II. Wir blicken etwas anders, nämlich nun etwas konkreter, von demselben Ort her in dieselbe Richtung, wenn wir das in der Gemeinde aufzufindende, aufzurichtende und zu betätigende Recht (in etwas gewagtem Ausdruck) als liturgisches Recht bezeichnen. Kirchenrecht hat eine ursprüngliche Beziehung zu dem besonderen Geschehen des christlichen Gottesdienstes. Es hat in ihm seinen ursprünglichen Sitz. Es wird ursprünglich in seinem Vollzug gefunden und erkannt. Es ist — als Gottesdienstordnung — ursprünglich ihm zugewendet. Eben von ihm aus umfaßt und ordnet es dann das ganze Leben der Gemeinde. Wir haben den

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christlichen Gottesdienst an früherer Stelle die Mitte des ganzen Lebens der Gemeinde, den eigentlichen Akt ihres Aufbaus genannt und in diesem Sinn hervorgehoben. Unser jetziger Zusammenhang ist der Ort, uns die Begründung dieser seiner Hervorhebung klar zu machen.

Auch die Notwendigkeit und die zentrale Bedeutung dieses besonderen Geschehens — wir können jetzt im Rückblick auf unseren ersten Punkt auch sagen: dieses besonderen Dienstes — ergibt sich unmittelbar aus dem Grundrecht (aus dem christologisch-ekklesiologischen Begriff) der Gemeinde, laut dessen sie der Leib ist, dessen Haupt Jesus Christus ist. Jesus Christus ist nämlich nach der heiligen Schrift der mitten im der Weltgeschichte in einer, in seiner besonderen Geschichte Existierende. Er wird laut seiner Auferstehung von den Toten zu allen Zeiten und in Ewigkeit eben dieser und als solcher Haupt seiner Gemeinde sein.

Wir betonen (a): Er ist der in seiner Geschichte Existierende. Der das Haupt der Gemeinde ist, ist der Mensch, der den Weg von Bethlehem nach Golgatha nicht nur gegangen ist, sondern noch geht und immer wieder gehen wird. Der diesen Weg Gehende ist der am Ostertag als der lebendige Herr Offenbarte, und sein Geist, seine belebende Macht ist der Heilige Geist, der die christliche Gemeinde geschaffen hat, regiert und erhält. Das Sein des Hauptes der Gemeinde ist das Ereignis des Lebens dieses Menschen.

Und wir betonen (b): er ist der in seiner besonderen Geschichte Existierende. Das Ereignis dieses Lebens ist unzertrennbar verknüpft mit seinem Namen: es ist, in diesem Namen sich erschöpfend, konkretes, räumlich und zeitlich begrenztes, einmaliges, einzelnes, es ist dieses und kein anderes Ereignis — mit Lessing zu reden: „zufällige Geschichtstatsache”.

So war, ist und kommt der wahre Gott und der wahre Mensch, der erniedrigte Gottessohn und der erhöhte Menschensohn, der Erfüller des Bundes von Gott und vom Menschen her, der Versöhner der Welt mit Gott, das Wort, das am Anfang bei Gott war und das auch Gottes letztes Wort sein wird, sein ewiges Wort: es war, ist und kommt in Jesus

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Christus, d.h. in seiner besonderen Geschichte. Im Himmel, in Gott verborgen, ist Er, dessen Sein dieser einmalige Akt, diese besondere Geschichte ist, das Haupt seiner Gemeinde.

Ist nun diese, durch seinen Heiligen Geist geschaffen, regiert und erhalten in der Zeit zwischen seiner Auferstehung und seiner Wiederkunft in Herrlichkeit, sein Leib, seine irdisch-geschichtliche Existenzform, ist dies ihr Grundrecht, dann kann es nicht anders sein, als daß seine besondere Geschichte — als Geschichte und in ihrer Besonderheit — in ihrem Leben wirksam und erkennbar wird, sich selbst spiegelt und darstellt.

Es kann also nicht genug sein, es würde gegen ihr Grundrecht verstoßen, wenn sie in der Welt nur eben da wäre: als seine Hinterlassenschaft und Stiftung, als von ihm begründete und geordnete Anstalt und Institution und also als ein seiendes Etwas. Daß sie sein für diese Zwischenzeit gültiges, lebendiges Vermächtnis an die welt ist, ist wohl wahr, und es ist auch wahr, daß sie, ohne im Gehorsam gegen ihn allerhand Anstalten zu treffen, allerhand Institutionen zu begründen, dieses sein lebendiges Vermächtnis nicht sein könnte. Sie ist aber als sein lebendiges Vermächtnis, sie ist als Leib, dessen Haupt er ist, selber Geschichte. Die christliche Gemeinde ist kein noch so ausgezeichnetes Etwas, sie ist Ereignis, oder sie ist nicht die christliche Gemeinde. Daß es in diesem Ereignis auch dazu kommt, daß sie Anstalten trifft und Institutionen schafft, ist eine Sache für sich. Sie ist aber weder Anstalt noch Institution, sondern — entsprechend dem verborgenen Sein Jesu Christi selbst — irdisch-geschichtliches Ereignis und eben als solches seine irdisch-geschichtliche Existenzform.

Es würde nun aber auch daran nicht genug sein, es würde auch das gegen ihr Grundrecht verstoßen, wenn in ihrem Leben nicht auch die Besonderheit seiner Geschichte ihre Entsprechung fände. Unter dem Ereignis der christlichen Gemeinde kann und muß ja gewiß auch das Umfassende verstanden werden, daß sie als menschliche Gemeinschaft der von ihm Erwählten, Berufenen und Ausgesendeten, der an ihn Glaubenden und ihm Gehorchenden in der allgemeinen

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Zeit und im allgemeinen Raum am Werk ist, indem ihre Glieder kraft ihrer Beziehung zu ihm faktisch zusammen gehören, innerlich und, wenn es sich so gibt, auch äußerlich verbunden sind, sich von ihren gemeinsamen Überzeugungen, Interessen und Hoffnungen her auch gelegentlich begegnen, diese und jene Schritte miteinander tun, sich von jenem Gemeinsamen her unter sich und Dritten gegenüber diesen und jenen Beistand leisten. In der Regel und im Ganzen werden sie ja tatsächlich in solcher Zerstreuung existieren, ein Jeder an seinem Ort, als Christ — vielleicht auch in dieser oder jener Gruppierung mit anderen Christen — mit seinen Nöten und Aufgaben beschäftigt. Gerade als communio sanctorum werden sie voreinander und vor der Außenwelt so freilich nicht: nicht als solche Raum und Zeit erfüllend, nicht als solche in konkreter Gestalt in Erscheinung treten. Kein Zweifel: die christliche Gemeinde ist auch so Ereignis. Ihre Geschichte hat auch diesen Charakter und Aspekt. Sie existiert — auch so real! — auch untergetaucht in die Profanität ihrer Umgebung, auch im Werktagskleid einer nur zufällig und unverbindlich, dann und wann unterbrochenen Anonymität: eine stille Verschwörung, deren Glieder sich unter sich weithin unbekannt sein mögen, sich jedenfalls nur von Fall zu Fall sehen, die — weil ihre Stunde noch nicht gekommen ist — darauf keinen allzugroßen Wert legen können, in der sie umfassenden Kontur auch nur unter sich, geschweige denn nach außen bemerkbar zu sein. Es „glänzt” dann (hoffentlich glänzt es!) — entscheiden im privaten oder auch kombinierten Verhalten, Tun und Lassen der Einzelnen — „der Christen inwendiges Leben, obgleich sie von außen die Sonne verbrannt”. Wir reden von dem gewiß nicht gering zu schätzenden, aber nun doch oft etwas zu einseitig und unbedacht gepriesenen „christlichen Alltagsleben”. Es ist legitim und notwendig, daß die Gemeinde auch in dieser Gestalt existiert: darum legitim und notwendig, weil sie ja auch im Alltag und im Verkehr der Welt existiert, — und höher hinauf: weil ihr Haupt ja der ist, in welchem sich Gott gerade des menschlichen und auch des christlichen Alltags angenommen hat. Es genügt aber nicht, daß die Gemeinde in dieser

