II.

Für die grundsätzliche Aufhellung des Problems hat Rudolf Smend in seiner Schrift „Verfassung und Verfassungsrecht” (1928, S. 82f.) einige sehr entscheidende Bemerkungen gemacht. Er sagt dort:

Mit innerem Recht setzt sich in den Staatszwecktheorien in immer neuen Wendungen immer wieder die alte Lehre von der Dreiteilung in Rechts-, Macht- und Wohlfahrtszweck des Staates durch. Sie ist staatstheoretisch unausweichlich, sie stellt sich aber auch immer mehr als rechtstheoretisch unentbehrlich heraus. Der Sinn großer Rechtsbereiche tritt nur so in das richtige Licht. Das haben vor allem James Goldschmidts Arbeiten zum Verwaltungsstrafrecht gezeigt. Denn ihr Grundgedanke ist doch der, daß neben dem Rechtswert als Beherrscher eines Teils des öffentlichen Strafrechts, vielmehr der öffentlichen Funktionen überhaupt, der „Verwaltungswert” als ein ganz anderes regulatives Prinzip für einen anderen Teil öffentlicher Funktionen, nicht nur des Strafrechts, steht. Dieser Verwaltungswert aber ist nichts wesentlich anderes als der sonst meist sogenannte Wohlfahrtszweck. Und neben diese beiden Werte und ihr Verhältnis tritt ein dritter, dessen Besonderheit gerade auch in der Projektion auf juristische Probleme deutlich wird. A. Wegener hat ihn überzeugend nachgewiesen in der Sonderart gewisser justizförmiger Funktionen, die sachlich aber nicht wie sonstige

|6|

Justiz dem Rechtswert dienen, sondern der Machtdurchsetzung des Staates: Bestrafung bestimmter Kriegsverbrecher, Spione, Franktireure u.a. — eine Reihe, die um die Prisengerichtsbarkeit, Standgerichte, Ausnahmegerichte, die Sondergerichte zum Schutz der Staatsform und die bekannten politischen Eigentümlichkeiten der Sowjetgerichtsbarkeit und andere Beispiele zu vermehren wäre.

Trotz dieser Erkenntnis ist in der Staatstheorie bisher nicht mit der erforderlichen Bestimmtheit ausgesprochen worden, daß diesen drei Staatszwecken auch drei genuine Formen der Gerichtsbarkeit entsprechen. Ordentliche, Verwaltungs- und politische Gerichtsbarkeit.

Das sachliche Verhältnis von Justiz und Verwaltung ist häufig dahin umschrieben worden, daß in der Justiz das Recht Selbstzweck, in der Verwaltung Mittel zum Zweck sei. Dies ist nun allerdings auch auf dem Boden des bürgerlichen Rechts für den im Rechtsverkehr Handelnden der Fall. Aber wo er die Interesse anderer berührt, wird sein Handeln im Prozeß bedingungslos und ohne Zweckerwägungen dem Recht unterstellt. In der Verwaltungsgerichtsbarkeit kommt jedoch nicht der Rechtswert, sondern der Wohlfahrtswert als regulatives Prinzip in Betracht. Es handelt sich regelmäßig darum, ob der dem handelnden Verwaltungsbeamten eingeräumte Ermessensspielraum in Übereinstimmung mit dem Gesetze, also nicht willkürlich ausgeübt worden ist. Die Hoheitsbefugnisse werden mit dem geschützten Recht des einzelnen auf eine Ebene gebracht. Das Recht ist hier die Grenze des freien Handelns. Im räumlichen Bilde stehen Verwaltungszweck und Recht nebeneinander. Dieses Gleichgewicht verschiebt sich nun im Bereich der pol. Ger. noch um eine weitere Phase. Das freie Handeln, aber auch die Beurteilung desselben steht nunmehr über dem Recht, das zur bloßen Prozeßform herabsinkt. Was heißt das?

Taten, die in den geschilderten Bereich der pol. Ger. fallen, können nur so weit in die ordentliche Gerichtsbarkeit eingeordnet werden, als sie sich in konkreten gesetzlichen Tatbeständen, also voraussehbaren, im voraus unter Strafe gestellten konkreten Handlungen ausdrücken lassen. Tendenzmäßig aber widerstrebt die pol. Ger. solcher Fixierung. Denn die feindlichen politischen Handlungen, gegen die sie sich wehrt, sind im voraus sowenig zu bestimmen, wie die Kriegslist des Feindes auszuschließen ist — auf auf die Abwehr, nicht auf die juristische Logik des Tatbestandes kommt es an.

Das gewöhnliche Strafrecht läßt alles frei, was nicht durch Gesetz verboten ist. Nunmehr tritt eine Umkehrung ein: alles soll erfaßt werden, was konkreter Ausdruck der politischen Feindschaft ist. Aus dem Satz: nullum crimen sine lege — wird der Grundsatz nullum crimen sine poena — und crimen ist alles, was feindliche Handlung ist. Diese konsequente Umkehrung des liberalen Strafrechts in das totalitäre des Nationalsozialismus und Bolschewismus habe ich bereits in meiner Schrift „Krise des Strafrechts — Krises des Richteramts” (Band 26 der Schriftenreihe der ev. Akademie, „Gerechte Ordnung”, Furche Verlag Tübingen 1948) beschrieben. Diese eigentümliche Strukturwandel ist eine typisch politische. Mit Recht zitiert deshalb Smend die Sowjetgerichtsbarkeit in der Reihe der Beispiele für pol. Ger., wobei eben nur anzumerken ist, daß damit im weitesten Umfang Bereiche mit ergriffen werden, die dem Sittengesetz, nicht der freien politischen Entscheidung unterliegen. Während im Liberalismus alles Politische in das Gesetzlich-Sittliche hineingezogen wird, wird im Nationalsozialismus und Bolschewismus alles Gesetzlich-Sittliche in das Politische eingeordnet. Es handelt sich um einfache Umkehrungen: Nationalsozialismus und Bolschewismus sind nach der Struktur ihres Rechtsdenkens einfache Umkehrungen des Liberalismus. In beiden ist

|7|

die Dialektik von Freiheit und Gesetz, wenn auch in entgegengesetztem Sinne, aufgehoben.

