9. Kapitel

Formen der Integration

Persönliche, funktionale und sachliche Integration

Der Begriff der Integration ist von Rudolf Smend in seiner schon erwähnten Schrift „Verfassung und Verfassungsrecht” mit solchem Erfolge in die Staatslehre eingeführt worden, daß er fast bis zur Bedeutungslosigkeit Allgemeingut geworden ist. Integration als ein dynamisch-politischer Grundvorgang alles staatlichen Lebens, kehrt auch ohne Verwendung des terminus technicus notwendig in dieser Arbeit überall dort wieder, wo die Bildung staatlicher Gemeinsamkeit in Rede steht, in der Bündigung und Einung bei der Entstehung, bei der Traditionsbildung in der Erhaltung, in Staatssymbolik und Staatsliturgie in der Darstellung der Funktionen des Staates, in der Zusammenordnung politischer Grundelemente im Verfassungsproblem. Damit sind jedoch Merkmale und Bedeutung dieser Erscheinung nicht erschöpft. Sie besitzt parallel zu den Entwicklungstendenzen des Staates, sozusagen seinem Stilwandel folgend, auch eine Eigenbewegung ihrer Formen. Was Integration darüber hinaus eigentlich materiell-inhaltlich ist, welche Kraft in ihr wirksam ist, welcher Sauerteig das Mehl des Staates treibt, gehört zu jenen Vorfragen und Voraussetzungen, die zugleich über Begriff und Wirklichkeit des Staates hinausweisen.

Den Verfassungselementen entsprechen auch bestimmte Hauptformen der Integration aus der ihnen wesensgemäßen Formen der Menschenbindung. Charismatischen und persönlichen Führungsformen entspricht auch die persönliche Integration. Sie ist in ursprünglichen Formen des Gefolgschaftswesens

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losgelöst von allen Sachgehalten. Der Gefolgsmann kämpft an jedem Ort und für jeden von seinem Herrn gewiesenen Zweck — für die Herrlichkeit seines Herrn, die zugleich ihn selbst erhöht. Demgegenüber stellt das Lehnwesen durch die Verknüpfung von Belehnung mit Besitz und Beauftragung mit einem Amte bereits eine beschränkte Versachlichung dar, die aber noch in die streng persönliche, existentielle Form eines das ganze Leben umfassenden Treueverhältnis gekleidet ist. Beides ist auch noch in den neuzeitlichen Formen des Berufsbeamten und des Offiziers verbunden, aber der Schwerpunkt ist bereits in das Sachliche verschoben. Damit ist man schon weitgehend in den Bereich der funktionalen Integration eingetreten. Aus der Erkenntnis des Erlahmens personaler und traditionaler Bindungen suchte man aus dieser Not eine Tugend zu machen und eine ergänzende Kraft zu gewinnen, die den Mangel wieder ausglich, der durch die Entpolitisierung der alten Stände eingetreten war. Dieses Unternehmen ging und geht überall von der Erfahrung aus, daß verantwortliche Beteiligung eine starke Bindungskraft besitzt. Der Versuch, jedermann mitverantwortlich in eine umfassende direkte Organisation des Staates einzubeziehen, entspricht dieser Erkenntnis. Auf dieser Achse liegen alle dem romanischen Zentralismus widerstrebende Kräfte, die Ideen der Selbstverwaltung englischer und deutscher Richtung, die Ständetheorien des 19. und 20. Jahrhunderts und die korporativistischen Versuche des Faschismus und Syndikalismus. In diesen modernen Versuchen liegt indessen eine gewisse Selbsttäuschung. diese Formen allgemeiner Mitverantwortung, die Verallgemeinerung des Amtsgedankens tragen doch immer einen statisch-bewahrenden Charakter und sind Zwischenlösungen im Fluß der Geschichte. Geschichtsbildenden, dynamischen Charakter tragen in der Gegenwart in Wahrheit sachliche Momente gemeinsamer Interessen und rationaler Ideologien, also Momente der sachlichen Integration.

Die verbreitete Vorstellung, daß eine fortschreitende Versachlichung der politischen Beziehungen eine unvermeidliche Entwicklung darstellt, hat nur die entscheidende Tatsache übersehen lassen, daß in Wahrheit Interessen keine echten Bindekräfte darstellen. Der kollektivierte Egoismus steigert zwar die Kräfte ebenso ins Ungeheure wie die Technik der modernen Wirtschaft, zerreißt aber zugleich die Bindungen, die deren Synthese und damit allein ihre echte Befriedigung und Befriedung ermöglichen. Der Sachgehalt, der inhaltliche Zweck, ist Gegenstand der schöpferischen Initiative, des Königs wie des Kanzlers, ebenso wie des Dienstes aller der Gesamtheit besonders Verpflichteten. Aber er wirkt in einer merkwürdigen Paradoxie in seiner rationalen Begrenzung nur scheidend. Ob ein nach sachlichen Zielen ausgerichtetes Parteiwesen seine Funktionen erfüllen kann, hängt gerade von dem Maße des das Parteiwesen überwindenden Gemeingeistes, von dem ruhenden Bestande der unbestrittenen Grundlagen ab. Nur in deren Rahmen vermögen die Gegensätze ihre befruchtende Wirkung auszuüben.

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Jener Prozeß der Versachlichung politischer Beziehungen ist allein im Lande der Mäßigung, in England, soweit als möglich seiner zerstörenden Wirkung entkleidet worden. Er hat jedoch in der gesamteuropäischen Entwicklung einen deutlichen Ausgangs- und Endpunkt. In der römischen Kirche ist eine völlige Identifikation von Person und Sache vorhanden. Die sakramentale Amtsgnade verwandelt den Menschen und die materielle Welt. Nach der Lehre des Bolschewismus, dem System der reinen unpersönlichen Dialektik der Ökonomie, verwandelt die Materie den Menschen. Hier liegt ein absoluter und kontradiktorischer Gegensatz von einmaliger Reinheit vor, wie er in der Geschichte sonst nicht vorzukommen scheint. Dem entspricht eine ebenso absolute Bejahung und Verneinung des Rechtsgedankens. Zwischen beiden gibt es nur Zwischenformen, aber diese machen gerade die Entfaltung des europäischen Lebens aus, wie von der Elite in jedem System die praktische Verwirklichung abhängt. Die Entwicklung dieser Zwischenformen zeigt in der Tat einen Weg von der personalen Bindung zur sachlichen Aufgabe, bis zur schließlichen Aufhebung gegliederter Eliten durch die Verallgemeinerung ihres Gehalts.

Am Substanzbegriff scheiden sich also die größten politisch-sozialen Erscheinungen des Abendlandes. Der metaphysische Hintergrund politischer Entscheidungen zeigt sich hier ebenso deutlich wie auf der Ebene der Ontologie in den Grundlagen des Völkerrechts, in der Teleologie in den Problemen des sittlichen Gemeinbewußtseins. Damit rückt sichtbar an diesen Anschlußstellen die Kirche aus dem Rang einer Religionsgesellschaft — einer subjektiven Glaubensgemeinschaft von öffentlicher Unverbindlichkeit — wieder ein in die Stelle einer notwendigen und zentralen geistigen Funktion innerhalb der Ökonomie des sozialen Lebens.