|27|

 

2. Kapitel

Vom Raum des Staates — Gebiet — Ausschließlichkeit

 

Das zweite primäre Merkmal des Staatsbegriffes ist das Gebiet, genauer gesagt die Ausschließlichkeit seiner Wirksamkeit in einem bestimmten Bereich, dem „Reich”. Der Begriff Reich kehrt als Bestandteil in zahlreichen Staatsnamen wie z.B. Schwedens und Frankreichs wieder. Auch ein nomadisierender Stamm besitzt vor der Staatsgründung eine wirksame und ausschließende politische Ordnung zwischen seinen Zelten und auf seinen Schiffen. Aber Staatswesen von Bedeutung sind in der Geschichte aus solchen Sippengemeinschaften von Hirten oder Räubern immer erst mit der festen Verbindung mit einem Gebiet begründet worden. Trifft der Stamm bei der Landnahme auf eine Bevölkerung, so muß er sie entweder vernichten oder einschmelzen oder beherrschen. Nur die Wirksamkeit einer anderen Herrschaft in seinem Bereich kann er nicht dulden. Es war ein grundsätzlicher politischer Denkfehler der Nationalsozialisten, wenn sie auf Grund eines rein personalistischen Staatsbegriffes alle Deutschen im Auslande unmittelbar als dem Reich Verpflichtete in Anspruch zu nehmen, nicht nur als stammverwandte Minderheiten zu fördern und zu schützen versuchten. Denn damit trafen sie jeden Staat an einem zentralen Punkt seiner Existenz. Das Kondominium konkurrierender Staatshoheiten vollends in einem Gebiet besagt nur, daß hier kein Staat, sondern nur ein Objekt politischer Herrschaft vorhanden ist. Die Aufhebung kondominialer politischer Formen in Europa, die lange Zeit verhältnismäßig verbreitet waren, zeigt die zerstörende Wirkung der Rationalisierung des Staates und zugleich in sachlichem Zusammenhang die Aufhebung unbewußt wirksamer völkerrechtlicher Gemeinsamkeiten. Das Gebiet ist nach alledem ebensosehr Voraussetzung wie Ausdruck der Eigenständigkeit des Staates. Betrachten wir das Gebiet nicht als grobsinnlichen Gegenstand, sondern als Raum ausschließlicher Wirksamkeit des Staates, so ist ersichtlich, wie unzulänglich in der Tat die von Smend gegeißelte rohe Juxtaposition ist, die Käseglockentheorie, die auf der Plattform des Gebietes das Staatsvolk und darüber hinweggestülpt wie eine Haube die Staatsgewalt sieht. In Wahrheit sind diese drei Elemente nur drei Seiten der gleichen Tatsache, der Ausdruck der gleichen Eigenständigkeit.

In der Gebietstheorie scheint bisher kaum gesehen worden zu sein, daß in ihr auch die drei ontologischen Elemente des Staatsbegriffes noch einmal wiederkehren, Substanz, Bewußtsein und Wille als Gebiet, Hauptstadt und Grenze. Im biologischen Vorgang entwickelt sich das befruchtete Ei zu einem neuen Lebewesen, indem ein räumlich fixiertes Wachstumszentrum sich die Kräfte des Eies als Material aufbauend zuordnet. Ohne diese Fähigkeit zu wachstumsmäßig qualitativer Schwerpunktsbildung, die die vorhandenen Kräfte zu wandeln, umzuformen und heranzuziehen versteht, ist kein

|28|

Lebewesen denkbar. Aus dem Material wird das Wachstumszentrum aufgebaut und dann die ungeordnete relativ homogene Masse zu Gliedern entwickelt und umgeformt.