Politische Handlungen sind nämlich gerade solche, die ihrem Wesen nach emotional und frei sind, von einem vorgegebenen Gesetze nicht bestimmt werden können. Das hat seinen eigentlichen Grund darin, daß sich das ordentliche Strafrecht einschließlich seiner mehr formalen Verkehrsvorschriften auf dem absoluten Sittengesetz aufbaut, nur Ausführungsbestimmungen zu dem allgemeinen Verbot der Schädigung enthält. Ob ich jedoch zum Hochverräter werde, wie ich die Welt aus einer letzten Freiheit und einer letzten Nötigung zu gestalten unternehme, das ist keine sittliche Frage. Das klarste Beispiel ist das gegen den Beschluß der österreichischen Nationalversammlung durch den Friedensvertrag von 1919 verhängte Anschlußverbot. Dies zur sittlichen Verpflichtung umzudeuten, deren Verletzung kriminelle Bestrafung vor dem internationalen Gerichtshof nach sich zieht, ist ein typischer Vorgang einer solchen umdeutenden Unterschiebung, durch die der politische Charakter des Urteils verhüllt werden soll. Besonders dem französischen Rechtsdenken ist die Verschiebung in die Ziviljurisprudenz besonders eigentümlich. Die völkerrechtliche Theorie der clausula rebus sic stantibus bedarf der Loslösung von ziviljuristischen Vorstellungen und Neubegründung von den Erkenntnissen der Integrationslehre her.

Dieses politische Handeln als begrifflich freies unterfällt der Kategorie der Macht, weil sowohl der Staatsmann für das Ganze wie der einzelne, etwa als abstimmender Staatsbürger, in der Freiheit seines Handelns gesetzlich nicht vorgegebene und vorzeichenbare Tatsachen schöpferisch schafft, auch wo der einzelne nur als Machtpartikel das kleinere Übel wählt. Gerichtet werden kann jedoch ein solches freien emotionales Handeln nur an einer bestimmten gegebenen Größe, um im räumlichen Bilde zu bleiben. Nicht nur der einzelne frei handelnde Mensch ist vorhanden, sondern neben und über ihm ein ebenso frei, jedoch gemeinschaftlich handelnder realer Willensverband — der Staat als unaufhebbare Ordnung des Politischen. Pol. Ger. kann immer nur im Namen einer bestimmten politischen Größe ausgeübt werden, im Namen einer konkreten Macht. Gegen diese Macht handelt der Spion so gut wie der landesangehörige Hochverräter. Aber nicht nur das aktive Handeln wird ergriffen. Das berühmte Wort von der Gleichschaltung stellt voll treffender Plastik den soziologischen Vorgang dar, der in der pol. Ger. seinen juristischen Niederschlag findet. Der Staat als Willensverband ist kein leerer Raum, sondern ein positiv geladenes Kraftfeld, das den einzelnen einordnet, wenn er sich einordnen läßt oder abstößt, wenn er negativ geladen ist. Aus der sehr verschiedenen Stärke der Ladung ergibt sich auch die verschiedene Intensität der pol. Ger.; aber ohne Ladung kein Kraftfeld. Je stärker die positive Ladung ist desto stärker die anziehende oder abstoßende Wirkung. Ohne eine solche Ladung gibt es weder einen politischen noch sonst einen sozialen Verband. Eine politische Partei, die ein widerstrebendes Mitglied zunächst einzubeziehen versucht, es aber ausstößt, wenn sich das als unmöglich erweist, tut genau das gleiche; aber die pol. Ger. geht weiter. Indem sie ausstößt, straft sie, vernichtet sie unter Umständen. Die umfassende Existenzialität des Staates drückt sich darin aus.

Der politische Prozeß wird zunächst zum Status-Prozeß, zum Prozeß um die bürgerlichen Rechte. Diese Seite des Problems enthält ebenfalls, wenn auch in geringerem Maße, die ordentliche Strafgerichtsbarkeit. Strafrecht läßt sich nicht in primitiver kausal-mechanischer Weise als die Verhängung von Rechtsnachteilen zu sozialpädagogischen oder anderen Zwecken definieren. Die Rechtsfolge der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, aber auch die unvermeidlichen außergerichtlichen Folgen der Bestrafung in Gestalt sozialer Deklassierung weisen in diese Richtung.

|8|

Aber das Pathos des Politischen greift weiter. Es will mehr als die bloße Ausscheidung aus dem Willensverband, will Bestrafung, will Brechung und Vernichtung des bösen feindlichen Willens. Der radikalste und damit unüberbietbare Ausdruck dessen ist gerade in ihrer Primitivität die Erklärung der linientreuen norwegischen kommunistischen Partei bei der Ausstoßung ihres abtrünnigen, titoistischen Führers, „er sei der größte Verbrecher der Weltgeschichte”.

