshalb auch nicht zu entrinnen versuchen soll. Er besitzt in dieser Existenz eine exousia, eine Mächtigkeit, die ihm trotz des Falls belassen, aber unter die Verantwortung gestellt ist. Sie hat eine doppelte Struktur:
a) eine trinitarische in der zielgerichteten Folge von Selbstsetzung, Gesetz und Gericht.
b) eine doppelwertige; sie ist fruchtbar und furchtbar, anziehend und abstoßend, offen und verborgen, frei und vorbestimmt zugleich.

2. Der Christ lebt in der Nachfolge in zwei Reichen, zwei Naturen. Das Verhältnis beider ist nach der christologischen Formel von Chalcedon dahin zu bestimmen, daß sie weder getrennt noch vermischt werden dürfen. Diese Existenz Christi aber ist, so gewiß Christus der wahre Mensch und andere Adam ist, die wirkliche echte menschliche Existenz zwischen Auferstehung und Wiederkehr. Wo dieser Dualismus verleugnet wird, verfällt der Mensch entweder dem Pluralismus oder dem monistischen Einheitsmythos, in jedem Falle der Selbstzerstörung.

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I. Aus der trinitarisch-geschichtlichen Struktur der immer mitmenschlichen Existenz ergeben sich nun eine Reihe von Folgerungen. Carl Schmitt hat schon von Jahrzehnten das unbestreitbar richtige und schon erwähnte Wort gesprochen, daß die präzisen Begriffe der Staatsrechtslehre säkularisierte Begriffe der Theologie seien. Dies ist jedoch nicht die Folge eines Denkunvermögens, welches willkürlich Vorstellungen eines anderen Bereiches auf eine ganz andere Wirklichkeit überträgt. Sondern umgekehrt: eine Staatslehre, die einen vom Gesamtmenschlichen, aus der Volksordnung abgelösten Staat zu verstehen hatte, konnte dennoch nicht anders, als mit existenziellen Begriffen zu arbeiten. Es gibt also keine reine Autonomie und Eigengesetzlichkeit solcher Gebiete.

Jedes politische Gemeinwesen, jeder Staat beruht
1. auf einer Abtrennung und Aussonderung wie auf der herrschaftlichen Inanspruchnahme seines Bereiches auf Grund einer emotionalen, unableitbaren Setzung, deren Spontaneität durch fremden Willen nicht ersetzt werden kann.
2. Er entfaltet sich im politischen und bürgerlichen Gesetz,
3. er übt die Funktion des Schutzes und der Strafe aus. Beide stehen in Korrespondenz. Der Staat, der nicht straft, kann auch nicht schützen, und verliert umgekehrt die Berechtigung zum Strafen, wenn er nicht schützt.

Das Strafrecht des Staates kann weder pädagogisch noch medizinisch überwunden werden; ein Versagen auf diesem Gebiet ist ebenso fruchtlos und gefährlich wie eine drakonische Verschärfung.

Die schon oben und hier noch einmal kurz geschilderten Strukturmerkmale drücken sich in der Dreiheit der Staatsfunktionen oder Staatszwecke aus. Diese Dreiheit ist von Rudolf Smend wieder neu begründet worden: Machtzweck, Wohlfahrtszweck, Rechtszweck. Hierzu sagt Smend:

„Mit innerem Recht setzt sich in den Staatszwecktheorien in immer neuen Wendungen immer wieder die alte Lehre von der Dreiteilung in Rechts-, Macht- und Wohlfahrtszweck des Staates durch. Sie ist staatstheoretisch unausweichlich, sie stellt sich aber auch immer mehr als rechtstheoretisch unentbehrlich heraus. Der Sinn großer Rechtsbereiche tritt nur so in das richtige Licht. Das haben vor allem James Goldschmidts Arbeiten zum Verwaltungsstrafrecht gezeigt. Denn ihr Grundgedanke ist doch der, daß neben dem Rechtswert als Beherrscher eines Teiles des öffentlichen Straf rechts, vielmehr der öffentlichen Funktionen überhaupt der „Verwaltungswert” als ein ganz anderes regulatives Prinzip für einen anderen Teil öffentlicher Funktionen, nicht nur des Strafrechtes, steht. Dieser Verwaltungswert aber ist nichts wesentlich anderes als der sonst meist sogenannte

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Wohlfahrtszweck. Und neben diese beiden Werte und ihr Verhältnis tritt ein drittes, dessen Besonderheit gerade auch in der Projektion auf juristische Probleme deutlich wird. A. Wegener hat ihn überzeugend nachgewiesen in der Sonderart gewisser justizförmiger Funktionen, die sachlich aber nicht wie sonstige Justiz dem Rechtswert dienen, sondern der Machtdurchsetzung des Staates: Bestrafung bestimmter Kriegsverbrecher, Spione usw. . . . Carl Schmitt hat in der Eigenart der Diktatur und ihrer Akte, in der tiefen Wesensverschiedenheit insbesondere der ,Maß-nahmen’ des Artikels 48 der Reichsverfassung von den ,in einem spezifischen Sinne rechtlichen Normen und Akten’ des Staates aufgezeigt. Sein Bereich geht aber viel weiter: Es ist der Staat als beherrschender Wert, wie es Jellinek ausdrückt, seine ,Erhaltung und Stärkung', . . . die neben den Rechts- und Wohlfahrtswert (oder Verwaltungswert) als dritter gleichgeordnet tritt . . .”
Näheres hierzu Dombois a.a.O. S. 47.

Hier nur kurz zur Erläuterung: Machtzweck und Wohlfahrtszweck sind keine einander entgegengesetzten, einander ausschließenden oder einander übergeordneten, sondern reziproke oder Grenzwerte... Macht und Wohlfahrt müssen im dialektischen Verhältnis verstanden werden, in welchem beide Elemente einander stützen und tragen, oder gegeneinander gekehrt einander stören und aufheben. Macht bedingt Wohlfahrt und Wohlfahrt bedingt Macht. (a.a.O. S. 50)

Der Rechtszweck bildet hier weit über die Sicherung des braven Bürgers den eschatologischen Horizont, den ständigen Blick auf die letzte Sinnbestimmung dieses politischen Handelns und die daraus sich ergebenden Maßstäbe. Die eigentümliche Dialektik zwischen konkreter politischer Macht, die institutionell eine Ordnung setzt und gar nicht anders kann, als dies frei zu tun, und dieser letzten Ausrichtung sehen wir in den alten Urteilsformeln, die über dem Urteil sagen „Im Namen des Königs” (als dem institutionellen Ursprung), hinter der Formel jedoch (was heute abgekommen ist): „von Rechts wegen”. Hier ist in Anspruch genommen und noch im Blick behalten, daß ungeachtet aller geschichtlichen Kontingenz im. Rechte ein Objektives und Allgemeingültiges ausgesprochen ist. Der moderne Rechtsstaat aber ist der Versuch, von dieser Spannung grundsätzlich abzusehen und vom Standpunkt eines dem Menschen voll verfügbaren Verständnisses seiner Bestimmung alle Dinge zu richten, d.h. also im Sinne unserer Untersuchung, der politischen Schuld, die in der Selbstsetzung liegt, radikal zu entgehen. In der Doppelheit der alten Formel steckt also zugleich das Zugeständnis der letzten Unvollkommenheit, die uns aber nicht entbindet, beides miteinander zu sehen. Hier ist die Frage nach der Gewaltenteilungslehre zu beantworten, die Karl Barth am Ende von „Christengemeinde und Bürgergemeinde” kanonisiert hat,

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offensichtlich ohne sich der theologischen und staatsrechtlichen Tragweite dessen bewußt zu sein. Denn sie ist eine säkularisierte Trinitätslehre.

