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Ohne diese geschichtlichen Perspektiven können die systematischen Erkenntnisse nicht im richtigen Raum zu stehen kommen. Für die Behauptung, daß den verschiedenen Materialgründen der Rechtfertigung auch die verschiedenen konkreten Institutionen entsprechen, liefern die profanen Sozialwissenschaften das Material, das freilich nur in theologischer Sicht seine eigentliche Bedeutung erlangt.

Die Theologie ist in hervorragendem Maße Sozialwissenschaft, und zwar nicht vorzugsweise wegen ihrer gemeinschaftsbildenden, sozialethischen Folgerungen. Sie ist es schon in ihren dogmatischen Aussagen. Auch da wo der Mensch in letzter tödlicher Einsamkeit Gott gegenübersteht, handelt es sich ipso facto um ein soziales Problem, eine soziale Erscheinung. Es besteht auch im theologischen Bereich kein Anlaß zu einer Gemeinschaftsromantik, die den innersten Kern des Menschen anzutasten droht, und gegen die sich schon 1932 ein so scharfblickender Soziologe wie Helmut Pleßner in seinen „Grenzen der Gemeinschaft” mit vollen Recht gewendet hat. Wir haben vielmehr bereits gesehen, daß überall der mikrokosmischen Existenz des Einzelnen die makrokosmischen Lebensformen der großen Ordnungen von Staat, Kirche und Völkergemeinschaft gegenüberstehen. Diese können gegeneinander nicht aufgehoben werden. Vielmehr ist erneut zu sagen, daß aus der im Glauben erfaßten Grundform des Verhältnisses Gott-Mensch auch die Grundformen des zwischenmenschlichen Lebens abgeleitet werden. Ebenso wichtig und folgenreich wie das „Daß” der Rechtfertigung ist ihr „Wie”.

 

a) Profansoziologie

Die moderne Soziologie hat seit Vierkandt und Tönnies gewisse Grundformen menschlichen Zusammenlebens als Typen herausgearbeitet. Als solche werden angesehen:

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die Gemeinschaft als die engste Form sozialer Verbundenheit,
die Gesellschaft oder das Anerkennungsverhältnis als die vorzugsweise vertragsmäßige Zusammenfassung zweckhafter Individualinteressen,
das Machtverhältnis, sowohl legitime wie gewaltsame Herrschaft umfassend,
und das Kampfverhältnis zwischen rivalisierenden Gruppen, soweit sie sich noch als solche anerkennen.

Zur Vermeidung von Mißverständnissen müssen hier wenigstens die Begriffe Macht und Gesellschaft näher erläutert werden. Unter Macht ist hier nicht in erster Linie oder hauptsächlich die Beherrschung von sozialen Apparaturen im modernen Sinne zu verstehen. Es handelt sich zunächst um unmittelbare, charismatische Macht, um Mächte und Mächtigkeiten, exousiai im Sinne des biblischen Sprachgebrauchs, und dann allerdings auch um übertragene Macht im modernen Sinne. Der Macht in diesem Sinne ist das Moment der Dauer, der Beständigkeit, der Mannigfaltigkeit wesentlich, sonst geht sie in die Struktur des Kampfverhältnisses über. Gerade die modernen, uns bedrängenden Machtkonzentrationen enthalten ein Moment ruheloser Kampfspannung, das sie als unechte Mächte kennzeichnet, so sehr sie Macht für die Dauer sein wollen.

Nicht weniger mißdeutbar ist der Begriff der Gesellschaft. In dem hier verwendeten Sinne der kontinentaleuropäischen, insbesondere deutschen Soziologie unterscheidet er sich merklich von der society der Angelsachsen. Diese enthält in unserem Sinne auch gemeinschaftshafte, traditionale Elemente. Es fehlt ihr die Nebenbedeutung, der Beiklang des Minderen, des Abgeflachten. Das spiegelt die Tatsache, daß in den angelsächsischen Ländern aus gewissen geistesgeschichtlichen Gründen der Übergang von gemeinschaftsartigen zu gesellschaftlichen Sozialformen ohne Bruch vor sich gegangen ist. Deshalb fehlte hier auch der Anlaß zu begrifflichere und wertmäßiger Unterscheidung. Indessen bestätigt im Grunde dieser Sprachgebrauch nur die grundsätzliche Richtigkeit der Tönniesschen Unterscheidung. Ebenso unterscheidet sich Gesellschaft von der societas der antiken und scholastischen Tradition. Dieser Begriff, der die Anwendung auf die verschiedensten Sozialformen duldet, entbehrt der phänomenologischen Klarheit.

Eine einfache Betrachtung dieses Schemas zeigt ohne weiteres, daß diese vier Typen nicht gleichwertig und gleichartig nebeneinander stehen. Es handelt sich um zwei Gegensatzpaare: Gemeinschaft und Gesellschaft

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gehören ebenso dialektisch zusammen wie Macht- und Kampfverhältnis. Der warmen, leibhaften Gemeinschaft steht die kühle zweckhafte Gesellschaft gegenüber; der Macht, die fraglos den Frieden, selbst unter Aufopferung von Individualrechten sicherstellt, entspricht der Kampf, in dem alle Kräfte der Selbstbehauptung bis aufs Äußerste gesteigert und entfesselt sind, in der jede Ordnung als die eben des Kampfes selbst aufgehoben ist. Zugleich aber stehen beide Gegensatzpaare zueinander in einer bestimmten Affinität: Macht und Gemeinschaft, Gesellschaft und Kampf gehören wesensmäßig zueinander. Die Macht, die die vorzugsweise statischen Verhältnisse gemeinschaftlichen Lebens ermöglicht, der Kampf als die Frucht und das Prinzip des Wettbewerbs kühler Zweckmäßigkeit. Wer den Wind des freien Spiels der Kräfte sät, erntet den Sturm des Klassenkampfes. Jedoch unterscheiden sich auch beide Typengruppen strukturell wieder deutlich: Macht und Kampf gehen gradlinig auf ihr Ziel, sind eindeutige Tendenzen und Formen, Gesellschaft und Gemeinschaft sind vielfältig und kunstvoll geordnete Strukturen. So kann man schließlich jene Formen auch in zeitlich-linearen Zusammenhang hintereinander ordnen: Die fraglose Macht ermöglicht die Ausbildung der fein strukturierten Gemeinschaft, die sich zur rationalen Gesellschaft verflacht und im Kampf ungebändigter Interessen endet. Macht und Kampf werden dann zu Grenzwerten, innerhalb derer sich die strukturierten Sozialformen der Gemeinschaft und Gesellschaft entfalten.

