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III

Wenn die Entwicklung des christlichen Rechtsdenkens mit der Theorie von den Rechten der erwählten Heiligen seine gedanklichen Möglichkeiten erschöpft hat, so fragt es sich, wie die Entwicklung danach weitergeht. Jene Theorie war, wie gesagt, leicht dazu geeignet, in eine Theorie von den Menschenrechten umgedeutet zu werden. Damit veränderte sie aber gleichzeitig ihre Struktur. Aus einer eschatologischen Bestimmung, aus der Lehre von der Prädestination wurde in einem radikalen Umschlag die Selbstsetzung, die Selbstinstitution des freien und guten Menschen; so entstand aus dem düsteren Glauben des Puritanismus der rosenrote Optimismus eines Glaubens an den Menschen, jener Liberalismus, der noch heute das Glaubensbekenntnis der Amerikaner darstellt. Wilson und Roosevelt sind die großen Repräsentanten dieser wahnhaften Glaubens an den guten Menschen, deren Schwäche in verantwortungsvollen Stunden zweimal Europa der Destruktion auslieferte: 1919 dem Nationalismus und der Angstpsychose der Franzosen, 1945 dem Terror der Russen. Dieser Liberalismus ist ein Teil jener Kraft, welche stets das Gute will und doch das Böse schafft. Aber die Bewegung des säkularen Rechtsdenkens ist mit dieser Erscheinung nicht erstmalig hervorgetreten. Sie hat eine sehr viel ältere Wurzel. Gegen und unter dem theologischen Nominalismus, der den Anspruch Gottes und der Kirche auf den Menschen mit unüberbietbarer Schärfe proklamierte und jede rationale Rechtfertigung dessen ablehnte, entstand ein weltlicher Nominalismus, ein autonomes Denken. Dieses autonome Denken bildet sich im Untergrunde des mittelalterlichen Staates, in vollen Gegensatz zum Geiste der Kirche und unter Mißbrauch der bisherigen Rechtsformen. Von hier aus entwickeln sich die Tyrannei der Stadtherren in Italien, der Macchiavellismus, die ersten Formen der Kapitalwirtschaft, schließlich der fürstliche Absolutismus und der moderne Staat überhaupt. Diese Entwicklung ist nicht in allen europäischen Ländern gleichzeitig vor sich gegangen. Aber mit diesen Erscheinungen setzt sich alsbald eine Naturrechtslehre auseinander; Ellul zeigt mit Recht auf, wie diese Naturrechtslehre in den einzelnen Ländern von Jahrhundert zu Jahrhundert aufeinander gefolgt ist, zuletzt in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Denn in der Tat konnte eine Naturrechtslehre immer erst dann entstehen, wenn ein positives Rechtssystem eine gewisse Überreife erlangt hatte, die zu einer kritischen Auseinandersetzung Anlaß gab. Dieses autonome Rechtsdenken beruht auf einer

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prometheischen Selbstsetzung des Menschen, der unbefangen aus seiner Kraft auch sein Recht herleitet. Auch das charismatische Rechtsdenken vollzieht diese Gleichsetzung; aber hier ist der transzendente Hintergrund voll erhalten. Alles charismatische Recht ist immer von Gottes Gnaden und spricht dies auch aus. Jetzt zieht der Mensch das göttliche Gegenüber in sich selbst hinein, hebt es auf und macht sich selbst zum Gott. Mit diesem Rechtsdenken setzt sich nun eine zweite Naturrechtslehre auseinander. Daß eine solche zweite Naturrechtslehre entstehen konnte, ist der bisher noch nirgends beachtete Beweis dafür, daß dem ein eigenes, eigenständiges Rechtssystem vorausgegangen ist, gegen das sie sich ebenso wendet, wie das thomistische Naturrecht gegen das Rechtsdenken des ersten Jahrtausends. Aber gleich diesem Denken ist auch das neue Naturrecht eigentümlich doppelschichtig. Es wird gleichermaßen benutzt zu konservativer Begründung und Stärkung des Vorhandenen wie zur Bekämpfung desselben. Die absolute Macht des Fürsten wird ebensosehr aus dem Vertrag begründet wie mittels des Vertragsgedankens angegriffen, begrenzt oder verneint. Beide Dinge stehen aber nicht mehr unter einer Einheit, stützen sich nicht gegenseitig, sondern liegen miteinander im unablässigen Kampfe, bis das Letztere das Erstere verdrängt. Auch hier macht sich ein eschatologisches Gefälle bemerkbar, welches mit der steigenden Rationalisierung allmählich alle Institutionen aufhebt, selbst wenn das gleiche Denken sie zunächst gestützt hat.