Da sich nun die freien politischen Handlungen der tatbestandsmäßigen Festlegung mehr oder minder weitgehend entziehen, weil jede beliebige Handlung den willensmäßigen Gegensatz zu der Gemeinschaft zum Ausdruck bringen kann, ergibt sich die logische Notwendigkeit, entweder einen überhaupt nicht vorliegenden Tatbestand des allgemeinen Strafrechtes dem sonst juristisch unbegründbaren politischen Urteil zu unterschieden, oder aber dieses Urteil a posteriori, nämlich von dem schädlichen Erfolg her, zu rechtfertigen. Pol. Ger. ist kein sinnloses Handeln, wie das Umsichschlagen eines Epileptikers, obwohl sie häufig genut etwas Krampfartiges, Eruptives an sich trägt. Eine vergleichbare Erscheinung sind im ordentlichen Strafrecht die erfolgsqualifizierten Delikte. Eine geringfügige vorsätzliche Handlung wird wegen eines besonders schweren, gar nicht voraussehbaren Erfolgs verschärft bestraft. Formal wird gegen den Täter eine Schuldvermutung gesetzlich begründet. Aus dem Ergebnis wird rückschauend abgelesen, daß der Wille böse gewesen sei. Seinen echten Ursprung dagegen hat das Delikt in einem Denken vom Erfolge her.

In gleicher Weise drückt sich in der pol. Ger. durchaus typisch die Auffassung aus, daß der Handelnde gegen ein tieferes (geschichtliches) Gesetz gefrevelt habe und deshalb bei schädlichem Erfolge zu verdammen sei. Und wenn es nicht der schädliche Erfolg ist, so schon die Gefährdung durch gegnerisches Handeln — wer nicht für mich ist, der ist wider mich. Es sind pseudo-religiöse Kräfte und Vorstellungen, die sich darin ausdrücken, und von dort allein sind diese Dinge zu verstehen. Sie führen tief in eine religiöse Dogmatik der Prädestination hinein. In der vorgenannten Schrift habe ich den Strukturumschlag des Strafrechts auch daran gezeigt, daß nunmehr das subjektivistische liberale Strafrecht sich in das Täterstrafrecht der Prädestination, des Tätertypus, des Volksschädlings, umkehrt. Dies zeigt sich nicht nur im nationalsozialistischen Strafrecht mit biologischer Tendenz, sondern auch im politischen Entnazifizierungsstrafrecht mit angeblich humanitärer Tendenz, welche sich in den prädestinierten Gegentypen des „Aktivisten, Militaristen, Nutznießers” niedergeschlagen hat.

Die Erfassung dieser Dinge wird dadurch sehr erschwert, daß die Entfernung von den Formen des ordentlichen Strafrechtes sehr verschieden weit entwickelt ist. Es handelt sich jedoch weniger um eine komplexe Erscheinung, in der widersprechende Formen nebeneinander stehen, als um eine Art Stufenfolge. Sie wäre in etwa in folgender Weise darzustellen:

1. Positive Strafvorschriften, die die Verletzung einer bestehenden politischen Treupflicht unter Strafe stellen und sich vom allgemeinen Strafrecht nur dadurch unterscheiden, daß sie keine absoluten, alle Menschen treffenden sittlichen Gebote zur Grundlage haben.

Beispiel: Hochverrat, Landesverrat von Staatsangehörigen, Lehnsuntreue.

2. Dieselben konkreten Vorschriften, soweit zur Treue nicht verpflichtete Personen in Anspruch genommen werden.

Beispiel: Fremdspionage, Bannbruch.

|9|

3. Delikte des allgemeinen Strafrechts, die aus politischen Gründen überbewertet oder vorgeschoben werden (echter Formenmißbrauch).

Beispiel: Prozeß gegen Graf Harry Arnim wegen Entwendung amtlicher Papiere (1875), Schauprozesse in der Ostzone.

4. Bestrafung des unterlegenen politischen Gegners nach beendeter Revolution wegen Widerstandes gegen den angeblichen echten Souverän, obwohl dieser erst durch die Revolution zur Macht gekommen ist.

Beispiel: a) Cromwells Puritaner legten den königstreuen Kavalieren nach der Niederlage Geldstrafen auf; b) Entnazifizierung der formell Belasteten.

5. Verurteilung erfolglosen oder schädlichen politischen Handelns wegen dieses Erfolges unter dem Gesichtspunkt des Machtmißbrauchs.

Beispiele: antikes Scherbengericht, Verurteilung regierender Favoriten in monarchischen Staaten bei Wechsel des Systems (Luynes unter Ludwig XIII, Danckelmann, Brück), Teile des Nürnberger Prozesses, Entnazifizierung der tatsächlich Führenden (Charakteristisch für diese Form ist die starke Vermischung mit Form 3.)

6. Verurteilung bestimmter, als schädlich prädestinierter Täter als Vertreter ihres Typus, sobald die Merkmale ihrer Zugehörigkeit zu diesem Typus, sei es auch in relativ geringfügigen Indizien, hervortreten (Umkehrung von 5).

Beispiele: Nationalsozialistisches Rassenschutz- und Kriegsstrafrecht, bolschewistisches Strafrecht, Entnazifizierung nach dem Sinne des Gesetzes vom 6. 3. 1946, praktisch geworden vor allem für die mitteleren Führer, für die höheren jedoch nur, soweit sie nicht nach Ziffer 5 erfaßt wurden.