Dabei erhebt sich die Frage, ob jenes Gefälle von der Gemeinschaft zur Gesellschaft ein unumkehrbares, unwiderrufliches ist. Von dieser Auffassung, die nicht ohne weiteres selbstverständlich ist, gehen zahlreiche Geschichtsphilosophien aus. Die Umkehr dieses Gedankens liegt in den Vorstellungen, die durch einen Endkampf der Besiegung des Bösen hindurch schon diesseitig eine neue Erde und einen neuen Himmel erwarten. Beide Anschauungen müssen zusammen gesehen werden als Bruchstücke der eschatologischen Heilserwartung des Christentums, in denen auf deren Transzendenz verzichtet worden ist.

Das entwickelte Schema der klassischen Soziologie wird durch neuere Erkenntnisse über Erscheinung und Problem der Masse nur scheinbar gesprengt. In Wirklichkeit entspricht die Massenexistenz der soziologischen Kategorie des Kampfes. Die Unfähigkeit der Masse zur Differenzierung, zum Ertragen und zum Ausgleich äußerer und innerer Spannungen, ihre Strukturlosigkeit und Unrast, ihre Bereitschaft, sich traditionsfeindlicher und schrankenloser Gewaltherrschaft ohne echte Dauer und Substanz hinzugeben, ihre Einstellung auf permanente Krisen und eschatologische

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Fernziele, die Politisierung aller Lebensbereiche und -beziehungen, alle diese Merkmale finden ihre zusammenfassende Erklärung in dem Kampfcharakter ihres spezifischen Aggregatzustandes.

 

b) Rechtswissenschaft

Die gleichen Strukturformen lassen sich auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft in deren kategorialen Grundbegriffen zeigen. Dem Machtverhältnis der Soziologie entspricht der juristische Begriff des Status. Das lateinische Wort status läßt sich trotz des Begriffsreichtums der deutschen Sprache in seiner ganzen Fülle nicht in einem Wort wiedergeben. Sein Gehalt wird nur durch eine Reihe von Begriffen erschlossen. Status bedeutet:

1. den Staat in seiner Personalität jenseits jeder inhaltlichen Bestimmung,
2. den Stand des Menschen als funktionale Qualifikation innerhalb eines sozialen Ganzen, insbesondere des Staates, und seine Rechtsfähigkeit, seine rechtliche Existenz innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft,
3. die Verfassung eines sozialen Ganzen als Inbegriff der Verfassungselemente und ihren Aggregatzustand, den Gesamtbestand der Rechtsordnung als historisch kontingente Gegebenheit.

Schärfer präzisiert handelt es sich um drei Aspekte: einen ontisch-institutionellen, einen funktionalen und einen soziologisch-sozialen.

Alle Rechtsordnung nimmt ihren Ausgang von einer ursprünglichen personalen Vergemeinschaftung, die bestimmten Menschen einen solchen Status der Zugehörigkeit verleiht, zugleich aber von einer sachlichen Ordnung ihres Lebensraums, in erste Linie der Abgrenzung und Verteilung des Bodens. Auf das Letztere hat neuerdings Carl Schmitt* mit vollem Recht wieder besonders aufmerksam gemacht.

Aus jener ursprünglichen Setzung, die ein echter Akt der Macht, der Mächtigkeit und Bemächtigung ist, werden dann alle nachfolgenden Rechtsformen und Titel abgeleitet, und zwar auf dem Wege der Tradition. Hier tritt dann später das Problem des allmählichen Schwindens des ursprünglichen Charismas auf.

Für unser Problem ist interessant, daß auch unser eigentumsfreundliches BGB dem Dieb, der eine gestohlene Sache durch Verarbeitung, also einen


* Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus publicum Europaeum S. 13 ff. („Ordnung und Ortung”).

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schöpferischen Akt einen wesentlich höheren Wert verleiht, echtes Eigentum zuspricht (§ 980). Hier tritt der schöpferische Charakter der Eigentumsbegründung klar hervor.

Diese traditionelle und schöpferische Struktur wird entscheidend durch die moderne Theorie des Sachenrechtes verdunkelt, nach der Sachenrechte absolute, Schuldrechte relative Rechte seien. Auch das Sachenrecht ist ein relatives Recht, nur nicht zwischen Gleichen, sondern zwischen Ungleichen (vgl. S. 13). Denn der Vormann im Recht gewährleistet dem Nachmann die Rechtsposition. Der besser Berechtigte ermächtigt den schlechter Berechtigten. Aus dieser Kette kann er nicht weggedacht werden: sie ist insofern geschichtlich. Das Gleiche spielt sich in gewissen personenrechtlichen Bezügen ab. Der Tote erbt den Lebenden. Der Vater nimmt das Kind auf. Hier aber wird in der hierarchisch-historischen Stufenfolge der Traditio ein zweites konstituierendes Moment sichtbar — das der Einigung. Die Erbschaft, die Wahl des Bischofs nach kanonischem Recht müssen angenommen werden. Das Kind nimmt der Vater auf, indem er auf das Recht der Aussetzung verzichtet. Die dingliche Einigung ist systematisch etwas ganz Anderes als der obligatorische Vertrag.

Der obligatorische Vertrag zielt auf die Zukunft; die sachenrechtliche Verfügung knüpft an die Vergangenheit an. Hier liegt nicht das Risiko des Vertrages vor, sondern sie Sicherheit, daß der Berechtigte seine Rechte übertragt.

Die traditionale Form personen- und sachenrechtlicher Verhältnisse entspricht der soziologischen Strukturform der Gemeinschaft.

Der soziologischen Form der Gesellschaft entspricht die Rechtsform des freien, obligatorischen Vertrages zwischen Gleichen, geschichtlich anknüpfend an das Verkehrsrecht der Kaufleute, das ius aequum, das nicht nach strengem Recht, sondern nach Billigkeit mißt und nicht als Voraussetzung die Zugehörigkeit zur (sakralen) Rechtsgemeinschaft erfordert.