Für die antike Polis fällt beides in ihrem ursprünglichen Zustande zusammen. Ihr Landgebiet ist nur die Flur der Ackerbürgerstadt, die Bauern nur zufällig oder vorübergehend draußen wohnende Stadtbürger. Diese scheinbare Gebietslosigkeit der Polis, die die eine Seite des Gebietsproblems zu verdecken geeignet ist, ist bis ans Ende des römischen Reiches nicht grundsätzlich durchbrochen worden. Es erhielten zwar die Provinzialen in steigendem Maße das Bürgerrecht. Aber die Ausübung aktiver politischer Rechte war immer noch an die Anwesenheit in Rom geknüpft. Ein allgemeines Stimmrecht ohne Rücksicht auf den Wohnsitz wäre weder technisch durchführbar noch gedanklich überhaupt möglich gewesen. Infolgedessen blieb das ganze Reichsgebiet außerhalb Roms Provinz, d.h. wörtlich unterworfenes Gebiet, selbst wenn noch so viele seiner Bürger volles Bürgerrecht besaßen. Diese Provinzen trugen meist die Namen der sie bewohnenden Stämme; aber das bedeutete nicht mehr als eine Erinnerung. Diese Leiblosigkeit des antiken Staatsbegriffes, der die Spannung zwischen Hauptstadt und Gebiet verdeckt, ist im Abendlande durch die Entstehung der germanischen Volksstaaten aufgehoben worden. In ihnen ist das Landgebiet als Siedlungsraum primär und das Zentrum, der Königshof, ein noch lange Zeit wechselnder Mittelpunkt geringer Ausdehnung und Personenzahl. Seitdem besteht ein tiefgreifender und immer wieder tiefempfundener Gegensatz zwischen römischem und germanischen Staatsdenken. Die Bewußtheit antiken Staatsbürgertums und die bäuerlich-landschaftsgebundene Art des germanischen Föderalismus stehen in einem wesenhaften Gegensatz. Aber das ändert nichts daran, daß beides notwendige Elemente sind, die in einem natürlichen Spannungsverhältnis stehen. Denn erst durch die Hauptstadt- und Zentrenbildung — teils durch Übernahme antiker Städte, teils durch Städtegründungen — ist eine dauerhafte politische Entwicklung auch der germanischen Staaten möglich gewesen. Hierin ist mit Recht von jeher die Bedeutung König Heinrichs I., des Städtegründers, in Deutschland gesehen worden. Das antike Staatsdenken hat das Element des Gebietes nicht erfaßt. Sein Staatsbegriff ist rein personalistisch; jeder abgesprengte Teil einer Bürgerschaft setzt am neuen Ort die gemeinsame politische Existenz fort Dies ist indessen nur die subjektive Seite; dem objektiven Typus nach ist das griechisch-römische Staatsdenken nicht Gebietsherrschaft, sondern städtisch-hauptstädtisch. Soweit sich der antike Staat als Stadtstaat ausgebildet hat, fallen in ihm im Sinne unserer Betrachtung Haupt und Glieder zusammen.

Die Verachtung der Hauptstadt für die Provinz ist ein Symptom dieses Gegensatzes und wird von den Landbewohnern entsprechend beantwortet. Der Begriff der Provinz ist freilich nach seiner geschichtlichen Entwicklung

|29|

heute nicht mehr das entscheidende Gegenstück zu dem des Stammes von eigenem politischem Gewicht, als Teilgliederung mit eigenem politischem Gemeinleben. Die Provinz ist zu einer Art Mittelbegriff geworden. Die Provinzen des alten Frankreich besaßen trotz des Namens eigene Parlamente, eigene Tradition und politische Bedeutung. Erst die eine und unteilbare Republik als ein Durchbruch rationalistischen Staatsdenkens in Frankreich beseitigte sie zu Gunsten des Systems bewußt geschichtsloser, des Eigensinns entbehrender und von oben vollkommenen abhängiger Präfekturen, der Departements. An die Stelle der menschlichen Geschichte tritt als Gliederungsprinzip die geschichtslose Natur. Das französische De-parte-ment ist seinem Wortsinn entsprechend nichts anderes als ein unwesentlicher, unselbständiger Teil eines anderen Wesens.

