IV. Rechtes Kirchenrecht ist vorbildliches Recht: in seiner ganzen Eigenartigkeit exemplarisch für die Bildung und Handhabung des menschlichen Rechtes überhaupt und also des Rechtes auch der anderen, der politischen, wirtschaftlichen, und kulturellen und sonstigen menschlichen Gemeinschaften.

Ich beginne am besten mit der Anführung einiger Sätze von Erik Wolf (Rechtsgedanke und bibl. Weisung 1948, S. 93): „Was könnte es für die Welt bedeuten, wenn die Kirchenordnung und das Kirchenrecht nicht bloß geistliche Umstilisierungen weltlicher Verfassungen und Gesetzbücher wären, sondern echte, ursprüngliche Zeugnisse der brüderlichen Gemeinschaft der Jünger Christi. Was könnte es bedeuten, wenn das Kirchenrecht nicht mehr eine positivistisch-juristische

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Ordnung auf dem Boden irgend einer historischen Staatsform oder eine positivistisch-theologische Ordnung auf dem Boden irgend einer historischen Bekenntnisschrift wäre, sondern ein wahrhaft bekennendes Kirchenrecht, eine lebendige Gemeinschaftsordnung, die für alle anderen Menschen ein Zeugnis ablegte für die Mitte und das Haupt dieser Gemeinschaft: Christus!”

Um was geht es? Es geht vor allem um die Erkenntnis, daß die christliche Gemeinde bei der Bildung und bei der Handhabung ihres Rechts, indem sie dabei zuerst und entscheidend ihrem Herrn verantwortlich ist, auf der menschlichen Ebene eine Verantwortlichkeit nach zwei Seiten — nach innen und nach außen nämlich — auf sich nimmt. Keine gespaltene, keine zweifache Verantwortlichkeit: sondern in und mit ihrer Verantwortlichkeit nach innen, sich selbst gegenüber, auch nach außen, der Welt gegenüber. Sie ordnet sich selbst, ihr eigenes, von dem der Welt verschiedenes Leben von dessen Mitte, von ihrem Gottesdienst her — und das, indem sie vor allem eben ihren Gottesdienst ordnet. Sie tut das aber nicht nur um ihrer selbst willen, in keiner noch so heiligen Selbstsucht. Wie würde sie damit gegen ihr Grundrecht verstoßen, das sie doch in ihrer Ganzheit und in allen ihren Gliedern zum Dienst verpflichtet: zum Dienst in der Nachfolge dessen, der nicht gekommen ist, sich dienen zu lassen, sondern zu dienen! Wir greifen noch einmal auf unsere Definition zurück: die christliche Kirche ist als Leib Jesu Christi und also als seine irdisch-geschichtliche Existenzform die vorläufige Darstellung der in ihm geheiligten Menschheit. Nicht für sich, sondern für die Menschheit hat sich doch Jesus Christus geheiligt. Eben daß er das getan hat, daß also die Menschheit in ihm schon geheiligt ist, hat die christliche Gemeinde ihr — nämlich der dessen noch nicht gewahr gewordenen, weil ihn noch nicht erkennenden Welt — gegenüber darzustellen. Vorläufig darzustellen, indem die völlige und endgültige Darstellung dieser Veränderung der ganzen menschlichen Situation nicht ihre Sache, sondern nur die ihres Herrn in seiner Offenbarung sein kann, der sie jetzt und hier mit der Welt zusammen erst entgegengeht. Diese Veränderung: die in Jesus Christus geheiligte Menschheit