Coing macht sich jene Haupttypen ohne nähere Verarbeitung mit der Bemerkung zu eigen, daß er kein soziologischer Fachmann sei. Er untersucht dann das spezifische Verhalten jener Formen zum „Recht” (in einem sehr allgemeinen Sinne begriffen) und meint eine besondere Verwandtschaft des Rechtes mit der Gesellschaft feststellen zu können. Die rationale Regelhaftigkeit des Rechtes entspreche der soziologischen Form der Gesellschaft und keine Epoche habe mehr zur Verrechtlichung des menschlichen Zusammenlebens getan als diese. Diese Meinung

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ist nicht ohne einen Wahrheitsgehalt, beruht aber andererseits auf einer historisch nicht gerechtfertigten, dogmatisch bedingten Geringschätzung vorrationaler Rechtsepochen. Der Recht der Gemeinschaftsepoche ist in der Fülle seiner Formen noch heute trotz aller Bemühungen der Geschichtsforschung unserem Verständnis zur zum Teil zugänglich. Es übertrifft jedoch an Ursprünglichkeit und schöpferischer Kraft bei weitem alles Spätere, und wir zehren heute noch von ihm. Nur in einem allerdings ist es dem rationalen Recht unterlegen: in der technischen Durchbildung und damit in dem Grad äußerer Rechtssicherheit. Dem steht jedoch in vorrationalen Epochen ein wesentlich höherer Grad von Festigkeit und Bestimmtheit des Rechtsbewußtseins, der Rechtsgesinnung der Rechtsgenossen gegenüber. Hier hat es noch Sinn, von der Heiligkeit des Rechtes zu sprechen. In ihrer Rechtsqualität sind beide Epochen durchaus gleichwertig; man kann mit gutem Recht die Auffassung vertreten, daß auch der vollausgebildete mittelalterliche Staat ein, wenn auch anders gearteter, Rechtsstaat war. In der Vorstellung von der Einzigartigkeit des bürgerlichen Rechtsstaates leben in der Gegenwart noch sehr deutlich unwissenschaftliche Vorurteile des Aufklärung fort.

Das Interesse der rationalistischen Philosophie am Recht bestand darin, daß sie als Zentrum ihres Gedankensystems den menschlichen Willen sah. Die Freiheit dieses menschlichen Willens ist das entscheidende Leitmotiv, welches sie mit so großer geschichtlicher Wirkung auch im Bereich der Rechtsentwicklung vertreten hat. Von einer Metaphysik des Willens, der lückenlosen Kausalmechanik her wird der Gedanke des Vertrages zum Zentrum der Rechtstheorie und Rechtsphilosophie gemacht. Alles, was es im Bereich des Rechts gibt, wird auf die Vertragsformel reduziert, und der Streit um Vertragsrechte gilt im bürgerlichen Zeitalter, unter der politischen Herrschaft einer selbstbewußten Advokatur als das eigentliche Entscheidende des Rechtslebens. Die Annahme jedoch, daß der Vertrag als Willensbindung ein zentrales und primäres Phänomen des Rechtslebens sei, ist irrig. In allen Rechtsordnungen ist der bloße Wille als solcher erst sehr spät zur rechtlichen Anerkennung gekommen. Das sehr weit ausgebildete römische Zwölf-Tafelrecht kennt als klagbare Verträge nur die mancipatio und das nexum, also den Handkauf — wegen der daraus folgenden Garantieansprüche — und das Darlehn, d.h. den Anspruch auf die feierliche Rückgewähr des ebenso feierlich Übergebenen. Die bloße Vertragswille als solcher interessierte den römischen Prätor ursprünglich überhaupt

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nicht. Seine Anerkennung ist nicht das erste, sondern ein spätes Moment der Rechtsentwicklung. Dies als Ziel der Rechtsgeschichte darzustellen, ist eine bloße philosophische Spekulation.

Aber auch für die späteren Phasen der Rechtsgeschichte macht man sich die Dinge zu einfach, wenn man allein auf die Willenseinigung blickt und das Wesen des Vertrages allein auf dieses punktuelle Moment beschränkt. In allen frühen Zeiten der Rechtsgeschichte, bevor ein ausgebildete Rechtsordnung den bloßen Willen als solchen rechtlich anerkennt und schützt, kommen Verträge durch den einfachen beiderseitigen Prätensionsverzicht zustande. Jeder will etwas und erkauft den gewünschten Erfolg durch den Verzicht auf ein Gut, das in seinem Machtbereich liegt. So verhalten sich auch heute noch auf der Ebene des Völkerrechts im politischen Ringen die Staaten, welche jedenfalls für politische Verträge eine übergeordnete effektive Rechtsordnung nicht besitzen. Das Wesen des Vertrages liegt also nicht allein in den positiven Willenseinigung, sondern ebensosehr im negativen wechselseitigen Verzicht. Sachenrecht beruht auf Machtausübung, Schuldrecht auf Machtverzicht. Geht man diesem Gedanken einmal nach, so findet man folgendes Schema, welches in jedem konsensualen Rechtsverhältnis enthalten ist.

1. Ich wähle unter den mir gegebenen Möglichkeiten, den erreichbaren Zwecken, einen aus, den ich anstrebe. Diese Wahl ist eine doppelte:
Ich bevorzuge das eine, setze alles andere hintan, verzichte auf die übrigen Chancen.
2. Diese formale Wahl bestätige ich dadurch, daß ich zum Zwecke der Erlangung dieses Zieles ein in meiner Macht befindliches Gut aufopfere.
3. Indem ich das tue, gehe ich die Gefahr ein, daß ich die erstrebte Leistung des Partners nicht erhalte oder daß sie meinen Erwartungen nicht entspricht.
4. Durch die Erlangung der gleichviel wie beschaffenen Gegenleistung erhalte ich einen neuen status als Besitzer, als Machthaber dieses Rechtsgutes.

Dieses vierfache Schema vollzieht sich bei jeder der beiden miteinander handelnden Parteien, und beide Linien überkreuzen sich nur gleichsam in dem Zusammentreffen ihres wechselseitigen Willens. Das Willensproblem taucht eigentlich nur dort auf, wo aus irgendeinem Grunde dieses

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wechselseitige Geschäft nicht absichtsgemäß verläuft. Das Willensproblem bedeutet die Frage nach dem kritischen Beurteilungsmaßstab, wenn aus irdendeinem Grunde der Austausch fehlgegangen ist. Das wird meist übersehen. Die Rechtswissenschaft hat es in einem derartigen Umfange mit kranken Rechtsverhältnissen zu tun, daß sie weithin den Blick für die Struktur der gesunden verloren hat. Die Gesunden bedürfen freilich des Arztes nicht, sondern die Kranken.

Das genannte Schema läßt sich zweifelsfrei schon auf den gewöhnlichen Handkauf im Laden anwenden. Es trifft aber auch für die Gesellschaft des bürgerlichen und Handelsrechts zu, aber hier mit einem kennzeichnenden Unterschiede. Bei der Eingehung einer Gesellschaft gebe ich nicht nur ein begrenztes Wirtschaftsgut hin, sondern bringe in gewissem Umfange meine Person selbst in das Gesellschaftsverhältnis ein — mit oder ohne Verbindung mit Wirtschaftsgütern.