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Gestalt existiert: darum nicht, weil sie, wenn das Alles wäre, der Besonderheit ihres Hauptes Jesus Christus, seiner Geschichte, nicht entspräche, gerade deren konkrete, einmalige, begrenzte Wirklichkeit: Ihn, der einzeln, für sich, als dieser und kein Anderer existiert, nicht bezeugen würde. Ihr fehlte zu der Darstellung seiner Geschichte gerade das Bekenntnis zu der Ärgerlichkeit und Herrlichkeit, in der es „zufällige Geschichtstatsache” ist.

Hier greift das besondere Geschehen des christlichen Gottesdienstes ein. Das Ereignis der Gemeinde geschieht nicht nur in ihm. Und umgekehrt: Gottesdienst in diesem besonderen Sinn des Begriffs ist nicht ein dauerndes, sondern innerhalb des Gesamtereignisses „Gemeinde” ein besonderes Ereignis. Wie das Gesamtereignis „Gemeinde” sich innerhalb der Welt von der Welt abhebt, so hebt sich der Gottesdienst innerhalb des Gesamtereignisses „Gemeinde” von diesem ab. Und nur indem diese in ihrem Gottesdienst ihre distinkte Mitte hat, kann und wird sie sich auch innerhalb der Welt distinkt von dieser abheben. Eben das muß aber geschehen, wenn es in ihrer Geschichte zu einer Darstellung der besonderen Geschichte ihres Hauptes, zur Bezeugung Jesu Christi kommen soll.

Im Gottesdienst geschieht, was sonst auch in der christliche Gemeinde nicht geschieht. Im Gottesdienst bricht nach sechs Wochentagen und vor sechs weiteren ihr Sabbat an. In ihm vertauscht sie ihr alltägliches mit ihrem Feierkleid. Sie wird jetzt als Gemeinde Ereignis. Sie tritt jetzt in aller Anspruchslosigkeit, aber auch Bestimmtheit aus der Profanität ihrer Umgebung, in die sie sonst eingetaucht ist, heraus. Sie verzichtet jetzt auf die Anonymität des ihr Eigentümliche und die Unverbindlichkeit, auf den Privatcharakter, in welchem die Äußerungen dieses Gemeinsamen sonst auftreten. Sie existiert und handelt jetzt konkret wirklich und sichtbar als Versammlung, zu der die Einzelnen und Vielen, ein Jeder von seinem menschlichen und christlichen Ort in der Zerstreuung her an einem Ort, zu einer Zeit zusammenkommen, um zusammen, denselben Raum und

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dieselbe Zeit füllend, die communio sanctorum in bestimmter Gestalt ins Werk zu setzen. Kein Zweifel: nicht nur das Leben der Welt, sondern auch ihr eigenes christliches Alltagsleben, wie es gestern war und morgen wieder sein wird, liegt jetzt zunächst hinter ihr. Kein Zweifel: die Stunde, auf die die still Verschworenen in der Zerstreuung sonst warten, hat jetzt für einmal — noch immer eine vorläufige, nicht die letzte Stunde freilich — geschlagen. Die die einzelnen Christen und die christlichen Gruppen umfassende Kontur wird jetzt ihnen selbst, wird in ihrem gemeinsamen Tun aber auch der Umwelt bemerkbar. Das ist das Besondere dieses Geschehens im größeren Zusammenhang des Lebens der Gemeinde, durch das sie sich distinkt, mit dem weltlichen, aber auch mit dem christlichen Alltag nicht zu verwechseln, als die Mitte ihres Lebens erweist. Als dessen Mitte: weil die Gemeinde hier — und so nur hier — in direkter Entsprechung zu ihrem Grundrecht, in allgemeiner nicht nur, sondern in besonderer Geschichtlichkeit existiert und handelt. Im Gottesdienst wird und ist sie sich denn auch selber Zeuge ihres eigenen Wesens, ihrer Bestimmung in der Welt der Faktizität ihrer Existenz. Und im Gottesdienst existiert und handelt sie auch der Welt gegenüber prophetisch, sofern es im Gottesdienst — und so direkt nur in ihm — ernst wird mit ihrer Aufgabe, die in Jesus Christus geheiligte Menschheit vorläufig darzustellen. Vorläufig! Man soll den Mund also nicht zu voll nehmen und den Gottesdienst oder irgend einen seiner Teile nun gleich ein „eschatologisches Geschehen” nennen! Es genügt völlig, und man sagt schon damit Unerhörtes, wenn man sagt, daß die Gemeinde, zwischen Auferstehung und Wiederkunft Jesu Christi unterwegs, in ihrem Gottesdienst vorläufig, aber in konkreter Realität jene Darstellung vollzieht, daß sie also in ihm in ihrer eigentlichen Gestalt existiert und handelt. Von dieser Mitte ihres Lebens her kann, muß, darf und wird es dann auch in dessen Umkreis, auch im christlichen Alltag also, eigentliches christliches Sein, eigentliches christliches Handeln der Gemeinde geben, von ihm aus dann auch das Recht und die Ordnung des Ganzen. Eben darum wird sich ihr Kirchenrecht von seiner Wurzel

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her als liturgisches: (1) vom Gottesdienst her ordnendes, (2) in ihm immer wieder zu findendes und (3) ihn seinerseits ordnendes Recht verstehen müssen. Wir haben das Problem unter diesen drei Gesichtspunkten zu entfalten.