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vorläufig darzustellen, ist aber die Aufgabe, die Bestimmung, der klare Auftrag, dem sich die Gemeinde in der Zeit zwischen seiner Auferstehung und seiner Wiederkunft, die nun eben ihre Zeit ist, nicht entziehen kann. Sie existiert im Dienst des Zeugnisses, das sie, indem sie als christliche Gemeinde existiert, der Welt schuldig ist und also nicht vorenthalten darf. Und nun ist ja gerade ihre Rechtsordnung die Gestalt, in der sie sich nach außen in den Augen der Welt darstellt: in der sie sich als eine menschliche Rechtsgemeinschaft inmitten aller anderen — zuerst und vor allem dem Staat gegenüber — abzeichnet, bemerkbar, auffällig macht. Das bedeutet nun aber: Es ist schon recht mit dem Satz, daß das Kirchenrecht ein ius sui generis, ein in seiner Begründung und Gestaltung von dem des Staates und von dem aller anderen Gemeinschaften toto coelo verschiedenes Recht ist. Es ist schon recht, daß es vom Staatskirchenrecht, das nur der Ausdruck eines ius circa sacra sein kann, als ius in sacra scharf zu unterscheiden und also streng als Ausdruck der eigenen Hoheit der Gemeinde — vielmehr als der Reflex der Hoheit ihres Herrn zu verstehen ist. Es wäre aber nicht recht, sondern höchst unrecht, wenn die Gemeinde meinte, es bei seiner Bildung und Handhabung nur mit sich selbst, mit ihrer eigenen Sache, mit ihrem Gottesdienst als der Mitte ihres Lebens zu tun zu haben. Es wäre das eben darum höchst unrecht, weil ja gerade ihre eigene Sache, um die es in ihrem Gottesdienst und in ihrem ganzen wieder als Dienst zu verstehendes Leben geht, das Zeugnis ist, das sie denen, die draußen sind, schuldig ist. Sie kann also denen, die draußen sind, nicht gleichgültig und stumm, nur mit sich selbst beschäftigt gegenüberstehen. Sie kann nur dann recht mit sich selbst beschäftigt sein, wenn sie eben damit auch mit ihnen beschäftigt ist, sich auch ihnen verantwortlich weiß. Sie muß mit ihnen reden — und nun eben auch in der Weise mit ihnen reden, daß sie ihnen das in ihr gültige Recht vor Augen führt.

Wozu das? Gewiß nicht zur Erhebung des Anspruchs: es müsse das in der Kirche gültige Recht auch das Recht des Staates und der anderen menschlichen Gemeinschaften werden!

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Gewiß nicht, um sie aufzufordern oder auch nur einzuladen, sich ihre, die kirchlichen Rechtssätze anzueignen und also das Kirchenrecht an die Stelle ihres Rechtes treten zu lassen. Kurzum: gewiß nicht in der Absicht, die Welt und insbesondere den Staat als die alle anderen umfassende Gemeinschaftsform zu verkirchlichen! In der in der künftigen Offenbarung Jesu Christi kommenden Erlösung, im himmlischen Jerusalem, in der Herrlichkeit des ewigen Lebens wird es allerdings nur ein Recht geben: aber das wird das Recht Jesu Christi über alle Lebensbereiche, das Recht des Reiches Gottes sein, kein menschliches Recht also, und so auch kein Kirchenrecht. Welches Recht welcher Kirche in welchem Stadium ihres Übergangs von Gestern ins Morgen, vom Schlechteren zum Besseren, könnte denn der Welt jemals als Norm vorgehalten und zur Nachachtung empfohlen werden? Und vor allem: Wie könnte denn erwartet werden, daß die Welt auch ein approximativ vollkommenes Kirchenrecht auch nur verstehen, als für ihre Zwecke brauchbar erkennen, geschweige denn ihrerseits sinnvoll handhaben werde? Dazu müßte sie ja erkennen, was sie nicht erkennt, anerkennen, was sie nicht anerkennt: die Herrschaft Jesu Christi als die Autorität dessen, in welchem ihre Versöhnung mit Gott vollzogen ist, die Majestät seines Wortes, die Macht seines Heiligen Geistes. Das Recht des Staates und das Recht aller übrigen menschlichen Gemeinschaften ist in dem Sinn „weltliches” Recht, daß es, auch wenn ihre Glieder und Vertreter für sich persönlich Christen sind und zur Gemeinde gehören, mit dem für das Recht der Gemeinde entscheidenden Grundrecht gerade nicht rechnet, sondern von anderweitigen (historischen oder spekulativen) Prinzipien her begründet und geformt ist. Die Welt müßte ihre eigenen Voraussetzungen preisgeben und in der Gemeinde aufgehen, wenn sie deren Recht auch nur in einem einzigen Punkt direkt zu übernehmen wüßte. Wo bliebe übrigens, wenn die Kirche der Welt mit dieser Zumutung entgegentreten, wenn sie sie gewissermaßen schulmeistern wollte, der gerade ihr gebotene Respekt vor dem selbständigen göttlichen Auftrag, der insbesondere in der Existenz des Staates wirksam und