1. Ich wähle mir einen Partner,
2. ich stelle der Gesellschaft meine Arbeitskraft, meine Patente, mein Kapital zur Verfügung,
3. ich nehme die Gefahr auf mich, daß der andere nicht im gleichen Maße sich so einsetzt oder daß er nicht imstande ist, die Zwecke der Gesellschaft zu erfüllen.
Aber ich erlange
4. in der Gesellschaft nicht nur einen begrenzten Besitz, sondern eine Stellung, einen Status als Gesellschafter mit einem ganzen Komplex von Befugnissen und Pflichten.

Es wiederholt sich hier das Schema des Handkaufs mit dem Unterschied, daß die Gesellschaft über die bloße Sachverfügung hinaus eine Verfügung über die Person bedeutet, eine zwar wirtschaftliche zweckhafte, aber doch personenrechtliche Bindung mit sich bringt.

Das gleiche Schema der Konsensualverträge wiederholt sich dann auf höherer Ebene in der Ehe, im Staat und zu allerletzt sogar in dem zentralen Verhältnis des Menschen zu Gott. Es besteht eine Hierarchie derartig strukturierter Rechtsverhältnisse. Der Vertrag als die wechselseitige Verfügung über verfügbare Dinge ist nur die unterste und niedrigste Erscheinungsform eines allgemeinen Strukturprinzips, welches sich auf den verschiedensten Ebenen des menschlichen Lebens in der gleichen Ausprägung wiederholt.

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Das Prinzip, nach dem sich jene Hierarchie gliedert, ist dasjenige der existenziellen Dichte. Die freie Verfügbarkeit äußerer Güter steht niedriger als Verhältnisse, in denen der Mensch mit seiner Gesamtexistenz in höherem oder schließlich vollkommenem Maße eingebunden ist. Gerade die Willensmetaphysik rationalistischer Rechtstheorie macht das juristische, nicht nur das philosophische Verständnis der Rechtsformen höherer Ordnung in der ihnen eigentümlichen Existenzialität unmöglich. Das konkrete juristische Prinzip dieser Lehre liegt in dem Axiom, daß der Mensch nicht Gegenstand rechtlicher Verfügung sein könne.

Aus der Zeit des Preußischen Allgemeinen Landrechts stammt die vielfach zitierte Definition der Ehe von Kant, wonach diese ein auf den wechselseitigen Besitz der Geschlechtseigentümlichkeiten abzielender Vertrag sei. Diese Definition hat sehr viel Anstoß erregt; auch Spengler hat in Band II des „Untergangs des Abendlandes” über sie seinen heftigen Zorn ausgegossen. Man würde jedoch Kant mit der Annahme Unrecht tun, daß hier ein mißvergnügter alter Junggeselle die Ehe habe herabsetzen wollen. Der gedankliche Ursprung dieser eigenartigen Begriffsbestimmung ist auch Spengler verborgen geblieben. Sie ist nur im Zusammenhang mit jenem allgemeinen rechtsphilosophischen Prinzip des Rationalismus zu verstehen.

Von diesem menschenfreundlich scheinenden Grundsatz aus wird ein breiter Bereich des menschlichen Lebens aus dem Rechtsleben einfach herausgeschnitten. Infolgedessen bleibt als Gegenstand rechtlicher Regelung und juristischer Betrachtung nur das übrig, was sich als real-körperliche Folge menschlicher Beziehungen umschreiben läßt, und der Begriff der Ehe beschränkt sich in jener abstoßenden Weise auf das Materiell-Körperliche. Jenes zentrale Axiom der rationalistischen Rechtsphilosophie hat in außerordentlichem Umfange rechtszerstörend gewirkt. so einleuchtend es geeignet scheint als Ausgangspunkt „fortschrittlicher” Reformen zu dienen. Dies ist an drei Rechtsgebieten unschwer zu zeigen:

1. Nachdem die älteren Formen wirtschaftlicher Verbände und Arbeitsverhältnisse wie das Lehnswesen, das Zunftrecht, das Gesinderecht und ähnliches, in einem sichtbaren Zerfall begriffen waren, hat man von der Grundlage dieses Denkens her den Arbeitsvertrag unter Ausscheidung aller personenrechtlichen Momente neu konstruiert. Daraus erklärt sich die bekannte und vielfach kritisierte Unfähigkeit der Verfasser des BGB, die Besonderheiten des Arbeitsrecht in den Bereich des Werkvertrages und Dienstvertrages einzubeziehen und zulänglich zu regeln. Erst jahrzehntelange Bemühungen der Sozialpolitik und Rechswissenschaft

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haben ein neues Arbeitsrecht entstehen lassen, welches die gegenständliche Beschränkung dieses Rechtsdenkens überwand und klarstellte, daß sich auch aus dem modernen Arbeitsverhältnis eine Fülle neuartiger Treueverpflichtungen und personenrechtlicher Bindungen ergab. Die tragische Folge aber war, daß bis dahin durch die Ausscheidung der existenziellen Seite wirtschaftlicher Rechtsverhältnisse die Arbeit tatsächlich zur Ware herabsank und dieser Zustand unserer Rechtsordnung das soziale Zusammenleben in der industriellen Wirtschaft vergiftete.

2. Von dem gleichen Axiom her wurde die Rechtsauffassung begründet, daß jede Vereinigung innerhalb des Staates nur einen verfügbaren und sachlich begrenzten Zweck haben dürfe und kündbar sein müsse. So wurde das gesamte Korporationsrecht auf der Grundlage des bürgerlichen Vereinsrechts gedacht und konstruiert. Von hier aus hat man geglaubt auch das Recht der Religionsgesellschaften beurteilen zu können. Man glaubte insbesondere, das Recht der religiösen Freiheit gegen die Beschlüsse des Vatikanischen Konzils verteidigen zu können und erst recht zu müssen. Dem lag die vollständige Verkennung der Tatsache zugrunde, daß nicht nur die römische Kirche, sondern jede Religionsgemeinschaft eine existenzielle Bindung bedeutet, die mit den Prinzipien des Vereins- und Korporationsrechts nicht zulänglich erfaßt werden kann. Diesem Fehlurteil haben wir jedoch in weitem Umfange die schwerwiegenden Irrtümer des Kulturkampfes zu verdanken. Von da her ist auch die grundsätzliche Abwehrstellung des Liberalismus gegen alle „bündischen”, d.h. existenziellen Vereinigungsformen zu erklären. Der Staat ist nach der einen Seite seines Wesens selbst Bund — aber er will der einzige sein und neben sich nur Vereine dulden, die keine echte soziale Potenz darstellen. Gewiß haben wir erlebt, daß ein Bund ein Staat im Staate werden kann, der den Staat überwältigt. Das war der Fall beim Nationalsozialismus. Aber gerade dieses Beispiel zeigt deutlich, daß der Mangel an existenziell bindenden Lebensformen durch die Monopolisierung auf den Staat nicht ersetzt werden kann.

