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I.

Eine ökumenische Erörterung des Problems der Menschenrechte muß von drei Gesichtspunkte ausgehen:

Erstens: Sie hat keinen Sinn als rein persönliches Gedankengebäude, sondern nur Bedeutung als Glaubensaussage — ohne diesen Charakter würde sie der echten Verbindlichkeit und damit der praktischen Bedeutung entbehren.

Zweitens: Obwohl der deutsche Beitrag zum ökumenischen Gespräch nur der des Luthertums und des kontinentalen Calvinismus sein kann, müssen wir in vollen Umfange in Betracht ziehen und vergleichend berücksichtigen, was in der geistigen Entwicklung von Jahrhunderten auf dem Boden der großen christlichen Konfessionen gedacht und geschaffen worden ist.

Drittens: Mit rücksichtsloser Selbstkritik und illusionsloser Nüchternheit müssen wir die Staatspraxis der modernen Staaten, der Stand der Rechtsentwicklung und ihre Tendenzen ins Auge fassen. Ohne eine solche Analyse verlieren wir den Boden unter den Füßen. Man kann der gegenwärtigen Rechtswissenschaft nicht den Vorwurf ersparen, daß sie uns hierbei fast völlig im Stiche läßt. Weit schlimmer als ihre vielberufene positivistische Korruption — hinter der sich zuweilen noch ein echtes Wissen um die Wirklichkeit des Recht verbirgt — ist ihre idealistische Verblendung. Solange sie von der papiernen

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Fiktion ausgeht, daß das gesetzte Recht mit der Rechtswirklichkeit übereinstimme, — oder nur durch die Schlechtigkeit der Menschen und bedauerliche, aber vorübergehende Zeitumstände in seiner Geltung behindert werde, bewegt sie sich im Nebel einer leeren Begrifflichkeit. Das Mißverhältnis zwischen Rechtslehre und Rechtswirklichkeit ist unerträglich geworden. Die Verfallserscheinungen der europäischen Rechtskultur wissenschaftlich zu verarbeiten, ist eine dringliche Aufgabe ersten Ranges — und zugleich eines der wenigen bleibenden Mittel, diesem Verfall entgegenzuarbeiten. Zum Studium der Rechtswissenschaft gehört heute zugleich ein Studium der Unrechtswissenschaft. Die Geschichte der Medizin berichtet von heroischen Ärzten, die mit verlöschender Kraft die Symptome ihres eigenen Todeskampfes aufzeichneten, um ihrem Berufe zu dienen. Ist die Agonie der Rechtswissenschaft so weit fortgeschritten, daß sie das gleiche — sei es auch im Konzentrations- oder Internierungslager — nicht mehr vermag, oder lebt sie in einer so starken Euphorie, daß sie die schwersten Symptome bagatellisiert wie ein Todkranker, der seine Genesung stündlich erwartet?

 

II.

Die Staatspraxis der weißen Völker befindet sich seit dreißig Jahren, seit dem Ausbruch der

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bolschewistischen Revolution und dem Sturze der vier großen europäischen Monarchien, in einer reißenden Umformung, in einer Entwicklung, die man nur als Bergrutsch bezeichnen kann, einer lawinenartigen Bewegung großer Massen, die alles unter sich begräbt, was auf ihrem Wege steht. Wenn man die Methoden vergleicht, mit denen die großen Kriege 1870, 1914 und 1939 von beiden Seiten geführt worden sind, sieht man schon etwas von dieser Tendenz. Der totalen Einbeziehung der Existenz des Menschen in den Krieg, der Aufhebung jeder privaten Lebens- und Rechtssphäre entspricht die Verneinung des rechtlichen und agonalen Charakters des Krieges. Die Ächtung des Krieges hat ihn nicht verhindert, aber in steigendem Maße seiner Rechtsform beraubt. Doch alle diese Erscheinungen sind wesentlich tiefer begründet — aber sie entspringen aus einer und derselben Wurzel. Bei ihrer Ableitung ist von besonderer Wichtigkeit, zwischen bloßen Entartungserscheinungen, Exzessen und Verbrechen einzelner und der Massen einerseits und echten, grundsätzlich bedeutsamen Erscheinungen andererseits sauber zu unterscheiden. Um völlig auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben: die Vergewaltigung von hunderttausend Frauen kann man noch als Exzeß werten; die planmäßige, wenn auch nur tropfenweise Vernichtung der Intelligenz eines Volkes ist ein echtes Symptom. Nur bei so realer Betrachtung der Gegebenheiten lohnt es sich überhaupt, über

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diese Dinge zu sprechen. Es geht nicht darum, in der Haltung von Klageweibern die Schlechtigkeit der Menschen zu beweinen, sondern mit klaren Erkenntnissen geschichtlichen Entwicklungen gegenüberzustehen.

Die grundsätzlichen Merkmale dieser Staatspraxis der Gegenwart in Krieg und Frieden lassen sich in sechs Hauptpunkten zusammenfassen.

1. Ein in den Vereinigten Staaten erschienenes Buch „Nichts als ihre Ketten” schildert auf Grund dokumentarischen Materials die Verhältnisse in Zwangsarbeitslagern der Sowjetunion. In diesen Lagern — hauptsächlich in Sibirien — leben zehn bis vierzehn Millionen Menschen. Ihr Unterhalt kostet den Sowjetstaat mit 500 Rubel im Jahr pro Kopf nur ein Drittel des auf 1500 Rubel berechneten, schon außerordentlich niedrigen Durchschnittseinkommens des russischen Arbeiters. Aus diesen Lagern komt nur sehr selten wieder jemand lebend heraus. Die Frauen, die dort leben, empfangen und gebären nur deshalb Kinder, um für ein Jahr eine gewisse Schonung zu genießen, nach deren Ablauf ihnen die Kinder für immer weggenommen und sie selbst in die alte Hölle zurückgestoßen werden. Es ist die industrielle Reservearmee der Sowjetunion, größer als das Arbeitslosenheer irgendeines Staates, auf die das proletarische Schicksal mit brutaler Konsequenz in potenzierter Form abgewälzt ist. Sie werden nicht vergast, nicht getötet, sondern als nackte Arbeitskraft bis zum

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Tode aufgebraucht, ökonomisch vernutzt wie ein Zugvieh ohne Schlachtwert.

2. In den Vernichtungslagern des Nationalsozialismus sind Millionen von Menschen bestimmter Kategorien mit allen Mitteln moderner Technik getötet worden, ein Teil von ihnen, nachdem sie oder indem sie zum biologischen Experiment benutzt worden waren, wie Insekten, die man zum Versuch anwendet, dann aber beseitigt, damit sie keinen Schaden stiften.

Beide Erscheinungen sind trotz der Härte geschichtlicher Kämpfe aller Zeiten in ihrer Grundsätzlichkeit, Planmäßigkeit und Ausdehnung neu. Die Tatsache aber, daß in beiden Fällen der Wert des Menschen grundsätzlich verneint worden ist und verneint wird, hat in einer verhängnisvollen Weise die Frage ausgeschaltet, wer dieser Vernichtung anheimfällt und warum dies geschieht.

Wer sitzt dort in Sibirien? Es sind die Reste des Bürgertums, des selbständigen Bauerntums, es sind ungezählte Menschen aller Schichten, die irgendwie als Gegner des Systems erscheinen, die auf Grund oft sehr willkürlicher, ja völlig wahnhafter Vorstellungen als Saboteure betrachtet, ja dazu erst nach Bedarf gestempelt werden. Eine harmlose Beziehung zum Ausland, ein freundliches Wort einer ausländischen Diplomatenfrau kann genügen, um verdächtig zu erscheinen und zu verschwinden. Überall in Rußland konnte man Frauen aller Alter ohne Männer treffen. Diese Männer

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waren nicht im Krieg. Sie waren längst vor dem Kriege aus schwer feststellbaren Gründen eines Tages abgeholt worden — die Frauen berichteten es mit der klaglosen Selbstverständlichkeit des östlichen Menschen. Aber auch dies ist eine rechtswissenschaftlich umschreibbare Erscheinung: die Generalprävention, die Abschreckung jeder denkbaren Gerechtigkeitsidee, ist durch einen kollektiven Terror ersetzt oder zum mindesten ergänzt. Daß mit diesem System nicht der kriminelle Verbrecher gemeint ist, zeigt eine in jenem Buche wiedergegebene, sehr kennzeichnende Äußerung eines hohen Sowjetfunktionärs zu einer Gruppe von Verbrechern: „Ihr seid nicht Feinde des Sowjetstaates, denn unter euch sind keine Söhne von Kapitalisten.” Diese sind es, die als das Böse schlechthin vernichtet werden sollen, indem sie zugleich im Sinne der Weltanschauung des geschichtlichen Materialismus bis zum Tode wirtschaftlich nutzbar gemacht werden. So ist wie alles in diesem System auch die Vernichtung des Gegners in ökonomische Form gebracht.

Mit anderen Vorzeichen ist genau das Gleich im Nationalsozialismus während des Krieges geschehen. Das Judentum als das „Ferment der Dekomposition”, der Zersetzung der ursprünglichen und freien Völker, als der geistige Ursprung aller überstaatlichen Mächte, des Christentums wie der feindlichen Brüder des Kapitalismus und Marxismus, muß nach seiner Lehre ebenso vernichtet

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werden, und mit ihm alles, was im Umkreis der Nachbarvölker und im eigenen Volke entartet und minderwertig erscheint. Dem Weltanschauungsprinzip des biologischen Lebenskampfes entsprechend wird das lebensunwerte Leben dem lebenswerten aufgeopfert, im Experiment gebraucht und vernichtet.

Beide Systeme sind nur als Ersatzreligionen zu verstehen; sie tragen alle psychologischen und soziologischen Merkmale der Religionsgemeinschaft an sich. Es war daher ein grundlegendes Mißverständnis aller bürgerlichen Politiker, anzunehmen, man könne ein derartiges System zur Erreichung bestimmter Ziele gebrauchen und mißbrauchen — so wurden sie selbst umgekehrt mißbraucht. Vor und nach 1945 hat die Glaubenslosigkeit der bürgerlichen Welt diese Erscheinungen nicht begriffen und deshalb völlig mißdeutet.

In beiden Systemen ist der Mensch entweder durch seine Klassenzugehörigkeit oder durch seine Rassenzugehörigkeit positiv oder negativ determiniert. Der Proletarier, der Arier ist als solcher gut, der Jude, der Kapitalist ebenso radikal böse — und deshalb zu vernichten. In die Gruppe der zu Vernichtenden aber gehören darüber hinaus alle diejenigen, die das ihnen verliehene Heil verleugnet, es von sich gestoßen, sich aktiv oder gesinnungsmäßig gegen die Heilslehre gewendet haben — nach einem Grundsatz allen Glaubens wird jede Sünde vergeben, nur nicht diejenige gegen den

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Geist. Der tiefe Haß gegen den Gebildeten wie den Intellektuellen ist nicht allein ein Merkmal der „Revolution der Unteroffiziere”, sondern viel größer ist die Verachtung des Ungläubigen, der die ihm zufallende geistige Mission verleugnet hat. Und ebenso wird erst jetzt klar, warum zum mindesten im Bolschewismus der kriminelle Verbrecher von diesem Vernichtungssystem nicht betroffen wird. Auch der Nationalsozialismus hat die Vernichtung des Judentums und seiner politischen Gegner der Vernichtung des Verbrechertums trotz dessen biologischer Belastung vorangestellt.

Die Vernichtung aber ist im Sinne dieser Ersatzreligionen ein echtes Heilsmittel. Ohne dieses Opfer des gegenständlich verkörperten Bösen kann der wahre Mensch, der Proletarier wie der Arier, nicht in Freiheit und Schönheit existieren. Die Selbsterlösung des Menschen wird hier in einem riesenhaften Menschenopfer durch die Austilgung des Bösen aus der Welt versucht.