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sichtbar ist? So, im Sinn eines der Welt aufzunötigenden und von ihr zu erfüllenden Gesetzes kann also der Begriff der Vorbildlichkeit des Kirchenrechtes auf keinen Fall verstanden werden.

Aber warum nun nicht in dem Sinn, daß sie der Welt auch in der Gestalt ihres besonderen Rechtes das Evangelium vernehmbar zu machen hat? Nicht ein Gesetz oder Ideal, nicht eine Zumutung und Forderung, sondern das Evangelium ist doch das, was die christliche Gemeinde der Welt schuldig ist: die gute Botschaft von der Wirklichkeit Jesu Christi, in der ihr geholfen, in der ihre Sünde überwunden, ihr Jammer behoben ist, das Wort von der Hoffnung auf das große kommende Licht, in welchem ihre Versöhnung mit Gott offenbar werden wird. Es ist hier noch nicht der Ort , das Problem der prophetischen Sendung der Gemeinde in der Welt und insbesondere das ihrer Verantwortlichkeit im Verhältnis zu der in der Existenz des Staates wirksamen und sichtbaren göttlichen Anordnung auch nur im Umriß zu entfalten: den ganzen Komplex „Christengemeinde und Bürgergemeinde” zur Sprache zu bringen. Das ist sicher und das muß hier vorwegnehmend festgestellt sein: der entscheidende Beitrag, den die Christengemeinde zum Aufbau, zum Werk und zur Erhaltung der Bürgergemeinde zu leisten hat, besteht in dem Zeugnis, das sie ihr und allen anderen menschlichen Gemeinschaften gegenüber in Gestalt der Ordnung ihres eigenen Aufbaus und Bestandes abzulegen hat. Jesus Christus selbst, der auch ihr Herr und Heiland ist, den Frieden, die Freiheit und die Freude des Reiches Gottes kann sie der Welt freilich nicht unmittelbar vor Augen führen, so gewiß sie ja selbst nur eine menschliche Gemeinschaft ist, die seiner Offenbarung mit allen anderen zusammen erst entgegengeht. Sie kann und muß aber der sie umgebenden Menschheit in der Form, in der in ihrer Mitte nun eben sie existiert, Erinnerung an des Recht des auf Erden in Jesus Christus schon aufgerichteten Reiches Gottes — sie kann und muß ihr Verheißung seiner künftigen Offenbarung sein. Sie kann und soll ihr — de facto, ob sie es bemerkt oder nicht — vor Augen führen, daß es auf Erden jetzt schon eine Rechtsordnung