Für unser geschichtliches Bewußtsein ist die Funktion dieses Naturrechtsdenkens besonders deutlich in der Wirkung, welche die Naturrechtslehre Christian Wolfs auf die Reformgesetzgebung Friedrichs des Großen ausgeübt hat. Auch hier hat das Naturrecht keine eigenen Institutionen geschaffen, aber die vorhandenen wirksam beeinflußt und verändert. Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 ist das große gesetzgeberische Denkmal jenes aufgeklärten Absolutismus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

Jenes sich ewig gleichende Naturrecht des 18. Jahrhunderts aber unterliegt dann um die Jahrhundertwende einer plötzlichen schlagartigen Ablösung. Binnen weniger Jahre verfällt es der völligen Ablehnung, ja als professorale Kathederweisheit der Lächerlichkeit. Was hat diesen Umsturz bewirkt? Es war das überwältigende Erlebnis des Rechtes als konkreter geschichtlicher Größe, welches durch die historische Rechtsschule ins Bewußtsein trat. Nunmehr erschien alles historisch Gegebene auf einmal als das allein Wahre und Echte. Auch diese Bewegung ist weit entfernt von einem platten Positivismus im heutigen Sinne. Ein großer Rechtsdenker

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wie Savigny hat gewiß nicht jeden Gesetzesbefehl für heilig gehalten. Aber diese Lehre schnitt doch mit allen willkürlichen Spekulationen auch den echten schöpferischen Trieb zur Rechtsbildung ab. Sie leugnete den Beruf der Zeit zur Gesetzgebung und Savigny selbst scheiterte als Gesetzgebungsminister. Die Parallelität dieser Erscheinung zu der Vernichtung des kanonischen Rechts durch Luther drängt sich auf. Aber es muß doch immer wieder hervorgehoben werden, daß es sich hier um eine Phase in der Entwicklung des autonomen Rechtsdenkens gehandelt hat, die nach dessen inneren Gesetzen ebenso unausweichlich war wie der Protest Luthers gegen das System des Thomas.

In dieser historischen Darlegung ist jedoch allein wesentlich die Struktur dieser dritten Phase autonomen Rechtsdenkens. Indem das geschichtlich Geworden als solches eine Art Heiligkeit erlangte, gleichzeitig aber als Ausdruck des sich selbst entfaltenden Geistes als einer objektiven Vorgegebenheit angesehen wurde, war hier wiederum eine eigentümliche Vermischung institutionellen und eschatologischen Denkens gegeben. Die grundsätzliche Achtung vor den gegebenen Institutionen erhielt ihr eigentliches Gewicht daraus, daß sie Ergebnisse der Geschichte, d.h. eines durch seinen vorbestimmten notwendigen Ablauf gerechtfertigten Vorgangs waren. Hegel hat die geschichtsphilosophische Konsequenz dieses Gedankens gezogen. Diese hochgespannte philosophische Lehre, deren Gehalt noch heute längst nicht ausgeschöpft ist, konnte freilich dann leicht zu einem Gesetzpositivismus mißbraucht werden. Die Institutionen erbten sich fort, mit oder ohne philosophische Begründung. Die großen positivistischen Juristen des 19. Jahrhunderts waren dabei des sittlichen Gehalts des Rechts so sicher oder glaubten es zu sein, daß sie subjektiv für den demokratischen Absolutismus von heute nicht verantwortlich zu machen sind, welcher alles für Recht ansieht, was er dekretiert. Eine eigentliche Phase der Rechtsentwicklung bedeutet dieser Positivismus mangels eines echten Ideengehalts und einer echten Abgrenzung gegenüber dem Vorausgegangenen überhaupt nicht. Die echte Fortentwicklung in einer neuen Phase des autonomen Rechtsdenkens stellt erst der Marxismus dar. Hier folgt wiederum als vierte Phase ein eingleisiges System auf dem Boden des radikalen Dogmas von der Prädestination. Der durch seine Klassenlage gerechtfertigte proletarische Mensch, d.h. der Mensch, der an der Ursünde der Macht, des ökonomischen Mehrwerts, keinen Teil hat, ist der allein Berechtigte. Alle bis dahin entstandenen rechtlichen Institutionen, alles Natürliche und Schöpfungsmäßige, alles Freigewachsene und Kontingente ist nur dazu da, um von dieser radikalen Position aus vernichtet zu werden.