So unterliegen diese Erscheinungen auch dem religionssoziologischen Gesetze der Arkandisziplin, und zwar einer doppelten, einer bewußten und einer unbewußten. Die Heilsmittel einer jeden echten Religion sind anstößig — wo eine Religion nicht mehr anstößig ist, ist sie keine Religion mehr. Auch das Christentum lebt von dem, dem Moralisten ganz unverständlichen Skandal des Kreuzestodes Christi und nichts anderem. Die

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neuere Bibelexegese zeigt, daß wir von dem Sakramentsgottesdienst der Urgemeinde deswegen so verhältnismäßig wenig wissen, weil diese Dinge lange Zeit streng geheim gehalten wurden. So werden auch die Heilsmittel dieser Ersatzreligion der profanen Kritik der Entweihung durch das Unverständnis der Außenstehenden, der ungläubigen Welt entzogen. Auch die offenkundigsten Wahrheiten des Glaubens werden nach der Schrift von den Ungläubigen mit sehenden Augen nicht gesehen, mit hörenden Ohren nicht gehört und also nur töricht gestört und befleckt. Man scheut sich gar nicht, diesen Glauben zu bekennen; man ist von der Notwendigkeit dieser Opfer tief überzeugt. Nichts ist verkehrter als die Annahme, daß diese Maßnahmen mit schlechtem Gewissen, nicht aus einer radikalen Überzeugung, durchgeführt wurden und werden.

So wird bewußt ein raffiniertes System der Tarnung um das alles gezogen, ein eiserner Vorhang, auch mitten im Lande; zugleich aber befinden sich überall in aller Welt die Gläubigen dieser Heilslehre in einem unbewußten, selbstverständlichen, instinktiven Rapport, der ihnen befiehlt und zugleich ermöglicht, alle diese Erscheinungen mit Entrüstung abzuleugnen, zu bagatellisieren und zu verdecken. Eine Verschwörung des Schweigens verbindet von Wladiwostok bis San Franzisko die Gläubigen dieser Lehre — von der Größe des kommenden Heils verblassen die Martern der geopferten

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Millionen —, und unbedenklich ist man bereit, noch weitere zu opfern.

3. Mit dem Zerfall der großen europäischen Monarchien, die einschließlich Rußlands und der Türkei sämtlich in mehr oder minder hohem Grade Vielvölkerstaaten waren, ist erst das europäische Nationalitätenproblem zur vollen Reife gekommen. Die Versuche des Völkerbundes, es zu lösen, sind vollständig gescheitert. Er versuchte individualistisch dem Einzelnen das Recht auf die Freiheit der Muttersprache, der Kultur, der Religionsübung und das Eigentum zu sichern. Die deutsche Nationalitätenpolitik, die durch die weite Verstreuung des deutschen Volkes durch ganz Osteuropa an dieser Frage besonders interessiert war, versuchte die Volksgruppen als Einheiten körperschaftlich innerhalb der national gemischten Staatsverbände zu befestigen. Beides hat sich in der Gegenwart als gleichermaßen unmöglich erwiesen. Das Nationalitätenproblem wird in der Gegenwart nur mit großer Verlegenheit betrachtet und von den meisten der Sachkundigen ebenso wie von maßgebenden Persönlichkeiten aus dem Kreise der UNO offen als unlösbar bezeichnet.

An die Stelle eines fragwürdigen und durch die Verwaltungspraxis immer totaler werdender Staaten rettungslos durchlöcherten Minderheitenschutzes tritt überall der sogenannte Austausch, praktisch die Austreibung von Millionenmassen. Diese Erscheinung geht von den gegenseitigen Austreibungen

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der Griechen und Türken 1922 über die Austreibung der Bevölkerung Ostdeutschlands bis in die Gegenwart. Es sind Völkerbewegungen im Gange, wie sie Europa seit der Völkerwanderung nicht mehr gekannt hat. Es ist bei diesen Austreibungen gleichgültig geworden, ob sich die betreffende Bevölkerung in ihrem Gebiete in einer erdrückenden Mehrheit befindet und in rechtlich und geschichtlich unangefochtenem Besitz befindet; die Zuweisung an den Staat eines anderen Staatsvolkes bedingt schon die Ausschließung. Ebenso ist es bedeutungslos, welches Verfassungssystem in diesem Lande herrscht, ob ein totalitäres oder ein liberales. — Der Rechtsschutz wird nur dem eigenen Vollbürger gewährt.

Diese Austreibung bedeutet für den Betroffenen nicht allein den Verlust seiner Heimat, seines Grundbesitzes und seiner wirtschaftlichen Existenz, sondern seine gesamte Rechtsposition wird auf das reduziert, was er am Leibe und im Handgepäck mit sich trägt. Alles was darüber hinausgeht, auch an beweglicher Habe, wird mit Selbstverständlichkeit als Zubehör des Landes betrachtet und zurückbehalten. Alle bisherigen europäischen Begriffe von Recht und Eigentum sind vollständig aufgehoben. Diese Entwicklung hat mit der Massenexmission von Polen aus ihren Wohnungen in Posen 1939 eine besondere Form angenommen und hat

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sich in den Erscheinungen von 1945 bis in die Gegenwart fortgesetzt. Wer aber einmal im KZ., in der Gefangenschaft oder Internierung erlebt hat, wie geradezu ein innerer psychologischer Zwang das Bewachungspersonal aller Dienstgrade dazu treibt, durch Wegnahme alles dessen, was über das Existenzminimum hinausgeht, den Häftling in seine echte Rechtsposition einzuweisen, wie sehr sie jeden weiteren Besitz als Anmaßung empfinden, wird das Grundsätzliche dieser Erscheinung leicht verstehen. Entgegen den bisherigen europäischen Rechtsanschauungen, die vom dinglichen Recht des Menschen am einzelnen Gegenstand ausgingen, erscheint nunmehr das Eigentumsrecht in vollem Umfange als ein Ausfluß des politischen Status des Menschen, einer bestimmten personenrechtlichen Stellung. Nicht die positive Privilegierung gewährleistet dem Menschen wie im Mittelalter die Rechtsstellung, sondern die negative raubt sie ihm. Der bürgerliche Rechtsstaat, der beides ausschloß, erscheint uns heute nur als ein Durchgangspunkt in der Entwicklung, in der Spannung zwischen einem positiven und einem negativen Pol. Die ganz unbedenkliche Bereitschaft auch sonst ganz einsichtiger und gemäßigter Leute, durch strafweise Vermögenskonfiskation bei allen möglichen Delikten diese Entwicklung weiterzutreiben, zeigt, wie tief sich diese totalitäre Rechtstendenz trotz aller lauten Bekämpfung des Totalitarismus eingefressen hat. Der Mensch ist dem Menschen

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so sehr Feind, Wolf unter Wölfen geworden, daß die modernen Staaten Raubtierzwingern gleichen, hinter deren gutgesichterten Gittern jede Gattung vorsichtig für sich gehalten wird.

Das größte Beispiel dieser Tendenz, die Austreibung der Bevölkerung Ostdeutschlands, indessen hat noch einen aktiven, über die bloße Trennung und Verneinung hinausgehenden Sinn. Von jeher hat der Bolschewismus die Beherrschung Deutschlands als die entscheidende Voraussetzung seines weltgeschichtlichen Sieges, seiner Durchsetzung auf der ganzen Welt angesehen, so sehr, daß Lenin zweifelte, ob nicht Deutschland vor Rußland bolschewisiert werden müsse: das einzige Mittel hierzu ist die Zerstörung seiner sozialen Struktur. Erst wenn selbst der kleinbürgerliche Besitz des Arbeiters schon als ein Privileg erscheint, ist dieses Ziel erreichbar. So hat man in eiskalter Berechnung die entrechteten Millionenmassen als ein fast unlösbares soziales Problem, als einen lebendigen Dynamit des Hasses, als ein ungeheures trojanisches Pferd in die Räume hineingepreßt, die man sonst weder militärisch noch geistig zu erreichen vermochte. Die Verantwortung der westlichen Politiker, die dem zugestimmt haben, vor der Geschichte ist ungeheuerlich. Es handelt sich nicht um nationale oder Klassenansprüche, sondern um die Zukunft der europäischen Kultur. Erst so aber gewinnen wir auch den Blick für die ganze Größe der uns gestellten Aufgabe, einer Lage Herr zu

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werden, durch die wir über alle Maßen versucht und überfordert werden. Es gilt dieses teuflischen Anschlag zunichte zu machen. Der totalen Entrechtung aber kann nur mit der Schaffung neuen Rechts entgegengetreten werden.

4. Parallel aber mit der Austreibung der Minderheiten geht eine ideologische Aufspaltung der Staatsvölker selbst. Die totalitär regierten Staaten im engeren Sinne haben heute eine Massenemigration außerhalb des Landes sitzen — weil es lebensgefährlich ist, im Lande zu bleiben —, die sich meistens in der Form der Exilregierung politisch organisiert. Daneben aber sind in allen kontinentalen Völkern ohne Rücksicht auf die Regierungsform große, von den politischen Rechten mehr oder minder weitgehend ausgeschlossene Minderheiten diskriminierter Personen vorhanden. Es entstehen Staatsbürgerschaften erster und zweiter Klasse mit Zwischenstufen: Wir leben im Zeitalter der Proskriptionen — und dieser Zustand ist zuweilen schon in der Verfassung verankert. Die Einheitsweltanschauung des Faschismus hat zu einer Zerspaltung geführt und setzt sich im Antifaschismus aller Länder mit umgekehrtem Vorzeichen fort. Die rechtlichen Erscheinungsformen gleichen fast völlig der der Austreibung der Nationalen Minderheiten. Die Selbstverständlichkeit, mit der im Kriege der nationale, nach dem Kriege der politische Gegner auf Grund einer einfachen Verwaltungsverfügung und weitgehend auch ohne eine solche aus seiner Wohnung

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mitsamt der Einrichtung, also nicht dem Produktiveigentum, sondern aus dem bisher am stärksten geschützten persönlichen Eigentum im engeren Sinne, darüber hinaus aber auch aus dem Produktiveigentum herausgesetzt wird, ist rechtsgeschichtlich überaus kennzeichnend. Aber ebenso kennzeichnend ist, daß diese Erscheinungen als Ausnahmen und Übergangserscheinungen vor und nach 1945 bagatellisiert und aus dem Bewußtsein verdrängt wurden und werden.

5. In Europa ist eine neue Form der Staatssklaverei entstanden. Die Zwangsrekrutierung von Millionenmassen zur Rüstungsarbeit war ein erster Anfang, den man allenfalls noch als Kriegserscheinung werten konnte, wenn er nicht auch schon in der Form von allen früheren Erscheinungen abwiche. Aber inzwischen hat sich diese Erscheinung fortgepflanzt. Die Festhaltung der Kriegsgefangenen hat sich von anderthalb Jahren nach dem ersten Weltkriege und dreieinhalb Jahre nach dem zweiten — wenn alles gut geht — verlängert. Die militärischen Gesichtspunkte treten immer mehr zurück und wirtschaftliche hervor. Die Arbeit der Kriegsgefangenen wird zu menschlichen Reparationen. Facharbeiter und Gelehrte werden zur Kriegsbeute wie vordem Geschütze und Kriegskasse. Darüber hinaus aber werden bei jenen Massenaustreibungen wertvolle Arbeitskräfte zwangsweise und unter willkürlicher Verlegung des Arbeitsplatzes in Lagern als Arbeitssklaven

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zurückbehalten. Hierin kommt jenes Symptom am klarsten zum Ausdruck.

6. Die letzte Erscheinung in diesem Zusammenhang ist die der gelenkten Demokratie. Unter formale Aufrechterhaltung der Entscheidungsfreiheit wird diese inhaltlich begrenzt. Durch die Privilegierung bestimmter Parteien, durch die Ausschaltung bestimmter Führungsschichten, durch die raffinierte Formulierung von Plebiszitfragen, die den Volkswillen verfälschen und doch kein Nein offenlassen, durch die Beherrschung der Nachrichtenmittel wird die gewünschte politische Erscheinung herbeigeführt. Das freie Spiel der Meinungen führte bisher zu einem kaleidoskopartigen Kreis, in dem sich die Extreme berührten, aber unbeschadet des Schwerpunkts der Mehrheitsentscheidung jede Möglichkeit zur Wahl stand. Nunmehr ist der Kreis zu einem Ausschnitt bestimmter Farben zusammengeschrumpft und verengt.

 

III.