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gibt, die auf jene große Veränderung der menschlichen Situation begründet und auf deren Offenbarung hin ausgerichtet ist. Sie kann und soll denen da draußen nicht nur sagen, sondern durch die Tat vordemonstrieren, daß das weltliche Recht in der Form, in der sie es für verbindlich halten und außer der sie einander nicht zu kennen, nicht für brauchbar halten zu können meinen, jetzt schon kein letztes Wort ist, keine unbegrenzte Autorität und Macht haben kann, daß es nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden, nicht nur dereinst, sondern auch jetzt schon auch anders geht, als diese es bei der Bildung und Handhabung ihres Rechtes für allein möglich halten. Sie kann ihnen kein vollkommenes, endgültig geformtes, sondern auch nur ein gebrechliches, weil vorläufiges — sie kann und soll ihnen aber ein in seiner ganzen Gebrechlichkeit und Vorläufigkeit andersartiges, korrigiertes, über sich selbst hinausweisendes und insofern nun doch — höheres, besseres menschliches Rechtsdenken und Rechtshandeln vorführen. Ihr können ja die Schranken, die Härten und Schwächen, das Unzureichende, Unbefriedigende, die tiefe Gefährdung und Gefährlichkeit eines nicht in Erkenntnis der Herrschaft Jesu Christi entworfenen ius humanum nicht verborgen sein. Sie weiß doch, daß es, soll es Recht, Ordnung, Frieden und Freiheit auf Erden auch nur in der Gebrechlichkeit und Vorläufigkeit der Jetztheit geben, der Erkenntnis und der Anerkennung des Rechtes dessen bedürfte, der sie mit Gott versöhnt hat und in welchem die Heiligung der Menschheit schon Ereignis ist. Das Recht der Kirche ist das Ergebnis ihres Versuches, in Erkenntnis und Anerkennung des Rechtes Jesu Christi zu denken und zu handeln: in der ganzen, auch ihr eigenen Gebrechlichkeit und Vorläufigkeit nun eben dieser menschliche Versuch! Von daher und darin ist es allem weltlichen Recht gegenüber nicht in absolutem, aber in relativem Vorsprung. Von daher und darin bezeugt es allem Völkerrecht und Staatsrecht, allem Privatrecht und Strafrecht, allem Vermögensrecht und Vereinsrecht der Welt gegenüber das Evangelium vom Reiche Gottes. Die Gemeinde weiß wohl, daß sie selber es am Nötigsten hat, es zu hören und immer wieder zu hören.

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Das darf sie aber nicht hindern, das kann sie nur umsomehr verpflichten, es auch in der Welt — und nun eben auch in der Gestalt ihrer Rechtsordnung — zu Gehör zu bringen. Sie weiß ferner wohl, daß sie ihr das Recht Gottes nicht direkt, nicht unmittelbar, sondern nur eben in der gebrochenen Form dieses ihres menschlichen Rechtes gegenüberstellen kann, mit der sie auf das Recht Gottes auch im besten Fall nur hinzuweisen vermag. Aber eben diesen Hinweis zu vollziehen kann und darf sie sich selbst nicht ersparen und eben ihn kann und darf sie der Welt nicht vorenthalten. Schon dieser Hinweis in Gestalt ihres relativ höheren und besseren Rechtes könnte ja der Welt, auch wenn sie seinen Ursprung und Grund nicht erkennt, relativ hilfreich und heilsam und in dieser verhüllten Gestalt gute Botschaft sein: das Angebot von besseren Möglichkeiten, die sie noch nicht bedacht hat, die Einladung, ihr eigenes Rechtsdenken und Rechtshandeln mindestens in der Richtung auf die ihr gezeigten Möglichkeiten zu revidieren, eventuell zu korrigieren: sie hier zu klären, dort zu vertiefen, hier zu vereinfachen, dort zu differenzieren, hier zu lockern, dort zu festigen. Die Gemeinde kann und darf der Welt diesen Hinweis darum nicht vorenthalten, sie muß sich ihr, indem sie ihr eigenes Recht bildet und handhabt, darum verantwortlich wissen, weil sie erkennt, daß Jesus Christus nicht nur den Anspruch, sondern, sedens ad dexteram Patris omnipotentis, auch die Macht hat und ausübt, auch in der Welt zu herrschen, daß es also kein Zufall ist, wenn auch in der Welt, die Ihn als den, der er ist, nicht kennt und anerkannt — und nun doch auch da in lauter Versuchen einer Bewegung vom Schlechteren zum Besseren — nach Recht gefragt und auch allerlei Recht gefunden und aufgerichtet wird. Die Gemeinde sieht in diesem Geschehen nicht nur ein Meer ewig sich erneuernden menschlichen Irrtums und Unrechts, sondern — in einer ihr undurchsichtigen, aber realen Weise — denselben Herrn am Werk, der ihr im Unterschied zur Welt offenbar ist und dem sie sich, wieder im Unterschied zur Welt, bewußt verantwortlich und verpflichtet weiß. Sie kann also diesem Geschehen bei aller Einsicht in dessen Schranken und Schwächen weder ablehnend