3. Das dritte Gebiet, auf dem sich jenes Axiom zerstörend ausgewirkt hat, ist eben dasjenige der Ehe. Die Annahme, daß Gegenstand rechtlicher Bindung nur verfügbare Dinge sein können, daß jede rechtliche Verfügung deshalb auch rücknehmbar sein müsse, hat notwendig die Ehe in fortschreitendem Maße ihres existenziellen Charakters beraubt und sie für das Rechtsbewußtsein auf die Ebene eines zweckhaft begrenzten, gegenseitigen Vertrages gebracht. Hier ist auch keine Grenze zu erkennen,

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welche dieser Entwicklung eine begriffliche Schranke setzt. Es zeigt sich im Gegenteil, daß von jenem Grundsatz aus alle Rechtsverhältnisse die Struktur des Ökonomischen annehmen und deshalb in mehr oder minder hohem Grade entarten. Alle Rechtsverhältnisse stoßen die personenrechtliche und existenzielle Seite ab und sinken auf die Ebene des Warenverkehrs, des Austausches verfügbarer Güter.

So wenig also Kant mit seiner Definition eine Herabsetzung der Ehe beabsichtigt hat, so kennzeichnend ist doch diese Definition in der ungewollten Konsequenz eines nackten Materialismus. Dabei macht sie dem juristischen Scharfsinn Kants alle Ehre. Der Widerspruch zwischen dem existenziellen Charakter der Ehe und dieser krassen Formel ist der Grund, weshalb sein ehrlicher Ausspruch so entrüsteten Widerstand gefunden hat. Dieser gefühlsmäßige Widerstand hat aber nirgends, soweit ich sehe, die eigentlichen rechtsgeschichtlichen Ursachen aufgedeckt.

Das rationalistische Rechtsdenken hat also nicht nur die traditional-personalen Rechtsformen abgebaut, sondern auch die höheren, nämlich die existenziellen Formen des Bundes, die Ehe, den Staat in Richtung auf eine allein dem ökonomischen Bereich entsprechende Verfügbarkeit hin denaturiert, in ihrem Wesen verändert.

Infolgedessen umfassen die consensualen Rechtsformen jetzt nur noch die niederen Formen dieses Prinzips. Wenn Coing beispielsweise lehrt, daß der Staat nicht berechtigt sei, seine Bürger zum Wehrdienst rechtlich zu verpflichten, wird der existenzielle Charakter des Staates als Willensverband aus bestimmten metajuristischen Gründen notwendig verkannt. Die Möglichkeit, eine solche Lehre öffentlich zu vertreten, hängt allerdings z.Z. praktisch von der Wirksamkeit der amerikanischen Wehrpflichtgesetze ab. Kein Staat hat sich jemals dieses Recht abstreiten lassen, und tut er es, so ist er kein Staat mehr, sondern de jure ein privatrechtlicher Verein, der allerdings im Wesentlichen frei kündbar sein muß. Immerhin fragt sich, wieweit die Rechtsphilosophie sich von den markantesten Phänomenen ihres Arbeitsbereichs auf dem Wege des einfachen Postulates willkürlich entfernen kann. Der tiefere Grund für diese Ansicht liegt darin, daß die natürlich-traditionale Zusammengehörigkeit, die das Einstehen mit Leib und Leben füreinander selbstverständlich macht, durch das gesellschaftliche Interessendenken so sehr in Frage gestellt wird, daß allerdings auf dem Wege des Zwanges das nicht ersetzt werden kann, was an positiver Opferbereitschaft fehlt. Die relative Unzulänglichkeit des staatlichen Zwanges wird dann wiederum dazu benutzt, um auch die

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Sache selbst in Frage zu stellen. Der Ziviljurist nennt das „venire contra factum proprium” und verwirft es als arglistig.*

Die Denaturierung existenzieller Rechtsverhältnisse in verfügbare Vertragsverhältnisse hat für das moderne Staatsleben die bereits geschilderten schweren Folgen gehabt. Hier geht es darum, die philosophische These als juristischen Irrtum nachzuweisen. Eine falsche Philosophie hebt das Wesen der sozialen Institutionen nicht auf, sondern zerstört sie nur in concreto zum Schaden der unausweichlich in ihnen lebenden Menschen.

Mit dem Prinzip der Traditio ist wesensmäßig die Personalität des Rechts verknüpft, ebenso wie der Consensus die Zweiseitigkeit hervortreten läßt. In diesem traditionalen Bereich haben alle Rechte die — an sich nicht erklärbare — Tendenz, zu subjektiv-persönlich zu werden, eine Neigung, mit der der entstehende moderne Staat aufs stärkste zu kämpfen hatte. In den Adelsfronden des 16. und 17. Jahrhunderts empörte sich das alte Staats- und Rechtsdenken in Privilegien und ererbten personalen Rechten gegen den von der Person abgelösten Funktionalismus des entstehenden modernen, souveränen Staates. In den consensualen Rechtsformen tritt dagegen der Gedanke der Verhältnismäßigkeit, der immanenten Gerechtigkeit, also der Gedanke der Zweiseitigkeit mit starker Betonung in den Vordergrund. Diese in sich balancierende Zweiseitigkeit unterliegt in dem Maße der Zersetzung, als hier allein die Autonomie des Willens über verfügbare Güter rechtlich wirksam wird. Der verzweifelte Schrei der Naturrechtler „pacta sunt servanda” ist in Wahrheit nur ein kraftloses Postulat, ein Münchhausen, der sich selbst am eigenen Schopf


* Diese vor langer Zeit niedergeschriebenen Sätze sind seltsamerweise als eine Stellungnahme zu dem aktuellen Problem der deutschen Remilitarisierung mißverstanden worden. Aber gerade Coing ist außerstande, die religiösen Gründe begreiflich zu machen, aus denen nicht wenige Christen hier heute eine negative Haltung einnehmen, und die rechtliche Bedeutung dieses Standpunkts im Rahmen seiner Rechtsphilosophie zu zeigen. Dieser Standpunkt ist theologisch legitim begründbar, weil und soweit heute der Staat den Charakter einer ideologischen Glaubensgemeinschaft gewonnen hat. Die Schwierigkeit der Entscheidung liegt darin begründet, daß dies keineswegs eindeutig und in vollem Umfange geschehen ist. Die halbe Destruktion des Staates in einen schillernden Zwischenzustand zwischen Staat und Pseudokirche macht ein eindeutiges Urteil unmöglich. Von diesen Erwägungen ist in Coings durchaus theologiefremder Rechtsphilosophie kein Wort zu finden. Deswegen verdeckt sein genuiner Liberalismus die eigentliche Schwere des Staatsproblems in der Gegenwart. Wer ihm allein um des (vielleicht!) übereinstimmenden praktischen Ergebnisses ohne Rücksicht auf die Begründung beitritt, urteilt politisch und nicht wissenschaftlich.