Die Feststellung, mit der wir (1) beginnen müssen, lautet: daß alles Recht in der Kirche im Geschehen ihres Gottesdienstes seinen ursprünglichen Sitz hat, daß es primär in diesem besonderen Geschehen aufgerichtet wird. Wo zwei oder drei im Namen Jesu, d.h. dadurch zusammengeführt sind, daß ihnen der Name Jesu offenbar geworden ist, da ist Er nach Matth. 18, 20 selber mit und unter ihnen. Das Wort zielt unverkennbar auf das Ereignis der Versammlung (die „Synagoge”!) der Gemeinde. Ist dem so, wie dieses Wort sagt, dann heißt das doch: in dem, was im Zusammenkommen dieser Menschen getan wird und geschieht, ist ihr König und Herr gegenwärtig und am Werk, der als solcher die Quelle und der Garant des für sie geltenden Rechtes ist. Wie sie nicht zufällig zusammengetroffen und nicht willkürlich zusammengeführt wird, so wird sie auch in ihrem gemeinsamen Tun nicht sich selbst überlassen, sondern ihr König und Herr selbst gibt da Weisung, Anordnung, Befehl, aber auch Trost und Verheißung. Er gibt die Freiheit zu dem, was da geschieht. Weil und indem Er, der Rechte, in ihrer Versammlung auf dem Plan ist, geschieht in ihr das, was für diese Menschen, für die Seinigen das Rechte ist. Ungeachtet und zuwider aller Unvollkommenheit, ja Verkehrtheit ihres Tuns, in der sie sich selbst gänzlich oder doch weithin selbst ins Unrecht setzen mögen! Keine Rede davon, daß die im Gottesdienst versammelte Gemeinde sich mit ihrem Tun selbst zur Quelle und zum Garanten des für sie geltenden Rechtes erheben würde, sich je dazu erheben wollen dürfte! Sie, die da versammelten Menschen, werden ja, auch wenn sie in seiner Gegenwart, unter seiner Weisung und als die von Ihm Getrösteten handeln, als die sündigen Menschen, die sie sind, niemals die Rechten und also auch nicht in der Lage sein, mit ihrem Handeln das für sie gültige Gesetz des Rechten aufzurichten. Sie sind und werden nicht selbst König und Herr. Sie sind nur sein Volk: seiner nur eben würdig, indem

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Er sie dessen würdigt, mit ihrem Handeln Zeugen seiner Gegenwart und also des von Ihm aufgerichteten, ihnen von Ihm zum Gesetz gemachten Rechtes zu werden. Daß Er das in ihrer Versammlung tut, daß Er selbst das dem Geschehen ihres Gottesdienstes zugrunde liegende, es formende und ordnende Recht ist, das ist das Geheimnis dieses ihres Tuns, das macht es zum ursprünglichen Sitz alles für sie geltenden Rechtes. — Es sind wesentlich und entscheidend vier konkrete Elemente dieses Geschehens, in welchen — nochmals: ungeachtet und zuwider aller Unvollkommenheit, ja Verkehrtheit des menschlichen Tuns der Christen als solchen — Jesus Christus und also das Gesetz der communio sanctorum, das für sie gültige Recht real gegenwärtig ist.

Zum ersten: wo zwei oder drei versammelt sind in seinem Namen, da werden diese zwei oder drei in menschlichen Worten miteinander und zueinander sprechen. Sie werden das nicht nur darum tun, weil das charakteristische Vehikel menschlicher Gemeinschaft nun einmal die menschliche Sprache ist, sondern weil diese, ihre menschliche Gemeinschaft, ihren Sinn und Bestand vom ersten Augenblick an darin hat, daß etwas ganz Bestimmtes zu gemeinsamer Aussprache drängt und von denen, die zu dieser Gemeinschaft zusammengeführt sind, zu gemeinsamer Aussprache gebracht werden muß. Es geht, umfassend gesagt, um das gemeinsame Bekenntnis zu dem, der sie damit zusammenführte, daß Er sie Alle dazu erweckte, Ihn zu erkennen, an Ihn zu glauben, Ihn zu lieben, auf Ihn zu hoffen. Diese Erkenntnis, dieser Glaube, diese Liebe, diese Hoffnung — nein: der da Erkannte, Geglaubte, Geliebte, Erhoffte selbst drängt, indem Er die zwei oder drei zusammenruft, zu deren gemeinsamen Bekenntnis. Sie hören ihn gemeinsam als Gottes an sie gerichtetes Wort und können das nicht tun, ohne ihm gemeinsame menschliche Antwort zu geben. Sie sind sich diese Antwort aber auch gegenseitig schuldig: zur Bestätigung und Bestärkung, zur Tröstung, Zurechtweisung und Erneuerung der Erkenntnis, des Glaubens, der Liebe, der Hoffnung der Einen durch die der Anderen, zur mutua consolatio fratrum. Und nun können sie diese Antwort eben nicht nur privatim

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geben, nicht nur in den zufälligen, vereinzelten, unverbindlichen Begegnungen, in denen die Christen miteinander und zueinander reden mögen. Sie können, dürfen und sollen sie auch so geben. Die menschliche Antwort auf das Wort Gottes drängt aber — von Gottes Wort ihrerseits gedrängt — darüber hinaus ins Offene; die Einheit des Erkannten, Geglaubten, Geliebten, Erhofften selbst drängt nach Einheit ihres Bekenntnisses. Bekenntnis kann, darf und soll wohl Bekenntnis der einzelnen oder in allerlei Gruppen vereinigten Christen sein — es kann aber dabei nicht verharren, mehr noch: es kann auch das nicht wirklich sein, wenn es nicht schon zuvor Bekenntnis der Gemeinde ist und einmündet in das Bekenntnis der Gemeinde, in welcher die menschliche Antwort auf Gottes Wort in das gemeinsame Wort Aller, in welchem auch die mutua consolatio fratrum nicht nur im Winkel zwischen Einzelnen und Einzelnen geschieht, sondern das objektive und verbindliche Werk Aller an Alle ist. Diese im gemeinsamen Hören des Wortes Gottes gemeinsam gegebene Antwort, das in Erneuerung der gemeinsamen Erkenntnis gemeinsam gesprochene und vernommene Bekenntnis ist das erste Element des christlichen Gottesdienstes. Es mag auch die gemeinsame Rezitation einer Bekenntnisformel, es wird sicher auch gemeinsamen Gesang in sich schließen, es wird sich aber entscheidend in freiem, nur eben an und durch seinen Gegenstand gebundenen Zeugnis in der Ausrichtung und Anhörung der der Gemeinde von ihrem Herrn aufgetragenen Verkündigung, Botschaft, Lehre und Predigt des Wortes Gottes vollziehen. Indem diese ausgerichtet und angehört wird, geschieht das für und in der Gemeinde Rechte, wird und ist sie konstituiert — als Bekenntnisgemeinschaft: nicht in der Kraft, bzw. Unkraft der menschlichen Worte, die da gesprochen und vernommen werden, wohl aber, weil sie die Antwort auf Gottes Wort sind, weil es in den da in Kraft oder Unkraft gesprochenen menschlichen Worten um das Zeugnis von Jesus Christus geht — weil er es ist, der will, daß sie gesprochen werden — weil er selbst da gegenwärtig ist, wo sie von den von ihm Zusammengeführten gesprochen und gehört werden. Im Bekenntnis der Gemeinde geschieht darum

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auch dann das Rechte, wird und ist sie auch dann konstituiert, wenn sie sich — und wo täte sie das nicht? — mit ihrem menschlichen Sprechen und Hören ins Unrecht setzt: auch im ohnmächtigen Zeugnis, auch in der schlechten Verkündigung, Botschaft, Lehre, Predigt also! Das Rechte mag ihr dann teilweise oder auch ganz verborgen sein, und es mag sein, daß es ihr dann, indem sie es nicht erkennt, faktisch auch nicht zurecht hilft. Aber das sind spätere Fragen. Ohne Frage steht das fest, daß wir es in dem liturgischen Akt des Bekenntnisses als solchem mit dem zu tun haben, was in der Gemeinde Recht und als solches zu erkennen und zu praktizieren ist. Indem die Gemeinde sich versammelt und indem in dieser Versammlung nicht nur geredet, sondern gesprochen, nämlich bekannt wird, ist sie schon konstituiert: ob sie es weiß oder nicht, ob sie es gut oder schlecht weiß, wie immer sie sich dann auf diesem Boden ihrerseits konstituiere und also ihr Recht Recht sein lasse.