Der geschichtlichen Struktur in der Folge Selbstsetzung, Gesetz, Gericht in der Offenbarung des Gesetzes entspricht auch die Folge der drei Artikel des Glaubensbekenntnisses: Gott als der allmächtige Schöpfer, Gott als das Gesetz der Liebe, in dem er sich der Welt verbindet, sie erst erhält und dann erlöst, Gott als der Geist und das Gericht. Dem wiederum entspricht die Dreigliederung der Staatszwecke, weil der Staat eine geschichtliche und damit verantwortliche Größe ist. Die Umdeutung des Schöpfers in das Gesetz entspricht genau der Ersetzung des persönlichen Gottes durch das immanente, unpersönliche Kausalgesetz. Der Trieb aber dazu ist der leidenschaftliche Wunsch, der Verantwortlichkeit der politischen Autonomie und ihrer letzten Willkür und Kontingenz zu entgehen. Man will durch das Gesetz der Tatsache entgehen, daß der Mensch als politischer eben wirklich sein will wie Gott und sieht nicht, daß Gott ihn trotzdem in der exousia der weltlichen Gewalt erhält. Daher auch die leidenschaftliche Hinneigung der Calvinisten zum Gesetzesstaat, der nun als das nachfolgende Gesetz verstanden wird, als das Gesetz, das die in Christo frei Gewordenen nun zu erfüllen haben, aber auch erfüllen können. Dabei wird aber wieder übersehen, daß das eben nur für die Christen gilt, nicht für die Welt als solche. So kommen dann die Christen zu dem Anspruch über die Verkündigung der Kirche der Welt dieses Gesetz zu verkündigen und damit auch die ganze Möglichkeit des puritanischen Rigorismus und der Vermengung beider Reiche.

Diese Lehre bringt zunächst durchaus zu Recht die Dreiheit der Staatszwecke und -Funktionen zum klaren Bewußtsein, deformiert sie dann aber sofort in einer ganz bestimmten Weise. Es ist bekannt, daß Montesquieu sich irrte, wenn er England zum Vorbild nahm und meinte, dort sei eine Trennung der Gewalten durchgeführt. So bedeutet diese Lehre zunächst nur eine Rationalisierung, Bewußtmachung und Trennung der Funktionen, die bis dahin sich in einem komplexen Zuordnungsverhältnis befinden. Diese Trennung wird jedoch sogleich wieder zur Einheit verbunden: die Akte aller drei Gewalten sollen immer gesetzlich sein. Diese Einheit im Gesetz ist ebenso wichtig wie die Trennung der Gewalten; sie ist im Grunde ebenso eine Gewalten-Einheitslehre. Hinter dieser Gesetzeseinheit steht die gesetzliche Einheit der Vernunft. Damit wird der emotionale und geschichtliche Charakter des politischen Handelns (Machtzweck) ebenso umgedeutet und verkürzt wie der eschatologische Charakter des Richteramtes. Es ist der reine Ausdruck einer rationalistischen Immanenzphilosophie.

Die Lehre hatte ihre fruchtbare Bedeutung und geschichtliche Wirkung in der Richtung gegen den Monismus des absoluten

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Fürstenstaates. Wenn hier der Fürst alle drei Staatszwecke in einer Person repräsentierte und verwirklichte, so bedeutete dies eben, daß auch hier ihre relative Eigenständigkeit, ihre Bezüglichkeit und Unaufhebbarkeit übersehen und verdrängt wurde. Das absolute Fürstentum förderte die Wohlfahrt um der Macht willen auf Kosten des Rechtes, wenn es auch weit entfernt war von dem ideologischen Radikalismus der Gegenwart. Es hatte seine geschichtliche Berechtigung in der Überwindung des Chaos, in welches der mittelalterliche Privilegienstaat ausgelaufen war, — ein Endgericht über das christliche Mittelalter, welches von der großen Mehrheit lange Zeit wie eine Art Erlösung aufgefaßt wurde. In den patrizisch regierten Gemeinwesen war es nicht anders. Aber Gewaltenteilungslehre und Gewaltenmonismus als geschichtliches Bruderpaar bedeuten eben doch nur ein transitorisches Moment, bedeuten nicht das Problem selbst, welches sie mehr verdecken als erhellen. Der alte damals zum Äußersten gesteigerte und durch die Aufklärung niedergehende Staat war grundsätzlich vom Ursprung, ab origine, von der Schöpfung, vom großen Vater, dem Landesvater her gedacht und aufgebaut. Das ist noch heute in England der Fall, wo trotz der völligen Zurückdrängung der königlichen Entscheidungsbefugnis immer noch alle Staatsakte im Grundsatz solche des Königs sind, der die eigentliche legitimierende Funktion ausübt. Die darin liegende geschichtliche Kontingenz ist es recht eigentlich, gegen die sich Montesquieu und der Rationalismus wenden und die sie auch im politischen Bewußtsein vernichtet haben. Aber eben dieses freischwebende System der politischen Immanenz war eine reine philosophische Fiktion. Es war nur der Durchgang zu einer Umkehrung aller politischen Systeme. Sie wurden jetzt nicht mehr ab origine, sondern a fine, nicht mehr von der Schöpfung, sondern von der Bestimmung her gedacht, nicht mehr von der Schöpfung des exemplarischen Menschen, sondern von der Bestimmung jedes Menschen, a posteriori, nicht mehr a priori. Es gelingt dem liberalen Rationalismus nicht, den Staat im Bereich rein immanenter Zwecke zu halten; die Frage nach der Bestimmung des Menschen, nach seiner Freiheit und das Pathos dieser metaphysischen Freiheit reißt die Entwicklung mit sich fort. Von dieser Bestimmung zur Freiheit her wird ein Gericht abgehalten über alle „nur” historischen Bildungen und Rechte; der bis dahin institutionelle Staat eschatologisiert sich. Um dessentwillen ist dieser Vorgang bei gewissen, verfassungsgeschichtlich ununterrichteten Theologen so sehr beliebt. In der Konsequenz der denkerischen Entwicklung des einmal gesetzten Grundsatzes muß so der Staat in der Verwirklichung der „Freiheit” zum Heilsbringer, zum Erlöser, zur ideologischen Heilsgemeinschaft werden; und nur das ist verschieden, wovon diese Freiheit befreit: die bürgerliche Standesungleichheit, die knechtende Arbeitsteilung, die Herrschaft des Artfremden usw. Weil es aber echte Bestimmung zur Freiheit ist, so kann und muß sie auch

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gegen die Widerstrebenden, mutwillig in Dunkel und Abhängigkeit Verharrenden durchgesetzt werden, von der militanten Minderheit zum Heile der trägen Mehrheit. Hier ist der Punkt, wo die Toleranz und Indifferenz auch der Liberalen eine Grenze hat. Die Fortentwicklung der liberalen Mehrheitsdemokratie, in der die Vernunft eben in der Zustimmung der Mehrheit sichtbar wird, in die militante Minderheitsdemokratie ist nur konsequent. Robespierre und Napoleon, Stalin und Hitler sind nur auf Grund dieser Entwicklung denkbar.

Theologisch gesprochen wird hier sichtbar, daß die Übertragung der Trinitätslehre in die säkulare Form der Gewaltenteilungslehre zu ihrem Zerbrechen geführt hat und führen mußte: das O war nicht gleich dem A., sondern das O setzte sich wider das A.

Die Gewaltenteilungslehre hat also ihre bleibende Bedeutung darin, daß die bewußte Differenzierung und organisatorische Trennung der Staatszwecke und -Funktionen ein relativ wirksames Mittel ist, alles nebeneinander im Blick zu behalten. Zugleich ist aber diese Lehre blind gegen den eigentlichen Sinn dieser Differenzierung, den nämlich, den erhaltenden und bewahrenden Charakter des Staates festzuhalten. Denn das A und das O, historische Institution und letzte Sinnbestimmung haben ihre Einheit in der bewahrenden Erhaltung. Dies wird in der nur institutionellen Weiterentwicklung nicht gewährleistet, weil dann unfehlbar Gesetze und Rechte sich wie Krankheiten forterben, Wohltat Pflege wird; es wird ebensowenig mehr gesehen, wenn von der letzten Bestimmung her alle Kontingenz grundsätzlich aufgehoben wird. Deswegen ist die Anwendung der Trinitätslehre auf das Staatsproblem als Existenzproblem sehr wohl zulässig und erhellend, aber eben nur dann, wenn es offen als theologisches Problem erkannt und zugleich mit staatsrechtlicher Sachgerechtigkeit behandelt wird.

