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Nemo libidine bene utitur nisi conjugatus.
Nemo philosophia bene utitur nisi stultus,
id est christianus
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Martin Luther

 

I

Die ungeheuren Rechtszerstörungen, deren Zeuge und Opfer wir geworden sind, haben begreiflicherweise die Frage nach den unwandelbaren Grundlagen des Rechtes hervorgerufen. Dieses Fragen trägt allerdings in weitem Umfange restaurativen Charakter. Die Neubegründung liberaler Positionen verdeckt häufig die Tatsache und verhindert die Erkenntnis, daß das Jahr 1945 nur eine Epoche der Rechtszerstörung abgeschlossen und eine zweite eröffnet hat. Wäre man nach 1945 im Stande gewesen, die proklamierten rechtsstaatlichen Grundsätze ehrlich und damit auch gegen die eigenen Augenblicksinteressen zu vertreten, so hätten wir die Hoffnung haben können, eine Epoche der Rechtserneuerung in jenem Sinne zu erleben. So aber stehen Massenvertreibungen, Kriegsverbrecherprozesse, Entnazifizierungen, summarische Enteignungen politischer Gegner in einem unaufhebbaren Widerspruch zu den verkündeten Prinzipien. Die rechtsstaatliche Theorie der Gegenwart trägt daher in weitem Umfange den Charakter einer Jurisprudenz des „Als-ob”. Die verzweifelt Beschwörung der Rechtsidee gegenüber einer fortschreitenden Unfähigkeit der Menschen aller Völker, das Recht wirklich ernstzunehmen, gibt den Versammlungen liberaler Politiker und Juristen zuweilen etwas Gespenstiges. Um so radikaler und illusionsloser muß daher unsere eigene Besinnung auf die Grundlagen des Rechts sein.

Die Frage nach dem Recht wird in den Auseinandersetzungen der Gegenwart meistens als Frage nach dem Naturrecht gestellt. Es ist eine fast unübersehbare Literatur erwachsen, ohne daß jedoch bisher klare und gemeinsame Ergebnisse erzielt werden konnten.

Für eine Erörterung des Rechtsproblems auf dem Boden der reformatorischen Kirchen scheint mir jedoch die Frage nach dem Naturrecht nicht ohne weiteres legitim zu sein. Das Naturrecht behauptet, eine Lehre von den unwandelbaren Grundlagen des Rechtes zu sein, so daß das positive Recht als etwas Minderes, Abgeleitetes und Untergeordnetes erscheint. Es ist dabei die Frage, ob man sich nicht mit der naturrechtlichen Fragestellung selbst im Für und Wider bereits auf den Boden ungesicherter Voraussetzungen begibt, von denen man dann zwangsläufig zu gewissen

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Ergebnissen geführt wird. Der einzige Punkt, von dem aus die Übernahme solcher ungesicherter Voraussetzungen vermieden werden kann, scheint mir die Frage zu sein, unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen Naturrechtslehren in der Geschichte des Rechtsdenkens überhaupt entstanden sind, welche Stelle das Naturrecht in der Rechtsgeschichte einnimmt. Hier ist der Punkt, wo das ewige Naturrecht sterblich ist.

Jacques Ellul hat — vermutlich aus den gleichen Erwägungen — seiner bekannten Schrift über die theologische Begründung des Rechts ein Kapitel über das Naturrecht in der Geschichte vorangesetzt. Er entwirft darin einen knappen Abriß der abendländischen Rechtsgeschichte überhaupt. Offenbar geht er davon aus, daß im Spenglerschen Sinne die Rechtsentwicklung in verschiedenen Kulturen eine einigermaßen parallele sei. Das ursprünglich sakrale, rituelle Recht wird, so führt er aus, allmählich durch das Auftreten einer weltlichen, von der geistlichen getrennten, rechtsetzenden Gewalt verweltlicht. Das Recht erwachse nunmehr unabhängig von dieser religiösen Gewalt unmittelbar aus dem übereinstimmenden Rechtsbewußtsein der Gesellschaft. Diese Phase nennt er bereits eine solche des Naturrechts, unterscheidet aber davon dann die spätere Entstehung einer Naturrechtstheorie und die Verarbeitung des Rechts durch diese. Damit habe bereits der Abstieg begonnen, weil durch die Reflexion die Selbstverständlichkeit und Spontaneität der Rechtsüberzeugung verloren gegangen sei. Das Naturrecht der Theoretiker sei dann von rationalen Recht der Juristen abgelöst worden, und nunmehr werde in einer dritten Phase das Recht zu einer Schöpfung des Staates. Losgelöst von Prinzipien entwickle sich das Recht zur rationalen Ordnungstechnik.