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und feindselig, noch auch nur gleichgültig gegenüberstehen. Sie weiß sich an ihm beteiligt. Sie rechnet damit, daß es auch dort — eben von der Mitte her, die auch und zuerst ihre eigene Mitte ist — ein Rechtsempfinden und einen Weg vom schlechteren zum besseren Recht tatsächlich gibt. Und sie weiß sich selbst verantwortlich dafür, daß dieser Weg auch dort gesucht, gefunden und begangen werde: der Weg — nicht zum Reiche Gottes, denn von ihm kommt acht die Welt schon her, und seine Offenbarung kommt ohne alles menschliche Zutun — aber der Weg zu etwas besserem Recht, zu etwas ernsthafterer Ordnung, zu etwas sichererem Frieden, zu etwas echterer Freiheit, zu einer etwas solideren Erhaltung und Gestaltung des menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Daß die Tragweite der in Jesus Christus geschehenen Heiligung der Menschheit sich auf sich selbst, auf die Versammlung der an Ihn Glaubenden beschränke, daß sie nicht auch extra muros ecclesiae ihre Auswirkungen und Entsprechungen habe — das würde ja eine Meinung sein, in der die Gemeinde ihrem eigenen Bekenntnis zu ihrem Herrn allzusehr widersprechen würde. Rechnet sie aber mit ihrer Auswirkung und Entsprechung auch da draußen, dann wie sie sich der Aufgabe nicht entziehen können — sie wird es sich dann auch in aller Bescheidenheit zutrauen, vor allem durch ihre eigene, auf ihre Erkenntnis und Anerkennung des Herrn Jesus Christus begründete Rechtsordnung zur Besserung auch des weltlichen Rechtes das Ihrige beizutragen.

Es möchte sein, daß die Vorbildlichkeit des Kirchenrechtes und damit der Beitrag der Gemeinde zur Besserung auch des weltlichen Rechtes einfach darin besteht, daß sie ihrer Umgebung das Faktum einer solchen Ordnung vor Augen führt, die als reine Dienstordnung die Dialektik von Leistung und Anspruch, Würde und Bürde, Nehmen und Geben grundsätzlich hinter sich hat. Weltliches Recht, auch das des besten Staates, wird diese kümmerliche Dialektik nie hinter sich, sondern als sein eigentliches Problem immer wieder vor sich haben. Und eben daran leidet es auch. Wie hilfreich könnte es auch innerhalb dieser Unvollkommenheit für die Meisterung des Rechtsproblems sein, im Kirchenrecht eine solche reine Dienstordnung wenigstens richtungweisend vor Augen zu haben!
Es möchte sein, daß die Vorbildlichkeit des Kirchenrechtes darin