Zum zweiten: wo zwei oder drei versammelt sind im Namen Jesu, da werden sie sich gegenseitig als die von ihm als ihrem einen Herrn Zusammengeführten, als Christen also, erkennen und anerkennen, sich als Brüder jenes Erstgeborenen auch untereinander als Brüder ansehen und aufnehmen. Wer gehört zu ihnen Wer ist, durch die belebende Macht des Heiligen Geistes erweckt, ein Heiliger und als solcher ein Glied der Gemeinschaft der Heiligen, ein Bruder der mit ihm in dieser Gemeinschaft Verbundenen? Sie alle sehen und beurteilen einander ja nur mit menschlichen und nicht mit göttlichen Augen. Sie blicken einander nicht ins Herz. Sie können sich gegenseitig nur Vertrauen schenken. Und welcher von ihnen blickte da auch nur in sein eigenes Herz, wäre darüber anders als eben menschlich zu urteilen imstande, daß er selbst ein vom Heiligen Geist Erweckter, ein Glied der Gemeinschaft der Heiligen wirklich ist und also in diese Versammlung gehört? Er kann auch das und das vor allem nur im Vertrauen wissen. Die christliche Gemeinde erbaut sich aber darauf, daß ihr dieses Vertrauen erlaubt und geboten ist: das gegenseitige Vertrauen, in welchem Einer den Anderen erkennt und anerkennt als Bruder, der zu ihr

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gehört, und auch das Vertrauen, das ein Jeder zu sich selbst zu fassen hat, um freudig und getrost dabei zu sein. In diesem ihr erlaubten und gebotenen Vertrauen versammelt sich die Gemeinde zum Gottesdienst. Wie wären ihre Glieder miteinander und mit sich selbst dran, wenn sie es nicht hätten, oder wenn sie es sich, gegründet auf das, was sie übereinander und über sich selbst zu wissen meinen, eigenmächtig genommen hätten? Sie würden dann wohl nur, eben zusammengekommen, wieder auseinandergehen können. Sie haben aber dieses Vertrauen, und es ist gerade nicht ein solches, das bloß auf ihr Meinen voneinander und von sich selbst gegründet wäre. Obwohl sie doch nur sehen können, was vor ihren menschlichen Augen ist! Obwohl sie wissen, daß ihr Sehen sie auch betrügen könnte! Was sehen sie? Den Heiligen Geist, der sie erweckt und zusammengeführt hat, können sie nicht sehen und die Erkenntnis, den Glauben, die Liebe, das Hoffen, zu dem er die Anderen und sie selbst erweckt hat, auch nicht. Gerade als Brüder können sie sich nicht sehen. Sie sehen aber, daß diese da und sie selbst getauft sind: auf den einen neuen Namen, der ihnen Allen gemeinsam ist, den Namen Jesu und also den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Sie sehen nur, daß diese da und sie selbst solche sind, die offenbar einmal zu wissen begannen um das in diesem Namen beschlossene Heil der Welt und so auch um ihr Heil, zu wissen um sich selbst als um Leute, die seiner, die also der Vergebung ihrer Sünden, der Rechtfertigung und der Heiligung, der Umkehr schlechterdings bedürftig sind. Sie sehen nur, daß diese und sie selbst einmal im Begehren und mit der Bitte um Gottes Heil zur Gemeinde kamen, mit ihrem Munde diesen Namen bekannten, nach der Taufe und also nach ihrer Anerkennung als Glieder des Leibes Jesu Christi und also nach ihrer Aufnahme in die Gemeinde verlangten und daß ihnen diese Anerkennung und Aufnahme, indem sie getauft wurden — nicht im Namen der Gemeinde, sondern im Namen ihres Herrn — gewährt wurde. Sie sehen die Anderen und sich selbst genau genommen nur eben als Getaufte — darüber hinaus ja wirklich nur in derselben Verfassung, in der sie zur Taufe hinzutraten: immer

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noch als Anfänger in jenem Wissen, immer noch in jenem Begehren und Bitten, immer noch als jene mit ihrem Munde Bekennenden. Aber eben daran halten sie sich für die Person der Anderen und für ihre eigene Person: sie alle kommen und so kommen auch sie selbst davon her, daß sie im Namen des Herrn getauft sind. Weil sie Alle im Namen des Herrn unter dieses Zeichen gestellt sind, lassen sie es gelten. Sie haben von daher die Erlaubnis und das Gebot, das zu tun, wozu sie von sich selbst her die Macht und die Kompetenz nicht hätten: die Anderen und sich selbst als Glieder des Leibes Jesu Christi ernst zu nehmen und also mit ihnen zusammen getrost und freudig in der Gemeinde zu sein. Indem das geschieht, geschieht, was in der Gemeinde das Rechte ist. Es könnte nicht geschehen, wenn Er, der sie zusammenführte, nicht selber in ihrer Mitte, wenn eben die Taufe nicht seine Erlaubnis und sein Gebot und also das Zeichen wäre, auf das hin jenes Vertrauen nicht bloß in guter Meinung gefaßt werden darf, sondern ein in gewisser Zuversicht vollzogener Gehorsamkeit ist. Und so sagen wir zum zweiten: die christliche Gemeinde ist Taufgemeinschaft. Will sagen: es ist die Taufe, von der sie, im Namen Jesu versammelt, in allen ihren Gliedern herkommt; in der von dorther ihr geschenkten und von ihr ergriffenen Freiheit feiert sie ihren Gottesdienst. Was auch im Übrigen für oder gegen sie, für oder gegen ihre Glieder zu sagen sein mag: indem sie von dorther kommt und zusammenkommt, ist sie schon konstituiert, ist sie im Recht — auch wenn sie sich diesem ihrem Recht gegenüber tausendmal ins Unrecht setzte!