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aus dem Sumpf ziehen will. Er ist der Ausdruck dafür, wie empfindlich die Garantie fehlt, die allein in der existenziellen Vergemeinschaftung des Opfers liegt. Die Zurückhaltung aller älteren Rechte gegenüber freien obligatorischen Verträgen ohne sachenrechtliche Grundlage ist nicht der Ausdruck juristischen Unvermögens, sondern nüchterner Einsicht in Wesen und Grenzen des Rechts. Diese nicht gebundenen existenziellen Momente und Kräfte treten schließlich in schwere zerstörende Kämpfe ohne Ende ein, die zum Kampf als permanenten Prinzip führen, zu einer chiliastischen Hysterie, die ohne Gegner und Spannung des Endkampfs und der „Fernziele” nicht leben kann. Wir haben alle im Faschismus und Bolschewismus Beispiele dieses Chiliasmus vor uns, der zur consensualen Bindung nicht imstande, aber als bruchstückhafte Erscheinung ebensowenig zur Aufrichtung einer allgemein gültige Ordnung imstande ist.

Als letzte kategoriale Grundform des Rechtes tritt damit schon das Gericht in unserer Betrachtung hervor. Es ist ein dialektische Prozeß, der zur Entscheidung drängt, ein Kampf, der dem soziologischen Kampfverhältnis analog ist. Prozeß ist Kampf um den Status, und so korrespondiert im System dieser rechtliche Kampf mit der institutionellen Macht. Der Kampf um den Status tritt in besonderem Maße im Strafprozeß hervor. Dieser Kampf drängt zur Entscheidung, durch eine Krisis, ein Urteil in einen neuen Status, — oder zur Bestätigung des alten. Dieser Kampf besitzt seine spezifische juristische Form. Mit der Frage der letzten Entscheidung ist der Begriff der Souveränität verknüpft. Jene Krisis ist eine andere als jene, durch die der im Consensus Vertrauende hindurchgehen muß. Wer über den Ausnahmezustand entscheidet, ist nach der berühmten Formel Carl Schmitts souverän, d.h. derjenige, der einen über die immanente Gerechtigkeit hinausgreifenden, transzendent gültigen Maßstab besitzt. Von der Jurisdiktion her hat das Papsttum folgerichtig bis zum Vatikanum seine kirchenrechtliche Souveränität entwickelt und durchgesetzt. Der Prozeß der Entstehung des souveränen Staates und der souveränen Kirche ist ein solcher der Rationalisierung und damit letztlich der Eschatologisierung. Die Umformung des Strafrechts vom Politischen her in der Gegenwart in Zusammenhang mit Vorstellungen der Prädestination habe ich bereits an anderer Stelle entwickelt.

 

c) Religionssoziologie

Eine solche Verbindung zwischen Jurisprudenz und Soziologie befriedigt jedoch noch nicht. Sie ist nicht viel mehr als das Bündnis des Blindem mit dem Lahmen. Eine normlose Tatsachenwissenschaft verbindet sich mit

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einer formalen Normwissenschaft. Über die oben angedeuteten Affinitäten hinaus besteht noch keine konkrete Verbindung soziologischer Fakten mit juristischen Begriffen. Wir sind freilich an die Zusammenhanglosigkeit der Disziplinen allzusehr gewöhnt, um dies noch zu empfinden. Um jedoch einen echten Vereinigungspunkt beider Wissenschaften zu finden, bedürfen die Kategorien der Soziologie einer wesentlichen Korrektur. Erst von der Religionssoziologie her ist dies möglich. In ihr stehen sich nicht Gemeinschaft und Gesellschaft als Prototypen gegenüber, sondern Gemeinschaft und Bund.*

Gemeinschaft ist der Inbegriff aller schöpfungsmäßig vorgegebenen traditionalen Lebensformen; der Bund dagegen beruht im Entscheidenden auf der Erwählung. Zur Gemeinschaft gehören kraft Geburt oder sonstiger vorgegebener Umstände alle Menschen eines Bereichs, zum Bund immer nur ein Teil kraft eines auswählenden Willens. Der Begriff des Bundes ist auch allein der Sammelbegriff, der alle konsensualen Formen von der niedrigsten bis zur höchsten Stufe zu einer Sinneinheit zusammenfaßt.

Auch das Verhältnis Gottes zum Menschen kann formal nur im Sinne dieser Kategorien aufgefaßt werden. Genauer: Es gibt ein zweifaches Verhältnis des Menschen zu Gott: ein sich aus der Schöpfung ergebendes Herrschaftsverhältnis Gottes über den Menschen und ein zweites, das aus der Erwählung resultiert. Von der Seite des Menschen gesehen ist dieses letztere Verhältnis strukturell demjenigen des Vertrages genau gleichgebildet. Auch der Mensch muß sich entscheiden für oder wider Gott; er muß mit dieser Entscheidung sich zugleich negativ gegen einen ganzen Inbegriff widerstreitender Kräfte, Welt genannt, stellen. Diese Entscheidung erhält erst einen materiellen Inhalt und wird erst real, wenn der Mensch mit dieser Wahl zugleich sich seinem Gegenüber mit seinem ganzen Wesen hingibt. Er nimmt deshalb auch das größte denkbare Risiko auf sich. Es ist jenes Wagnis, welches sichtbar wird, wenn in der Liturgie von dem „festen Glauben gegen Dich” gesprochen wird. Geht er jedoch durch dieses Wagnis hindurch, welches zugleich mit der tiefsten Krisis seiner Existenz zusammenfällt, so erlangt er einen neuen status, einen neuen Standort, auf dem er nunmehr leben kann. Deshalb steht hier unausweichlich der Glaube unter einer Wahrheitsfrage, der Frage nämlich, ob das Gegenüber des Glaubens das hält, was es verspricht — oder aber nur als des Menschen eigener Wahn sich enthüllt.


* Vgl. Van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, §§ 32 ff., S. 223 ff.

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Hier wird vor allem sichtbar, daß auf dieser höheren Ebene jedes zweckhafte Moment der rationalistischen Vertragskonstruktion vollständig hinfällt. Wer in diesem Verhältnis sich mit seiner ganzen Existenz hingibt, handelt in diesem Augenblick nicht mehr zweckhaft begrenzt. Der Einwand, daß der glaubende Mensch einen Heilsegoismus vertrete, ist die Überspannung eines Altruismus, der jede menschliche Existenz überfordert. Kein Glauben kann von dem elementaren Wunsch getrennt werden, die eigene metaphysische Existenz durch die Aufopferung des hohlen Scheins der Zeitlichkeit zu retten. Wer das Selbstsucht nennt, befindet sich im luftleeren Raum.