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besteht, daß es der ihrerseits nach Recht fragenden Menschheit veranschaulicht, wie die Ordnung einer solchen Gemeinschaft aussieht, die sich selbst erstaunlicherweise nicht zum Rechtssubjekt qualifiziert weiß, die also nicht auf irgendeiner naturrechtlichen Spekulation angewiesen ist, sondern … die Alternative: „auf die Autorität Jesu Christi” wird der Welt nicht einsichtig zu machen sein. Aber wird ihrem Rechtsdenken und Rechtshandeln nicht schon das gesund sein, sich mit der Rechtsfindung und dem Rechtsgebaren einer menschlichen Gemeinschaft konfrontiert zu finden, die von dem Fahren auf jenem Karussell dispensiert zu sein scheint? Wäre ihm nicht schon das hilfreich zu seiner eigenen Besserung, im Kirchenrecht nun eben dem Rätsel dieser Freiheit, dem Geheimnis eines der menschlichen Gemeinschaft überlegenen Rechtssubjektes begegnen zu müssen?
Es möchte dessen Vorbildlichkeit auch darin bestehen, daß es sich auf keine rechtsfremde Macht stützt — bei seiner Aufrichtung nicht und bei seiner Durchführung auch nicht — daß es gerade nur im Vertrauen Aller zu Allen zustande kommen und gehandhabt werden kann, eben in diesem Vertrauen aber tatsächlich zustande kommt und gehandhabt wird. Kein weltliches Recht wird sich an dieser Voraussetzung genügen lassen können und wollen. Aber könnte es nicht auch zu seiner Besserung dienlich, vielleicht unentbehrlich sein, durch die Existenz des Kirchenrechtes an die Basis erinnert zu werden, ohne deren Vorhandensein letztlich und endlich auch in Staat und Gesellschaft keine Ordnung zustande kommen und gehandhabt werden kann? Was hülfe ihm alle seine Beachtung erzwingende äußere Gewalt, wenn es nicht darüber hinaus das Recht im Recht, nämlich eben an das Vertrauen der Menschen zueinander appellieren könnte?
Es möchte die Vorbildlichkeit des Kirchenrechtes weiter auch darin bestehen, daß es die in der christlichen Gemeinschaft vereinigten Menschen nicht nur unter bestimmten Gesichtspunkten bindet, sondern gänzlich miteinander verbindet, daß es sie gerade dort in den Schutz und unter die Kontrolle der Gemeinschaft stellt, wo das weltliche Recht seine Grenze hat: einen jeden in seinem eigenen und eigentlichen Leben. Es gibt sich mit weniger als der gemeinsam und gegenseitig zu übernehmenden Verantwortlichkeit Aller für Alle — und das in jeder Hinsicht! — nicht zufrieden. Kein weltliches Recht wird es darin nachahmen können. Aber wird es zum Entstehen und zum Bestand rechten menschlichen Rechtes nicht gut, vielleicht geradezu erforderlich sein, daß die dafür Verantwortlichen konkret daran erinnert werden, daß jede ernstlich so zu nennende Gemeinschaft eigentlich Lebensgemeinschaft, Kommunion meint und ohne ganze Zuwendung der Einen zu den Anderen auch partiell letztlich nicht durchzuführen ist? Die Existenz des Kirchenrechtes könnte ihm das paradigmatisch sichtbar machen.
Es möchte weiter auch darin vorbildlich sein, daß es in ihm im

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Blick auf jedes einzelne Glied der Gemeinde — ob hoch oder niedrig, begabt oder weniger begabt, ob von dieser oder jener Herkunft und Art — in erster Linie schlechterdings um den Bruder geht. Weltliches Recht sieht den Menschen in lauter sachlichen Beziehungen. Es regelt seine Einordnung in das Gefüge der Gesellschaft und des Staates und die ihm von daher erwachsenden Verpflichtungen. Es schützt und begrenzt seinen Lebensraum, seine Tätigkeit, seinen Besitz, seine Ehre, es bestimmt die ihm erlaubten und die ihm versagten Freiheiten. Es erreicht aber nicht den Menschen selbst — obwohl und indem es doch in allen jenen Sachbeziehungen zuerst und zuletzt um den Menschen geht. Rechtes Kirchenrecht fängt auch in dieser Hinsicht genau dort an, wo alles weltliche Recht aufhört. Sollte es nicht auch diesem, auch wenn und indem es jenem seinem Bereiche treu bleibt — heilsam sein, konkret an den Menschen als an seinen eigentlichen Gegenstand erinnert zu werden?
Und vorbildlich möchte das Kirchenrecht schließlich auch in seinem Charakter als von Hause aus lebendiges Recht sein: als — vom göttlichen unterschiedenes — menschliches, als solche aber ernsthaftes und zugleich bewegtes, nach vorne aufgeschlossenes Recht — Recht in nach rückwärts wie nach vorwärts gleicher Verantwortlichkeit. Wissen die für das weltliche Recht Verantwortlichen, daß auch das von ihnen zu findende, zu hütende und anzuwendende Gesetz nur als lebendiges Gesetz richtiges Recht sein kann? Wieviele von seinen Härten und Schwachheiten sind dadurch bedingt, daß gerade das in Staat und Gesellschaft allzu leicht ignoriert oder wieder vergessen oder bewußt mißachtet wird? Die Kirche könnte es der Welt durch das in ihrer Mitte aufgerichtete Faktum ihres Recht warnend und ermutigend zu bedenken geben, daß wirkliche Gerechtigkeit schon in der Gebrechlichkeit und Vorläufigkeit der Jetztzeit kein gefrorener oder sonstwie stehender Tümpel sein kann, sondern, unablässig vom Schlechteren zum Besseren fließend, ein lebendiger Strom sein müßte.