II. Der von uns grundsätzlich bejahten, aber gegenüber der klassischen Gewaltenteilungslehre richtig gestellten Erkenntnis der Dreiheit der Staatszwecke entsprechen auch eine Dreiheit der Staatsfunktionen und demgemäß der Funktionsträger. Dieser Ausgangspunkt ist zu verknüpfen mit dem zweiten theologischen Ansatz, der Erkenntnis, daß die Exousia des Staates immer einen doppelwertigen, einen anziehenden und abstoßenden, gebundenen und freien, Charakter hat, numinos und fascinos zugleich ist. Daraus ergibt sich, daß die Funktionen des Staates, als typische unbeschadet ihrer geschichtlichen Wandelbarkeit betrachtet, immer in doppelter Form erscheinen. Was hier zu sagen ist, ist grundsätzlich nicht verfassungspolitisch, sondern unter dem Gesichtspunkt der Existenzerhellung zu verstehen, die nicht ohne Wirkung auf das praktische Handeln bleiben, aber es nicht einfach vorzeichnen kann. Damit werden auch für die politische Betrachtung wieder Schichten deutlich, die tiefer liegen als das nur präsente Bewußtsein und der (freie) Wille. Kein ernsthafter Psychologe würde heute seine

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Aufgabe noch mit der alten Bewußtseinspsychologie zu lösen versuchen; die politischen Methoden der Gegenwart und die staatstheoretischen Vorstellungen aber entsprechen immer noch völlig dieser längst überwundenen Psychologie.

Von diesen typischen und doppelwertigen Funktionen sprechen wir im Folgenden nun als den politischen Archetypen.

 

Politische Archetypen I: König und Kanzler.

Das Nebeneinander dieser beiden Typen ist verhältnismäßig am leichtesten begreiflich zu machen, da auch die parlamentarische Demokratie sie noch im Ansatz erhalten hat. Es leuchtet ein, daß der König und Präsident den Dauerbestand des Gemeinwesens, seine über die aktuellen Gegensätze hinausreichende und zugleich traditionelle Einheit darstellen und gewährleisten. Längere Amtsperioden, Zeremoniell, Entnahme aus der repräsentativen Gruppe sind Merkmale dieser Bedeutung des Amtes auch in der republikanischen Form. Im Gegensatz dazu vollzieht der leitende Staatsmann, der Kanzler, die aktuelle politische Entscheidung, bildet die Regierungsmehrheit, faßt den Staatswillen in seiner Person zusammen. Aber der Monismus der Volkssouveränität gestattet durch seinen theoretischen Ansatz der Wirklichkeit zuwider nicht die echte Trennung dieser Funktionen. Es gibt jedoch nicht nur eine horizontale, sondern auch eine vertikale Gewaltenteilung. In der Wahl des Regierungschefs ist man frei, die jeweilige Richtung des aktuellen politischen Handelns zu suchen; in der Wahl des Staatsoberhauptes sucht man nach dem Ausdruck für die vorgegebene Gemeinsamkeit des Volkes. In dieser Wahl ist man also im eigentlichen nicht frei. Es ist ein übler Zynismus, wenn Clemenceau bei einer Präsidentenwahl aus einer bestimmten taktischen Situation heraus die Parole ausgab: „Wählen wir den Dümmsten!” Beide repräsentieren das Volk, aber in ganz verschiedener Weise, den Volkswillen aber im eigentlichen Sinne nur der Regierungschef. Hier zeigt sich eine verhängnisvolle Zuspitzung und Vereinseitigung des politischen Denkens allein auf den Willen, dem alles verfügbar zu sein scheint. Deswegen fehlt mit der vertikalen Gewaltenteilung auch eine Trennung in solche Bereiche, die der Aktualität in mehr oder minder hohem Maße, gerade hinsichtlich ihres Beamtenbestandes entzogen sind, und rein aktuell-politische Bereiche. Bei der Ernennung der Offiziere ist dies teilweise noch der Fall. Es muß aber grundsätzlich durchgebildet werden.

Es leuchtet ein, daß unter vorwiegend statischen Verhältnissen auch der Repräsentant der Dauer, der Kontinuität die aktuellen Entscheidungen mit treffen konnte, ohne dadurch den Grundbestand seines Amtes zu gefährden. Genau umgekehrt ist die heutige Lage. Überall dort, wo der Monarch noch zu gouvernieren und nicht nur zu regieren suchte, ist in der grundsätzlichen Diskontinuität der Gegenwart die Monarchie gefährdet oder gestürzt worden, selbst

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dort, wo dieses Handeln so vorbildlich war und so viel Anerkennung gefunden hatte, wie die Kapitulation König Leopolds von Belgien 1940. Aber diese grundsätzliche Diskontinuität hat doch ihre Grenzen. Ich verweise auf das, was oben über das Verhältnis von Kontinuum und Diskontinuum gesagt worden ist. Es kommt hinzu, daß man jeweils vom Standpunkt des einen das andere aus den Augen verliert. Aber damit, daß wir es aus den Augen verlieren und durch die Wahl des Standpunktes verlieren müssen, ist doch eben nicht gesagt, daß die andere Seite der Sache nicht da sei. Aber auch hier stehen die politischen Denkformen der Gegenwart in einem gefährlichen Gegensatz zur geistigen Entwicklung der Zeit, insbesondere auch zur Erkenntnistheorie. Diese Dinge beginnen heute in einem Augenblick hervorzutreten, wo von einer ernsthaften monarchischen Bewegung, von echten Prätendenten keine Rede sein kann. Man kann auf diesem Gebiet von theologisch und politisch weit links stehenden Leuten die erstaunlichsten Dinge hören. Es ist bedeutsam, wenn nach Feststellungen der demoskopischen Institute für etwa ein Drittel der Einwohner der Bundesrepublik die Frage der Monarchie eine ernsthafte Frage ist, ohne daß darum der rechtsstaatliche und demokratische Charakter des Staates deswegen in Frage gestellt wird. Es ist zum erheblichen Teil eine Gegenwirkung zum Nationalsozialismus und keinesfalls ein Führermythos. Ich habe mich an anderer Stelle hinreichend ausführlich über die Unmöglichkeit der Restauration der gewachsenen und eben entwurzelten Monarchien ausgesprochen und kann darauf verweisen (a.a.O. S. 81). Was sich indessen in dieser hoch völlig ungreifbaren Form doch sehr spürbar abzeichnet, ist ein echtes Existenzproblem, das man recht verstehen und in einer neuen, nichtrestaurierenden Form zu lösen suchen sollte.

 

Politische Archetypen II: Beamter und Abgeordneter.