Jene sechs kennzeichnenden Merkmale der modernen Staatspraxis lassen sich unschwer in zwei Gruppen aufgliedern. Die ersten beiden Gruppen schließen die physische Vernichtung des Menschen ein, die übrigen gehen bis an den Rand derselben unter Reduzierung der Rechtsposition auf die Erhaltung und Respektierung der bloßen Existenz; des notdürftigen Besitzes; des formalen freien Willens, der

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berühmten Freiheit, zu verkommen und zu verhungern; jener Scheinfreiheit der kapitalistischen Monopole, die die sozialistische Arbeiterschaft mit Recht von jeher dem bürgerlichen Liberalismus vorgehalten hat, um im Besitze der Macht dann selbst nur allzugern brutal das Monopol des Arbeitsplatzes und der Einheitsorganisation durchzusetzen. Die Grenzen zwischen beiden Erscheinungen sind sehr deutlich: Überall, wo beispielsweise in Ostdeutschland bei den Vertreibungen Exzesse durch tatsächliche Antastungen des Menschen begangen wurden, haben die westlichen Großmächte, durchaus nicht ohne Erfolg, interveniert. Die Tatsache der Austreibungen selbst wurde gebilligt und geduldet. Die Rassenpolitik der Nationalsozialisten bewegte sich von 1933 bis 1939 ohne allgemeine Versuche der Vernichtung in der Richtung auf die Austreibung auf dem Verwaltungs- und Gesetzgebungswege, so daß bis zu diesem Zeitpunkt etwa die Hälfte der Juden Deutschland verließ. In einer grundsätzlich neuen, zweiten Phase setzten im Kriege erst die Vernichtungsaktionen ein.

Wo liegen nun die spezifischen Merkmale beider Erscheinungsgruppen? Wo eine deterministische Lehre vom Menschen herrscht, ist damit zugleich auch die Vorstellung des gegenständlich Bösen in Gestalt negativ determinierter Menschengruppen gegeben, die vernichtet werden müssen und denen gegenüber Gnade Schwäche ist. Wo eine Weltanschauung auf dem Dogma von freien Menschen,

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vom Liberum arbitrium herrscht, kann seine nackte Existenzberechtigung nicht prinzipiell und allgemein verneint werden.

Die jeweilige Anthropologie der herrschenden Weltanschauung bestimmt den Grad der von der öffentlichen Meinung gebilligten oder wenigstens unwidersprochen geduldeten Machtanwendung des modernen Staates gegen den Menschen. Der gewiß wichtige, aber doch auch wieder nur schmale Gradunterschied zwischen Vernichtung und totaler Entrechtung zeigt andererseits, daß es sich nur um Sonderformationen derselben Entwicklungsrichtung, Teilkonfessionen der gleichen Religion handelt. In der Tat geht, wie sich insbesondere an der dogmatischen Entwicklung des modernen Strafrechtes wie an den unter Ziffer 6 geschilderten Erscheinungen zeigen läßt, die innere Entwicklung auch der indeterministischen Weltanschauung in tiefer Inkonsequenz, aber doch zwangsläufig in Richtung auf einen beschränkten Determinismus. Der Versuch der Selbsterlösung, das Unternehmen, das Böse sichtbar in der Welt und diesseitig zu überwinden, ist das gemeinsame Merkmal aller säkularen, aller Diesseitsreligion. Die jeweilige Anthropologie der verschiedenen Teilkonfessionen des Säkularismus, der modernen Ersatzreligionen des Rationalismus, des Naturalismus und des Materialismus, reichen andererseits vollkommen aus, um die Richtung der modernen Staatspraxis, ihre eigentümlichen Grenzwerte einleuchtend zu erklären.

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Ich muß daher die früher auch von mir vertretene Auffassung aufgeben, daß für die Rechtsentwicklung der Gegenwart noch in einem wesentlichen Maße der verschiedene Grad der Ablösung christlicher Moral- und Rechtsbegriffe bestimmend sei. Hier wie grundsätzlich und überall folgt einer bestimmten Rechtfertigungsdogmatik eine bestimmte Dogmatik und Praxis des Rechtes. Jene Erscheinungen wie diese grundsätzliche Erkenntnis bedürfen jedoch noch einer genaueren gedanklichen Ableitung.

 

IV.

Diese Entwicklung ist gewiß nicht im Sinne ihrer geistigen Väter: es ist jedoch vom Ursprung an der Liberalismus ein Teil jener Kraft, die stets das Gute will und doch das Böse schafft — die gewaltige ethische Anstrengung der Selbsterlösung der Menschheit, gleichviel durch welche Heilslehre, führt um so sicherer zur Selbstzerstörung. Der Kampf für die Freiheit des einzelnen und gegen die Autorität führte zur absoluten Massendemokratie, der Kampf für die Freiheit der Völker und gegen alle universalen Bindungen führte zum totalen Siege des Prinzips der Nationalreligion und des Satzes „Auge um Auge, Zahn um Zahn”, der Kampf gegen die knechtende Unterordnung des Menschen unter die Arbeitsteilung machte ihn zum seelenlosen Spezialisten eines gigantischen Staatskapitalismus.

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Der Kampf der Gesetzesreligionen aller Richtungen und der Diesseitsgläubigen gegen die Religion der Liebe der Monophysiten gegen die Trinitarier, und ihr Sieg hat die Menschheit zu einem gnadenlosen Haufen, einer massa perditionis, gemacht. Die hochzivilisierten Primitiven von heute, die nur noch in Schwarz und Weiß, Böse und Gut zu denken vermögen, zerstören mit tödlicher Folgerichtigkeit alles, was der Menschheit seit Jahrtausenden an tieferen Einsichten geschenkt worden ist — und sich selbst. Wie harmlos und wie fern erscheint uns demgegenüber die Tragödie Faust’s, in der noch unsere Großväter die tiefste Deutung menschlichen Schicksals gestaltet sahen. Um das selbstbereitete Inferno der gegenwärtigen Menschheit zu schildern, bedürfte es mehr als eines Goethe oder eines Dante der visionären Kraft des greisen Johannes im Zwangsarbeitslager von Patmos. Noch keines Dichters und Sehers Mund hat auszusagen vermocht, was die gegenwärtige Menschheit an sich selbst leidet.

Die Lehre von den Menschenrechten ist in der Geschichte des christlichen Staatsdenkens erst sehr spät aufgetreten. Die Heilige Schrift enthält nichts von ihnen — sie kennt Gebote — sie weiß von einer göttlichen und einer menschlichen Gerechtigkeit — aber sie weiß nichts von Rechten des Menschen. Dieser späte Begriff ist vielmehr entstanden auf dem Boden des radikalen Puritanertums während der Cromwellschen Revolution. Die Leveller- (Gleichmacher-)Bewegung von 1647 erhob Forderungen,

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die uns als ganz modern demokratisch anmuten. Sie wurde jedoch von Cromwell unterdrückt. Was dort in Anspruch genomen wird, sind unabdingbare religiöse und aus diesem Grunde dann auch politische Freiheitsrechte der erwählten Gemeinde. Die dogmatische und zugleich psychologische Grundlage dieser Rechtsauffassung liegt in dem Erwählungsbewußtsein des dogmatischen Calvinismus wie in dem dogmatisch freien Erweckungsbewußtsein der fünften, konfessionslosen Konfession, des Täufertums. Der zum Heil erwählte und erweckte Mensch bedarf zu seiner Vollendung, zur Bewährung und Bewahrung seines Gnadenstandes der Freiheit gegenüber der Welt, die ihm zugleich als das Feld seiner Wirksamkeit hingegeben ist. Religiöse Freiheit erscheint in diesem Sinne in untrennbarem Zusammenhange mit politischer (und wirtschaftlicher) Freiheit heilsnotwendig. Max Weber hat in seiner berühmten Schrift über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus — leider in einseitiger Beschränkung auf die Wirtschaftsethik — gezeigt, welch strenges, rationales, methodische System der Selbstkontrolle, der Selbstvollendung bis hinein in methodistische Formen, in einer Art geistig-sittlicher Buchführung hier entwickelt worden ist. Diese Geistesrichtung ist aber ebenso grundlegend für ein bestimmtes Rechtsdenken — auch hier folgt aus einer bestimmten Auffassung von religiöser Rechtfertigung eine bestimmte Dogmatik des Rechts.

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Die religiöse Grundlage hat sich in der weiteren Entwicklung bis zur Übernahme dieser Ideen in die frühesten nordamerikanischen Verfassungen bereits verschoben. Das Kirchengebet für König Friedrich Wilhelm I. von Preußen lautete: „Wir bitten Dich für den König, unseren Herrn, Deinen Knecht.” Das Gebet für seinen mystisch-bigotten Enkel Friedrich Wilhelm II. lautete: „Wir bitten Dich für Seine Majestät den König, unseren allergnädigsten Herrn.” Die religiöse Freiheit, für die der englische und französische Calvinismus in seinem heroischen Jahrhundert kämpfte und bis zum Tode getreu duldete, wandelte sich in die eudämonistische Verfassungsbürgschaft für das Recht des Menschen auf Glück. Die Rechte der „Heiligen” wurden zu Rechten der Menschen. In die kurze Zwischenzeit fällt die Entdeckung seiner Majestät des Menschen.

Für unsere Betrachtung ist jedoch die Einsicht entscheidend, daß diese Menschenrechte ihrer Struktur nach vorstaatliche Rechte waren und bleiben, unabdingbar der Person anhaftend, dem Staatswillen und dem positiven Rechte transzendent.

Diese Verfassungsgrundsätze der jungen Vereinigten Staaten wirkten zurück auf Frankreich und trafen in dessen revolutionärem Umbruch auf völlig andere geistige und geschichtliche Voraussetzungen. Jellinek hat schon 1895 in seiner berühmten Abhandlung über die Menschen- und Bürgerrechte hervorgehoben, daß die Rousseausche Lehre

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von der Volonté générale den Menschenrechten feindlich sei. Die katholische Naturrechtslehre hatte das der Forderung der Menschenrechte zugrunde liegende Problem in einer sehr langen Gedankenentwicklung in einer völlig anderen Weise gelöst. Sie sieht den Menschen eingeordnet in einen gestuften und gegliederten Kosmos von Gott geschaffener Ordnungen, einschließlich des Staates, deren richtige Zusammenordnung eben das Naturrecht ist. In diesem Kosmos hat der Mensch, um dessenwillen alles dies geschaffen ist, durch seine freie, gläubige und gehorsame Einfügung in die Bindung gerade seine wahre Freiheit, seine Autonomie in der Heteronomie, die sich beide widerspruchslos harmonisch zusammenfügen. Ihr Gerechtigkeitsprinzip und damit zugleich die Garantie ihres Bestandes, ihr Strukturprinzip liegt in der zur Stufung führenden Ungleichheit. Naturrecht ist dem positiven Rechte immanent, es stellt dieses erst richtig, wie die Gnadenmittel der Kirche durch die Gratia infusa den des Guten beraubten, aber nicht völlig verderbten Menschen heiligen und heilen. Aus der katholischen Anthropologie und Rechtfertigungslehre folgt ebenso eine bestimmte Rechtslehre.

Die gleiche geistige Struktur aber weist die Lehre von der Volonté générale auf und verneint grundsätzlich jedes Recht des Menschen außerhalb der von ihr selbst verliehenen Rechte. Der Mensch tritt — wenn auch nur fiktiv — freiwillig in die

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Gesellschaft ein. Diese Fiktion muß aufgestellt werden; denn die Annahme, daß der Mensch in den Staat hineingestellt sei, würde diesem institutionellen und religiösen Charakter verleihen, um dessen Ausschaltung es gerade geht. Aber der Mensch überträgt mit seinem Eintritt alle seine Rechte auf die Gesellschaft. Die einzige Garantie seiner rechtlichen Existenz liegt in der grundsätzlichen Gleichheit aller Staatsbürger und der Gesetzlichkeit aller Staatsakte; es herrscht also wiederum wie in der katholischen Lehre Autonomie in der Heteronomie — nur das Strukturprinzip der Ungleichheit ist zur Gleichheit abgewandelt. Rousseaus Lehre ist verweltlichter, flächenhaft verebneter Katholizismus. Der Eintritt in die Gesellschaft aber bedeutet nicht die Unterwerfung unter den jeweiligen Mehrheitswillen — wie bei einem Verein; dieser Mehrheitswille kann korrupt sein; es ist der Eintritt in eine materielle, eine mystische und Wesenseinheit — eine echte Unio mystica. Es handelt sich um das soziologische Urphänomen des consensus, welches Spengler in seinen weltgeschichtlichen Perspektiven glänzend beschreibt, aber zu Unrecht dem „magischen” Zeitalter zuweist.