Man verstehe die ganze Gegenüberstellung von kirchlichem und weltlichen Recht richtig! Die Welt mit ihrem Recht liegt im Argen. Sie liegt aber immerhin auch abgesehen von ihrer Konfrontierung mit der Kirche und ihrem Recht nicht nur im Argen! Sie ist doch auch in Gottes Hand, und seinem Gericht und seiner Gnade ist auch sie nicht entfallen. So gewiß es ja unter Gottes Anordnung und Führung geschieht, daß auch in der Welt außerhalb der Kirche nach Recht gefragt, Recht proklamiert, respektiert und praktiziert wird! So gewiß ja Jesus Christus Herr und König über Alle und Alles und als solcher auch extra muros ecclesiae nicht

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müßig ist. An dem ist es also nicht, daß das relativ Höhere, Bessere und insofern Vorbildliche des kirchlichen Rechtes der Welt und ihrem Recht notwendig, immer und überall schlechthin neu und fremd sein müßte. Wäre dem so, daß kirchliches und weltliches Recht sich schlechterdings beziehungslos, gegenseitig exklusiv gegenüberstünden, dann würde ja das mit dem kirchlichen dem weltlichen Recht gegenüber abzulegende Zeugnis unmöglich, gegenstandslos sein. Nun haben aber beide das Doppelte gemein, daß sie menschliches Recht sind und daß sie in ihrer ganzen Menschlichkeit anderswo als im Raume des göttlichen Rechtes weder aufgerichtet werden, noch Geltung und Kraft haben können. Ein Hinüber und Herüber zwischen ihnen wird von daher nicht prinzipiell ausgeschlossen, eine absolute Überlegenheit des kirchlichen dem weltlichen Recht gegenüber schon von daher nicht möglich sein. Wirklich — und nun allerdings toto coelo — überlegen ist es diesem schließlich doch nur von seinem Erkenntnisgrund her, während es in allen seinen jeweils von daher gewonnenen Gestaltungen — als das jeweilig erkannte und aufgerichtete Recht dieser Kirche zu dieser Zeit — an den Schranken und Schwächen des weltlichen Rechtes seinen nicht geringen Anteil haben wird. Eben sein Erkenntnisgrund — die Herrschaft Jesu Christi ad dexteram Patris omnipotentis — ist aber der Realgrund auch alles weltlichen Rechtes. Wie sollte es da zu erwarten sein, daß es in dessen Gestaltungen — mag ihnen, da sie nicht von der Erkenntnis des Grundes allen Rechtes herkommen, noch so viel fehlen — an Analogien (Entsprechungen!) zum kirchlichen Recht gänzlich fehlen werde? Von seinem Realgrund her, den es mit dem kirchlichen Recht gemeinsam hat, ist auch das weltliche gleichnisbedürftig und gleichnisfähig: gleichnisbedürftig, weil es gerade nur insofern Recht und nicht Unrecht ist, als die Herrschaft Jesu Christi faktisch auch in seiner Bildung und Handhabung wirksam ist — gleichnisfähig, weil die Herrschaft Jesu Christi sich faktisch auch in seiner Bildung und Handhabung auswirken kann. Mit seinem Anteil an dem Realgrund allen Rechtes wird also prinzipiell ebenso bestimmt zu rechnen sein, wie mit dem Anteil des