7. Verurteilung auf Grund schädlichen Erfolgs und vermuteter Gesamtschuld.

Beispiel: Lex Oradour in Frankreich, politische Sippenhaftung unter Hitler und Stalin. Tendenzen ohne vollen juristischen Ausdruck in der Phase der Morgenthaupolitik.

Mit dieser letzten Form ist die äußerste logisch mögliche Steigerung erreicht. Diese Aufgliederung der Typen politischer Urteilsgründe — da ja von Tatbeständen nur z.T. geredet werden kann — zeigt, daß die Urteile in immer geringerem Grade rechtslogisch begründet werden können; besonders kennzeichnend dafür ist gerade Form 3. Bevor man sich mit sehr schlechtem juristischem Gewissen in das Dunkel dieser juristischen Unterwelt hineinwagt, versucht man noch um jeden Preis, oberhalb der begrifflichen Bewußtseinsgrenze des normalen tatbestandsmäßigen Strafrechtsdenkens zu bleiben.

Die Tatsache, daß die Fälle 1 und 2 unschwer in die ordentliche Gerichtsbarkeit einbezogen werden konnten, erklärt sich daraus, daß hier vorzugsweise grobreale und vor allem äußere Gewalthandlungen erfaßt werden. Das steht mit der liberalen Staatstheorie in Einklang, die die politische Meinung und Willensbildung grundsätzlich im vollen Umfange frei läßt und aus diesem freien Spiel der Kräfte einzig und allein die Gewalt ausschaltet. Aus diesem Grunde kann man im liberalen Staate jene Tatbestände tendenzmäßig sehr einschränkend auslegen; erst im Kriegsverrat tritt

|10|

notwendig eine materielle Treupflicht stärker hervor. Aus dem gleichen Grunde trifft dieses Urteil naturgemäß nicht auf das ältere politische Delikt der Lehnsuntreue zu, welches mangels einer rationalen Begrifflichkeit sowieso einen blankettartigen Charakter trägt. So konnte es auch in das ordentliche Strafrecht nog weitgehend einwirken. Wenn etwa heute noch in England die grobfahrlässige Tötung eines Menschen im Staßenverkehr als Felonie bestraft wird, so ist dies höchst charakteristisch. Die Schädigung des Mitmenschen ist zugleich ein Vergehen gegen den König, dessen schützende Macht Leben und Gedeihen des letzten seiner Untertanen verbürgt. Dies ist zugleich ein wichtiges Indiz dafür, daß jeder inhaltlich-materielle und nicht liberal formalisierte und entleerte Staatsbegriff unmittelbar rechtlich in den Bereich der sittlichen Normen positiv hinüberwirkt; dies mahnt zur Vorsicht bei dem dennoch begrifflich notwendigen Versuch, politische und ordentliche Gerichtsbarkeit systematisch zu trennen.

Aber auch diese in gesetzlichen Tatbeständen geordneten politischen Delikte haben nun eine neue gesteigerte Tendenz erhalten. Während noch im liberalen Staate Hoch- und Landesverrat immer mehr einschränkend ausgelegt wurden und mit dem Versuch der Privilegierung der Überzeugungstäterschaft sich vollends aufzulösen im Begriffe waren, gehen die Dinge jetzt in entgegengesetzter Richtung. Neben echte Gewalthandlungen treten immer mehr Gesinnungsäußerungen: Ja, die bloße Billigung gewisser politischer Handlungen durch schlüssige Handlung, insbesondere schon durch Mitgliedschaft in Verbänden, wird zur Straftat. Man kommt dabei zu völlig gesuchten Konstruktionen, wie der Begriff der „Ersatzöffentlichkeit” bei dem Heimtückevergehen des Nationalsozialismus, aber auch bei den Begründungen, die den Urteilen der Spruchgerichte in der britischen Besatzungszone gegen Angehörige für verbrecherisch erklärter Organisationen zugrunde gelegt wurden. Es ist, als ob die Gezeiten gewechselt hätten; nach der Ebbe ist Hochflut eingetreten, die alle juristischen Dämme und Bollwerke einreißt. Tatsächlich richtet sich Gehalt und Ausdehnung der politischen Strafgesetze unmittelbar nach dem Ideengehalt des Staates. Die formale Demokratie ist überall, auch im Westen, wenn auch mehr oder minder weitgehend, von der materiell-homogenen Demokratie abgelöst worden, d.h. einer Staatsordnung, die gewisse inhaltlich bestimmte Werte voraussetzt und strafgerichtlich schützt. Infolgedessen erhält pol. Ger. in zunehmendem Maße inquisitorischen Charakter. Selbst die liberalen Vereinigten Staaten inquirieren sehr nachdrücklich „unamerikanische Bestrebungen”. Ob dies nur zu praktisch oft vernichtenden Folgen für das bürgerliche Leben oder zu förmlicher Bestrafung führt, ist nur eine Frage der Entwicklung. Immer stärker wird jedenfalls die Tendenz, aber auch mit der Bürgerkriegssituation in der ganzen Welt die relative Notwendigkeit, die alten Begriffe des Hoch- und Landesverrats auf Gesinnungs- und Äußerungsdelikte auszudehnen: Heimtückevergehen, Rundfunkverbrechen, aber auch die von der SPD in ihrem Entwurf eines Demokratieschutzgesetzes formulierten neuen Straftatbestände. Der Antifaschismus folgt überall mit anderen Vorzeichen den Gedankengängen des Faschismus.