Beides — das transzendent-institutionelle Recht des Menschen und der Consensus können sich noch vertragen, solange die Gleichheit in der formal gleichen Chance des logischen wie des wirtschaftlich-sozialen Wettbewerbs besteht. Es ist das Verdienst Karl Schmitts, in seinen Untersuchungen über

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die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus 1928 nachgewiesen zu haben, daß die Demokratie dieses liberale Moment der Diskussion und des Wettbewerbs immer mehr ausscheidet, an Stelle ihres formalen Gleichheitsprinzips ihre materielle Homogenität herauskehrt. Die Spannung beider Elemente drückt der amerikanische Staatsrechtslehrer Nicholas Murray Butler in seinem 1927 erschienenen Buche „Der Aufbau des amerikanischen Staates” dahin aus:

Der Kampf zwischen Freiheit und Gleichheit hat begonnen; die Geschichte der kommenden Jahrhunderte wird im Zeichen dieses weitreichenden Streites geschrieben werden.”

Demokratie ist nach der strengen staatsrechtlichen Definition Identität zwischen Regierenden und Regierten. Immer mehr tritt an Stelle der formellen Identität durch Stellvertretung im Willen die materielle existentielle Identität des Wesens, die Homogenität. Diese Tendenz zur Herstellung und Aufrechterhaltung der Homogenität als der Voraussetzung der Selbstregierung erklärt die ungeheure Wucht, mit der die Völker heute alle Fremdkörper ausscheiden, erklärt jene im Abschnitt über die Staatspraxis geschilderten Erscheinungen. Die Unfähigkeit zur Toleranz ist nicht moralische Schwäche, sondern politisches Wesensgesetz.

Religiöse Demokratie kann nur dort entstehen, wo aus der Glaubenslehre eine rationale Soziallehre abgeleitet wird. Dies ist im

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Bereich des geschichtlichen Christentums allein für den Calvinismus und den Katholizismus der Fall. Im Sinne der großen geschichtlichen Bewegungen und Antriebskräfte ist Demokratie immer die echte Staatsform des Säkularismus. Identität von Regierenden und Regierten ist auch dort vorhanden, wo sogenannte totalitäre Systeme herrschen. Nur die Methode der Identifikation ist eine andere. Ob hier das Liberum arbitrium der freien Wahlentscheidung zum Zuge kommt oder eine mystische Identifikation mit einer bestimmten Persönlichkeit, vielfach durch Akklamation, eintritt, ob der eiserne logische Zwang der ökonomischen Dialektik jede freie Entscheidung ausschließt, ja zur Sünde macht, und an Stelle dessen die dogmatreue Auslegung der Theorie tritt — die Identität des Wesens und des Willens ist die gleiche. Das Moment des freien Willens hat hier nur konfessionstrennende Bedeutung wie zwischen Katholizismus und reformatorischen Bekenntnissen, also nur sekundären Rang gegenüber der Tatsache der Una sancta ecclesia — unbeschadet des Wahrheitsanspruches einer jeden Teillehre.

Diese Homogenität nun ist eine bewußte, rationale. Sie scheidet alle von ihrer Rationalität unabhängigen vorgegebenen, institutionellen Elemente mit steigender Schärfe aus; sie verneint die Hierarchie des religiösen Charismas und Amtes, den Rang der blutsmäßigen Abstammung, der feudalen Ordnung, die Hierarchie des Dienstes im Beamtentum, das Moment der freien Initiative des

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Unternehmers und damit die bürgerliche Hierarchie der Leistungen und des freien Wettbewerbs auf allen Gebieten, ebenso die irrational geschichtliche, oft zufällig entstandene Eigentumsschichtung und das ihr dienende Erbrecht; aber auch die natürliche Zugehörigkeit zu einem Volke kraft Geburt als gegebene Tatsache wird in steigendem Maße entwertet gegenüber dem subjektiven Bekenntnis zu einer bestimmten politischen Ideologie. Diese tritt an die Stelle jeder denkbaren objektiven Qualität und Leistung. Der Gedanke der Planwirtschaft wird aus einem notwendigen Versuch der Bewältigung praktischer Notwendigkeiten zu dem ideologischen Unternehmen, die Sozialordnung selbst auf Kosten des wirtschaftlichen greifbaren allgemeinen Nutzens der konstruktiven Planung zu unterwerfen, alle zufällige Geschichtlichkeit und Willkür in ihr auszuschalten. Mit der gleichen ideologischen Verachtung der freien „Hingabe an die Sache” und der praktischen Vernunft, mit der man auf Kosten des wirtschaftlichen Nutzens plant, ist man bereit, an die Stelle einer als kryptofeudal verschrieenen leistungsfähigen und sauberen Staatsbeamtenschaft eine unfähige und korrupte Bürokratie zu setzen.

Noch viel entscheidender ist die Tatsache, daß die moderne Demokratie immer mehr ihre eigenen Verfassungsinstitutionen auffrißt. Beispiele aus den doch scheinbar ganz intakten nordischen Ländern zeigen dies sehr deutlich, weil dort ja jede Beeinflussung

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durch die faschistische Krise ausscheidet. Die unbefangene Gleichsetzung des Willens des jeweiligen Kabinetts als Vertreter der Mehrheit des Parlaments mit dem Willen des Volkes, welchem auch alteingewurzelte Verfassungsbestimmungen im gegebenen Falle weichen müssen, zeigt, daß diese Rationalität auch zu einer Selbstbindung unfähig geworden ist. Sie lebt ausschließlich in der ständigen Präsenz des Willens und des Bewußtseins und zeigt auch keine Tendenz mehr, in ihrem eigenen Sinne Tradition zu bilden. Überall aber sinkt das ewige Recht zur formalen Ordnungstechnik herab.

Die materielle Gleichheit, die Homogenität, verdrängt also die formale Gleichheit, die Gesetzlichkeit, wie einen schwächeren Bruder und stößt ihn aus dem Nest. Aber damit verliert sie gleichzeitig ihren Stabilisierungsfaktor, ihre innere Spannung und enthüllt ihren negativen Charakter. Es tritt die eigenartige Erscheinung der negativen Hierarchie auf. Sie vertritt nicht einen positiven Wert, an dem sich eine positive Hierarchie aufbauen könnte; das würde der materiellen Gleichheit widersprechen. Über der allgemeinen Gleichheit der Vollbürger erhebt sich nur eine schmale privilegierte Gruppe der Helden, Heiligen und Märtyrer, der alten Kämpfer mit dem goldenen Parteiabzeichen, der KZ.ler und Opfer des Faschismus, der Helden der proletarischen Arbeit. Sie sind privilegiert, aber führen nicht; Märtyrer sind selten Bischöfe. Aber mangels und in Umkehrung

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der positiven Hierarchie entsteht eine negative, mehr oder minder streng gegliedert in der Abstufung der Entziehung politischer Rechte, der Beschränkung des bürgerlichen Fortkommens. Es ist wenig bekannt, aber aus jedem echten Erlebnisbericht unschwer zu erkennen, wie stark in Sowjetrußland die Abstammung aus einer bürgerlichen oder bäuerlichen Familie sich konkret arbeitsrechtlich in Beschränkungen und politischer Überwachung ausdrückt, ähnlich wie im Dritten Reich die Stellung der Mischlinge oder gegenwärtig die Stellung der ehemaligen Pg. oder der Kollaborationisten.

Die modernen Staaten gleichen großen Vollschiffen, die gekentert kieloben auf ihrer zerstörten Besegelung treiben. Jene Gleichheit wurde nur so lange im Verfassungsstaat des 19. Jahrhunderts aufrechterhalten, als die Spannung zwischen Demokratie und Monarchie die Bürgerrechte des einzelnen deckte. Nunmehr kehrt sich die auch von der Französischen Revolution niemals angetastete Souveränität des Staates, der Absolutismus der Demokratie, mit voller Wucht gegen den Menschen. Auch in diesem Zusammenhang erscheint der bürgerliche Rechtsstaat nur als ein Übergangszustand zwischen dem institutionellen Charakter der alten Staatsbildungen und der totalen Rationalität der modernen Demokratie.

An die Stelle der alten Hierarchien indessen tritt etwas anderes. Die Vorstellung, daß in der

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Demokratie die wirklichen Demokraten — zeitweilig oder dauernd — in der Minderheit seien, ist Jakobinern wie Faschisten und Bolschewisten durchaus gemeinsam. Diese Minderheit, die sich durchaus nicht nach den alten feudalen oder bürgerlichen Maßstäben der Persönlichkeit, Herkunft oder Leistung, sondern nach dem Grade der mönchischen Hingabe, des diesseitigen Glaubensfanatismus rekrutiert und schichtet, ist bereit und entschlossen, die übrige Menschheit ebenso mechanisch wie pädagogisch zu vergewaltigen — selbstverständlich zu ihrem eigenen Heile und zu ihrer „endlichen” und „wahren” Freiheit. Und zweifellos hat mindestens ein Teil von ihnen vor der bürgerlichen Glaubenslosigkeit und Korruption eine echte Opferbereitschaft voraus — so nahe wiederum eine ungeheure Korruption mit einem ebenso umgeheuren kollektiven Egoismus verschwistert ist. Im Faschismus wird die religiöse Kraft des Dienstgedankens, die Kraft der Idee der Besitzlosigkeit im Bolschewismus verderbt und entstellt.

 

V.

In diese allgemeine Homogenität sind nun auch die Menschenrechte eingeschmolzen worden. Ihre theoretische und praktische Problematik hat dadurch ein völlig neues Gesicht bekommen. Das Existenzrecht des Menschen, das von den Voraussetzungen des Christentums wie von denen des

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Rationalismus aus unanfechtbar ist, hat volle und wirkliche Bedeutung nur, wenn es zu konkreten Rechten entwickelt ist, und zwar in vier Hauptrichtungen: Heimatrecht, Eigentumsrecht, ein Mindestanteil an den staatsbürgerlichen Rechten, sei es auch nur in der Form der Schutzbürgerschaft, wie sie das Mittelalter vielfach entwickelt hat, und Glaubensfreiheit. Alle diese Konkretisierungen aber sind gerade heute in jenem Schmelzprozeß begriffen, wie ein geprägtes Metall in hoher Glut allmählich seine Form verliert. Um in diesem Bilde zu bleiben: es ist, als ob man eine eiserne Schaufel in einen Hochofen hineinhänge. Stiel und Schaufel schmelzen ab, der Griff bleibt übrig. In den sogenannten totalitären Staaten wird das ganze Gerät in den Feuersog hineingerissen; in den westlichen Demokratien bleibt wenigstens der Griff der Theorie, an dem man später wieder etwas Brauchbares ansetzen kann. Nur der Grad der Erhitzung in Weiß- oder Rotglut unterscheidet die Öfen.

Um also geprägte Rechte zu bilden und bewahren zu können, müssen wir entweder den Hochofen auf die Stärke eines gewöhnlichen Schmiedefeuers dämpfen, oder wir müssen von allen Schlacken gereinigte Legierungen finden, die auch unter den höchsten Hitzegraden bearbeitbar bleiben und die Form bewahren. Es ist eine typische bürgerliche Illusion, diese Steigerung der geschichtlichen Temperaturen als eine vorübergehende, von Demagogen großen Stiles willkürlich geschaffene

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Erscheinung zu betrachten — der Hochofen des modernen politischen Lebens ist auf hohe Temperaturen angelegt. Es nützt nichts, ihn gelegentlich mit einem schnell verzischenden Wasserstrahl der Vernunft abzuschrecken — oder man muß ihn ganz löschen. Es bleibt also unausweichlich die doppelte Aufgabe, einen feuerbeständigen Stoff zu finden und diesem die rechte Form zu geben.

Die Verwirklichung der Rechtsidee — und damit auch die Sicherung menschlicher Grundrechte — wird immer echt menschlicher Unzulänglichkeit unterworfen sein. Fragen wir aber, wann in der Geschichte wir wenigstens das Höchstmaß der bisher bekannten allgemeinen und grundsätzlichen Anerkennung der Rechtsidee als solcher feststellen können, so kommen wir zu erstaunlichen Ergebnissen. Es gehört zu den gedankenlosen Dogmen der Gegenwart (die durch Wiederholung nicht richtiger werden) der Glaube, daß der Rechtsstaat eine Erfindung des 19. Jahrhunderts sei. Für das Vorhandensein eines wirklichen Rechtsstaates ist nicht der rein quantitativ-technische Grad der Rechtssicherheit entscheidend, sondern eben der Grad der grundsätzlichen allgemeinen Anerkennung der Rechtsidee. Ein Höchstmaß dieser Anerkennung finden wir sowohl im Hochmittelalter wie im bürgerlichen 19. Jahrhundert. Niemals ist im Mittelalter die Entwicklung und Kontinuität des Rechts durch abstrakte grundsätzliche Satzungen umgestürzt worden. Keine Zeit war von

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revolutionärer Ideologie und ideologischer Revolution weiter entfernt. Noch heute ist es fraglich, ob der mittelalterliche Staat überhaupt eine echte dem Recht des einzelnen wie der Verbände vorausgehende Souveränität besessen hat. Was ihm an technischer Rechtssicherheit fehlte, hatte ihm der bürgerliche Rechtsstaat voraus; dieser aber befand sich in einem dauernden Kampfe mit seinem eigenen Absolutismus, seiner Souveränität. Er war also im grundsätzlichen Sinne nicht Rechtsstaat der Wirklichkeit, sondern nur der Tendenz nach. Wichtiger als diese Unterschiede ist das Gemeinsame. Was hat zwischen Perioden des Unfriedens, der Rechtsunsicherheit und des Staatsabsolutismus diese Bildungen ermöglicht?