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kirchlichen Rechtes an den Schranken, Härten und Schwächen allen Weltrechtes. Und mit dem Sichtbarwerden von Analogien, von λόγοι σπερματικοί des weltlichen Rechtes zum kirchlichen wird praktisch mindestens von Fall zu Fall ebenfalls zu rechnen sein. Gerade weil und indem die Kirche bei der Frage nach ihrem Recht sich strikte an die offenbare Herrschaft Jesu Christi zu halten hat, wird sie sich nicht weigern dürfen, sich durch faktische Auswirkungen auch außerhalb ihres eigenen Raumes an sie erinnern, vielleicht sich zu ihr zurückrufen zu lassen. Es möchte nämlich in ihrer Begegnung mit der Welt gerade auf diesem Gebiet gelegentlich wohl vorkommen, daß die Kinder der Welt sich faktisch als klüger erweisen als die Kinder des Lichtes, daß also die Kirche in der Frage nach ihrem Recht faktisch Anlaß bekommt, bei der Welt (die doch nicht weiß, was sie weiß!) in die Schule zu gehen, sich von denen da draußen bezeugen lassen zu müssen, was sie eigentlich ihnen zu bezeugen hätte. Sie wird sich dieser Möglichkeit gegenüber bei allem Wissen um die Selbständigkeit ihrer Aufgabe nicht verschließen dürfen.

Sie wird ihr aber, wenn sie Wirklichkeit werden sollte, nur dies entnehmen, daß sie selbst umso ernstlicher aufgefordert ist, das ihr aufgetragene Zeugnis nun erst recht — und nun eben besser als bisher — auszurichten. Und nun eben nicht in grämlichen Pessimismus, als ob es da draußen doch nicht vernommen und angenommen werden könnte, sondern in der zuversichtlichen Erwartung, daß ihr Beitrag zu der Besserung, die nach Gottes Anordnung auch inmitten der Gebrechlichkeit und Vorläufigkeit alles jetzigen Geschehens Ereignis werden kann und soll, leistet sie ihn nur treulich, bestimmt nicht umsonst geleistet sein wird, sondern innerhalb der allem menschlichen Tun gesteckten Grenzen seine Früchte tragen wird. Nicht in der Aufrichtung des Rechtes und also des Reiches Gottes auf Erden! Nochmals: es ist ja schon aufgerichtet und seine Offenbarung kann und wird weder das Werk der Welt noch das der Kirche sein. Sagen wir aber bescheiden: in gewissen Klärungen und Vertiefungen, Vereinfachungen und Differenzierungen, Lockerungen und

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Befestigungen, in einer gewissen Korrektur des in der Welt geltenden Rechtes. Es hat solche wahrhaftig auf der ganzen Linie nötig. Sollte die Kirche nicht hören, wie die Menschen nach ihr schreien, nach Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit in einer Gestalt und in einem Maß, wie sie ihnen in dem, was bisher „Recht” hieß, nicht geboten wurde? Besserung ist dem Recht der Welt denn auch — und das gewiß nicht, ohne daß das auch durch den Dienst der Kirche geschehen durfte, — schon widerfahren. Wirkt ihr Zeugnis nicht vielleicht auf allerlei Wegen und Umwegen faktisch viel stärker als christlicher Trübsinn und die hinter ihm verborgene christliche Trägheit es machmal Wort haben möchten? Die Gemeinde lasse es sich nicht verdrießen, daß das Vorbild, das der Welt zu sein ihr aufgetragen ist, mehr als relativ korrigierende Wirkung da draußen nicht haben kann. Was würde es für die Welt und ihr Recht bedeuten, wenn sie bei dessen Bildung und Handhabung wenigstens beständig unter der bescheiden aber heilsam korrigierenden Einwirkung der Existenz der Gemeinde und ihres Rechtes stünde! Die Menschen in der Welt — und in ihr doch auch die christlichen Menschen! — leben davon, daß dieses Recht fern von aller Vollkommenheit wenigstens in der Korrektur begriffen ist. Lebt denn nicht auch die Gemeinde selbst und als solche davon, daß sie sich durch das Wort und den Geist ihres Herrn fort und fort korrigieren lassen darf? Sie wartet und hofft mit der Welt und für die Welt auf den Abend, an dem es licht sein wird. Unterdessen kann und darf es ihr nicht zu gering sein, in der Bemühung um ihr Recht das Recht Gottes vorläufig, aber real darzustellen und damit mitten in der Welt ihr und ihren Kindern eine vorläufige, aber reale Hilfe zu sein. Und eben darin wird sich ihr Recht als richtig erweisen: als vom Evangelium her Evangelium verkündigendes Recht.