Dieses Präfektursystem kehrt wörtlich wie tatsächlich in Deutschland in den Regierungsbezirken wieder. Die Provinz dagegen bedeutet heute eine traditionelle und Wesenseinheit mit eigenem Gewicht. Selbst in dem straff zentralisierten Preußen waren bis zur Stein-Hardenbergschen Reform und der Einführung der Fachministerien die Leiter der Provinzialverwaltungen Minister; später waren die preußischen Oberpräsidenten vielfach gewesene Minister und standen diesen in Ansehen und Rang nicht nach. Die preußischen Provinzen wurden im 19. Jahrhundert starke Selbstverwaltungseinheiten mit Landtagen und eigenen Kommunalvermögen und einer eigenen Kulturverwaltung, während die Regierungsbezirke keine Selbstverwaltungsbezirke waren und sind. Keine Verwaltungsreform hat diesen Gegensatz zu verschmelzen und aufzuheben vermocht. Das von Montgelas nach französischem Vorbild zentralistisch aufgebaute Bayern dagegen besitzt nur Regierungsbezirke, also Präfekturen und keine Provinzen. Das als zentralistisch verschriene Preußen dagegen gab 1815 Rheinland und Westfalen zum ersten Male nach Jahrhunderten der Zersplitterung die Stammeseinheit wieder. In Bayern blieben nur die Namen der Stämme als Bezeichnungen der Präfekturen erhalten, in denen jede letzte Prüfungsarbeit des Abiturienten von München kommt und wieder nach München geht. Dementsprechend ist Bayern nicht von unabhängigen, vom Kreistag gewählten, zum großen Teil landsässigen Landräten, sondern von Bürokraten regiert worden. Die Staatsrechtslehre hat diese Unterschiede, weil beide Formen an der Bildung des Staatswillens nicht beteiligt sind, in ihrem einseitigen Funktionalismus ganz aus dem Gesicht verloren.

Dieser einseitige Blick auf die Staatsfunktionen, in erster Linie auf die Mitwirkung an der Bildung des unteilbaren körperschaftlichen Gesamtwillens gleichviel in welcher Form, hat das Gebiet als den Leib des Staates seiner Bedeutung für das politische Bewußtsein und seiner Würde beraubt. Der Staat besteht, so scheint es, nur noch aus einem zentralen Willen, den es zu beherrschen gilt. Dieser Staat liegt auf seiner gebietsmäßigen Unterlage eigentlich konkret nur noch auf der Grenze wie eine Glocke auf einer Platte.

|30|

Was innerhalb dieser Grenzen liegt, ist seiner gebietsmäßigen Struktur nach politisch belanglos. Dies gilt in erster Linie für den modernen Einheitsstaat und entspricht genau der Eschatologisierung des Denkens überhaupt, der durchgängigen Abstellung auf letzte Zwecke.

Die Entleiblichung des Staates ist zugleich seine Entvolklichung. Weder die politische Willensbildung noch die Rechtsprechung vollziehen sich noch in Zusammenhang mit der lebensmäßigen Gliederung des Volkes. Die Wahlkreise sind mechanisch nach Kopfzahlen herausgeschnittene Abgrenzungen, die Gerichtsbezirke verdanken ihre Gestalt der Rücksicht auf die technischen Verkehrsbedingungen. Die Bezeichnung der Gemeinde und des Kreises als politischer Gebietskörperschaften ist nachgerade völlig seines Sinnes entleert. Es gibt keinem aus der Gemeinde aufsteigenden Aufbau des Staates, sondern nur eine Zweckgleiderung der Verwaltung, aus der alle politischen Funktionen fast ängstlich entnommen sind. Aus dem politischen Selbstverwaltungsgedanken des Freiherrn vom Stein ist ein neues versachlichtes Spezialistentum der Kommunalverwaltung geworden. Die älteren Demokratien wie England und die Schweiz haben diese Entwicklung vermieden, weil sie ihr Heil nicht in der Zerstörung, sondern in der Bewahrung auch der partikularen Tradition gesehen haben. Für den Tiefstand unseres politischen Denkens ist dagegen bezeichnend, daß der damalige sozialdemokratische Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Lüdemann, als Vorsitzender des Neugliederungsausschusses der Ministerpräsidentenkonferenz ernsthaft vorschlagen konnte, die deutschen Länder nach „Stromgebieten” neu zu gliedern. Carl Schmitt ist ein Rufer in der Wüste, wenn er neuerdings (Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Ius Publicum Europaeum, 1950) den Begriff der „Ortung” zentral neben den der Ordnung stellt.