Beide Zeiten sind Zeiten der Hochscholastik, in beiden wurden große Denksysteme entwickelt, die die Gegensätze der Menschheit in großer Gesamtauffassung harmonisch verschmolzen.

Wille und Gnade, Augustin und Pelagius, Nominalismus und Realismus, Autorität und Gemeinschaft, Natur und Übernatur wurden in dem großen System des Thomas von Aquino vereinigt und ebenso Freiheit und Gleichheit, Idee und Wirklichkeit in den großen philosophischen Gedankengebäuden des Rationalismus und Idealismus. Indessen alle diese großen Geister waren nur die Denker, nicht die Schöpfer der Einheit, die sie mit so großer geistiger Kraft und ausstrahlender Wirkung darstellten und verkündigten. Die

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materiell-sakramentale Einheit der Christenheit, die formal-logische Einheit der Vernunft waren die Glaubenstatsachen, die auch sie trugen. Die synthetische Kraft dieses Glaubens schuf mit den großen Denksystemen auch große Staats- und Rechtssysteme.

Geschichte des Staates und des Rechts ist immer im entscheidenden Grunde Geschichte des Glaubens.

Dem Rationalismus derartig radikal als Glaubensbewegung zu verstehen, ist neu und widerspricht auf den ersten Blick dem Geschichtsbild. Die Vielfalt und Gegensätzlichkeit dieser Erscheinung, das Fehlen einer greifbaren Dogmatik und einer soziologischen Gestalt scheint dagegen zu sprechen. Indessen nur scheinbar. Erst die leidvollen Erfahrungen der Gegenwart, die konfessionelle Spaltung dieser Geistesbewegung, die Erscheinung der Religionskriege haben uns die Augen geöffnet und lassen uns nach den gemeinsamen Wurzeln fragen.

Der Rationalismus teilt mit der alten Kirche seinen allumfassenden Charakter und seine Spannweite. Er ist dogmenfeindlich, aber nicht dogmenfrei, so sehr er es auch meint. Wenigstens ein großer Kirchenvater steht an seinem Anfang: Descartes. Sein „cogito, ergo sum” ist mehr als eine erkenntnistheoretische Formel; es ist ein echtes Glaubensbekenntnis. Der reflektierende Mensch steht nur allein sich selbst gegenüber, vereint Gott und Welt durch die Mittlerschaft seines Bewußtseins. Die göttliche Trinität fällt hier in einem, im menschlichen Bewußtsein, zusammen. Kennzeichnenderweise

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ist Descartes der Schöpfer des Koordinatensystems in der Mathematik, in dessen Nullpunkt sich entschlossen der Mensch hineinstellt. An die Stelle des Kreuzes als des Schnittpunktes von Gott und Welt tritt das mathematische Achsenkreuz, von dem aus der Mensch seine Hoch- und Rechtswerte ordnet. Nicht mehr die Spannung dieses Gegenübers besteht mehr, nicht mehr die Gottesebenbildlichkeit des Menschen: dieser Mensch ist nur noch mit sich selbst identisch.

Diese zentrale metaphysische Voraussetzung spiegelt sich notwendig auch in der Rechts- und Staatslehre dieses Systems. Die subjektive und notwendige psychologische Brücke bildet auch hier die Rechtfertigungslehre. Sie ist einfach: sie besteht in der Negation der religiösen Rechtfertigung: der ursprünglich freie und gute Mensch ist schon gerechtfertigt durch seine formale Menschqualität: sein geschichtlich-staatliches und rechtliches Handeln findet seine Rechtfertigung durch dessen vernünftigen Charakter am stärksten im Vertragsdenken ausgedrückt. Erst in der weiteren Entwicklung wird die Rechtfertigung durch eine materielle Qualifikation gefordert.

Der ewigen realen Präsenz ihres Herrn, aus der die Christenheit von Anbeginn lebt, steht nunmehr die ideale unkörperliche Präsenz der Vernunft gegenüber — und diese spirituelle Einheit ist völlig leiblos — bis auf die verborgene Kirche der Eingeweihten dieses Glaubens — die Lage. Diese Idealpräsenz der Ratio schließt folgerichtig auch alle

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vorgegebenen und damit transzendent gesetzten Elemente aus ihrem Denksystem — und damit auch aus ihrer Rechts- und Staatslehre aus. — Die greifbaren Folgen der Staatspraxis haben wir bereits gesehen.

Wie religiös der spannungsvollen Trinität der Monismus, dem leibhaftigen Herrn die körperlose Ratio gegenübersteht, so lebt diese Lehre auch staatstheoretisch von der Verneinung.

Die französische wie die bolschewistische Revolution sind beide aus der ideologischen Verneinung der Macht herausgeboren. Die politische Macht — speziell den Pouvoir personnel — versucht man grundsätzlich durch die formale Gesetzlichkeit aller Staatsakte und die Gewaltenteilung aus der Welt zu schaffen oder doch wenigstens unschädlich zu machen. Das grundsätzlich Gleiche versucht — nur ungleich gedanklich strenger — der Bolschewismus durch den konsequenten Vollzug der ökonomischen Dialektik, die jede Willkür und freie Zweckmäßigkeitsentscheidung ausschließt. Die Macht wird zum negativen Leitwert, an dem sich das Staatsdenken orientiert — und ebenso folgerichtig wird sie, im Nationalsozialismus überhöht, zum Selbstzweck und zur Selbstrechtfertigung erhoben. Europa lebt von dem Pathos und der Pathologie der Macht.

Macht aber besitzt nur, wer bereit ist, seine ganze Existenz bis zur Hingabe des Lebens zu opfern. „Wer sein Leben lieb hat, der wird es verlieren; wer es aber haßt, der wird es gewinnen ewiglich” ist weit mehr als eine moralische

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Bewertung ein echtes paradoxes Lebensgesetz. Diesen Satz hat Adolf Hitler nicht erfunden, aber besser verstanden als viele seiner Gegner. Weil aber Christus durch sein Blut Herrschaft über diese Welt gewonnen hat, darum ist noch heute in einer scheinbar ganz verstandesmäßig ausgerichteten Welt das Blut der Grenzwert, an dem sich die Geister scheiden. Jene Erscheinungen der Staatspraxis der Gegenwart sind ohne diese Einsicht nicht voll verständlich. Auch die Sowjetunion verdammt für den Frieden die Todesstrafe — sie vernichtet ihre Gegner nicht blutig, sondern unblutig ökonomisch. Diese fast nur theoretische, aber durchaus prinzipielle Haltung ist von zentraler Wichtigkeit. Die Gemeinsamkeit dieses Affektes verbindet bis heute die westlichen und die östlichen Rationalisten zu einer instinktiven Gesinnungseinheit so wie die Religion des Lebensstandards. Die unverbesserliche und unverständliche Verblendung so mancher weltberühmter Gelehrter gegenüber dem Bolschewismus findet darin ihre Erklärung. So wie der französische Bourgeois so lange möglichst weit links wählt, bis er allzusehr erschreckt wird. So auch wird erst klar, von welcher Schärfe und Tiefe der Gegensatz zwischen dem Nationalsozialismus und seinen Gegnern war und empfunden werden mußte, denen seine Mystik des Blutes und der Macht ein Angriff auf die heiligsten Güter schon vor dem ersten Schusse war. Dennoch kann man nicht leugnen, daß er in der Konsequenz des Säkularismus, der

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Diesseitigkeit, seinen Gegnern einen Schritt voraus war. Gutgesinnte Bürger beklagen heute — wie schon früher ein bürgerliches Christentum das Schwinden der Christlichkeit —, daß die Menschen nicht mehr heute wie im achtzehnten Jahrhundert an die Vernunft glaubten. Man kann ebenso erschütternde wie komische Äußerungen dieser Art lesen. Der bewußte Verzicht auf die Rechtfertigung auch durch die Vernunft, die radikale Selbstsetzung, wie sie der Nationalsozialismus in seiner letzten Konsequenz vollzog, geht noch einen Schritt weiter als diese. Seinem Nihilismus entspricht nicht mehr der alte Rationalismus, der an die Vernunft — oder ökonomische Gesetze glaubt, sondern nur noch die Existenzphilosophie und Existenztheologie, die jede Rechtfertigung des Menschen, jedes echte geschichtliche Handeln radikal in Frage stelen und verneinen. Darum aber haben auch die Gegner Hitlers sich so sehr beeilt, diesen Schritt nachzuahmen, den er ihnen voraus hatte — wenn alle Ideologien versagen, bleibt immer noch der solide massive Egoismus übrig. Die noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbaren Gewaltmethoden, die sich innerhalb der Völker ausgebildet haben, sprechen eine ernste Sprache.

 

VI.

Eine religionsgeschichtliche Auffassung des Rationalismus, der Nachweis seiner metaphysischen

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Grundlage und seines Höhepunktes, zwingt auch zu einem kurzen Vergleich seiner Entwicklung mit der seines Gegenbildes, des geschichtlichen Christentums. Die Parallelität beider ist in der Tat erstaunlich. Er begann wie dieses staatsfremd, ja staatsfeindlich und utopisch, erhob sich alsbald zu allgemeiner Anerkennung und fand zur Zeit des aufgeklärten Absolutismus seinen konstantinischen Bund. Zu ganzer Macht und Entfaltung gekommen, griff er nach der geschichtlichen Herrschaft selbst. Gerade aber in dieser Berührung mit der geschichtlichen Wirklichkeit löste sich seine große synthetische Einheit in ihre Elemente der Freiheit und Gleichheit wieder auf. Damit kommt es zur Glaubensspaltung und zur Ausbildung selbständiger Teilkonfessionen mit Absolutheitsanspruch. Wie eine reiche konfessionelle Dogmatik entwickelt sich eine Fülle von politischen Ideologien. Schließlich kommt es auf dem Grund dieser Glaubensspaltung zum Religionskrieg — es ist ein Treppenwitz, daß Hitler, der den Glaubenskrieg des 17. Jahrhunderts als den großen Irrtum der deutschen Geschichte zu brandmarken nicht müde wurde, selbst den größten Religionskrieg der Geschichte, freilich rein säkularer Art, entfesselt hat. Wie im Zuge der alten Glaubenskämpfe der fürstliche Absolutismus, erhebt sich heute und bildet sich die absolute Demokratie aus. Wird heute nicht der Satz „cuius regio, eius ideologia” auf das allerunbefangenste gehandhabt? Wird nicht von dem „ius reformandi”

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Gebrauch gemacht, mit gutem wie mit schlechtem Gewissen? Der menschliche Mißbrauch des Meßopfers hat die alte Kirche, der Mißbrauch der ständischen und Lehnsrechte den alten Staat zerstört und den dogmatischen Absolutismus der Fürsten heraufgeführt — ebenso der kapitalistische und liberale Mißbrauch der bürgerlichen Freiheit die marxistischen und faschistischen Bewegungen und die absolute Demokratie.

In Staatstheorie und Staatspraxis sind damals wie heute aus den ursprünglichen Systemen nur die garantierenden Formprinzipien übrig geblieben: das Prinzip der transzendenten, institutionellen Ungleichheit in Gestalt der absoluten Monarchie, heute das Prinzip der immanenten rationalen Gleichheit und Homogenität, die absolute Demokratie.

Beides war und ist damals wie heute eine Enderscheinung: je allbeherrschender die äußere Macht, desto tönerner die Füße. Die Menschen, die damals in einer völligen Zerstörung der Welt heute im Namen der reinen Lehre geschunden, morgen im Namen der heiligen Jungfrau gebraten wurden, deren Glaube der Staatsraison folgen sollte, wandten sich von einer zur theologischen Idee gewordenen Religion ab. Aus der Heimstatt ihrer Seele vertrieben und in eine Welt hinausgestoßen, in der ihnen auch ihr weltlicher Herr nicht half, beschlossen sie einen neuen Anfang zu machen. Dieser Entschluß begründete das negative Christentum,

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den Rationalismus, aus einer Haßliebe sowohl wie aus einer tiefen Sehnsucht zur alten Einheit des Glaubens und des Geistes geboren.