Der zweiten Funktion, dem zweiten Zweck des Staates, dem Wohlfahrtszweck in jenem weitgefaßten Sinne dient zunächst der Beamte. Das Beamtentum ist entstanden aus der Hausgenossenschaft des Fürsten, seinem Hof, an dem bestimmte Ämter versehen wurden, die damit zugleich solche des Landes waren. Dies waren zunächst noch persönliche Erbämter, die damit zu eigenem Recht übertragen und erworben wurden. Erst allmählich — am frühesten in den bischöflichen Offizialen — entstanden echte Funktionäre. Sie waren grundsätzlich abrufbar; im Großen gesehen beruhten sie dennoch auf der Hingabe in einem Treuverhältnis, das damit auch das ganze Leben umfaßte und keine Spaltung zwischen Dienst und Privatexistenz kannte. Diese Art der Verpflichtung hat durch das lutherische Berufs- und Amtsethos eine entscheidende Vertiefung und Ausformung erfahren. Amt und Beruf und Amt als Beruf wurden als Berufung im geistlichen Sinn verstanden und deshalb weder zweckhaft noch zeitlich begrenzt; das Amt umfaßte den ganzen Menschen und das ganze Leben. Auf dieser Grundlage

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konnten also gerade die immer wiederkehrenden, zur ständigen Aufrechterhaltung des Staates, zur pflegerischen Verwaltung des Landes nötigen Aufgaben und Funktionen in einer Weise angefaßt werden, die dem höchst persönlich geführten und verwalteten mittelalterlichen und feudalen Gemeinwesen fremd war und bis zu einer Art von Verwaltungsperfektionismus führte. Alles, was an Gesetzlichkeit und Werkerei im Luthertum so scharf verdrängt wurde, konnte sich hier im harten genauen Dienst mit voller Hingabe entfalten. Aber der Beamte als Typus ist nicht Staatsmänner verwaltet das Gegebene, entwickelt es weiter, aber er schafft keine neuen politischen Tatsachen. Im Gegenteil: die Fähigkeit dazu wird durch das Dienstethos zurückgedrängt — genau so wie beim Gelehrten die Gestaltungskraft durch die Kontemplation. Dieses Beamtentum hat seine großen historischen Leistungen im Wiederaufbau des verwüsteten Landes nach dem siebenjährigen Kriege in Preußen und in der Organisation des deutschen Zollvereins vollbracht. Der klassische Beamtenbegriff ist in der neuen Zeit immer mehr zu einer neutralen und damit sterilen Sachlichkeit entleert worden, welche auf die tieferen Grundlagen der Dinge selbst nicht mehr angesprochen werden kann. Diese Entleerung trat in dem Maße ein, als der persönliche Charakter der Treubindung zugunsten einer formalen Gesetzlichkeit zurücktrat. Die Fürsten hatten entgegen heute weit verbreiteten Urteilen durchaus Recht, wenn sie beim Beamten eine ganz bestimmte religiös-sittliche Haltung, bestimmte tradierte Eigenschaften, und nicht die bloße Korrektheit und Wohlanständigkeit des Staatsbürgers forderten und voraussetzten. Wenn die Ausformung der konkreten Maßstäbe versagte und ebenfalls formal wurde, so berührt das die grundsätzliche Richtigkeit der Forderung nicht. Existenziell und typisch ist demnach der Beamte der Träger der bleibenden Staatsfunktionen, der Rechtspflege, der Finanzverwaltung, der allgemeinen Verwaltung, aber auch des militärischen Dienstes als Offizier, als Staatsdiener im weitesten Sinne. Aber eben in diesem Typus liegt die Begrenzung und Schwäche. Es sind vorwiegend immer wiederkehrende Probleme, die der gesetzlichen Regelung und Ordnung fähig sind, sie meist voraussetzen. Nicht eigen ist diesem Typus die Aktualität der Entscheidung, die Initiative. Das ist am Meisten im Heerwesen sichtbar, das immer wieder im Konservativismus der Erfahrung erstarrt und nur von äußeren Ereignissen, den Überraschungen des Krieges, von genialen Außenseitern und Reformatoren, selten von der eigenen Tradition her — wie durch Moltke — der Zeit angepaßt sind. Die Stärke des Amtstypus macht auch seine spezifische Schwäche aus. Deswegen tritt die aktuale Seite der gleichen Sache, des gleichen Bereiches, erst in der neueren Zeit in einem neuen Typus hervor, dem Abgeordneten. Das religiöse Pathos, die religiöse Tradition des den ganzen Menschen

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umfassenden Amtsbegriffes auf der einen und eine unwirkliche Verfassungstheorie macht nur schwer verständlich, daß der Abgeordnete — ohne „Be-amter” zu sein, ein echtes „Amt” hat. Der demokratischen Theorie nach ist er Repräsentant, hat also grundsätzlich keine andere Position als die des Repräsentierten, insbesondere keine eigene. Aber das hat ja der Beamte grundsätzlich weder im fürstlichen noch im demokratischen Staat. Hier aber ist ein Gefälle, das den Beamten wie den Abgeordneten gleichermaßen gefährdet: in einer personalen Bindung traditionaler Art ist der Gewissensvorbehalt immer mit eingeschlossen; in einem rein funktionalen Verhältnis, in der Bindung an das allgemeine Gesetz in abstracto oder den Gemeinwillen ist dies nicht mehr der Fall. Die Entpersönlichung des Staates, welche in der angelsächsischen und schweizer Demokratie niemals durchgeführt, im Typus der französischen Demokratie aber voll ausgebildet worden ist, läßt die Verantwortung geradezu in einem Abgrund verschwinden. Im Gewissensvorbehalt aber steckt mehr: eine gewisse, nicht ohne weiteres rationalisierbare, auf eine Formel zu bringende Eigenständigkeit des Amtes. Die theoretische Gleichsetzung mit dem fürstlichen oder demokratischen Staatswillen hebt die Tatsachen nicht auf, daß hier die Vollmacht zu einer Amtsführung gegeben wird, die in wesentlichen Teilen eben doch diskretionären Charakter trägt, mag in noch so vielen Fällen eingegriffen werden. Die Konkretion ist immer diskretionär — und ohne das ist überhaupt Amtsführung nicht möglich, wie die Lähmung der unteren militärischen Führung durch Hitler gezeigt hat. Das zeigt sich gerade auch am Abgeordneten.

Die Vorstellung, daß der Abgeordnete in jedem Moment den Volkswillen verwirkliche, ist völlig fiktiv gegenüber Fragen, zu denen dieses Volk niemals hat Stellung nehmen können, weil sie neu aufgetreten sind. Diese Identität des Willens wäre nur mit Mißbrauch theologischer Vorstellungen, etwa der fides implicita und der Inspiration festzuhalten und zu begründen. In Wahrheit hat er ebenfalls ein Amt; ein solches auf Zeit, in dem er pflichtgemäß entscheiden muß. Die angelsächsische Auffassung ist längst zu der Erkenntnis durchgedrungen, daß die Wahl in erster Linie der Berufung einer arbeitsfähigen Regierung, erst in Verbindung damit der Sachentscheidung, und auch dies nur in Grundfragen diene. Die mystische Identifikation mit dem Volkswillen würde voraussetzen, daß dieser grundsätzlich immer richtig sei, unfehlbar und sündlos und somit eine Differenz zwischen Gewissensentscheidung aus besserer Einsicht und stets präsentem Volkswillen nicht möglich wäre. Das gehört in die Übertragung theologischer Begriffe in das Staatsrecht, von der wir schon gesprochen haben. Der Abgeordnete hat also ein wirkliches Amt, auf Zeit, in anderen Formen der Verantwortlichkeit und mit einem anderen Typus: dem der Aktualität. Er hat initiativ für alle die Dinge zu sorgen, die nicht bereits geregelt sind, die neu auftreten und geregelt werden

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müssen. In einem vorzugsweise statischen Gemeinwesen kann dies zurücktreten, in einem in ständiger dynamischer Entwicklung befindlichen Staate tritt es hervor. Das Mittelglied und der Zwischentypus zwischen beiden ist der politische Beamte, der weniger die verwaltenden Dauerfunktionen, als die aktuellen Aufgaben der politischen Fortbildung wahrzunehmen hat. Aber beide Grundtypen haben ihr eigenes Recht. Auch ein moderner Staat kann nicht ohne die kontinuierliche und hochentwickelte Wahrnehmung seiner Dauerfunktionen leben; im Gegenteil, er kann es sich — angewiesen auf eine außerordentliche Leistungsfähigkeit — gar nicht leisten, seine Verwaltung durch ständige Schwankungen und aktuelle Machtinteressen korrumpieren zu lassen. In England etwa ist ein bestimmter Bereich des Beamtentums dem parlamentarischen Einfluß so streng entzogen, daß selbst die bloße Nachfrage eines Parlamentariers nach der Verwendung eines Beamten dieser Art als ein grober Verstoß gegen ungeschriebene Regeln des öffentlichen Lebens gilt.