In den Zusammenhang dieses Einwandes gehört auch der Gedanke, daß das Opfer unvermeidlich mit der zweckhaften Vorstellung des „do ut des” verknüpft sei. Der Mißbrauch des Heiligen zu höchst fragwürdigen Zwecken scheint untrennbar mit dem Opfer verbunden zu sein, welches höchstens durch Umdeutung in ethische Forderungen seiner Gefährlichkeit entkleidet werden kann. Die Phänomenologie der Religion hat jedoch gezeigt, daß dieser Gedanke falsch ist. Zwischen dem Gedanken des Gebens und des Empfangens besteht eine unauflösliche Wechselbeziehung. Der Gedanke, daß ich das, was ich von Gott empfange, ihm selbst nicht geben kann, ist nur im Sinn der formalen Logik richtig. Dieser Schluß beruht auf dem Satz des ausgeschlossenen Dritten. Wo aber dieser analytische Satz aufgehoben wird, wird erst der wirkliche Tatbestand erkennbar. Für diesen Tatbestand zitiert Van der Leeuw (§ 50 S. 337 a.a.O.) mit Recht, selbst gegen ein gelegentliches Wort von Luther, einen Liedervers von Paul Gerhardt:

Ich steh an Deiner Krippe hier,
O Jesu, Du mein Leben.
Ich komme, bring und schenke Dir,
Was Du mir hast gegeben.

Zwischen jenem höchsten, völlig existenziellen Verhältnis und dem niedrigsten des bloßen Vertrages befinden sich nun sehr verschiedenartige Zwischenformen. Ihr Rang wird, wie bereits klargelegt, dadurch bestimmt, in welchem Maße sie existenziellen Charakter tragen, wie weit der Mensch in ihnen sich mit seiner ganzen Person hingibt und bindet. Die hauptsächliche Zwischenform ist der Staat.

In den Staat wird man meistens hineingeboren. Dann trägt die Staatsbürgerschaft volklich-traditionalen Charakter. Sie schließt an das Königtum des Urvaters an. Wer sich aber in einen Staat einbürgern läßt,

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vollzieht mit dem staatsrechtlichen Unterwerfungsvertrag genau das gleiche Schema des Vertrages, welches eben dargestellt wurde. Auch er wählt als Angehöriger eines anderen Staates oder Staatenloser eine neue politische Gemeinschaft, er gliedert sich ihr mit seiner ganzen Existenz ein; er geht das Risiko ein, daß er mit diesem Staatsverband das Opfer geschichtlicher Katastrophen und Gefahren wird, denen er sich nicht entziehen kann, daß er kriegsdienstverpflichtet und von Leuten als Fein angesehen wird, mit denen er vielleicht persönlich gut Freund sein möchte. Aber er erwirbt damit den status des Staatsbürgers, der ihm nicht ohne weiteres wieder genommen werden kann. Der aufnehmende Staat geht das Risiko ein, ob dieser Neubürger ein positives Element sein wird, und er verzichtet ihm gegenüber auf die unbeschränkte hoheitliche Gewalt, auf das Recht, ihn als einen Fremden zu behandeln. Die rationalistische Staatstheorie, die den Staat als Vertrag behandelt, hat nur das eine Wahrheitsmoment, daß in der Tat der Staat nach der einen Seite seines Wesens ein Bund ist, in welchem das Moment der freien Wahl ursprünglich und immer wieder eine Rolle spielt. Aber die Vorstellung, daß man aus einem Staat austreten kann wie aus einem Verein, ist ein völliges Mißverständnis des existenziellen Sachverhalts, um den es hier geht.

Jene Struktur und Darstellung des Bundes ist aber nicht voll verständlich, wenn man nicht die zweite Reihe von Strukturformen daneben stellt, in welchen der Mensch gleichfalls lebt. Es sind die Strukturformen der Gemeinschaft. Unter dieser ist hier jeweils nur die vorgegebene Gemeinschaft zu verstehen.

Alle traditionalen Verhältnisse liegen im Zuge einer Kette, die auf einen Ursprung in unvordenklicher Vorzeit zurückgeht; sie stammen aus der Schöpfung, nicht aus der Erwählung. Aber umgekehrt weist der Bund, indem er einen neuen status schafft, der tradiert und vererbt werden kann, wieder auf die Schöpfung zurück, so wie umgekehrt der Traditionszusammenhang nur dadurch wirksam verändert werden kann, daß im Wege des Vertrages eine Wandlung eintritt. Beide Strukturenreihen sind also gegensätzlich und führen doch aufeinander zu und wieder aufeinander zurück. Die eine ist die Linie der Bewahrung, der Herrschaft, die andere die des Verzichts, des Opfers.

Aber auch jene beiden soziologischen Grenzformen der Macht und des Kampfes können mit den Begriffsmitteln der Religionsphänomenologie auf ihren juristischen Typengehalt untersucht werden: Das Erlebnis der überwältigenden, fraglosen Macht ist der Ursprung aller Religion. Macht

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ist aber in einer anderen Blickrichtung Ursprung, Substrat und Garant des Rechtes zugleich.

Ebenso aber spricht überall die Theologie vom Status: vom Glaubensstand, vom Stand der Erwählten usw. Das bedeutet keine subjektive Berechtigung, sondern ein Ergriffensein: „Wieviele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, die an seinen Namen glauben” (Joh. 1, 12). Der Kampf drängt zur apokalyptischen Entscheidung eines transzendenten Gerichts.

Damit sind die kategorialen Grundformen der Rechtswissenschaft, Status und Judicium, Traditio und Consensus, in ihren soziologischen Zusammenhang gestellt. Es gibt also nicht Ordnungen als einen Sammelbegriff unerforschlicher Verfügungen Gottes, auf Grund deren der Mensch in strukturell unerkennbare, gehorsam zu vollziehende Beziehungen hineingestellt ist. Sondern die Ordnungen sind Hierarchien von Institutionen, die entweder der Heilstatsache der Schöpfung oder derjenigen des Bundes nachfolgen und nachgebildet sind.

Die Institutionen aus der Schöpfung sind Relationen zwischen Ungleichen; sie beruhen auf der Übertragung von Macht von dem Höheren auf den Niederen; sie dienen der Bewahrung.