Schon Harnack hat bemerkt, daß um 1650 die dogmenbildende Kraft der christlichen Konfessionen mit den letzten calvinistischen Bekenntnisformulierungen von Dordrecht und Westminster geendet habe — und schließt damit seine große Dogmengeschichte —, danach kamen nur noch gestalt- und geschichtslose Quäker, Mennoniten, Pietisten und Schwärmer.

Genau in derselben Lage befinden wir uns heute. Nur noch wie ein hohler Theaterdonner, täglich unglaubwürdiger, rollen die Propagandaaktionen über die gequälte Menschheit, die ihnen nur noch pflichtmäßig Reverenz erweist. Sie betet heute um die Befreiung von den Ideologien, die ärger als alle ägyptischen Plagen verwüstend und alle menschlichen Beziehungen vergiftend der Welt ihr Joch auferlegen. Sie aber haben ihre Denkmöglichkeiten nunmehr erschöpft. Noch vor einem Jahrzehnt verhüllten Verheißungen und idealistische Bilder diese Wirklichkeit; heute wissen wir genau, was wir von einer jeden von ihnen zu erwarten haben.

Daß wir sie aber heute so in Grund und Folge zu überschauen vermögen, ist der entscheidende Beweis zugleich, daß sie alle gleichermaßen zur Ablösung reif sind. Um so unerbittlicher werden wir darum auch heute beurteilt werden, ob wir an Stelle der alten eine neue Ideologie setzen.

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Die Kampfparole einer sich im stillen Einverständnis gewaltlos selbst befreienden Menschheit muß heißen:

Krieg den Ideologien, Friede den Menschen.

Zu dieser Befreiung indessen gehört mehr als ihre Außerkurssetzung, gehören positive Lösungen, konstruktive Gedanken. Was haben in dieser Labe noch Kirche und Christenheit zu sagen?

 

VII.

Bevor wir diese Frage beantworten, müssen wir eine Zwischenbemerkung einschalten. Die hier vorgetragene Deutung wird den Kontinentaleuropäern, die die ganzen Erfahrungen des modernen totalen Staates am eigenen Leibe durchgemacht haben und noch alle Tage durchmachen, ohne weiteres verständlich sein, selbst wenn sie ihnen neu un gewagt erscheint. Nicht ohne weiteres dürfen wir das gleiche Verständnis bei unseren angelsächsischen Gesprächspartnern in der ökumenischen Bewegung voraussetzen. In der Schwierigkeit der Verständigung drückt sich die Verschiedenheit der geschichtlichen Lage aus. Worin aber liegt diese?

Durch die Cromwellsche Revolution, die dem Puritanismus zum Durchbruch verhalf und die Entstehung eines fürstlichen Absolutismus verhinderte, ist die angelsächsische Welt von der kontinentalen Entwicklung abgetrennt worden. Beides sind bezügliche Geschehnisse. Allein im Calvinismus

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ist die religiöse Entwertung des Menschen, die um 1500 überall eintrat, durch den Erwählungsglauben wettgemacht worden. Dies und nicht die angelsächsische Rechtstradition hat die Entwicklung zum Absolutismus verhindert. Damit ist jene Spaltung in „institutio” und „ratio”, zwischen Wille und Gnade rechtsdogmatisch wie theologisch vermieden worden. Die Problematik der Macht und der Persönlichkeit wurde in der angelsächsischen Welt ausgeschaltet.

Aber diese auf dem Kontinent fehlenden Voraussetzungen einer ungebrochenen geistigen und Rechtsentwicklung aus dem Mittelalter heraus können nicht von außen her künstlich hergestellt werden; aus dieser Verschiedenheit erklären sich Mißverständnisse von großer praktischer Bedeutung. Aber aus diesem Mißverstehen heraus sind die Angelsachsen in ihrer Besetzungspolitik den inneren Entwicklungstendenzen des Kontinents anheimgefallen, haben die Spaltungserscheinungen nicht gehindert sondern selbst noch entscheidend gefördert. Von jeher haben, wie die Chinesen die Mandschus, die Besiegten die Sieger korrumpiert.

Der angelsächsischen Liberalismus aber befindet sich heute gegenüber der kontinentalen Entwicklung in der Haltung eines bremsenden Konservatismus, genau wie der europäische Konservatismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Dieser versuchte in an sich ganz richtiger Erkenntnis die Auflösung der einzelnen institutionellen Staatselemente zu

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verhindern, ohne doch im ganzen die Entwicklung bestimmen zu können. So ist heute auch die Forderung der Menschenrechte eine konservative, ebenso im Ziel richtig wie in der Methode aussichtslos. Es ist der Versuch, das letzte unabdingbare Recht des Menschen vor dem alles verschlingenden Rachen des modernen Staates zu retten.

Wenn schon innerhalb der Staatsverbände einem erheblichen Bruchteil der geborenen Staatsbürger die bürgerlichen Rechte nicht gesichert werden können, wieviel weniger jedem Menschen vorstaatliche Rechte kraft seiner bloßen Menschqualität? Rechte, die es stets nur in dem Maße gegeben hat, als auch der innerstaatliche Rechtscharakter ausgebildet war. Gerade dies aber ist heute nicht mehr der Fall.

Die Rechtsidee ist auf dem Kontinent so tief zerstört, daß sie auf dem Wege grundsätzlicher Forderungen von außen her, sozusagen mit allopathischen Mitteln, keineswegs wiederhergestellt werden kann. Dies versuchen heißt einen hungrigen Löwen mit einem Regenschirm beschwichtigen.

Es ist auch sehr wohl möglich — und gut unterrichtete Amerikaner sprechen davon —, daß die heutige Stellung Amerikas zu den europäischen Fragen, sein relativer Konservatismus, lediglich auf seiner Jugend beruht, daß auch die angelsächsische Welt in absehbarer Zeit die gleichen Zerrüttungserscheinungen aufweisen wird wie der Kontinent. Denn wenn auch dort jene Spaltung und der Bruch

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der geistigen und der Rechtstradition vermieden werden konnten, so doch gewiß nicht die entscheidende Durchsetzung des Säkularismus und die Entstehung seiner Ideologie des Fortschritts, der Selbsterlösung und des Eudämonismus.

Das Problem der Menschenrechte stellt sich heute für den Blick des Kontinentalen als das Problem der Wiederherstellung der Rechtsidee überhaupt dar, der Überwindung jener Spaltung zwischen Institutio und Ratio, des europäischen Dualismus.

 

VIII.

Die Rechtslehre der beiden großen Konfessionen des Calvinismus und des Katholizismus haben wir wenigstens in ihrem Ansatz, in der Lehre von den Menschenrechten und vom Naturrecht, dargestellt. Auf dem Gebiete des Luthertums jedoch ist weder das eine noch das andere entwickelt worden. Es geht nicht an, dies lediglich als Versäumnis oder Versagen zu werten. Auf einem so zentralen Gebiete versagt man nicht. Holstein bemerkt in seinem Vortrag über Luther und die deutsche Staatsidee (Anm. 76), daß die ältere lutherische Theologie es versäumt habe, aus der Lehre Luthers ein das allgemeine Denken beherrschendes System zu entwickeln. In diese Lücke sei erst die religiös-philosophische Laienbewegung des deutschen Idealismus eingesprungen. Daß sie damit aber das Luthertum auch säkularisiert und umgebogen hat,

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wird dabei übersehen. Die organische Staats- und Gesellschaftslehre hat die spezifischen Voraussetzungen und Schwächen des Luthertums nicht aufgehoben, sondern nur sublimiert.

Die Frage, ob Luther ein Naturrecht gekannt habe, ist in der Gegenwart noch heftig umstritten. Unbestritten hat er den Ausdruck häufig gebraucht. Über das Vorhandensein einer lutherischen Naturrechtslehre streiten Troeltsch und Holl. Brunner betont mit der ihm eigenen Entschiedenheit, daß Luther sowohl wie Calvin ein Naturrecht gekannt haben, wandelt aber diese Behauptung etwas ab:

„Der subjektive Naturrechtsbegriff — daß diese Erkenntnis auch den Ungläubigen zugänglich sei — spielt bei beiden Reformatoren eine untergeordnete Rolle, und dies ist der Hauptunterschied gegenüber der katholischen Naturrechtslehre, die vor allem auf die rationale Einsichtigkeit des Naturrechtes Gewicht legt. Auch die Reformatoren bringen „ordo naturae” und „ratio” in engste Beziehung zueinander, aber sie betonen gleichzeitig, daß diese Ratio in der menschlichen Vernunft nur kümmerlich und unsicher zur Geltung komme und also nicht rational im Sinne des jedermann Bekannten und für jedermann Einsichtigen sei”. (Gerechtigkeit, Seite 320). Es tritt hier also an Stelle eines rationalen ein irrationales Naturrecht. Wünsch (Evangelische Ethik des Politischen, 1936) faßt das Ergebnis des Streites dahin zusammen:

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„Luther hat den Begriff des Naturrechts übernommen; die durch ihn vollzogene Wandlung besteht darin, daß er ihn durch den Beruf ersetzt und selbst so verstanden hat.
Der Staat ist also nicht naturrechtliche Ordnung, sondern Amt. Der personalistische Charakter dieser ganzen Auffassung an Stelle einer objektiv-ontologischen Betrachtung kommt hierin zum Ausdruck.”

Beide Bemerkungen zusammen erst ergeben das volle Bild, zeigen aber zugleich, daß der Streit um das lutherische Naturrecht ein Streit um Worte ist. Vom Begriff des Rechts können zwei Elemente nicht weggedacht werden: das der erkennbaren, rationellen, definierbaren Regelhaftigkeit, der Gesetzlichkeit, und das der subjektiven Trägerschaft, der Aktivlegitimation im präzisen Sinne der Rechtssprache. Brunners Bemerkung bezieht sich auf die erstere, Wünschs auf die letztere Seite des Problems. Ein irrationales Recht ist überhaupt kein Recht — wie ein auf eine umbestimmte Leistung gerichteter Vertrag nach bürgerlichem Recht — und völlig logisch notwendig — nichtig ist.

Beides spiegelt aber die zentralen dogmatischen Voraussetzungen des Luthertums wider. Nicht die auch übernommene Lehre von der doppelten Prädestination, die im Calvinismus einen aktiven Erwählungs- und Rechtfertigungsglauben — ganz wie in dem sehr ähnlichen Islam und Judentum — zeitigte, sondern die Lehre vom unfreien Willen

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und der dialektische Ansatz in der Formel von „Simul justus, simul peccator” wird entscheidend. Von hier aus kann der Gläubige zur Gewißheit seiner Rechtfertigung und damit zur Gewißheit der Rechtmäßigkeit seines Handelns entweder überhaupt nicht oder praktisch nur dann kommen, wenn er im Beruf — personalistisch — in Anspruch genommen wird, im Amte handelt. Gerade das tiefste und ernsteste Anliegen des Glaubens, der sich nicht mit der plumpen oder feinen Selbsttäuschung einer Erwählung zufriedengeben kann und will, begründet zugleich die Abhängigkeit und Anfälligkeit des Menschen vom Befehl, seine Unsicherheit im Gewissen. Nicht die ontologische Einsicht in die Gesetzlichkeit der Welt, sondern allein der persönliche Anruf bindet ihn — und dementsprechend auch im konkreten Zusammenhang seines staatlichen Handelns. Die Steuerlosigkeit des Luthertums nach dem Fortfall der konkreten personalen Ordnung der Monarchie zeigt diese Zusammenhang sehr deutlich.