Zum dritten: Wo zwei oder drei im Namen Jesu zusammengeführt werden, da geschieht das dazu, daß sie miteinander gestärkt und erhalten werden möchten zum ewigen Leben. Das ewige Leben ist dieses ihr menschliches Leben, aber dieses geborgen und herrlich bei Gott, dieses als ihr wirkliches und wahres Leben. Um zum Erlangen ihres Lebens in dieser Gestalt zubereitet zu werden, gehen, kommen sie als Glieder der christlichen Gemeinde in deren Versammlung, begehen und feiern sie den christlichen Gottesdienst. Es handelt sich in diesem ihrem Gehen und Kommen

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um den Vollzug einer exemplarischen Bewegung. Eben zum ewigen Leben sind doch alle Menschen bestimmt. Eben die Frage nach ihrer Stärkung und Erhaltung, nach ihrer Zubereitung zum Erlangen des ewigen Lebens müßte, dürfte, könnte doch ihrer aller Frage sein. Die Christen sind inmitten aller anderen Menschen die zu dieser Frage Erwachten. Von ihr bewegt eilen sie zusammen — darum zusammen, weil sie auch das wissen, daß die Beantwortung dieser Frage nur gemeinsam empfangen werden kann: in der christlichen Gemeinde als der vorläufigen Darstellung der ganzen Menschheit, für die sie schon geschehen und die ihres Empfanges bedürftig ist. Sie wissen, wie es um das menschliche Leben — auch um das ihrige, gerade um das ihrige! — bestellt ist: daß es Gottes, des Schöpfers wunderbare Gabe ist, in Dankbarkeit zu genießen, in täglicher Bitte und Arbeit vom Menschen zu betätigen in der ihm dazu gesetzten Frist. Sie wissen freilich auch, daß es ein durch des Menschen Hochmut und Trägheit gegenüber Gott und dem Mitmenschen über und über verschuldetes und darum radikal gefährdetes, ein verwirktes Leben ist. Sie wissen aber wiederum um seine unbewegliche Bestimmung, ewiges Leben zu sein: Leben in der Geborgenheit und Herrlichkeit bei Gott und so wirkliches und wahres Leben. Das Alles wissen sie, indem sie ja durch die Offenbarung des Namens Jesu zusammengeführt sind, vereinigt zu der Gemeinde, in deren Mitte Er auf dem Plan ist. Und so gehen und kommen sie zu Ihm, indem sie in die Gemeinde gehen, zur Gemeinde kommen, indem sie an der Realisierung ihrer Versammlung konkret Anteil nehmen. Sie begehren nach der Beantwortung der Frage nach dem Erlangen des ewigen Lebens, die in Ihm gegeben, die Er selber ist. Sie hungern und dürsten nach der Zubereitung dazu, nach dem Gestärkt- und Erhaltenwerden zum ewigen Leben, das — der Hinfälligkeit der jetzigen Gestalt ihres Lebens zum Trotz — sein Werk ist und nur sein Werk sein kann. Daß Er sie speise und tränke, daß Er ihnen mitten in dem Leben, in dem auch sie vom Tod umfangen sind, Wegzehrung geben und selber sein will, das ist die Verheißung, mit der Er sie zusammenführt. Und so gehen und kommen sie

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in die Versammlung der Gemeinde, um sich daselbst als Brüder und Schwestern an den Tisch zu setzen, an dem Tisch gemeinsam zu essen und zu trinken, an welchem Er als Hausherr und Gastgeber obenan sitzt, sie seine eingeladenen und willkommenen Gäste sein dürfen. Sie gehen und kommen zum „Herrenmahl”. Sie tun damit das, was sie zur Erhaltung und Stärkung ihres geschöpflichen Lebens auch sonst tun: sie essen und trinken — gerade wie sie, indem sie da miteinander und zueinander sprechen, eben das tun, was sie als Menschen, indem sie miteinander reden, auch sonst tun. Aber wie es bei ihrem Reden in der Gemeinde nicht um privaten und unverbindlichen Austausch von menschlichen Überzeugungen und Meinungen, sondern um die gemeinsame Aussprache des Bekenntnisses geht, so in dem Essen und Trinken beim Abendmahl nicht um die Ernährung des Einen mit seinen Nächsten hier, des Anderen dort, sondern um das Essen von einem Brot und das Trinken aus einem Kelch, um die ihnen Allen gemeinsame Ernährung: und nun eben — weil Er, Jesus Christus, sie dazu zusammenführt, zu diesem Essen und Trinken einlädt, weil Er da der Hausherr und Gastgeber, mehr noch: selber Speise und Trank ist — um ihre Ernährung durch ihn selbst. Sie geschieht damit, daß Er sich ihnen, so oft sie da gemeinsam essen und trinken, aufs neue als der, der Er ist, als der schlechthin Ihrige zuwendet und schenkt, und umgekehrt: sie aufs neue zu dem, was sie sind, zu den schlechthin Seinigen macht. Er stärkt und erhält sie in ihrer Existenz als solche, mit denen im dunklen Tal Er selbst, der Gekreuzigte und Auferstandene, auf dem Wege ist. Stärker gesagt: Er stärkt und erhält se in ihrer Existenz als seinen Leib und als dessen Glieder und eben so zum ewigen Leben in der Geborgenheit und Herrlichkeit Gottes. Er selbst macht sich zu ihrer Zubereitung, um dieses zu erlangen. Man bemerke, wie sich gerade im Ereignis des Abendmahls (wie übrigens auch in dem des Bekenntnisses und der Taufe) das Ereignis seines eigenen Lebens spiegelt und wiederholt: „zu seinem Gedächtnis” geschieht ja in der Gemeinde jetzt und hier dasselbe, was damals und dort, unmittelbar vor seinem Tod und seiner Auferstehung zwischen Ihm und seinen

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ersten Jüngern geschehen ist. Es muß so sein: davon lebt, vorläufig an Stelle der ganzen übrige Menschheit, die Gemeinde — darin lebt sie in allen ihren Gliedern dem ewigen Leben entgegen, daß es in ihrem Leben jetzt und hier zu dieser Spiegelung und Abbildung kommen darf. Und eben das ist noch einmal, auch in dieser Gestalt, das in ihrem Gottesdienst aufgerichtete Recht: daß eben das geschieht. Sie mag sich ihm gegenüber ins Unrecht setzen. Sie hat das immer wieder getan und wird es wohl auch immer wieder tun. Auf sie, auf die am Tisch des Herrn versammelte Gastgenossenschaft gesehen, wird das, was da geschieht, immer ein tief problematisches Geschehen sein. Sie ist und bleibt dem zum Trotz Abendmahlsgemeinschaft, Gemeinschaft im Mahl des Herrn: durch Ihn selbst mit Ihm, und weil mit Ihm, darum auch gliedschaftlich in sich verbunden, communio sanctorum als Gemeinschaft der gewissen Hoffnung auf das ewige Leben. In ihrem Gottesdienst, der auch Kommunion in diesem konkreten Sinn ist, wird das greifbar und sichtbar und eben damit, in dem Geschehen dieser Kommunion, das Recht, das ihr, alledem von ihr begangenen Unrecht zum Trotz, innewohnt und auch in dieser besonderen Gestalt in allen Gestalten ihres Lebens nach Beachtung ruft.