Föderalismus ohne ein starkes integrierendes Zentrum ist ebensowenig möglich wie Zentralismus ohne lebensfähige und kräftige Glieder. Beides sind nur Grenzwerte eines entfalteten Staatsbegriffes. Das zentralistische Extrem ist in Frankreich mit einem unverhältnismäßigen geistigen und materiellen Übergewicht der Hauptstadt erreicht. Das andere Extrem sucht Frankreich in Deutschland zu verwirklichen, um es zu schwächen. Föderalismus ohne integrierende Mitte ist lediglich die Aufhebung der Einheit überhaupt und das Versinken in einen vorstaatlichen Zustand. Kein Körper kann ohne Schwerpunkt existieren. Auch die sauber föderalistisch aufgebauten Vereinigten Staaten besitzen einen solchen Schwerpunkt. Wenn ihre Hauptstadt korrekterweise nicht im Gebiet eines Teilstaats, sondern in einem neutralisierten besonderen Territorium liegt, um jeden Anschein der Vorherrschaft eines Einzelstaates zu vermeiden, so ändert dies nichts daran, daß noch heute wie von jeher der Schwerpunkt des politischen Lebens in den Oststaaten und vorzugsweise in New York liegt. Wenn von 148 Präsidentschaftskandidaten 57 aus New York stammten, so ist das ein echtes Zeichen. Ohio bildet dann mit 19 Kandidaten eine Art Nebenzentrum. Umgekehrt

|31|

haben die Kandidaten aus den Südstaaten, dem einstmals konkurrierenden und im Sezessionskriege politisch vernichteten Gegenzentrum, keine Aussicht, gewählt zu werden. Die Tragödie eines anderen Amerikas schildert in ergreifender Weise der berühmte Bestseler „Vom Winde verweht”, dessen politische Seite wohl die wenigsten Leser gesehen haben. Im übrigen wird der eigentliche Regierungssitz überhaupt gern um ein weniges exzentrisch gelagert, um die Regierung von den Strömungen und Stimmungen der volkreichen Hauptstadt ein wenig abzusetzen, deren Gewicht und Bedeutung damit nicht aufgegeben, sondern nur abgeklärt wird, in Westminster, Versailles, Potsdam so gut wie in Washington, und neuerdings in Bonn im Verhältnis zu Köln und dem Industrierevier. Denn es darf sich nicht um die Herrschaft der Hauptstadt handeln, sondern nur um die Zusammenfassung des Ganzen in einem prismenartigen Sammelpunkt.

Während aber in den westlichen Staaten die Hauptstadt von Anbeginn an feststeht, hat Deutschland eine ganze Anzahl von Hauptstädten gehabt, und damit eine Kette von Geschichtsphasen, die sich in diesen Hauptstädten widerspiegeln. Aachen war die echte Hauptstadt des karolingischen Reiches an der Grenze des germanischen und romanischen Teiles vor der Trennung dieser beiden Teile. Seine Bedeutung als Krönungsstadt des Heiligen Römischen Reiches war deshalb später politisch gesehen nur eine archaisch-traditionelle. Die nächste Stadt der Königswahl und Krönung war, abgesehen von den nahegelegenen rheinischen Pfalzen, Frankfurt a.M. Im Zentrum des die Reichseinheit in besonderem Maße tragenden fränkischen Stammes gelegen, von der Rheinlinie als dem Rückgrat des Deutschlands der Altstämme ein wenig nach Osten vorgezogen und zugleich Brücke zwischen Süden und Norden, schaut es nach Südosten und nach Nordosten. So konnte es im Deutschen Bund der Berührungs- und Schnittpunkt, der Winkelscheitel oder die Naht zwischen den beiden Großmächten sein, aber eben auch nicht mehr, weil und solange diese derart exzentrisch gelagert waren. Berlin wiederum ist der rechte Schnittpunkt der Linien Hamburg-Schlesien und Königsberg-Frankfurt und damit ganz Norddeutschlands, nicht aber Süddeutschlands. Dagegen ist Wien zum Reiche ausgesprochen exzentrisch gelagert und nur für den Donauraum in der Linie Oderberg-Triest und Regensburg-Budapest verbindend. Der andere Vergleichspunkt zwischen Wien und Berlin, zwischen Nordost- und Südostdeutschland ist neben Frankfurt Prag. Mit Prag beherrschte Hitler Osteuropa, beherrscht Stalin nach beiden Seiten den Bereich der zerbrochenen beiden deutschen Großmächte, den vom Westen an den Osten preisgegebenen Raum.