Die Kraft, aus jenem dialektischen Ansatz auf die aktive Seite zu treten, jederzeit seine ganze metaphysische Existenz handelnd zu wagen, besitzen begreiflicherweise nur wenige starke Charaktere von um so größerer Kraft; aber es ist keine Grundlage für eine Sozialethik. Die Ausbildung einer solchen richtet sich unvermeidlich immer nach den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Gesamtheit; man ist immer in der Gefahr, nach der

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ärgeren Hand zu fallen. Grundsätzlich würde dieser Auffassung an Stelle der Formulierung von den Menschenrechten die von den Christenpflichten entsprechen, wenn nicht eben hier grundsätzlich ganz ungesetzlich, okkasionalistisch von Fall zu Fall gedacht würde, der tiefe Horror legis vor jeder Art der Gesetzlichkeit bestände. Das Bewußtsein jedenfalls, in dieser Welt ein bestimmtes göttliches Recht zu vertreten und zu besitzen, ist dem Glaubensbewußtsein des Luthertums im Gegensatz zu der gesetzlichen Strenge und Aktivität des Calvinismus vollkommen fremd, für die Ethik des einzelnen wie für die Gestalt des Staates und der Kirche. Die Folgerungen auf diesen Gebieten aufzuzeigen, müssen wir uns hier auf die Gefahr, weitverbreiteten Mißverständnissen Raum zu lassen, versagen. Den Menschen von Rechten zu sprechen staat von Geboten und Pflichten, wird als tiefster Gegensatz zum Wesen des Glaubens empfunden. Alle ideengeschichtlichen und begrifflichen Ableitungen besitzen gegenüber diesem elementaren, aber völlig folgerichtig aus dem tiefsten Anliegen des Glaubens entwickelten Lebensgefühl nur archivalische Bedeutung.

Die orthodoxen Teilnehmer der Ökumenischen Konferenzen betonen, daß die Staatslehre der Orthodoxie von jeher naturrechtsfremd und auf der These von der Macht aufgebaut sei (Totaler Staat und Christliche Freiheit: Alexejew S. 9, Vychoslavzew S. 144). Hier ist auch kein dialektischer Ansatz

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mehr. Der Begriff der Sublimierung, der Heiligung der gegebenen diesseitigen Ordnung, ist das immer wiederkehrende Leitwort. Auch hier ist keine Spur einer Rechtsdogmatik. Der juristische Charakter der römischen Kirche wird mit evangelischem Pathos als die Wurzel des christlichen Verfalls herausgestellt. Es ist kein Ansatz eines Naturrechts vorhanden, obwohl Ontologie und Anthropologie — ebenso wie der Kirchenbegriff — der Orthodoxie des Katholizismus auf das engste verwandt sind.

Wir müssen also auf Grund des Vergleichs der Rechtslehren der großen Konfessionen folgendes Ergebnis feststellen:
1. Die These des Naturrechts und der Menschenrechte ist keine gemeinchristliche Position.
2. An diesem Problem scheidet sich die Christenheit in einen westlichen und östlichen Zweig.
3. Der Grund für diese Scheidung liegt nicht in der sehr wesensverwandten Ontologie der respektiven Konfessionen, sondern muß in einem anderen Merkmal liegen.

Der Grund für jenen Gegensatz liegt in der Tat nicht in der Verschiedenheit der Ontologien, sondern in der Form der Rechtfertigungsdogmatik, in ihrer Rationalität. Gerade das Moment, welches Brunner als den Unterschied zwischen reformatorischem und katholischem Naturrecht hervorhebt und das er als sekundär bewertet, ist das in Wahrheit entscheidende, das die Entstehung einer

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Naturrechtslehre verhindert hat, eben das der Rationalität. Wenn er die Ratio hier zu einem Allerweltswissen entwertet, so zeigt diese Verzerrung die Unsicherheit dieser Behauptung.

Aus den schon genannten Weberschen Untersuchungen zur protestantischen Ethik ist der rationale Charakter der calvinistischen Ethik hinreichend bekannt geworden. Das gleiche ist für die katholische Ethik und Soziallehre festzustellen, die das Moment der Erkenntnis des göttlichen Willens durch die Vernunft mit großem Nachdruck einschließt. Die Formulierung des Themas der Weltkirchenkonferenz 1948 in Amsterdam „Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan” enthält einen Anspruch oder scheint ihn zum mindesten zu enthalten, den lutherische Christen zu erheben Bedenken tragen. Eine solche rationale Erkenntnis auszusprechen und zu behaupten, erscheint fast als Blasphemie. Sie dulden vieles, bis ihnen mit dem Maße des Leidens auch die Gewißheit der Rechtfertigung ihres Handelns voll wird. Erst recht will der östliche Mensch lieber Sklave als Sünder sein.

Beide Anschauungen aber befinden sich heute in einer tiefen und offenkundigen Krisis. Denn dort, wo ein gesetzlicher Herrschaftsanspruch der Kirche und eine ebenso gesetzliche Ethik den Menschen in Anspruch zu nehmen vermochte, konnten trotz der Säkularisierung bis jetzt noch die schwersten Erscheinungen totalitärer Exzesse vermieden

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werden, die gerade auf den Verbreitungsgebiete der Konfessionen mit scharfer gedanklicher Trennung von Reich Gottes und Welt mit voller Schärfe aufgetreten sind. Zwischen der pharisäischen Gefahr einer gesetzlichen und kasuistischen Religion, die den Willen Gottes zu kennen und zu verwirklichen sich vermißt, der nur allzuschnell der Gegner zum leibhaftigen Bösen wird, und der Versäumung der Pflicht und der Wehrlosigkeit gegenüber der Welt liegt nur ein schmaler Pfad. Ihn zu suchen ist eine entscheidende Aufgabe, die uns niemals dringlicher gestellt worden ist als heute.

 

IX.

Für die materielle Lösung des Problems stehen geschichtlich zwei gegensätzliche Möglichkeiten zur Verfügung, die existentiell-personalistische und die naturrechtlich-ontologische. In die Linie der ersteren gehören alle Versuche, historisch die notwendigen institutionellen Elemente und die Rechtsidee überhaupt anhand ihrer konkreten Gewordenheiten aufrechtzuerhalten. Zu diesen Versuchen gehören gedanklich-systematisch auch die Forderungen der Menschenrechte. Diese sind gewissermaßen das letzte absolute Statusrecht des Menschen, auf eine Formel gebracht, die Behauptung, daß unabhängig von der rechtsgeschichtlichen Wirklichkeit dem Menschen als ideelles Erbteil ein Mindestmaß von Rechten zusteht. Je weniger dies tatsächlich der

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Fall ist, desto schärfer wird diese Theorie verfochten, desto aussichtsloser aber wird sie auch. In dieser Linie gehört weiter auch eine rein kritisch-theologische Auffassung, die jeder konkreten Rechtsordnung gleich fern und gleich nah, sie alle gleichermaßen in Frage stellend, gegenübersteht — es ist die negatieve Form zu allen positiven Darstellungen des institutionellen Rechtsgedankens. Die naturrechtliche Lösung wird gleichermaßen vom Katholizismus wie vom bürgerlichen Liberalismus von den Grundlage des Liberum arbitrium heute wieder belebt und in den Vordergrund gerückt. Man versucht die Tendenzen der Gegenwart von einem bestimmten Weltbild aus von innen her umzuformen und unschädlich zu machen.

Wie die historisch-institutionelle Lösung in der Gefahr des Positivismus, so steht die Naturrechtslehre in der Gefahr, in den Irrtum des Freirechts und der Auflösung aller verbindlichen Rechtsordnung zu verfallen. Es sind dies nicht nur Entartungserscheinungen, wie sie jeder Lehre als Möglichkeit anhaften, sondern sie zeigen zugleich, daß diese Lösungen nur einseitigen, bruchstückhaften Charakter tragen. Der wesentlichere Einwand gegen das Naturrecht liegt im Naturbegriff selbst. Dieser Begriff ist ein Rahmenbegriff, der mit den verschiedenartigsten Gehalten aufgefüllt werden kann. Der Versuch, die Natur aus dem schöpfungsmäßigen Zweck zu bestimmen, führt in den Zirkelschluß

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zurück, daß nunmehr wieder der Zweck aus der Natur bestimmt wird. Vor allem sieht man sich in der Notwendigkeit, spekulativ-philosophisch die funktionellen Elemente des Menschen zu zergliedern; man gerät in das gleiche hinein, was in der Ethik die Kasuistik darstellt. Auch der Gedanke der Analogie, wohl die tiefste Einsicht der christlichen Theologie, wird hierdurch philosophisch verzerrt. Ein gutes Beispiel hierfür liefert Karl Barth, der mit seiner Schrift „Christengemeinde und Bürgergemeinde” den Umschlag von der kritischen zur ontologischen Betrachtung vollzogen hat. Er vergleicht Christengemeinde und Bürgergemeinde, indem er eine Fülle ganz ungleichartiger und unvergleichbarer angeblicher und tatsächlicher Merkmale beider Erscheinungen zueinander in Beziehung setzt. In diesem willkürlichen Gemenge, dem das geistige Band fehlt, erscheint ebenso der alt-liberale Ladenhüter der Geheimdiplomatie wie die in ihren geistesgeschichtlichen Voraussetzungen völlig verkannte Lehre von der Gewaltenteilung deren Schöpfer Montesquieu sich wohl sehr wunder würde, unter die Staatslehrer der christlichen Kirche aufgenommen zu sein. Diese Verwirrung ist freilich ein Extrem, für das man die römische Kirche nicht verantwortlich machen kann.

Die im vorigen und in diesem Abschnitt geschilderten Gegensätze nun überschneiden sich dergestalt in den Lehren der großen Konfessionen,

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daß jede von ihnen eine andere Kombination darstellt. Es gilt also nicht allein, das „tertium comparationis”, sondern die Quintessenz, die Wurzel daraus zu ziehen.

Wir können aus dem vorher Entwickelten vier Hauptpunkte herausschälen:
1. Die politische und Rechtsentwicklung der Gegenwart ist in vollem Umfange vom Säkularismus bestimmt.
2. Die Krise des Rechts in Europa ist eine Krise seiner materiellen Einheit.
3. Die Einheit Europas und der Welt schlechthin ist gleichbedeutend mit der materiellen Einheit des Christentums.
4. Rechtsidee und konkrete Rechtsordnung folgen stets der (religiösen oder pseudoreligiösen) Rechtfertigungsidee, das heißt dem geglaubten Grundverhältnis des Menschen zu Gott oder dem an seine Stelle gesetzten geschichtsphilosophischen Prinzip. Dies für Kirchenform und Staatsform noch abzuleiten, überschreitet den Rahmen dieser Betrachtung.

Auch die letzte Reduktion der Rechtsidee, ihre echte Grundformel, jenseits und vor jenen geschichtlichen Sonderlösungen der großen Konfessionen, die alle Denkmöglichkeiten erschöpfen, muß aus dieser zentralen Voraussetzung gewonnen werden.

Sie liegt nicht in dem klassischen, immer wieder in den Erörterungen über das Naturrecht zitierten Satz von der „Ars suum cuique tribuende”, nicht

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in der „justitia distributiva". Sie ist die Maxime eines Souveräns, der kraft seiner Überlegenheit über und außerhalb dieser Welt steht, über die er urteilt. Es ist die großartige Kunst und Regierungsweisheit des römischen Prätors, der aus der Fülle seiner Macht jedem das Seine zu geben unternimmt. Sie liegt nahe zusammen mit jenem stolzen Wort „Parcere subjectis et debellare superbos”, das doch auch die Anmaßung des Machtwillens gegenüber freien Völkern nur schlecht verhehlt.

Der Rechtsbegriff schlechthin ist der der Zweiseitigkeit des Rechts, die auch dem todeswürdigen Verbrecher noch eine unaufhebbare Rechtsposition der Verteidigung, des Gehörs, der gerechten Strafe und mit dieser noch eine weltliche Absolution gibt.

Es gibt keine wahre Rechtsordnung, die nicht das volle Existenzrecht des anderen mit einbezieht. Der Begriff des Nächsten ist ein sehr konkreter Rechtsbegriff. Es ist derjenige, der mir gegeben ist, mit dem ich mich positiv abzufinden habe, nicht den ich mir als gleichartig gewählt habe. Die Zweiseitigkeit des Verhältnisses Gott-Mensch spiegelt sich nicht nur in der Liebesgemeinschaft, sondern auch in der Rechtsgemeinschaft. Die Behauptung, daß insbesondere nach reformatorischer Lehre die Ehe als Liebesgemeinschaft eine höhere Dignität besitze als der Staat, ist richtig, aber doch irreführend. Sie hat zu einer Entwertung des Staates, noch viel mehr des Rechts beigetragen, gegen die

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der gewiß nicht staatsfromme Karl Barth neuerdings Front gemacht hat. Die Ehe ist Liebesgemeinschaft und Rechtsgemeinschaft, Institution des öffentlichen und außerdem bürgerlichen Rechts in einem. Kirche, Staat und bürgerliche Gesellschaft sind in ihr verschmolzen. Was in ihrem engsten Kreise zusammenfällt, tritt in den großen sozialen Verbänden auseinander.