Zum vierten: wo zwei oder drei im Namen Jesu zusammengeführt werden, da sind sie von Ihm dazu aufgerufen, miteinander zu beten. Die durch die Offenbarung seines Namens Zusammengeführten sind solche Menschen, die ganz und gar auf Gott angewiesen sind, das haben sie mit allen anderen Menschen gemein. Sie aber sind darüber hinaus auf ihn hingewiesen. Sie wissen, daß sie nichts und zuallerletzt sich selbst in der Hand und zur Verfügung haben. Sie wissen, daß sie nur Geschöpfe und nicht der Schöpfer sind. Sie wissen auch, daß sie Gottes sündige Geschöpfe sind, ihr Tun durch ihre eigene Verkehrung ein verkehrtes Tun ist. Sie wissen also, daß sie den Jammer der Welt nicht wenden und ihr eigenes Elend nicht beseitigen, die menschliche Situation nicht ändern, des Menschen Versöhnung mit Gott als deren wirkliche Veränderung nicht

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vollziehen, Gottes Namen die ihm zukommende Glorie nicht verschaffen, sein Reich des Friedens und des Heils nicht herbeiführen, seinen Willen nicht erfüllen können. Sie wissen von daher, daß sie sich auch ihr tägliches Brot nicht nehmen, ihre alten und neuen Schulden sich nicht erlassen, der Versuchung nicht widerstehen, den Bösen und das Böse nicht überwinden können und werden. Sie wissen, daß sie darum, daß das Alles geschehe, gerade nur beten können — im Glauben, in der Liebe, in der Hoffnung und also gewiß nicht müßig, sondern, um Gott die Ehre zu geben, in praktischer Tat und Arbeit — aber im Prinzip und als Spitze von dem Allen doch nur beten: Ihn suchen und anrufen, daß Er das Alles anhebe, durchführe und vollende, wozu sie selbst sich in allem ihrem, auch in ihrem eifrigsten und redlichsten Tun gänzlich ohnmächtig finden. Das entscheidende Werk, die bewegende Kraft ihres tätigen Widerstehens und Angreifens wird in ihrer Ergebung bestehen, das entscheidende Werk ihrer Hände darin, daß sie Alles — wirklich Alles, das Große und das Kleine — in die Hände Gottes legen. Sie wissen, daß Alles, was der Mensch tun kann, gerade nur in Einem hilfreich sein kann, nämlich in seinem Verzicht auf alle Selbsthilfe, in der Anrufung Gottes, daß er des Menschen, aller Menschen Helfer und Hilfe sein möchte. Sie wissen aber auch, daß sie eben darum beten und der Erhörung ihres Gebetes gewiß sein dürfen. Sie haben die Freiheit und die Freudigkeit dazu. Und nun kommen sie zusammen, um miteinander zu beten. Sie beten ja wohl auch ein Jeder für sich und wohl auch in einzelnen Gruppen. Aber das genügt nicht: wie ja auch das besondere Reden der Christen miteinander, wie die privaten guten Meinungen, die sie übereinander haben mögen, wie ihr besonderes Essen und Trinken in ihren Häusern nicht genügt, wie es, damit das Alles eigentlich und recht geschehe, des Bekenntnisses, der Taufe, des Abendmahls, kurz, des Tuns der Gemeinde bedarf. Auch das Gebet der Christen drängt danach, im Gebet der versammelten Gemeinde seine eigentliche und rechte Gestalt anzunehmen: darin, daß sie Gott miteinander anrufen: „Unser Vater im Himmel…!” Nicht dazu „miteinander”, weil es etwa leichter,

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schöner, tröstlicher wäre, gemeinsam statt einsam zu beten: dazu wäre ja mehr als ein Fragezeichen zu setzen. Wohl aber darum miteinander, weil die zur Gemeinde Versammelten mit dem zusammen, durch den unter sich vereinigt, beten dürfen, der in ihrer Mitte gegenwärtig, der da gewissermaßen ihr Vorbeter ist. Das dürfte doch die eigentümliche Würde und Wichtigkeit gerade des „Unser Vater”-Gebetes als des Gebetes des Herrn ausmachen, daß Jesus sich in dessen Worten so ganz neben seine Jünger, vielmehr sein Jünger so ganz neben sich stellt, sie zu seinem eigenen Beten mit-, in sein eigenes Beten hineinnimmt. Das „Wir” dieses Gebetes ist das Wir, zu dem sich der Herr mit den Seinen zusammenschließt. Das Wir, in welchem er das tut, ist das Wir der Gemeinde. Und das Wir der Gemeinde hat seine konkrete Gestalt in deren Versammlung. Darum drängt das christliche Gebet über alle vereinzelte oder gruppenweise Anrufung Gottes hinaus zum Gebet der versammelten Gemeinde. Darum kann es auch als vereinzelte oder gruppenweise Anrufung Gottes eigentliches und ernstliches Gebet nur sein, indem es vom Gebet der versammelten Gemeinde herkommt. Es bedarf, um eigentliches und ernstliches, von Gott erhörtes und gehörtes Gebet zu sein, dessen, daß es zuerst und zuletzt das Gebet dessen ist, der ihn als sein wahrer Sohn in Wahrheit als Vater anzureden das Recht und die Macht hat. Als seine Brüder und Schwestern, Gottes Kinder in seinem Namen, können und dürfen ihn die Christen als Vater anrufen. Es bedarf ihr Gebet, weil und indem es das seiner Brüder und Schwestern ist, keiner besonderen Kunst, Kraft und Lust. Es ist, weil in der Gemeinschaft mit dem Erstgeborenen gebetet, die Ausbreitung der Totalität dessen, was des Menschen wirkliches Bedürfnis ist und das Ausgreifen nach der Totalität dessen, was Gott ihm sein und geben will. Es ist, in der Gemeinschaft mit ihm gebetet, nie umsonst, immer an den rechten Adressaten, immer in der Gewißheit erhört und gehört zu werden, gebetet. Es geschieht in ihm, dem in der Versammlung der Gemeinde gebeteten Gebet noch einmal das Rechte: es wird, indem es da als das Gebet des Herrn selbst gebetet wird, bei aller

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Armut, Gedankenlosigkeit, Unsicherheit und Zerstreuung, an der es im Munde der Christen wohl immer leiden wird, Gottes Recht auf Erden aufgerichtet. Denn das ist es doch, was vor Gott recht ist: daß er so angerufen wird, wie ihn die versammelte Gemeinde im Gebet ihres Herrn anrufen darf. Indem sie es betet, wird und ist sie konstituiert. Und wenn sie vor der vielfältigen Frage steht: wie sie sich ihrerseits konstituieren soll, so wird sie sich immer daran halten, immer darauf zurückgreifen dürfen, daß sie ja schon konstituiert ist, daß ihr Gottesdienst, in welchem sie als Gemeinde betet, bei aller Schwachheit und Verkehrtheit, in der sie das tun mag, der Ort ist, wo das, was für sie nach außen wie nach innen recht ist, schon geschieht: in ihrem konkreten Leben als Bekenntnisgemeinschaft, als Taufgemeinschaft, als Abendmahlsgemeinschaft und nun eben: als Gebetsgemeinschaft.