Es sind:
1. die Familie (Vater-Kind-Verhältnis)
2. der Staat (nach seiner volkhaft-traditionalen Seite, der seine höchste Ausbildung im Volkskönigtum gefunden hat; nichtsouveräner Staat)
3. Lehensverhältnis
4. sachenrechtliche Verfügungen über verfügbare Gegenstände.

Institutionen nach Analogie des Bundes:
1. die Ehe
2. der Staat als Willensverband (souveräner Staat)
3. Gesellschaften des bürgerlichen Rechts und des Handelsrechts
4. einfacher Consensualvertrag über verfügbare Gegenstände.

Aber ebenso wie mit Soziologie und Rechtswissenschaft ist die Theologie mit der Geschichte in eines zusammenzusehen.

Erst der heilsgeschichtliche Zusammenhang von Schöpfung, Bund, Gericht gibt den positivistisch auseinanderfallenden soziologischen Typen ihre Sinneinheit, ihren existenziellen Zusammenhang, in dessen Spannungsbogen das Leben jedes Einzelnen und jeder Gemeinschaft verläuft.

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Hier bewährt sich an der Rechtswissenschaft im Allgemeinen, was Carl Schmitt von der Staatsrechtslehre im Besonderen ausgesprochen hat, daß nämlich ihre präzisen Begriffe säkularisierte Begriffe der Theologie sind.

Jener Satz läßt jedoch noch für das aufgeklärte Mißverständnis Raum, daß die Abstreifung des theologischen Gehalts juristischer Begriffe eine notwendige und unvermeidliche Entwicklung sei. Wir müssen freilich schon dankbar sein, wenn ein bedeutender Jurist den theologischen Charakter juristischer Begriffsbildung überhaupt sieht, statt in ethischen Kategorien sich festzufahren. Aber entgegen dem herrschenden säkularen Verständnis der Rechtswissenschaft muß gesagt werden:

In juristischen Begriffen, in soziologischen Strukturen, in geschichtlichen Phasen werden die Existenziale des Menschen sichtbar, dessen Leben aus, in und zu Gott das trinitarische Glaubensbekenntnis der Kirche in unüberbietbarer Form zusammenfassend ausspricht.

Gott selbst mußte den Weg der vollkommenen Entmachtung, den des Opfers gehen, um in einem neuen Bund die gefallene Welt, sie in eine neue Schöpfung wandelnd, heimzuholen. Das Herausbrechen des Opfergedankens hat auch die Soziallehre ihres Zentrums beraubt und dies steht im eigentümlichen Zusammenhang mit der Entwicklung der Liturgie.

Die evangelische Soziallehre hat den sachlichen Zusammenhang mit der Heilsgeschichte bisher nicht in den Blick bekommen. Sie ist entweder in bedenklicher Nähe idealistischer Begriffe und rationaler Zweckvorstellungen. Oder aber sie begreift die Ordnungen einseitig als solche der Schöpfung, in die der Mensch kraft göttlicher Verordnungen hineingestellt ist. Oder aber schließlich orientiert sich an der überlieferten Bundestheologie und sieht einseitig nur die Ordnungen nach Analogie des Bundes. So kommt man ebenso leicht zur Heiligsprechung der Monarchie auf der einen, der Demokratie auf der anderen. Der alle Phänomene überhöhende theologisch-heilsgeschichtliche Gesamtzusammenhang ist verloren gegangen. Dabei scheint die eigentümliche punktuelle Verengung einer sogenannten christologischen Rechtsbegründung in einer typischen Parallelität zur Willensmetaphysik des Rationalismus zu stehen. Der Formalgrund der Erwählung verdrängt den Materialgrund des Opfers, statt sich mit ihm zu verbinden.

Die Drei-Phasen-Theorie Comtes, welche Ellul und Nygren übernehmen, bedarf also der Richtigstellung. Geschichte und Geschichtsepochen enden

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nicht in der sinnlosen Plattheit des Positivismus, juristisch nicht in einer bloßen Ordnungstechnik, kulturell im Technizismus, sondern in der (Pseudo-)Eschatologisierung. Schon die antike Kultur zeigt diese Erscheinung — vom Kaiserkult bis zur synkretistischen Erlösungsreligion Julian Apostatas. Deswegen haben auch nicht beliebige Philosopheme, welche die Geistesgeschichte verzeichnet, geschichtliche, gemeinschaftsbildende wie scheidende Wirkungen, sondern nur Heilslehren, die die eschatologische Spannung des Gegensatzes von Welt und Heil mit dem Gedanken des Endgerichts, dem Freiheitspathos des Endkampfes verknüpfen. Nicht das Ethos, sondern das Pathos macht Geschichte.

Da aber diese Eschatologie eine falsche, das Endgericht ein angemaßtes ist, die Transzendenz in die Immanenz pervertiert ist, wird der rational-dialektische Trieb zum Letzten, zum Äußersten von allein kraft seines eigenen Gefälles zum Selbstgericht, zur Selbstzerstörung der Menschheit, — weil sie sich nicht durch das Opfer wandeln lassen will.

Die Phasen der Geschichte decken sich sachlich mit den zeitlosen Grundkategorien der Jurisprudenz — Status, Traditio, Consensus und Judicium — ebenso wie mit denjenigen der Soziologie — Macht, Gemeinschaft, Gesellschaft, Kampf. Normative Formen, Relationsformen und Formen der geschichtlichen Bewegung können erst durch die Aussagen der christlichen Theologie erhellt und zur Einheit verbunden werden. Die Aussagen der Heilsgeschichte im Großen als der Geschichte schlechthin sind zugleich gültige Aussagen über Schicksal und Wesen des Menschen und damit für alle Lehre vom Menschen, für alle Humanwissenschaften. Geschichte ist eine Funktion der Religionsgeschichte, genauer, der Heilsgeschichte.

Jede Epoche verficht ihr (relativ) besseres Recht mit schrankenloser Naivität, die vorangehende zersetzend, indem sie damit von Neuem am Ganzen schuldig wird, wie jene vor ihr. So hat auch mit vollem Recht die Reformation sich dagegen gewendet, daß sich der Mensch dinglich-traditional des Heiligen bemächtigte. Aber sie hat gegen diese ontologisch-intellektuelle Bemächtigung doch nur den voluntaristisch-ethischen Gehorsam des Glaubens gesetzt. Zwischen beiden ist das zentrale Geheimnis des Opfers, der Erlösung durch die Selbstentmächtigung Gottes, herausgefallen. Das Mysterium schützt sich selbst vor dem Zugriff der Theologie. Keine Theologie und keine theologisch begründete Soziallehre — denn eine andere gibt es sowieso nirgends — vermag jedoch ihren Dienst zu erfüllen, die nicht von daher die Einheit und den Sinn alles Geschehens, aller Erscheinungen und alles Handelns gewinnt.