Die materielle Einheit zwischen jenen soziologischen Urelementen des Institutionellen und des Consensus, zwischen 1. und 3. Artikel ist nur in der Person Christi gegeben. Diese Tatsache ist tiefsinnig und dem modernen Menschen fast unverständlich im trinitarischen Dogma dargestellt.

Persönlichkeit in re, Zweiseitigkeit in actu, Gemeinschaft in statu.

Persönlichkeit als Substanz der Welt, als letzter nicht ableitbarer Wert, und zugleich als ursprüngliche Entscheidung und schöpferischer Anfang, als „forma formans", Zweiseitigkeit in der Einbeziehung auch des Unterliegenden, des Gegners, begründet und ermöglicht allein die Gemeinschaft, läßt sie als Zustand, als Status, als Staat erscheinen und entstehen. Die geheimnisvoll dreifaltige Wesenheit Gottes ist zugleich das Existenzgesetz auch des menschlichen Lebens, der menschlichen Gemeinschaft. Gott schuf den Menschen sich zum Bilde. Wie ein Kristall, eine Pflanze, jedes Lebewesen sein physisches Bildungsgesetz in sich trägt, unendlich vielfältig und doch sich aus einem Kerne

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entfaltend, so ist das Lebensgesetz des Menschen als eines geistigen Wesens das Abbild der realen Wesenheit Gottes, seiner Dreifaltigkeit. Personalistisches Gebot und objektive Ordnungen, intelligibles Gesetz und freie Geschichtlichkeit, erster und dritter Artikel treffen sich im zweiten. Hier ist der Brückenbauer, der Pontifex, der zugleich die Brücke selbst ist.

Die Form des Handelns Gottes an der Welt ist die Liebe, die um das anderen willen handelt. Aus dieser Zweiseitigkeit ergibt sich auch die Zweiseitigkeit des Verhältnisses von Mensch zu Mensch, und zwar nicht als Kollektiv irgendwelcher Gemeinsamkeiten, sondern gerade da, wo dieses Kollektiv nicht besteht, allein im Hinblick auf Gott. Der Fehler der Theorie der Menschenrechte und des Naturrechts, ihre verborgene Weltförmigkeit, liegt weniger im Inhalt als in der Blickrichtung; es geht gar nicht um den Menschen, sondern um Gott und den Nächsten. Im Scheitelpunkt dieses Winkels steht der Mensch. Aber an dieser Stelle hat vor uns Christus als der wahre Mensch gestanden — und es steht nicht umsonst geschrieben „Ein jeglicher sei gesinnt, wie Christus auch war”. Aller Kultus, alle Kultur ist eine echte Repräsentation dieses Grundverhältnisses, dieses Grundvorgangs. Deshalb wollen wir auch den qualitativen Unterschied zwischen Kultur und technischer Zivilisation aufrechterhalten, in dem sich wenigstens ein Rest der Einsicht in die Tatsache noch verbirgt. Deshalb ist

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die Gemeinschaft der Christenheit eine Gemeinschaft der Buße, der Sündenvergebung, des Altarsakraments. Dasselbe meint der Papst, wenn er aussprach, der wesentlichste Beitrag der Kirche für die Rettung der Welt liege in der Messe. Eine Menschheit, die nicht mehr das Wort hört: ,Vergebet, wie euch vergeben ward’, darf sich über ihre Zerstörung nicht wundern.

In dieser Einsicht liegt, unbeschadet der Unbegrifflichkeit der zentralen Glaubenstatsachen, Schlüssel und Richtmaß auch für unser staatliches und rechtliches Handeln.

 

X.

Wo steht in dieser Lage die Christliche Kirche und was hat sie zu sagen?

Drei Worte seien hier vorangestellt:
1. Der Anglikaner Demant schrieb schon 1935 in der Vorerörterung der ökumenischen Studienkonferenz von Paris: „Der Staatstotalismus ist keine Erscheinung, zu der die Kirche pharisäerhaft nein sagen kann. Es ist ein Phänomen, das die Kirche wegen ihrer Apostasie zu einer Buße von geradezu revolutionärer Tiefe führen sollte” („Die Kirche und das Staatsproblem der Gegenwart”).
2. Kardinal Faulhaber sagt 1946 im Gespräch: „Noch nie war der Einfluß der christlichen Kirche auf die Politik so gering wie heute.”

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3. Prälat Hartenstein (Württemberg) sagte nach den Amsterdamer Vorbesprechungen des Weltmissionsrates: „Noch nie, seit das Christentum europäischen Boden betrat, war die Verständigung unter den Christen verschiedener Nationen so einfach und vollständig.”
Diese drei Worte kennzeichnen die Lage der Christenheit nahezu vollständig.

Es ist ganz gewiß nicht unsere Kraft und Macht, die aus dieser tödlichen Not rettet. Das Wort Gottes, schärfer als ein zweischneidig Schwert, kann den abgefallenen Menschen nur richten und zugrunde richten. Der Logos, die Logik der abgefallenen Welt, reißt sie nach dem Gesetz des Falls in steigender Beschleunigung in den Abgrund. Jeder Versuch, sich aus diesem Fall mit menschlichen Mitteln zu retten, beschleunigt nur mit der Kraft der Eigenbewegung diese Geschwindigkeit. Besäßen wir eine Theologie der Zeit, so würden wir von diesen Dingen mehr wissen. Die Welt lebt demgegenüber von dem großen Dennoch Gottes, von der paradoxen Tatsache, daß das Wort Fleisch geworden ist.

Um der Sünden der römischen Kirche willen ist die Christenheit zerstreut worden; durch die Sünden der Christenheit ist die Wahrheit Christi unglaubwürdig geworden. Wo sind die Könige und Priester, die Richter und Ärzte, die Christenmenschen überhaupt, die, weil sie um Gott wußten, auch um den Menschen wußten und jene echte

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Repräsentation zu vollziehen vermochten? So hat die Menschheit verlernt, noch im fehlsamen Träger den Sinn des Amtes und Dienstes, in der unvollkommenen Einrichtung den Gedanken der Ordnung zu achten.

Die Kirche ist auf dem Tiefpunkt ihres Einflusses seit anderthalb Jahrtausenden; der konstantinische Bund zwischen Staat und Kirche ist sichtbar aufgelöst. Möge auch das Urteil begründet sein, daß ihre gegenwärtige Entwicklung einschließlich der der römischen Kirche ein Entsäkularisierungsvorgang sei.

Dennoch ist niemals zugleich die Frage nach dem, was die Kirche zur Unordnung der Welt zu sagen habe, auch von außerhalb ihres Raumes so laut gestellt worden. Und in der Tat: die Bischöfe aller Konfessionen und Völker, nicht die Professoren, haben fast allein unbeirrbar ihre Stimmen zur Buße und Vergebung, für Wahrheit und Recht erhoben. Und diese Stimme ist gehört worden von den Völkern, die darauf blicken wie auf ein einsames licht in einer hoffnungslosen Sturmnacht. Es gibt also noch einen Kern, der diesem Schmelzprozeß widersteht — und die gesamte, nach Einheit des Geistes und des Handelns strebende Christenheit muß immer mehr zu diesem Kern werden.

Eines der wenigen guten Worte in eine haßerfüllten Gegenwart lautete: Demokratie ist Synthese. Sagen wir es schärfer: Nur wo sie Synthese ist, vermag sie dem Schicksal zu entgehen, zu einer

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widerchristlichen Ideologie der Selbsterlösung zu werden, feiner oder gröber die Welt zu vergewaltigen. Synthese aber wird sie nur zu sein vermögen, wenn sie um den Katalysator, den Urheber, den Autor weiß, der allein zu binden vermag, um die echte Autorität, um dieses heute so verpönte Wort einmal in seinem ursprünglichen Sinn zu gebrauchen: Autorität heißt Urheberschaft.

Um noch einmal Demant zu zitieren („Totaler Staat und christliche Freiheit”, 1937, S. 76/77):

„Der säkulare Totalitätsanspruch ist eine Ketzerei, in die der Mensch in seiner Reaktion gegen das Unheil hineingetrieben worden ist, das aus jener anderen Ketzerei des säkularen Liberalismus entstanden ist. Der Widerstreit zwischen diesen beiden Geistesströmungen ist das Ergebnis von Entwicklungen, die zu zwei völlig verschiedenen Auffassungen vom Menschen und seiner Freiheit geführt haben, während sie in der überlieferten christlichen Theologie in dialektischer Spannung leben. Dem säkularen Totalitätsanspruch kann man nicht wirkungsvoll durch sein säkulares Gegenstück, den Liberalismus, begegnen, sondern nur durch ein erneutes Bekenntnis zu jener Synthese, für deren Behauptung die Kirche angesichts der zersetzenden Mächte im menschlichen Geistesleben immer wieder alles einsetzen muß.”

Die bittere Wirklichkeit aber spricht Tocqueville schon vor 100 Jahren aus mit dem Worte:

Demokratische Staaten entschließen sich schwer zum Kriege, aber sie vermögen ebenso schwer Frieden zu schließen.”

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Daß sich hier jeder Gegensatz zu tödlicher Existenzialität verdichtet, entspringt aus der radikalen Selbstrechtfertigung des modernen Menschen. Um so leichter ist es bereit, das andere Volk nach dem eigenen Bilde zu formen. Die Völker haben in einem erschreckenden Maße gelernt, einander die sittliche Existenzberechtigung und damit zugleich ihr geistiges Lebensrecht abzusprechen. Die Unfähigkeit der Menschheit, Frieden zu schließen, ist ein echtes und ernstes Symptom ihrer inneren Lage. Während früher die Gleichheit der Kräfte ein Mittel des Friedens war, ist sie heute ein Hindernis. Ein Friede mit oder ohne Unterschrift, der formell ohne Gehör, sachlich unter Mißachtung des Lebensrechtes des deutschen Volkes als einer auch nicht von Menschen geschaffenen Tatsache geschlossen wird, entbehrt des echten Rechtscharakters. Aber auch die Forderungen des Naturrechts und der Menschenrechte, die wir in Erinnerung bringen, heben die Pflicht und das Recht der Siegermächte zur geschichtlichen Entscheidung nicht auf. Beides zur Deckung bringen, ist ihre Aufgabe. Mögen viele mit General MacArthur einsehen, daß der Friede eine theologische Frage ist.

Gerade dadurch aber, daß sich die Zerrüttung des Rechtes wiederum in der Form der Rechtssetzung als der technischen Lebensform des Staates vollzieht, ist die Einsicht in die gegenwärtige Lage so sehr erschwert. Es gilt die letzte große Illusion zu zerstören, als habe es sich nur darum gehandelt,

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die faschistischen Staatssysteme zu überwinden. Die Potsdamer Beschlüsse beendeten eine Periode der Zerstörung der europäischen Rechtsordnung und eröffneten eine neue. Auch hier unterscheiden sich freilich die Aktivisten der Bewegung, die bewußt Entrechtung und Verzweiflung in ihre Rechnung einstellten, Zerstörung statt Frieden suchten, von den Mitläufern, die sich betrügen und mit halben Herzen auf den Boden der Tatsachen zerren ließen.

Wir wissen freilich nicht, ob die Selbstzerstörung der selbstgesetzlichen Menschheit, der kämpfenden Ideologien noch irgendeinen Zukunftsraum lassen wird. Denn selbst die Atomphysiker wissen nicht, ob die Anwendung ihrer Waffen Kettenreaktionen auslösen wird, die alles menschliche Leben auf diesem Planeten auslöschen. Wir wissen in unserer wahrhaft apokalyptischen Situation nicht, ob Gottes Langmut in unserem Sodom noch fünf Gerechte finden wird, um derentwillen er seinem Zorn Einhalt gebietet.

Niemals ist menschliche Hoffnung weniger berechtigt, niemals ist die Forderung an den Christen größer gewesen.

Wagen wir es in getroster Verzweiflung, im Vertrauen auf das große Dennoch Gottes zu glauben, daß Gott noch etwas mit uns vorhat; und alles Große wird in Ketten geboren. Die Aufgabe und die Verheißung der großen Synthese, der Heimführung der Ratio in den Raum der Kirche, stellt sich gerade ins Blickfeld der Ökumene, einer sich

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wieder zusammenfindenden Christenheit. Ihre Aufgabe ist es, Gemeinde Christi zu sein und immer mehr zu werden. Je mehr sie es in Wahrheit ist, in dem Maße wird sie Kraft und Vollmacht haben, die Völker nicht Ideologien zu lehren, sondern zu lehren, um Gottes willen am Nächsten brüderlich, solidarisch, zweiseitig zu handeln.