Jene in ihrer logischen Fortentwicklung gezeigten Urteilsgründe zeigen nun eine ganz bestimmte systematische Steigerung und zwar in drei Stufen:
1. Politische Schuld auf Grund a priori vorhandener gesetzlicher Tatbestände (Fall 1 und 2, einschließlich des Grenzfalles 3).
2. Politische Schuld auf Grund a posteriori gegebenen schädlichen Erfolgs.
3. Politische Schuld als existentiell-typenmäßige oder Gesamtschuld (Fall 6 und 7).

|11|

Man fühlt sich bei dieser Steigerung des politischen Pathos, ausgedrückt in den Typen der Urteilsbegründungen, an die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie erinnert. Aber während diese längst die Psychologie des oberflächlichen Bewußtseins in ihrer Begrenztheit enthüllt hat, zieht die Rechtswissenschaft es vor, diese Phänomene auf ihren eigensten Gebiet souverän zu übersehen, und verliert damit die Dimensionen ihres Gegenstandes.

Aber mit diesem Vergleich könnte pol. Ger. immer noch in irreführender Weise mit der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Parallele gesehen werden — als eine ordentliche Gerichtsbarkeit mit mangelhaften Tatbeständen. Die Überordnung des Machtwertes über den Rechtswert drückt sich in der pol. Ger. trotz einer großen Zahl von Willkürurteilen nicht prinzipiell in der Willkür aus, da sie sonst ihren eigenen Sinn verlieren würde. Wohl aber wird folgerichtig der Rechtscharakter mit gradweisen Unterscheidungen auf die Form des Prozesses beschränkt. Die Tendenz zur Aufrechterhaltung prozessualer Formen in der pol. Ger. aber ist echt und ursprünglich. Sie ist aus dem zweifellos ebenfalls vorhandenen Bestreben, sich durch den Schein eines ordentlichen Verfahrens zu decken, nicht ausreichend zu erklären.

Abgesehen von dem überwiegenden Fehlen echter gesetzlicher Tatbestände und der Gefährdung der verbliebenen Rechtsform des Prozesses unterscheidet sich pol. Ger. von der ordentlichen Gerichtsbarkeit jedoch auch durch ihren aktuellen, zeitbedingten Charakter. Die ordentliche Gerichtsbarkeit besteht — abgesehen vom Falle der Unterbrechung aller staatlichen Funktionen — immer. Sie dient in prinzipiell gleicher Form der sich nur langsam wandelnden vorgegebenen Rechtsordnung. Sie hat einen bewahrenden, keinen schöpferischen Charakter. Pol. Ger. dagegen tritt im Zeichen des Ausnahmezustandes und als Ausnahmezustand auf, vor und nach Revolutionen, im Kriege, in der Diktatur, bei einem grundlegenden Regierungswechsel und in sonstigen Krisenzeiten. Mit pol. Ger. wehrt sich die Staatsordnung, die gestürzt werden soll, und rächen sich die Revolutionäre, die Erfolg gehabt haben, an den bisherigen Machthabern. Aber soviel Rachsucht im Spiele ist, ist die Erscheinung doch daraus ebenfalls nicht zu erklären. Vielmehr hat pol. Ger. in zwei Richtungen einen echten jurisdiktionellen Charakter. Es handelt sich erstens um die Verantwortung für politisches Handeln, wenn ein System, gleichviel aus welchen Gründen, aber meist mit schwersten Folgen gescheitert ist. Diese Verantwortung wird dann mit den der Entscheidung zugleich mit unterlegten echten kriminellen Handlungen nur unzulänglich erfaßt. Zweitens geht es darum, wieweit die integrierenden Träger des bisherigen Systems in das neue eingeordnet werden können. Dies ist so lange verhältnismäßig leicht und ohne allzu schwere Opfer zu vollziehen, solange die pol. Ger. vor dem Souverän abspielt. Der leitende Staatsmann, der das System in seiner Person verkörpert und zusammengefaßt hat, muß mit seiner ganzen Existenz für den Erfolg einstehen. Dies haben in der Geschichte zahllose bedeutende und ebensoviel verbrecherische und skrupellose Staatsmänner ohne Unterschied gleichermaßen mit dem Leben bezahlt. Der scheinbare und der tatsächliche Undank ist in monarchischen Staaten ebensogroß wie im Scherbengericht der klassischen Demokratie. Mit den bisherigen Zielen erscheinen plötzlich auch die bis dahin gebilligten Mittel verwerflich. Im Mißtrauensvotum der modernen Parlamente ist diese jurisdiktionelle Funktion noch enthalten, aber ihres existenziellen Charakters entkleidet.