Staatstheoretisch ist hier die Erkenntnis von Bedeutung, daß die Hauptstadt ein echtes integrierendes Moment, nicht nur ein technischer Tagungsort von Parlamenten und Ministerien ist. Es gibt dementsprechend geborene Hauptstädte. Albert von Hofmann hat in seinem Werk „Das deutsche Land und die deutsche Geschichte” nachgewiesen, daß Karl der Große die

|32|

Unterwerfung Sachsens durch die Errichtung neuer politischer Zentren, durch die systematische Anordnung der Bischofssitze vollendet und vor allem die geborene Hauptstadt Sachsens in oder bei Herford durch die Bistümer Osnabrück und Minden ausgeschaltet hat. An Stelle einer durch irgendwelche Umstände in ihrer Funktion ausgeschalteten Hauptstadt vermag ein politischer Körper ein schwächeres Ersatzstück auszubilden, eine neue Hauptstadt, die dem politisch-integrierenden Sinn der landschaftlichen Lage der eigentlichen Hauptstadt soweit als möglich nahezukommen trachtet. So gibt es nach Hofmanns Darlegung Plätze erster, zweiter und dritter Wahl. Eine jede Hauptstadt verkörpert einen bestimmten politischen Sinn, weil und soweit sie imstande ist, die politischen Kräfte eines bestimmten Einzugsgebietes ebenso zusammenzufassen wie ein Brunnen Wasserzuflüsse, wie in Prisma Strahlen. So bedeutete Prag in der Hand Kaiser Karls IV. den Versuch, die Einheit und den Schwerpunkt des Reiches auf der Elblinie mit der Nebenhauptstadt Tangermünde durch die Kombination Böhmen-Brandenburg aufzubauen. Ein großer Körper scheint einen solchen Nebenschwerpunkt zu seiner Entlastung zu gebrauchen. Auch wo föderalistische Korrektheit die Leitung nach dem Vorortsystem wechseln läßt, bilden sich von allein Schwerpunkte heraus, weil doch immer nur einzelne der Gliedstaaten in der Lage sind, die Führungsfunktion zu erfüllen, wenn nicht das Ganze durch Schwäche und Zufälligkeiten gefährdet werden soll. Daß im übrigen eine solche Hauptstadt der ständigen Erneuerung aus dem Lande bedarf, ergibt sich schon aus den biologischen Tatsachen des bekannten Schwundes der städtischen Familien.

Haben wir Landgebiete und Hauptstadt als Elemente des Gebietsbegriffs entwickelt, so wird dieser erst durch ein Drittes vollständig: durch die Grenze. Sie ist hier das eschatologische Element. Sie ist wie die Funktion der Rechtsprechung im Schema der Montesquieuschen Gewaltenteilungslehre en quelque façon nulle. Sie ist eigentlich ein Nichts, ohne eigentlichen Gestalt, ohne Ausdehnung wie Hauptstadt und Landschaft. Aber sie umschließt den Gehalt beider und schließt ihn gleichzeitig gegen alle übrigen politischen Einheiten ab. Sie legt gleichzeitig das Verhältnis zu diesen fest; sie ist insofern das Negativ der außerhalb des eigenen Staates liegenden Staaten. Die Selbstbehauptung als Wesen des Staates kommt in ihr rein zum Ausdruck. Wo immer von der Idee der Überwindung der Grenzen der Rede ist, kann man sicher sein, daß eine eschatologische Heilslehre im Spiele ist. Vor Gottes Thron werden wir weder Mann noch Weib noch Deutsche und Juden mehr sein. Angesichts der letzten Dinge sind die Spannungen der diesseitigen Welt aufgehoben. Die Ehe und der Staat werden durch den Tod aufgelöst. Die Spannungen der Geschlechter wie der Politik sind das Material der diesseitigen Existenz, aus denen willkürlich herauszutreten weder möglich noch erlaubt ist. Wo diese Grenzen sinnlos geworden scheinen und aufgehoben werden, ist ein Äon zum Gerichte reif. Die Eschatologien der Selbsterlösung

|33|

aber suchen diesen Zustand von sich aus herbeizuführen. Bezeichnenderweise wird in der Lehre von den Davidischen Weltreichen ein Äon immer auf ein Weltreich, also auf die vollkommene Aufhebung der politischen Spannungen bezogen. Wo in einem Weltreich alle Unterschiede aufgehoben sind, bereitet sich in einer Tyrannis von ungeheuerlicher Leere, in tödlichem Zerfall, in einer hohlen Scheinblüte äußerer Wohlfahrt ein Zeitalter zum Sterben.