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Der Marxismus ist mit allen seinen religionssoziologischen Erscheinungen der Puritanismus der Aufklärung. Alle späten Glaubensformen, mit denen religionsgeschichtliche Epochen abgeschlossen werden, zeigen die gleichen Merkmale: Glaube an die Prädestination, Feindschaft gegenüber allem Leiblichen und Geschichtlichen, ethischer Rigorismus und kämpferisches Missionsbewußtsein. Dies gilt für das Judentum, den Islam, den Calvinismus und den Marxismus. Es ist hier nicht der Ort, die Religionssoziologie des Marxismus näher zu entwickeln. In ihm stehen katholische Formen (Sozialdemokratie) neben puritanischen (Kommunismus). Synergismus und doppelte Prädestination bilden auch hier die beiden extremen Denkmöglichkeiten, und aus dem jeweiligen Ansatz entspringt auch die soziologische Form.

Die marxistische Lehre von der Prädestination hat heute freilich bereits eine bedeutungsvolle Verallgemeinerung erfahren. Überall dort, wo sich eine homogene Demokratie bildet, wo sich bestimmte Klassen, Rassen oder Nationen auf Grund ihrer Beschaffenheit für alleinberechtigt ansehen, zeigen sich die gleichen zerstörenden Erscheinungen. Die Austreibung aller Minderheiten, die Vernichtung oder Durchlöcherung aller rechtsstaatlichen Formen, die Ablösung des Gesetzes als einer formal transzendenten Bindung: dies alles sind typische Erscheinungen, welche auch diesseits des eisernen Vorgangs sich in erheblichem Umfange bemerkbar machen.

Am Anfang und am Ende des christlichen Rechtsdenkens stand eine Rechtslehre von monistischer Eindeutigkeit und damit durchschlagender Kraft; ebenso beginnt das autonome Rechtsdenken mit einer eindeutigen Selbstsetzung und endet nach zwei kritischen Zwischenphasen in einer ebenso eindeutigen Rechtsverneinung, die den Menschen völlig zum Objekt eines Gesamtwillens oder einer objektiven Entwicklung macht.

Für die geschichtliche Betrachtung ist wesentlich, daß sich diese ganze Entwicklung des autonomen Rechtsdenkens aufs stärkste in synkretistischer Weise mit den Rechtsgedanken des Christentums und den Soziallehren der einzelnen Konfessionen verbunden hat. Aber der eigentliche Antrieb liegt doch auf jener säkularen Seite und die christliche Substanz verfällt schrittweise einer deutlich nachweisbaren Ablösung. Ein großer Schritt dieser Ablösung ist schon in dem Unterschied zwischen dem Staatsdenken Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs des Großen sichtbar. Auch die Institution des Königtums wird bereits durch den so oft gepriesenen Satz, daß der König der erste Diener des Staates sei, einer rationalen, zweckhaften Umdeutung unterworfen. Puritanismus und Katholizismus