Schwierig und zerstörend wird pol. Ger. dann, wenn der Souverän gewechselt hat. In monarchischen Staaten ist dies im Fall des Thronwechsels durch das Prinzip der monarchischen Tradition seiner Schärfe weitgehend entkleidet. Wir sind allerdings heute geneigt, die Kontinuität monarchischer Staaten vom Standpunkt des gefestigten modernen Staatsapparats zu

|12|

überschätzen. Als Bardolf in Shakespeares Heinrich IV. Falstaff und Schaal die Nachricht vom Tode des Königs und der Thronbesteigung des Prinzen überbringt, erklärt er zu allererst dem Friedensrichter, daß sein Amt nun hinfällig sei. Erst Huldigung und Treueid schaffen die Kontinuität. Der traditionelle Rücktritt parlamentarischer Kabinette bei Neuwahl des Präsidenten, der weder im Wortlaut noch in der Konstruktion demokratischer Verfassungen eine Stütze hat, ist ein Überbleibsel davon. Einschneidend dagegen sind die Folgen der pol. Ger., wenn eine Revolution Erfolg hat. Nunmehr werden die bisherigen Machthaber und ihre Anhänger mit den Mitteln der pol. Ger. an den Maßstäben des neuen Systems gemessen. Die neue Souveränität ist nicht die legitime Erbin des alten, sondern erscheint als die wahre, die bis jetzt nur durch böse Machenschaften an der Ausübung ihrer Befugnisse gehindert worden war. Aus dem Faktum der Herrschaft wird der Rechtsanspruch ihrer zeitlosen vorrevolutionären Gültigkeit entwickelt. Die Staatsakte der vorangegangenen Herrschaft werden in ihrem Rechtsbestande angegriffen, wenn auch nur wenige ideologische Narren mit voller Konsequenz dies durchzuführen unternehmen. Aus der Fiktion des zeitlosen Bestandes, aus der vorzeitlichen Begründung erklärt sich beispielsweise die Bestrafung der unterlegenen stuarttreuen Kavaliere durch die siegreichen Puritaner. Durch jenen Bruch der Kontinuität tritt eine Staatsspaltung ein. Die sichtbare Kirche kann sich jedoch spalten, Ehen können geschieden werden, der Staat als umfassender Territorialverband allein verträgt eine solche Zerstörung nicht. Der Sinn der pol. Ger. ist deshalb Wiederherstellung der gestörten strittig gewordenen Staatsordnung durch Ausscheidung der störenden Elemente.

Der gerissene Treibriemen wird nach Abschneiden der brüchigen Stelle wieder genäht — wenn er auch damit verkürzt wird. Pol. Ger. ist daher ein Mittel der politischen Neuintegration wie das ordentliche Strafrecht Mittel der sittlichen Integration ist. Es handelt sich um die politische Zusammenfassung auf neuer Grundlage durch Ausscheidung des Störenden oder um den Schutz des Alten gegen feindliche Angriffe von außen oder innen. Pol. Ger. ist also auf Erhaltung oder Neubegründung der politischen Macht gerichtet, aber sie enthält nur die negative Seite dieses Vorgangs. Diese Neubegründung ist durch die Aufrichtung entsprechender politischer Verfassungsgesetze und durch die zwangsweise Verwirklichung dieser neuen politischen Ordnung durch das negative Mittel der pol. Ger. noch nicht vollzogen. Diese neue Ordnung ist in Wahrheit erst geschaffen, wenn sie den positiven Consensus, die Zustimmung der Gesamtheit, erlangt. Die bloße Abstimmung in einem Parlament verbürgt dies noch nicht, und der echte Consensus kann weder erzwungen noch korrumpiert werden. Ein solcher Vorgang vollzog sich in der glorreichen Revolution von 1688 in England. Der neue politische Consensus des englischen Volkes schloß die Stuarts von der Thronfolge, Dissenters und Katholiken von den öffentlichen Ämtern aus. Wäre die Zugehörigkeit zu diesen Gruppen nicht wegen der Öffentlichkeit des Kultus offenkundig gewesen, so hätte es eines politischen Status-Prozesses zur Feststellung bedurft, ob der einzelne amtsfähig war. Dit mit diesem Consensus zur politischen Ordnung erhobene Ausscheidung bestimmter Elemente ist erst nach 150 Jahren beseitigt worden, als die religiösen Gegensätze keine politische mehr waren. In jahrzehntelangen Wirren war eine volle Einigung der Nation nicht möglich gewesen, und so erkannte die Masse der Dissenters die Privilegierung der anglikanischen Staatskirche als unvermeidlich an, während die Torys auf das Prinzip der monarchischen Legitimität verzichteten. Dieser großartige doppelseitige Verzicht hat England vermöge des Gemeingeistes und Tatsachensinnes seines Volkes ein Jahrhundert politischer Kämpfe, ja vielleicht eine dauernde Spaltung erspart; nur die radikaleren Puritaner wanderten nach Amerika aus, während die Parteigänger der katholischen Stuarts weiter frondierten. Mit diesem Consensus hörte auch die Periode der pol. Ger. auf,

|13|

die Staatskrise war beendet. Der Gegensatz zwischen Anglikanern und Dissenters ermäßigte sieh auf den Parteigegensatz Zwischen Torys und Whigs.