Dieser Aufriß einer Rechtsgeschichte ist unschwer als die Dreiphasentheorie August Comtes zu erkennen, obwohl ihn Ellul nicht zitiert. Comte unterscheidet eine theologische, eine metaphysische und eine positive Entwicklungsphase des Rechtes; was er dabei metaphysisch nennt, bezeichnet Ellul als Naturrecht. Ellul verdunkelt dann jedoch den Comteschen Gedankengang durch die Beimischung eines anderen Gesichtspunktes, nämlich der Frage, welches in den einzelnen Epochen die Rechtsquellen seien. Es ist jedoch außerordentlich fraglich, wie weit für frühe Zeiten der Rechtsentwicklung von einer geistlichen Gewalt in einem für uns verwendbaren Sinne gesprochen werden kann, weil gerade auf dem Boden der sogenannten natürlichen Religion eine echte Trennung des Geistlichen und Weltlichen gedanklich nicht vollzogen werden kann. Ebensowenig ist ohne weiteres ein entwicklungsmäßiger Gegensatz zwischen sakralem Recht und unbewußter, spontaner Rechtsüberzeugung des Volkes festzustellen. Und

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schließlich haben wir schon in sehr frühen Zeiten Gesetzgebungswerke der legitimen politischen Gewalt, die mutatis mutandis staatliche Gesetze in keinem anderen Sinne sind als die Gesetze moderner Parlamente, beispielsweise die Königsrechte der Völkerwanderungszeit. Durch die ungesicherte Verknüpfung von Staat und modernem, technisch-positivistischem Recht wird einer unbewußten, gefühlsbetonten Staatsfeindschaft Raum gegeben und die Einsicht versperrt, welche Kräfte es denn sind, die dieses moderne Rechtsdenken tragen: der fürstliche und noch mehr der demokratische Absolutismus, welcher meint, jedes formulierbare und zwangsweise vollziehbare Gesetz sei schon Recht, weil er es gegeben hat. Schließlich aber haben zu allen Zeiten staatliches und unbewußt-gewohnheitsmäßiges Recht nebeneinander Wirksamkeit besessen, wenn auch in sehr verschiedenem Maße. Soweit man von einer geschichtlichen Entwicklung der Rechtsquellen überhaupt sprechen kann, liegt diese durchaus nicht eindeutig parallel zu der inhaltlichen Entwicklung des Rechtsdenkens. Deshalb muß dieser verwirrende Gesichtspunkt hier ausgeschieden werden.

Die Ellulsche These enthält schließlich eine Abwandlung der Comteschen Theorie insofern, als sie die metaphysische Phase inhaltlich als eine solche des Naturrechts definiert. Die Annahme einer naturrechtlichen Phase nach Beendigung der sakralrechtlichen, jedoch noch vor einer eigentlichen kritischen Besinnung muß ebenfalls Bedenken erregen. Ellul hat dabei mutmaßlich die Entstehung eines Systems des jus aequum, der Billigkeit neben dem sakralen, strengen System des ius civile im römischen Recht vor Augen. Ob diese spezielle Entwicklung auch in anderen Rechtskulturen nachweisbar und also wirklich typisch ist, ist immerhin zweifelhaft. Diese Erscheinung bringt jedoch die strukturell wichtige Tatsache zum Ausdruck, daß das ius civile eigentlich die Zugehörigkeit zur Kultgemeinschaft voraussetzt. Dieses Billigkeitsrecht ist im Zusammenhang mit dem Problem des Fremdenrechts zum Zwecke der Erleichterung des Handelsverkehrs und inhaltlich allerdings aus einer Auslegung der Rechtsverhältnisse aus der Sache selbst im Gegensatz zum Formalismus des Sakralrechts entstanden. Das ius aequum bereits als Naturrecht zu bezeichnen, ist jedenfalls bedenklich, weil dieses begrifflich ohne den Bezug auf die Abstraktion des Naturbegriffs, auf eine ontologische Schau der Dinge nicht denkbar ist. Ein unkritisches Naturrecht ist ein Widerspruch in sich selbst; gerade die philosophische Bewußtheit unterscheidet naturrechtliches Denken von allem Vorausgegangenen.

Nach Ausscheidung dieser geschichtlichen Verzeichnungen Elluls scheint seine und Comtes Darstellung, wie auch Nygren in einem Aufsatz

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„Christentum und Recht” (Theologische Literaturzeitung 1949, S. 624ff.) annimmt, echte Realität zu besitzen, gibt dieses Schema einer offensichtlichen Wirklichkeit Ausdruck. Es nimmt indes Wunder, daß diese beiden Autoren, welche das Thema „Christentum und Recht” behandeln, sich so ohne weiteres in der Beurteilung der geschichtlichen Voraussetzungen auf die Linie eines Positivisten wie Comte begeben. Denn es liegt auf der Hand, daß bei ihm im Sinne einer aufgeklärten Fortschrittstheorie sowohl theologische wie metaphysische Begründung des Rechtes als zu überwindende Überbleibsel erscheinen, die wie ein Überbau im Sinne des Marxismus abgestreift werden können und müssen, um den freien und vernünftigen Gestaltung des Rechtes Raum zu geben.