In diesem Nebeneinander von Dauer und Initiative liegt etwas Wesentliches. Von daher wird auch verständlich, daß der Beamte weit mehr als der Vertreter des fordernden Staates auftritt, der mit, Steuer, polizeilicher Ordnung, Gericht usw. ständig gegen Selbstsucht, Indolenz und Unordnung ankämpft, während die werbende und integrierende Funktion zurücktritt. So kommt leicht die phantasielose Meinung zustande, weshalb man für etwas werben und überzeugen solle, was ohnehin gesetzliche und sittliche Pflicht, die verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist. Man sollte auch nicht nur über die sture und in vielem gefährliche Eigenständigkeit der sogenannten Apparate klagen, sondern jene beiden Funktionen sinngemäß nebeneinander sehen und ins rechte Verhältnis bringen. Dieses rechte Verhältnis besteht nun aber nicht in der Vermischung beider, die beide korrumpiert. Es sollte auch bei uns ein bestimmter Bereich der Dauerfunktionen in ihrer personellen Besetzung den Schwankungen der politischen Aktualität, konkret den parteipolitischen Einflüssen entzogen sein und dem Repräsentanten der Dauer unter- und zugeordnet werden. Es gibt nicht nur eine horizontale, sondern auch eine vertikale Gewaltenteilung, ohne die ein Gemeinwesen nicht leben kann, das bis zur vollen und rationalen Differenzierung der Funktionen vorgedrungen ist, was für sich allein noch kein Fortschritt, sondern nur eine Veränderung der historischen Form ist. Verschließt man sich dieser Forderung, so wird man sehr schnell zu einer formal legitimen, aber der Sache nach um so verderblicheren Herrschaft einer Partei oder einer Gruppe von Parteien kommen, die drückend auf dem Lande und den Gewissen der Staatsdiener liegt. Die Tatsache, daß der Abgeordnete ja Teilhaber der politischen Willensbildung ist, ändert an dieser Konzeption nichts. Der Fürst mit den Großen des Landes, den Hausämtern oder dem Kabinett ist im Grunde in keiner so

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sehr viel anderen Lage als der leitende Staatsmann eines demokratischen Staates; es besteht immer, wenn auch in verschiedenen Formen und in verschiedener Verteilung der Schwergewichte eine Art Gemeinschaft zur gesamten Hand, mit starken Abstufungen des Einflusses. Man sollte auch hier, statt über Oligarchie zu klagen, nüchtern die unaufhebbaren Strukturgesetze erkennen und sich dadurch erst recht eigentlich instandsetzen, Mißbrauch und Mißbildungen sowie dem Schwund der Verantwortlichkeit wirksam entgegentreten.

Sonst sind wir Gefangene einer lebensfremden Theorie.

 

Politische Archetypen III: Richter und Lehrer.

In der Reihe der Staatszwecke ist als dritter der Rechtszweck genannt worden. Es wird daher auffallen, daß an dieser Stelle neben den Richter als entsprechender Typus der Lehrer gesetzt wird. Wenn wir an dem Grundgedanken festhalten, daß alle exousia des Gemeinwesens eine doppelwertige, eine zweiseitige ist, daß sie abstoßende und trennende, anziehende und bindende Wirkungen nebeneinander hat, so wird es sich also nur darum handeln, den Bezugspunkt beider zu finden. Auch im staatlichen Bereich gibt es Gewalt zu binden und zu lösen.

Das Richteramt, Verkörperung und Garant des Rechtswertes, hat eine vorzugsweise kritische, sondernde und scheidende Funktion. Er vermeint und vernichtet das Rechtswidrige und schützt dadurch den Frieden. Im gewissen Sinne ist jeder Richter Verfassungsrichter, weil er den bestrittenen oder verletzten Rechtsstatus wieder klarstellt und herstellt. Damit hat er auch eine Integrationsfunktion, indem er die Gemeinschaft, sie von neuem unzweideutig abgrenzend, zugleich auch wieder zusammenschließt. Das eigentümliche Wort Montesquieus, daß die „Jurisdiction en quelque facon nulle” sei, deutet nun darauf hin, daß im Gericht nicht eigentlich eine schöpferische Neusetzung, sondern die Interpretation des Bestehenden erfolgt, daß das Recht immer nur gewissermaßen den Pegelstand der Gemeinschaft, ihren Geist ausdrückt. Vgl. hierzu a.a.O. S. 59 ff. Dies geschieht im Gericht immer in einer eigentümlich negativen Form. Damit aber wird zugleich der Bezug zum Lehramt sichtbar; es vollzieht eine Integration in die Gemeinschaft als eine vorgegebene, es bildet sie nicht, sondern setzt sie voraus. Ebensowenig schafft sie die Werte die es tradiert, sondern überliefert sie.

Dennoch erschöpfen sich weder Richter- noch Lehramt, so gewiß sie die Gemeinschaft und die Werte voraussetzen, doch nicht in der Tradition. Sie stehen beide immer unter einem Wahrheitsanspruch, der Richter unter dem der Gerechtigkeit, der Lehrer unter dem der Wahrhaftigkeit. Diese Wahrheit und Gerechtigkeit sind keine ablösbaren Abstracta, sondern bedeuten eine Unterwerfung des Gegebenen unter die höchsten und letzten Dinge. Das ermöglicht

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die Weiterbildung, schließt aber die Revolution aus; beide Typen sind grundsätzlich antirevolutionär, da sie ohne Kontinuität nicht denkbar sind. Mit unendlicher Geduld stellt die Rechtspflege immer wieder die scheinbar oder wirklich unterbrochene Rechtskontinuität wieder her — und ähnliches gilt vom Lehramt. So wenig eine ungebrochene Kette der reinen Legitimität im Sinne des Legitimismus denkbar ist — diese Lehre ist schnell überall ad absurdum zu führen, — so wenig kann der Mensch in der grundsätzlichen Diskontinuität leben.

Damit ist auch dem Lehramt aller Stufen eine echte politische Funktion zugesprochen. Diese hat es sicherlich immer besessen, aber in sehr verschiedenen Formen. In früheren Zeiten wird es etwa im Clan, in der Blutsgemeinschaft durch die Mannbarkeitsriten ausgeübt, die Lehre und Einübung in gewisse Fähigkeiten und Kenntnisse voraussetzen. Gegen diese Erkenntnis hilft also keine Flucht in eine selbstgesetzliche Pädagogik. Hier liegen andererseits die gleichen Probleme der Ablösung des Apparats vom Volksgefüge. Zugleich aber wird verständlich, wie sehr das Lehramt gefährdet wird, wenn die Werte umstritten sind, die es tradiert, wenn die Gemeinschaft und ihr geschichtliches Selbstbewußtsein zerbrochen ist. „Ebenso wird es gefährdet und korrumpiert, wenn es von jener Wahrheitsfrage gelöst wird und an die Stelle der selbstverständlichen Einheit einen Mythos predigen soll. Jene Wahrheitsfrage ist hier freilich nicht um des Wahrheitsstrebens des Lehrenden gestellt, es ist immer geklärte, lehrbare, verantwortliche Wahrheit.