Ist ein solcher Consensus, der eine bestimmte, untragbar gewordene Richtung ausschließt und eine neue Grundlage erhärtet, nicht zu erreichen, so wird die Spaltung und damit die pol. Ger. permanent. Im Gegenteil: erreicht die pol. Ger. keine Anerkennung der von ihr geschaffenen Abgrenzung, so muß sie progressiv immer weiter greifen. Diesem Gesetze der Progression und zugleich damit der Verschärfung unterliegt jede nicht vom Consensus getragene Gewaltherrschaft, bis sie entweder alle aktionsfähigen Gegner ausgetilgt hat oder dem Gewicht der sich steigernden Gegnerschaft erliegt. Ja mehr noch: aus der Unsicherheit ihrer Gewalt sucht sie immer fieberhafter und leidenschaftlicher nach Gegnern, stempelt die Menschen mangels einer solchen Gegnerschaft einfach zum Feind und endet im vollendeten Wahn. Die steigende Isolierung Cromwells im Verlauf seines Protektorats trieb ihn zu immer härteren Verfolgungsmaßnahmen. Als er starb, hatte er seine politische Grundlage schon fast aufgezehrt. Der Nationalsozialismus, der mit der Zustimmung der Nation den revolutionären Kommunismus mit den Mitteln der pol. Ger. unterdrückte, sah sich zehn Jahre später dem Staatsstreich seiner Generale gegenüber und endete mit dem Kriegsgericht aller gegen alle. Er begann schon sehr früh mit der Selbstzerstörung des Terrors. Nachdem er um die Gunst des Volkes mit ganz ungewöhnlichem Einfühlungsvermögen geworben hatte, verfolgte er im Besitz der Macht sofort die belanglosen Redereien der Waschfrauen als Staatsverbrechen. Dasselbe Gesetz der progressiven Steigerung ist auch in der französischen und russischen Revolution zu verzeichnen. Neben der Vernichtung der Gegner setzt in immer rigoroseren Formen die Säuberung der eigenen Reihen ein. Keine Buße, keine Selbsterniedrigung schützt vor der Vernichtung; wer gestern noch ein verschworener Mitkämpfer war, ist heute verdächtig, morgen ein verbrecherischer feindlicher Agent. Wenn der dynamische Vorgang der pol. Ger. nicht wieder zur Statik des Staates zurückführt, steigert er sich zur Selbstzerstörung.

Pol. Ger. hat also eine eigentümliche, ihr besonders innewohnende Gerechtigkeit. Wie der ordentliche Strafrichter durch Schwäche die Gemeinschaft, durch Härte den einzelnen zerstört, so auch die pol. Ger. Als politische Funktion ist sie unvermeidbar. Schneidet sie zu ängstlich, verfehlt sie ihren Zweck, schneidet sie zu weit, sind die von ihr gezogenen Grenzen falsch, so kommt sie nicht zu Ende, und der Patient verblutet. Der Weg des Richters ist immer schmal und führt durch die Enge des biblischen Nadelöhrs.

Diese schwierige Aufgabe in die Hände wild gewordener Spießer und rachsüchtiger Parteipolitiker zu legen, heißt allerdings, ein Kind mit einem offenen Rasiermesser spielen lassen. Aber über die geschulte leidenschaftslose Sachlichkeit des Juristen hinaus wird hier ein Urteilsvermögen erfordert, für welche die Jurisprudenz keine Anleitung bietet. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die billige Selbstberuhigung unserer Zeitgenossen, es handele sich bei den leidenschaftlich umkämpften Maßnahmen der Gegenwart auf diesem Gebiet um Übergangserscheinungen, einen richtigen Kern enthält. Es ist auch richtig, daß sich die falschen Grenzziehungen mit der Zeit von allein weitgehend korrigieren, — und es ist kindlich, hierin etwa eine neue teuflische Verschwörung der Nazis zu wittern. Trotzdem ist diese Auffassung eine gefährliche Verharmlosung des Problems. Entscheidend bleibt immer doch der politische Ansatz, von dem aus die Maßnahmen geschehen. Mit Recht hat deshalb der erste hessische Ministerpräsident Prof. Geiler die Entnazifizierung, wie sie angelegt wurde, als das schwerste Unglück bezeichnet, das die deutsche Demokratie treffen konnte. Wenn die eine Hälfte des Volkes die andere zu richten und damit zugleich die eine Hälfte der geistigen und

|14|

politischen Tradition auszutilgen versucht, muß pol. Ger. notwendig ihren berechtigten Zweck verfehlen; ein solches Unternehmen ist ein Zeichen der politischen Schizophrenie. Parteipolitische Verblendung der Deutschen und machtpolitisches Interesse der Besatzungsmächte haben dabei verhängnisvoll zusammengewirkt. Politisches Handeln als begriffliche freies Handeln kann im übrigen überhaupt nur frei beurteilt werden. Wenn das Schwert des Brennus in der Waagschale der Justitia liegt, kann man mit richtigen Urteilen nicht mehr rechnen.

Was nun auf der Ebene grundsätzlicher Betrachtung des Problems als Hauptfrage übrigbleibt, ist nach dem Gesagten die Frage der Legitimation der pol. Ger. Pol. Ger. wird immer im Namen einer bestimmten Macht ausgeübt. Aber nicht der bloße faktische Besitz der politischen Macht ist es, welcher diese Macht rechtfertigt. Das ist ein grundlegender psychologischer Irrtum. Es gibt keine Macht, die sich nicht selbst als Repräsentation eines höheren Prinzips legitimiert. Selbst die besseren Räuber versuchen das noch — und Räuber können im allgemeinen nur deswegen keinen Staat errichten, weil sie kein gutes Gewissen haben, nämlich nichts, worauf sie sich berufen können. Diese Doppelung von Sein und Bewußtsein hängt dem Menschen unaufhebbar an — und zwar ohne Rücksicht auf den Inhalt dieses legitimierenden Bewußtseins. Von diesem Gesetz kann sich auch der radikalste Atheist nur frei machen, indem er darauf verzichtet, überhaupt geschichtlich zu handeln, und damit zum reinen Objekt wird; auch er wechselt nur den Glaubensinhalt, wenn er den Gottesglauben abwirft.