Das Naturrecht erscheint bei Ellul als eine Art geschichtlicher Transformator. Zwischen autoritativer Rechtfertigung des einen und zweckhafter Rechtfertigung des anderen Rechts wird hier nach seiner Auffassung die Frage nach der Begründung und Rechtfertigung des Rechts erstmalig gestellt. Damit gewinnt diese kritische Fragestellung als solche absolute Bedeutung, während die gegebenen Antworten verworfen werden. Die Geschichte des Rechtsdenkens ist gerade gut genug, um an einer Stelle das Problem des Rechtes richtig aufzuwerfen, welches vorher und nachher von der problemlosen Unbedingtheit des Positivismus verdeckt wird. Allem Rechtsdenken, welches tatsächlich zur Ausbildung großer geschichtlicher Rechtssysteme geführt hat, wird mangels kritischer Besinnung auf die Grundlagen die Bedeutung abgesprochen, welche allein der Naturrechtslehre, einer, wie Ellul selbst hervorhebt, spekulativen Rechtstheorie von sehr bedingter rechtsschöpferischer Wirksamkeit beigemessen wird. So ist der gesamte Ertrag des bisherigen Rechtsdenkens fast gleich Null und dient in dieser Nichtigkeit Ellul nur zum Anlaß und zur Folie, um seine eigene Theorie zu entwickeln. Zu diesem erstaunlichen Ergebnis kommt ein Rechtstheoretiker in einem Augenblick, in dem in Europa und der ganzen Welt ein noch nicht dagewesener Verfall rechtsbildender Kraft und rechtlicher Gesinnung in geradezu lebensbedrohender Weise sichtbar wird. Die Frage, welche Kräfte denn bis in die Gegenwart Recht geschaffen und getragen haben, wird hier eigentlich gar nicht ernst genommen. Das konkrete Recht von unkritischer Positivität und die Rechtstheorie falsch! Man könnte dieses seltsame Ergebnis auf eine grenzenlose Überschätzung des kritisch-rationalen Vermögens zurückführen, wenn sie nicht auf den theologiegeschichtlichen Ort der Ellulschen Arbeit hindeutete. Hier wird eine radikale und grundsätzliche Geschichtslosigkeit sichtbar, welche Karl Barth, wenn er sie jemals vertreten, jedenfalls längst aufgegeben hat.

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Daß die von Ellul grundsätzlich gestellte Frage nach der Rechtfertigung des Rechtes neu sei, weil das bisherige Rechtsdenken entweder traditionalistisch und positivistisch, oder aber spekulativ orientiert sei, wird jedenfalls nicht durch die dargestellte Theorie der Rechtsgeschichte bewiesen; diese Annahme wird als formale Fragestellung mit einer bestimmten inhaltliche Lösung verquickt. Die für den Christen fraglose Einzigartigkeit und Einmaligkeit der Rechtfertigung des Sünders durch Jesus Christus wird mit der angeblichen Einzigartigkeit und Einmaligkeit jener rechtstheoretischen Fragestellung verwechselt.

Im Gegensatz dazu muß behauptet werden, daß die Frage nach der Rechtfertigung des Rechtes eine dem menschlichen Denken überhaupt innewohnende notwendige Strukturgesetztlichkeit ist. Als zu beweisende These muß ihr hier den schon früher in meiner Schrift „Menschenrechte und moderner Staat” vertretenen Satz voranstellen:

Rechtsidee und konkrete Rechtsordnung folgen stets der religiösen oder pseudoreligiösen Rechtfertigungsidee, d.h. dem geglaubten Grundverhältnis des Menschen zu Gott oder dem an seine Stelle gesetzten geschichtsphilosophischen Prinzip.
(Schweizer Ausgabe Seite 59, deutsche Ausgabe Seite 42.)

Es ist jedoch ein Mißverständnis dieser These, wenn man sie als einen sogenannten „beachtlichen Gesichtspunkt” würdigt, wie es Ernst Wolf in seinem Vortrag „Rechtfertigung und Recht” (Kirche und Recht, Seite 23, Anm. 23) freundlicherweise getan hat. Es handelt sich nicht darum, neben anderen geschichtlichen Ursachen im Sinne der Religionssoziologie auch noch dieses geschichtliche Motiv zum Bewußtsein zu bringen, so wie Troeltsch, Max Weber und Müller-Armack religionssoziologische Erscheinungen, vor allem auf dem Gebiet der Wirtschaftsethik bedeutungsvoll beschrieben haben. Es handelt sich vielmehr um eine grundsätzliche These. Diese These wird gerade aus der strukturellen Untersuchung der Phasen der Rechtsgeschichte erhellen, welcher wir uns nunmehr zuwenden.