Recht und Lehre schließen einander aus, aber aneinander an; das Recht wird korrumpiert, wenn es zur Pädagogik wird, denn es setzt Verantwortlichkeit voraus; die Lehre kann nicht einfach fordern, sie muß überzeugen und gewinnen. Beide zusammen repräsentieren den Geist einer Gemeinschaft und pflanzen ihn fort. Aber dieser Geist ist eben nicht die Gemeinschaft selbst. Von ihr ist zu handeln als dem letzten Archetypus.

 

Politische Archetypen IV: Volk als Gemeinschaft und Bund.

Hier sind also nicht zwei getrennte Funktionstypen angesprochen, sondern zunächst nur zwei wissenschaftliche Bezeichnungen, für einen Sachverhalt, der nicht so einfach am Tage liegt. Gemeinschaft ist, wie schon oben gesagt, die vorgegebene Verbindung aller, vor allem durch Geburt begründet; Bund ist die Gemeinschaft eines Teils durch bewußte Wahl. Als 1945 Angelsachsen nach Deutschland kamen, machten sie uns geradezu zum Vorwurf, daß wir nicht nach 1933 ausgewandert seien. Es zeigte sich wie tief das politische Gemeinschaftsbewußtsein verschieden war. Für uns war selbstverständlich, daß man seinem Volke als einer vorgegebenen Gemeinschaft in Schicksal und Schuld verbunden blieb; sie

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gründeten ihr Staatsbewußtsein auf einen Beschluß, eine congregatio des freien Entschlusses, der deshalb in extremis auch rücknehmbar erschien, sogar zurückgenommen werden mußte, wenn gewisse Grundlagen verletzt waren. Daß das Volk — und der von ihm getragene Staat sowohl in der vorgegebenen Kontinuität der geschichtlichen Geschlechterfolge, wie im ständigen Plebiszit des aktuellen Willens — von dem die Staatsrechtslehre spricht — lebt — diese widersprüchliche Aussage ist nicht ganz leicht zu verstehen. Im normalen Leben des Volkes und funktional betrachtet, liegt beides ziemlich nahe beieinander. Es ist der Kern der bekannten Unterscheidung zwischen volonté générale und volonté de tous. In der volonté générale kommen die konstituierenden Wesensmerkmale einer Gemeinschaft zum Ausdruck, durch die sie vorherbestimmt ist und von denen sie sich nicht ohne weiteres lösen kann; sie wird sichtbar im Plebiszit, wenn es um echte geschichtliche Entscheidungen geht, — im Guten und im Schlechten, in denen das Wesensgefüge der Gemeinschaft sichtbar wird; sie ist immer ein Ergreifen eines kairos, der Vollzug einer grundsätzlichen Wendung. Deswegen ist das Plebiszit keine technische Verfassungseinrichtung, die man nur zu dekretieren braucht, um sie für beliebige banale Alltagsfragen als Orakel zu benutzen. Die volonté de tous, die bloße Summation der Einzelwillen und einfache Mehrheitsentscheidung nach freien Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten entbehrt dieser Tiefe. Die volonté générale ist ein Anspruch an alle, die volonté de tous ein solcher der Mehrheit an die Minderheit.

Der grundsätzliche Unterschied von Gemeinschaft und Bund ist nicht identisch mit dem Gegensatz von Herrschaft und Genossenschaft, kann im Gegenteil beider Verhältnis erst recht klären. Denn in der vorgegebenen Gemeinschaft sind, eben weil sie vorgegebene Ordnung ist, herrschaftliche Formen möglich, vielleicht auch besonders naheliegend; im Bund ist dies nicht der Fall. Daher stammt das Pathos gegen alle herrschaftlichen Lebensformen, mögen sie sich noch so sehr im Zustande des sozialen Friedens befinden.

Beide Seiten des Volkes haben ihre besonderen Ausdrucksformen: die Gemeinschaft im Plebiszit und im Heer. Die ungeheure werbende Kraft des so viel besprochenen preußischen Heeres wie des Wehrdienstes überhaupt beruht nicht auf einem spezifischen Militarismus, sondern auf der religiösen Grundstruktur unseres Volkswesens. Der Mensch reagiert religiös, wo er auf die Ganzheit der Existenz angesprochen wird; und dies geschah dort, wo man fraglos einer großen Notwendigkeit mit Leib und Leben eingeordnet wurde. Sonst wäre es nicht erklärlich, daß Millionen von Bauern und Arbeitern in der Dienstzeit das größte Erlebnis ihres Lebens bewahren und in der guten Stube die Bilder ihrer Kompanien hängen haben. Wie lebensfremd ist eine Staatslehre, die das nicht zu deuten und zu bewerten versteht! Wo der Mensch in dieser Weise nicht mehr angesprochen wird und die plebiszitäre

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Seite der politischen Entscheidung in fruchtlosem Hader nicht mehr überzeugend zur Darstellung kommt, ist die Flucht in den Mythos die große Gefahr.

Die Problematik der anderen, der aktuellen Seite der politischen Entscheidung im Parteikampf, liegt darin, daß hier grundsätzlich doch immer nur eine Minderheit — Bund! — mit einer mehr oder minder mühsam mobilisierten Mehrheit die Gesamtheit repräsentiert und für sie entscheidet, bis eines Tages eine Eruption der Nichtwähler eine vielleicht ganz ungeahnte Abweichung der volonté générale von der volonté de tous offenbart. Wird aber die aktuelle Form politischen Lebens nicht in einem gewissen Ergänzungsverhältnis zum Kontinuum gehalten, so gerät dieser Bund in die Gefahr der ideologischen Radikalisierung, die nun gewaltsam gerade dem Gedanken der Prädestination der Rasse, Klasse usw. anheimfällt. Die Demokratie des reinen liberum arbitrium lebt immer auf einer schiefen Ebene zur Tyrannei der Tugend. Deswegen ist für sie die Unverletztheit der nationalen Tradition fast noch lebenswichtiger als für einen monarchischen Staat.

Wenn eine Lehre von der Gewaltenteilung auch immer eine solche von der Gewalteneinheit ist, so auch eine Lehre von den typischen Funktionen auch eine solche von ihrer Einheit. Die Lehre von der Volkssouveränität, wie jede Theorie der Souveränität verdeckt dies Problem im Grunde mehr als sie löst. Die Krone England ist.heute noch König und beide Häuser des Parlaments zusammen. Der König ist souverän im Parlament. Darin ist enthalten, daß diese drei eine Gemeinschaft zur gesamten Hand bilden und nicht einfach auseinander hervorgehen. Das trifft auch grundsätzlich für die Einheit der Archetypen zu. Sie befinden sich sämtlich in einem Verhältnis der Komplementarität zu einander. Keins von ihnen gibt es an sich. Das wäre idealistische Metaphysik. D.h. politisch existiert das Volk nicht außerhalb dieser Lebensformen. Sie sind existenziell vorgegeben, sobald das Volk politisch in Erscheinung tritt und nicht nur faktisch, sondern geschichtlich existiert.

Dem hier angeführten Problem der vertikalen Gewaltenteilung ist die amerikanische Verfassung in einer Weise aus dem Wege gegangen, die geistesgeschichtlich bedingt und höchst interessant ist. Sie verband Kanzleramt und Königtum in einem Königtum des plebiszitären Präsidenten auf Zeit. Sie schuf im Senat ein Organ der Kontinuität und im Repräsentantenhaus ein solches der Aktualität, alles aber in formal korrekten demokratischen Formen. Die überall streng festgehaltene Personen- und Mehrheitswahl näherte den Parteikampf dem Plebiszit. Sie näherte die Aktualität soweit als möglich der Kontinuität und umgekehrt. Zugleich vermied sie es, in Widerspruch zu dem Monismus des rationalen Denkens zu geraten: kurz eine klassische Leistung, die letzte Verfassung großen Stils und von echter Beständigkeit und Formkraft.