So rechtfertigt sich notwendig jede Monarchie aus der Schöpfungsgnade Gottes, die die natürliche Besonderheit ihres Volkes und die geschichtliche Macht dieses Hauses begründet hat. Die Monarchie ist notwendig immer von Gottes Gnaden. Die demokratischen Nationalstaaten zehren bis in die Gegenwart von der monarchischen Legitimität, ohne ihre Quellen noch anzuerkennen. In wessen Namen aber wird pol. Ger. ausgeübt, wenn der eine Teil des Volkes den anderen richtend in Anspruch nimmt? Die Souveränität steht dem ganzen Volke zu. Mit welchem Recht kann der eine Teil dem anderen den Anteil an dieser Souveränität nach Substanz und Ausübung aberkennen? Da es sich regelmäßig um große Volksteile handelt, kann die Fiktion nur schwer aufrechterhalten werden, daß nur die bösen Elemente, die Verführer und Verschwörer, ausgeschieden werden. Da die subjektive Berechtigung freien politischen Handelns schwer bestritten werden kann, „das Recht auf Irrtum” bleibt, liegt die Entwicklung zu prädestinatarischen Vorstellungen nahe. Es sind die weniger subjektiv als existenziell Bösen. Hier liegt der Umschlag, wo politische Gegensätze zu pseudoreligiösen werden. Alle rationalen Glaubensformen enden in der Lehre von der Prädestination.

Je mehr die Reste institutionell-traditionalen Denkens ausgeschieden werden, desto deutlicher tritt hervor, daß die moderne Demokratie ihre Legitimation aus einer bestimmten Idee, einem Ideensystem, einer Ideologie ebenso herleitet wie das Königtum die seinige aus der personalen Gnade Gottes. Damit in Übereinstimmung steht die Tendenz zur Rückbildung nationaler Besonderheiten im Herrschaftsbereich der großen politischen Ideologien. Die Idee der autonomen Humanität auf der westlichen Seite läßt dabei der Entfaltung der Individualität mehr Raum als die Ideologie der Diktatur des Proletariats, als des wahren Menschen, auf der östlichen Seite. Die Dichte ist verschieden, das Prinzip ist das gleiche.

Aus der Legitimation durch ein absolutes und universales Prinzip ergibt sich zugleich die innere Notwendigkeit, die Herrschaft dieses Prinzips und damit auch die daraus abgeleiteten politischen Verpflichtungen als sittlich

|15|

absolute, zeitlose aufzufassen und zu verfechten. Bismarck konnte noch sagen, er sei seinem König treu bis in die Vendée, aber gegen andere Fürsten fühle er keine Verbindlichkeit, und konnte ablehnen, aus der monarchischen Legitimität ein politisches Prinzip für andere Länder zu machen. Für die Demokratie ist Toleranz gegen andere Staatsformen bereits ein Sündenfall, eine Preisgabe des Prinzips. Aus diesen Gründen wird Franco international nicht anerkannt im Gegensatz zur Sowjetunion, weil diese sich formell aus der demokratischen Theorie legitimiert.

Von diesen Erkenntnissen her gewinnt auch die Nürnberger internationale Gerichtsbarkeit ein neues Gesicht. Dort wurden die Religions- und Majestätsverbrechen einer neuen Epoche abgeurteilt. Beides fällt bezeichnenderweise dabei zusammen. In dieser Richtung liegt auch das Kontrollratsgesetz 10 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). Immer aber handelt es sich dabei um eine Gerichtsbarkeit nicht im Namen eines abstrakten leiblosen Rechtsbegriffs, sondern um Gerichtsbarkeit im Namen einer bestimmten Macht oder Gruppe von Mächten, die ihre Gerichtshoheit vereinigen. Daß der Versuch in diesem Stile als Weltgerichtsbarkeit unternommen werden konnte, lag daran, daß damals noch die schönen Täuschungen der Westmächte über eine Gemeinsamkeit mit den Sowjetrussen bestand und Deutschland in einer für die Geschichte der europäischen Mächte noch nicht dagewesenen Weise seiner Souveränität beraubt war. Man schuf in Wahrheit kein für alle Menschen kraft ihrer Menschqualität gültiges Weltrecht, sondern erneuerte in weltlicher Form den Anspruch des Heiligen Römischen Reiches auf universale Gültigkeit seiner Friedensordnung — oder besser den Herrschaftsanspruch einer neuen „Heiligen Allianz”. Die Legitimation dieses Anspruches beruhte indessen nicht a priori auf jener religiösen Tradition, sondern a posteriori auf dem Consensus der demokratischen Völker. Diesem Consensus hatte das Hitler-Regime durch den Völkermord am Judentum einen vorübergehend stark wirksamen, aber doch nur begrenzten Auftrieb verliehen. Ob aber ein einzelnes Volk oder eine Völkergruppe sich als Verkörperung eines höchsten Prinzips ansieht und daraus eine Gerichtshoheit rechtfertigt, ist im Prinzip gleichgültig. Von echter Universalität sind sie alle trotz der Rationalisierung der Begriffe gleichweit entfernt. Der Anspruch, Weltgericht zu sein, erklärt sich in der geschilderten grundsätzlichen Weise. Wenn auch damit noch nicht der für unser Gerechtigkeitsempfinden unerträgliche Widerspruch zwischen Machtwillen und Rechtsidee aufgehoben ist, so findet der Vorgang damit wenigstens phänomenologisch seine Aufhellung.

Damit aber gewinnt pol. Ger. einen ausgesprochenen theologischen Hintergrund.