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zerfallen zusammen zur allgemeinen Kirche der Aufklärung, das Luthertum zur Romantik und zum Historismus, die Ostkirche, die die geistige Gesamtbewegung nicht mitmacht, schlägt in den Bolschewismus um. Aus ihrem Alogismus wird ein Panlogismus. Der Nationalsozialismus ist keine gradlinige Fortsetzung des Hegelianismus. Indem er den Staat radikal dem in der Partei verfaßten Volk unterordnet und zur bloßen Schale erniedrigt, setzt er an der Stelle der formalen Ethik des Idealismus eine materiale, setzt er den Anspruch der Kirche gegen den Staat, stößt er mitten in die Gemeinschaftslosigkeit des Protestantismus katholisierend hinein. Nirgends ist der Staat so grundsätzlich entwertet worden wie hier. Der Vorgang der Säkularisation der christlichen Konfessionen ist also nicht so einfach, wie er in der populären Polemik erscheint. Aber daß die Kirchen mit der moralischen Qualität ihrer Zerfallsprodukte gegeneinander argumentieren, ist doch eine sehr fragwürdige und unwürdige Sache.

Wir haben also zwei analoge Entwicklungsreihen vor uns, die zum Teil parallel, in der Hauptsache nacheinander ablaufen. Die Erkenntnis dessen ist vor allem dadurch hintangehalten worden, daß beispielsweise die großen christlichen Konfessionen gebietsmäßig nebeneinander bestehen und sich bis heute auswirken. Das gleiche gilt für die großen konfessionsartigen Ausprägungen des autonomen Denkens. Trotzdem müssen wir uns daran gewöhnen, sie nicht nur nebeneinander und in ihrem absoluten Wahrheitsanspruch, sondern auch hintereinander in ihrem zeitlichen und gedanklichen Zusammenhang zu sehen. Die Soziallehren der drei großen christlichen Konfessionen entspringen also der Auseinandersetzung mit der rechtlichen Verwirklichung, die das Prinzip der Gnade geschichtlich gefunden hatte; der Thomismus versuchte durch Rationalisierung konservativ zu sichern, die reformatorischen Lehren sind in steigendem Maße kritisch zerstörend. Auf eine lange Epoche der Entfaltung folgt eine zunächst bewahrende, dann auflösende Kritik. Ähnlich verläuft die Entwicklung des autonomen Rechtsdenkens. Der Verknüpfungspunkt dieser großen Epochenreihen war der eschatologische Gleichheitsgedanke der Puritaner. Während sie verständnislos die geistliche wie die weltliche Ordnung des alten Abendlandes vernichteten, bildeten sie zugleich den Ausgangspunkt für die Entwicklung bürgerlicher Freiheit in einer neuen Form. Obwohl das autonome Rechtsdenken bereits jahrhundertelang im Vormarsch war, hat es erst nach dem Ende des konfessionellen Zeitalters, ja gerade durch die Selbstzerfleischung der christlichen Konfessionen, welche diesen ihre Glaubwürdigkeit nahm, seine volle Entfaltung

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gefunden. So könnte auch die Endphase des autonomen Denkens, in welcher wir uns heute befinden, den Ausgangspunkt, das Materialprinzip für eine neue Epoche, nämlich eine solche existenziellen Rechtsdenkens hergeben. Denn auch heute haben die großen kämpfenden Ideologien eben durch diesen Kampf und ihren Anspruch auf Absolutheit ihre innere Glaubwürdigkeit verloren.

Daraus erwächst uns die Aufgabe, ein Rechtsdenken als neue Form zu entfalten, welches beides existenziell verknüpft. Göttliche Gnade und menschliche Autonomie waren die beiden Materialprinzipien, auf deren Grundlage sich jene beiden Entwicklungsreihen entfaltet haben.