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Was hier gezeichnet wird, ist kein Idealstaat. Es liegt im Wesen und der Begrenzung menschlicher Erkenntnis und Gestaltungsfähigkeit, daß, an welchem Ende wir die Dinge anfassen, wir doch notwendig immer das Entgegengesetzte in mehr oder minder hohem Grade aus dem Blick verlieren, es unscharf werden lassen. Aber als die Frucht bitterer Erfahrungen sind wir jedenfalls doch zu einer tiefen Unabhängigkeit von der naiven Verfangenheit geführt worden, welche die politischen und auch leider die kirchlichen Debatten über diese Dinge beherrscht.

 

III. Zusammenordnung der Lebensbereiche.

In alledem, was wir aus der trinitarisch-geschichtlichen Struktur des Politischen und seiner grundsätzlichen Doppelwertigkeit zu entnehmen vermochten, ist im Grunde doch wesentlich eine funktionale und zugleich dynamische Seite der Dinge sichtbar geworden. Über das Materiale dieser Dinge, — wenn man den gewiß fragwürdigen Gegensatz von formal-funktional und material der leichteren Verständigung halber einmal anwendet, — ist bisher noch nicht viel ausgesagt worden. Freilich konnte gezeigt werden, daß eben alle diese Funktionen ihren eigentümlichen Vereinigungs- und Zentralpunkt in dem haben, was der Wohlfahrtswert genannt wurde, wenn wir diesen wesentlich über das erheben, was man heute Wohlfahrt im Allgemeinen oder auch Wohlfahrtspflege im Besonderen nennt. Diese hier noch relativ verborgene, und deswegen auch sehr mißdeutbare Seite kommt erst in das Blickfeld, wenn wir uns nun den Folgerungen zuwenden, die aus der zweiten, der christologischen Grundlage unserer Betrachtung entspringen.

Es fällt auf, daß bisher von drei menschlichen Bereichen dem Politischen, Ökonomischen, Geistlichen, von drei Ständen nach der erwähnten Lutherstelle und der christlichen Sozialtheorie gesprochen wurde, jedoch nur von zwei Reichen, von zwei Naturen. Gerade dies aber bietet einen Schlüssel zum Verständnis. Niemand wird hoffentlich die bisherigen, nicht immer in jeder Richtung geschützten Ausführungen dahin mißverstanden haben, daß eine unterschiedslose Gleichwertung dieser Bereiche gemeint sei. Im Gegenteil: Politisches und Ökonomisches gehören beide unzweifelhaft dem Reiche zur Linken an. Sie stehen aber hier nicht beziehungslos nebeneinander, auch dann nicht, wenn sie sich nicht mehr wie in der alten Ordnung einfach decken. Das drückt sich gerade darin aus, daß eben nun jede ökonomische Bewegung in ihrer geschichtlichen Wirkung unausweichlich politisch wird und werden muß, also rein ökonomische Bewegung nicht bleiben kann. Indem der historische Materialismus politische Vorgänge grundsätzlich aus ökonomischen ableitet, bleibt er eben immer doch historischer und damit politischer Materialismus. Der Kunstgriff, dies als einen Durchgangszustand anzusehen, der in der klassenlosen und staatslosen Gesellschaft aufgehoben sein wird, ist nun eben eine chiliastische Spekulation, die sich für jetzt am

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Problem vorbeidrückt, aber gerade dadurch die totale Politisierung hervorruft und jede Begrenzung desselben unmöglich macht. Der genau korrespondierende Irrtum ist der liberale, der meint, die ökonomische Bedingtheit des Menschen sei, weil diese Dinge grundsätzlich nur Werkzeugcharakter hätten, politisch unter dem Axiom der vernünftigen Freiheit und Gleichheit belanglos oder könnten wenigstens so behandelt werden. Der Liberale und der Idealist fühlen sich grundsätzlich vom Ökonomischen völlig frei, der Marxist und Materialist ebenso total abhängig. Beides ist genau gleich unwahr. Hier taucht der gleiche Gegensatz von Pelagianismus und Chiliasmus wieder auf, den wir schon dargestellt haben: der Liberale will das Gesetz in der Freiheit ohne das Evangelium erfüllen; daher erklärt sich zu einem erheblichen Teile die Neigung des Judentums zum Liberalismus. Der Marxist will das Evangelium unter Aufhebung des Gesetzes erfüllen.

Diese Problemspaltung tritt noch deutlicher als hier im Kampf um das Eigentum hervor. Ich habe sie in einer Abhandlung „Mensch und Sache” dargestellt (demnächst in der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft erscheinend).

Der Mensch ist kein freier Beherrscher der Dingwelt, gerade auch nicht in der äußersten Ausdehnung des technischen Fortschritts, sondern er muß ihr sein Leben unter Erschöpfung seiner Kräfte in einem endlosen Kampfe abringen, in dem sie seiner Sterblichkeit ewig überlegen bleibt. Nur die Geschlechterfolge erneuert diesen Kampf immer wieder. Die Leugnung dieser Tatsache, die in biblischer Sprache in der Verfluchung des Ackers ihren Ausdruck gefunden hat, ist ein intregrierender Bestandteil des marxistischen Chiliasmus, der meint, die Arbeit auf eine den Menschen entfaltende, aber nicht verzehrende Beschäftigung reduzieren und damit im grundsätzlichen Sinne überwinden zu können, oder anders, der aus der Ambivalenz dieser Beziehung nur die eine Seite wahrhaben will. Nicht nur die knechtende Arbeitsteilung, sondern die Knechtung der Arbeit überhaupt soll zugunsten einer gewissermaßen rein künstlerischen Arbeit überwunden werden; aber gerade der Künstler ist ja der Bedingtheit des Gegenstandes und der Fron der Arbeit viel stärker verhaftet, als der Mensch des Achtstundentages.

Gerade wenn man diese Beziehung zwischen Mensch und ökonomischer Welt existenziell und nicht idealistisch sieht, ist das ökonomische geschichtlich nicht ohne das Politische. In der erwähnten christlichen Sozialtheorie ist der status oeconomicus immer derjenige, der als solcher nicht politisch ist. Darin liegt unabhängig von den geschichtlichen Verhältnissen, welche damals etwa das Bauerntum, den Nährstand κατ᾽ ἐξοχήν vom aktiven politischen Leben ausschlössen, etwas Grundsätzliches. Die moderne Lage entsteht ja gerade dadurch, daß die breiten Massen des Nährstandes, der Bauern und Arbeiter in das politische Leben, also in den Status politicus eintraten, nicht mehr Status oeconomicus allein waren So stehen sich also grundsätzlich wieder nur zwei Reiche gegenüber. Das Reich

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dieser Welt, der politischen Selbstmächtigkeit des Menschen, und das Reich Christi, das Reich dessen, der im Fleisch sich seiner göttlichen Hoheit dienend und gehorsam entäußert hat, — das Reich des Menschen, der sich in immer größerer Ausdehnung, in rasendem Fortschritt der äußeren Welt bis an den Rand ihrer und seiner Zerstörung bemächtigt hat und noch bemächtigt, und das Reich dessen, der es nicht für einen Raub hielt, uns in unserer Sterblichkeit und Not gleich zu werden. Beide Reiche aber haben ihre Oekonomia, das Reich dieser Welt die Güter dieser Welt; das Reich Christi aber die Oekonomia der Heilsgeschichte, der heiligen Trinität, von der die Lehre der Kirche weiß, die Oekonomia aber auch, die Haushalterschaft über Gottes Geheimnisse, zu der die Kirche der Nachfolge berufen ist. Das aber macht die Not der ökonomisch-sozialen Bewegung aus, daß dieses selbstgesetzlich Gewordene weder mehr ein ungebrochenes Verhältnis zum Politischen, zur freien Autonomie des Menschen hat, sondern darunter leidet; daß es aber gleichzeitig gänzlich vergessen hat, daß das tägliche Brot etwas mit dem Brote des Lebens zu tun hat. Mit noch tieferer Leidenschaft als in das idealistisch-nationale Ethos hat sich nun die neuere evangelische Theologie weithin in das Pathos des Ökonomisch-Sozialen gestürzt. Aber in einer wahrhaft erschreckenden Blindheit für ihre eigene Aufgabe hat sie gerade dadurch nicht gesehen, daß hier der Schrei der unerlösten, sich selbst nicht verstehenden und deshalb recht eigentlich stummen Kreatur vorliegt. Ihre Aufgabe ist es nicht, in diesen Schrei einzustimmen, sondern auf ihn zu antworten.