Die Feststellung, mit der wir zur Erklärung des Kirchenrechtes als liturgisches Recht fortfahren müssen, lautet (2), daß es ursprünglich im Geschehen des christlichen Gottesdienstes zu finden, zu entdecken, zu erkennen ist. Kirchenrecht hat das mit allem menschlichen Recht — und es ist ja selbst auch menschliches Recht — gemeinsam, daß es gefunden, erkannt werden muß. Die Richtung, in der es zu suchen, in der bei der Aufstellung seiner Sätze zu blicken ist, ist gegeben: hier wie sonst nicht anderswohin als auf den in der Heiligen Schrift bezeugten Jesus Christus als das Haupt und den Herrn der Gemeinde! In strenger Ausschließlichkeit von seinem Verhältnis zu ihr her — indem ja dieses Verhältnis das sie konstituierende Grundrecht ist — ist bei jeder Frage nach dem, was in der Kirche Recht sein möchte, zu denken. Nun ist aber die konkrete Gestalt seines Verhältnisses zu ihr und also die konkrete Gestalt ihres Grundrechtes seine eigene Gegenwart und Herrschaft in ihrer Versammlung zum Gottesdienst: im Geschehen des Bekenntnisses, der Taufe, des Abendmahls, des Gebetes. Ist dem so, dann wird bei allem Fragen nach dem, was in der Kirche Recht sein möchte, eben von ihrer Versammlung zum Gottesdienst und also von diesem vierfachen Geschehen her zu denken sein. Es ist also

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bei der Bildung eines jeden kirchenrechtlichen Satzes zunächst dahin zu blicken. Daß die Gemeinde sich dabei an dem orientiere, was in ihrem Gottesdienst ihr eigenes Tun ist, daß sie dieses zu ihrem Gesetz erhebe und nun als solches zu entfalten hätte, kommt nicht in Frage. Sie kann sich selbst nicht Herr, König und Gesetzgeber sein wollen: auch nicht sich selbst in ihrer Liturgie also: auch nicht, wenn diese etwa noch so alt und auch nicht, wenn sie aufrichtig der Meinung sein sollte, sich in ihr in höchster Übereinstimmung mit diesem oder jenem biblischen Vorbild zu befinden. Mit der bei ihrem Tun mitlaufenden menschlichen Schwachheit und Verirrung, mit dem dem Recht ihres Herrn widersprechenden menschlichen Unrecht der Christen haben wir ja auf der ganzen Linie auch hier zu rechnen. Wir haben aber auch, noch viel mehr und vor allem mit dem in diesem ihrem Tun gegenwärtigen Jesus Christus zu rechnen: mit ihm als dem Herrn ihres Bekennens, ihres Herkommens von der Taufe, ihres Gehens zum Abendmahl, ihrer gemeinsamen Anrufung Gottes. Er ist ihr Gesetz. Er, der in der Heiligen Schrift Bezeugte! Wir treten also auch dem Schriftprinzip nicht zu nahe, wenn wir feststellen, daß der christliche Gottesdienst die konkrete Erkenntnisquelle des kirchlichen Rechtes ist. Ist der im Gottesdienst gegenwärtige und handelnde Herr dessen Gesetz (und also das Gesetz des ganzen Lebens der Gemeinde), dann ist es ja klar, daß wir bei der Frage nach ihm als dem im christlichen Gottesdienst gegenwärtigen und handelnden Herrn aufs neue und erst recht auf die Heilige Schrift verwiesen sind. Er, der in ihr Bezeugte, ist aber das für alles kirchliche Recht und Gesetz maßgebende Grundgesetz eben in der Gestalt, in der er hier, in dieser Mitte des kirchlichen Lebens gegenwärtig ist und handelt.

Die Herrschaft Jesu Christi in seiner Gemeinde wird Ereignis, indem sie in ihrem Gottesdienst seinen Aufruf mit ihrem Bekenntnis beantwortet. Diesem ihrem Bekenntnis wird schon formal auch das entsprechen müssen, was in ihrem Leben als Recht gelten soll. Es werden die Sätze des Kirchenrechtes dem Bekenntnis der Gemeinde zu folgen, es mit besonderer Rücksicht auf die Ordnung ihres menschlichen Tuns auszulegen und zu umschreiben haben. Sie werden zwar

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selber keine liturgischen Sätze (weder Bekenntnisformeln, noch Gesänge, noch Verkündigung und Predigt!), sie werden auch keine theologischen Sätze — sie werden aber auf das liturgische Geschehen des Bekenntnisses ausgerichtete und auf theologische Besinnung begründete juristische Sätze sein. Sie haben diejenigen Regeln der menschlichen Gestaltung der Existenz der Gemeinde zu fixieren, die durch die von ihr verkündigte Botschaft gefordert, die ihr angemessen sind. Das Kriterium ihrer Richtigkeit wird die Frage sein: ob und inwiefern die Gemeinde bei ihrer Aufstellung und Durchführung ihrer eigenen Botschaft, bzw. dem, der ihr ihre Botschaft aufgetragen, verpflichtet und treu ist? Ob und inwiefern sie geeignet sind, ihre Glieder damit frei zu machen und zu binden, daß sie sie bei ihrem Glauben als ihrer Antwort auf das Wort ihres gemeinsamen Herrn behaftet? Ob und inwiefern sie auch dazu dienlich sind, den Draußenstehenden die in ihrer Lehre und Predigt begründete Eigenart der christlichen Gemeinde praktisch sichtbar zu machen? Nicht direkt aber indirekt ist rechtes Kirchenrecht notwendig „bekennendes”, d.h. solches menschliches Recht, das im Blick auf das Bekenntnis und so im Blick auf den, den das Bekenntnis bekennt, entworfen und also auch notwendig im Blick auf Ihn zu handhaben ist. Die bekennende Gemeinde bedarf solchen bekennenden Rechtes, so gewiß sich ihre Existenz in der Welt in Form menschlicher und also soziologisch-juristischer Gestaltung vollzieht und darstellt, so gewiß sie als Gemeinde gerade hier vor der Gehorsamsfrage steht. Kein Fragen nach solchem Recht hieße: kein Fragen nach dem gehorsamen Vollzug ihres Bekenntnisses — eben an der Stelle, wo er am unmittelbarsten geboten ist. Im rechten Kirchenrecht unternimmt es die Gemeinde, ihr Bekenntnis fürs erste an sich selbst zu vollziehen. Ist die Herrschaft Jesu Christi in ihr Ereignis, dann muß dieses Unternehmen gewagt werden.