Die Grenze hat also eine doppelte Funktion; sie umschließt den positiven Gehalt eines politischen Gemeinwesens, ohne doch über ihn materiell etwas auszusagen. Diese letztere inhaltsbestimmende Funktion hat sie merkwürdigerweise nur kraft ihrer negativen Seite. Hierin gehören die oft angestellten Erwägungen, daß die Außenpolitik die Innenpolitik und sogar die Staatsform bestimme. Diese Negativfunktion kann nun in sehr verschiedenem Grade den politischen Gehalt bestimmen. Ein ständiges Grenzerdasein kann wie bei Ostpreußen und Lothringern eine gewisse Verhärtung herbeiführen. England, das keine Grenzberührung hat, verfällt erfahrungsgemäß nach jedem Kriege in einen gleichsam vorstaatlichen Zustand, in eine kaum begreifliche Passivität seiner Außenpolitik gegenüber Europa. Ein ausgesprochen außenpolitisch-negativ integrierter Staat ist Frankreich, dessen einzige, aber dafür um so stärkere Kontinuitätskomponente seit Jahrhunderten, d.h. seit der Erledigung des englischen Gegensatzes seine Politik bis an den Rand der Monomanie gegen Deutschland treibt. Je selbstsicherer ein Gemeinwesen in sich selbst beruht, desto unbefangener vermag es seine Grenze zu empfinden, je schwächer und bedrohter es ist, desto stärker ist es von ihr bestimmt. Die negative Bestimmtheit schwacher Randgebiete wie der Schweiz und der Niederlande ist sehr erheblich, wie vielfache psychologische Erscheinungen zeigen. Je stärker aber die Bestimmtheit durch die Grenze, um so schwächer der Körper; die Haut eines gesunden Körpers darf nicht durch Narben schlecht verheilter Verletzungen festgewachsen sein, wenn sich nicht immer wieder Entzündungen bilden sollen. Immer aber bezeichnet die Grenze die Schwelle, den Punkt, das Maß, über den hinaus auch bei größter Offenheit eine Gemeinschaft den fremden Einfluß fernhalten muß, wenn sie weiterleben will, den geistigen Einfluß wie die äußere Gewalt, und sie bezeichnet zugleich den Anspruch zu entscheiden, was über diese Grenze tritt.

Andererseis aber ist es die geschichtliche Umgebung, die in den konstituierenden geschichtlichen Erlebnissen dem Staate eine bestimmte Position zuweist. Sie schränkt die geschichtlichen Möglichkeiten in bestimmter Weise ein und ist gerade dadurch in hohem Grade wesensbestimmend. Wie ein Mann durch die Wahl seines Berufes, durch das Ergreifen einer Lebenschance, durch die Wahl seiner Frau bestimmte Entfaltungsmöglichkeiten wählt und auf andere verzichten muß, so gerät eine Nation in gewisse Umstände und Nachbarschaften, die ihre Entfaltung bestimmen, personell durch die Art und Stärke ihrer Nachbarn, sachlich durch die Bedingungen ihrer

|34|

geographischen Lage. Dies kann wie beim einzelnen Menschen zu großen Spannungen zwischen Fähigkeiten und Möglichkeiten, zu Minderwertigkeitsvorstellungen, zu Überkompensationen und Süchten führen. Eins ist gewiß: Es gibt glückliche und unglückliche Gemeinwesen, wie es glückliche und unglückliche Menschen gibt, und nur Narren glauben, jedem Menschen und jedem Volke ein Recht auf Glück zusprechen zu können.

Das Problem der Grenze aber in seinem eschatologischen Gehalt führt über zu dem dritten Merkmal der Ontologie des Staates, zur eschatologischen Souveränität, einem im Rahmen dieser Untersuchung neu geschaffenen Begriffe. Es ist wie der instituierende Geist des Staates, sein erstes Merkmal, aus der Entstehung des Staates, seinerseits aus der Entwicklung des Problems des Endes des Staates abzuleiten. Auch der Staatsbegriff hat ontologisch betrachtet seinen Anfang und sein Ende, sein A und sein O.