Wer also die Spaltung der Lebensbereiche überwinden und die darin liegende Frage lösen will, muß sich heute unausweichlich über zwei Erkenntnisse ausweisen:
1. daß die liberale Lösung der formalen Spielregeln von Freiheit und Gleichheit grundsätzlich nicht ausreicht und ihr eigentliches Recht nur als eine Notlösung hat, wie die der „Politiker” des 17. Jahrhunderts, die die Glaubenskriege begrenzten und beendeten. Wer an die Zulänglichkeit dieser Dinge glaubt, geht notwendig an den Existenzfragen der Gegenwart vorbei;
2. daß er den entgegengesetzten Fehler des Sozialismus ebenso grundsätzlich vermeidet, weil dieser in eine monistische Einheitslösung führt, die die Wirklichkeit politischer Freiheit nicht ein-, sondern ausschließt.

Man kann und muß auch in der Gegenwart, um ein Bismarckwort zu variieren, zuweilen mehr liberal und zuweilen mehr sozialistisch regieren. Aber grundsätzlich liegt das zu lösende Problem zwischen beiden wie zwischen Grenzwerten. Zwischen diesen muß versucht werden, die sozialen Probleme und eben auch dies Grundproblem der Zeit Gestalt werden zu lassen. Hier müssen wir ehrlich unsere Armut an großen Lösungen bekennen, die ebenso groß ist wie die Unfähigkeit der gegenwärtigen Kunst zur Stilbildung, die ja gerade diese Unfähigkeit auch offen ausspricht. Gestalt zu werden aber muß

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auch diese Kunst immer versuchen, sie kann nicht im nur Negativen stecken bleiben. Gestalt aber heißt immer Begrenzung, bedeutet die Bindung an eine letzte Vorläufigkeit, in der das Bleibende sichtbar wird, aber es nicht selbst ist. Soziale Gestalt aber heißt Verzicht auf den Chiliasmus, Verzicht darauf den Menschen zu immer weiter gesteckten, immer unfaßbareren Zielen vor anzujagen. Hier liegt das besondere Problem der Gruppe und Schicht der bekehrten Kommunisten, die als solche eben nicht einfach sich zu Sozialisten ermäßigt haben, sondern nun zwischen gescheitertem Chiliasmus und Resignation einen neuen Weg suchen. Im Verfassungsrecht werden die geistigen Geschehnisse der Zeit mit derselben Offenheit, Deutlichkeit und Schlüssigkeit abgerechnet und dargestellt, wie in der bildenden Kunst.

So gewiß nun also es keinen Ständestaat wieder geben kann, in dem der Status politicus mit dem Status oeconomicus zusammenfällt, so gewiß kann nun auch der geistliche Bereich nicht mehr zu der alten Allgemeingültigkeit zurückkehren, und damit zu einem neuen Konstantinischen Bund demokratischer Form unter dem Segen der Kirche. Christ sein wird immer eine freie Entscheidung bleiben. Aber letztlich ist nur in diesem Bereich, in der eschatologischen Gemeinschaft der Kirche, in dem Reiche, das da kommt und schon da ist, die Zerspaltenheit der Gegenwart erträglich, in der die Verfallenheit eben dieser Welt sichtbarer geworden ist, als in anderen Zeiten; nur hier ist eine Freiheit geschenkt, die im Bereich des Weltlichen nicht lösbaren Gegensätze und Antinomien zu Vorläufigen zu ermäßigen, zu ertragen und auszugleichen. Politische Existenz des Christen heißt nicht brav CDU wählen, sondern jenseits der haeretischen Illusionen von Liberalismus und Sozialismus zu handeln, zwischen den Alternativen der rein säkularen und deswegen grundsätzlich sich selbst mißverstehenden Welt, auf dem schmalen Wege zugleich zwischen der konservativen Versuchung der Identität und der schwärmerischen der Ideologie, der Machtverneinung und Staatsverneinung. Auf diesem Felde einer wirklichen Freiheit ist unerhört viel zu tun und ebensoviel zu versäumen.

Der Staat lebt also nicht unter den Weisungen der Kirche, sondern von den Früchten ihrer geistlichen Existenz. Sie als grundsätzlich außerhalb des Politischen liegende und deshalb gerade eschatologische Gemeinschaft leistet dreierlei für den Staat:
1. Sie bewahrt ihn davor, die nationalen, politischen und sozialen Probleme religiös und also absolut zu verstehen, sich selbst zur Pseudokirche und Heilsgemeinschaft zu machen, ermöglicht es ihm gerade im rechten Sinne weltlich zu sein.
Insofern ist auch die Kirche, die nicht Staatskirche ist, ein zum rechten Bestände und Verstände des Staates notwendiges GEGENÜBER.

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2. Sie erfüllt diese Aufgabe nicht nur dadurch, daß ihr geistiger Einfluß ideologischer Politik und daraus folgenden Absolutheitsansprüchen entgegentritt. Sondern sie wirkt auch durch die konkrete Gemeinschaft der in ihr gebundenen Menschen, welche als solche grundsätzlich bereit zu sein haben, praktische nationale, politische, soziale Gegensätze in der Relativität zu halten und sie auf dem Boden des Möglichen auszugleichen. Sie ist damit die Voraussetzung und Hüterin geistiger und äußerer Freiheit: geistiger Freiheit gegen die Absolutheitsansprüche von Welterlösungslehren, politischer Freiheit gegen die daraus erwachsenden Einheitstendenzen und -Mythen. Nur so ist es möglich, in der Zerspaltenheit des geistigen und sozialen Gefüges zu leben, zu deren Überwindung wir zwar manchen wichtigen Schritt tun, deren grundsätzlich schlüssige Lösung nur Schwärmer, Demagogen und Verbrecher vortäuschen können.
3. In dieser Funktion wird sie mit Nachdruck die Unaufhebbarkeit und Eigenständigkeit des Staates und die Erkenntnis zu vertreten haben, daß damit — bei aller geschichtlicher Wandelbarkeit der Formen — doch ganz bestimmte Grundfunktionen ebenso unaufhebbar und unentbehrlich sind, die wir darzustellen versucht haben. Wer das legitime Ziel des Staates, die Erhaltung der ihm anvertrauten Menschen bejaht — und der Christ muß es, nicht aus freier Zweckmäßigkeit, sondern um des Gewissens willen — der muß auch die Mittel dazu bejahen.
4. Bei der Erfüllung dieser Funktion werden der Kirche und dem gemeinsamen Handeln der Christen gewisse Bereiche näher und gewisse ferner liegen, weil die einen für das Heil des Menschen wichtiger sind als die anderen. Diese Verantwortlichkeit bezieht sich jedoch grundsätzlich auf alle Bereiche des politischen Lebens.
5. Kirche und Christen haben sich vor der klerikalen Versuchung zu hüten, nun ihrerseits einem falschen Einheitsmythos, einer Einheitslösung nachzujagen, aber überall da schützend einzutreten, wo eine gesunde Zusammenordnung der Bereiche, echtes Zusammenleben der Menschen existiert und bedroht wird. Sie werden ihr Herausgenommensein aus der Welt wie ihre Gebundenheit an diese Welt immer nebeneinander zu bedenken und damit aus dem rechten Verständnis christlicher Existenz sich selbst Grenzen zu ziehen haben zum Wohl und zum Heil.