Die Herrschaft Jesu Christi in seiner Gemeinde wird Ereignis, indem sie, zum Gottesdienst versammelt, in allen ihren Gliedern von der Taufe auf seinen Namen herkommt. Wir sahen: auf der Erlaubnis und auf dem Befehl, den ihre Glieder in ihrer Taufe empfangen haben, beruht das Vertrauen, das da ein Jeder zu allen Anderen und auch zu sich selbst fassen und haben darf und soll. Auf diesem Vertrauen beruhen nun wiederum alle kirchlichen Rechtssätze. In der Gemeinde trauen es sich Menschen zu, der Fragwürdigkeit alles menschlichen Suchens und Findens zum Trotz, zum Suchen und Finden solcher Sätze berufen und fähig zu sein. Schon ihre Aufstellung und Formulierung geschieht also in diesem Vertrauen, könnte ohne dieses nicht geschehen. Und in der Gemeinde traut man es einander zu, daß die so gesuchten und gefundenen Sätze Allen und Jedem gegenüber Autorität genug haben werden, um sich durchzusetzen, um von ihnen respektiert zu werden. Auch bei ihrer Anwendung kann und wird also nur an dieses Vertrauen appelliert werden. Das bedeutet negativ: die Kompetenz zur Aufrichtung von Kirchenrecht ist (im

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Unterschied zu dem alles anderen Rechtes) grundsätzlich nicht aufweisbar, weil ja alle etwa in Frage kommenden Bestimmungen über die Kompetenz dazu (etwa über die Legitimierung der Gemeindeversammlung oder die ihrer Vertreter oder anderer dazu beauftragter Personen) selber nur im Vertrauen darauf getroffen sein können, daß jene Vielen oder diese Wenigen sie von ihrer Taufe her haben möchten. Und so sind kirchenrechtliche Bestimmungen (wieder im Unterschied zu denen allen anderen Rechtes) grundsätzlich nicht erzwingbar, weil auch die größte Strenge, in der sie geltend zu machen sind, doch nur in der höchsten Dringlichkeit bestehen kann, in der sie eben das Vertrauen und so den Gehorsam derer in Anspruch nehmen, die durch sie betroffen sind. Außerhalb der gemeinsamen Erinnerung an die Taufe und also außerhalb dieses gegenseitigen Vertrauens kann rechtes Kirchenrecht weder entstehen noch gehandhabt werden. Wogegen eben dieses in der Taufe begründete Vertrauen seiner Entstehung und seiner Handhabung — weit entfernt davon, daß es sie hindern würde — eine geistliche Kraft gibt, wie sie kein anderes, kein weltliches Recht haben kann.

Die Herrschaft Jesu Christi in seiner Gemeinde wird Ereignis, indem sie, zum Gottesdienst versammelt, dem Abendmahl entgegengeht und also der ihr von ihrem Herrn gewährten gemeinsamen Ernährung auf dem Weg zum ewigen Leben. Im Blick auf dieses Geschehen entworfen und angewendet, wird ihre Rechtsordnung notwendig den Charakter einer Gemeinschaftsordnung schon dieses gegenwärtigen Lebens der in ihr versammelten Menschen bekommen müssen. An den Begriff der communio der sancti in und an den sancta ist hier nochmals zu erinnern. Da gibt es also keine sancta, keine Gaben und Kräfte der Erkenntnis oder der Liebe, die einer der sancti nur für sich oder nur mit einigen der übrigen zusammen, keine die er andres als mit allen Anderen zusammen haben, anwenden und genießen könnte und dürfte — auch in keiner ihm etwa gegebenen Besonderheit ihrer Gestalt anders, als im Austausch mit ihnen. Daß im Abendmahl, wenn es mit rechten Dingen zugeht, Einer dem Anderen ohne Unterschied der Person das Brot und den Kelch reicht, und daß da Alle von einem Brot essen und aus einem Kelch trinken und also von dem einen gegenwärtigen Hausherrn und Gastgeber gestärkt und erhalten werden zum ewigen Leben, das wird in dem in der Kirche gültigen Recht zu Ehren zu bringen und gegen alle Zerteilung ihres geistlichen Lebens in die privaten Bereiche der Einzelnen oder gewisser frommer, frömmeren und ganz frommen Gruppen in Schutz zu nehmen sein. Arbeitsgemeinschaften im Dienst besonderer Zwecke und Aufgaben, denen nicht Alle zugleich, sondern nu die besonders dazu Berufenen und Begabten nachgehen können, mag und soll es in der Gemeinde in Fülle geben. Wogegen der Begriff einer ecclesiola in ecclesia, einer sonderlichen communio sanctorum innerhalb der einen, offen oder heimlich immer so etwas wie eine Preisgabe oder doch Relativierung

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dieser einen in sich schließt. Vom Abendmahl her, zu dem Alle als gleich Hungernde und Dürstende hinzukommen, um alle in gleicher Weise gespiesen und getränkt zu werden, wird keine ecclesiola zu begründen und so auch kirchenrechtlich nicht zu legitimieren sein. Es wäre denn, daß mitten in einer toten oder falschen Kirche die lebendige und wahre Kirche aufzustehen und neu sich zu bilden genötigt und befähigt wäre. Für ein wahres Kirchlein innerhalb der wahren Kirche aber dürfte in einer vom Abendmahl her gewonnenen Gemeinschaftsordnung kein Raum sein. Und nun ist hier noch das Besondere zu bedenken, daß es sich im Abendmahl um das Eigentümlichste zugleich einer äußeren und inneren, sichtbaren und unsichtbaren, leiblichen und seelischen Ernährung handelt. Wo der menschliche Geist diese beiden Bereiche zu trennen pflegt, da werden sie im Werk des Heiligen Geistes und nun eben drastisch gerade in der Aktion des Abendmahls umgriffen und vereinigt. Und es ist ja auch das ewige Leben, zu dem die Gemeinde im Abendmahl gestärkt und erhalten wird, die Verherrlichung des ganzen menschlichen Lebens. Es wird also die aus der Aktion des Abendmahl abzulesende Kirchenordnung das Leben der Gemeinde und ihrer Glieder schon in seiner gegenwärtigen Gestalt in seiner Ganzheit und also zugleich in seiner spirituellen und materiellen Natur umfassen, schützen und in Anspruch nehmen müssen. Sie wird auf Lebensgemeinschaft der Christen in den beiden Bereichen zielen. Sie wird die Starken für die Schwachen, die Gesunden für die Kranken, die Reichen für die Armen in jeder Hinsicht verantwortlich, sie wird die Christen nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich für einander und auch für den Bestand der Gemeinde haftbar machen. Sie wird die Zumutung, in jeder Hinsicht zu helfen, Niemandem ersparen. Und sie wird die Aussicht auf Hilfe in jeder Hinsicht Niemandem vorenthalten. Sie wird die Gemeinde daran erinnern, daß eben, was im Abendmahl recht ist, auf der ganzen Linie billig ist: die Gemeinschaft in den himmlischen und darum auch die in den irdischen Dingen, und so die communio der sancti in und an den sancta.

Die Herrschaft Jesu Christi in seiner Gemeinde wird Ereignis, indem sie sich in ihrem Gottesdienst zum Gebet versammelt: als die Gemeinschaft der allein auf Gott Angewiesenen und nun eben als Christen ganz auf ihn Hingewiesenen. Als „unseren Vater” rufen sie Gott an, indem sie als die Brüder seines zu solcher Anrufung ermächtigten Sohnes ihrerseits frei gemacht sind, das zu tun. Das in der Gemeinde gültige Recht wird, von da aus gesehen, auf alle Fälle das Recht der dazu befreiten und also auch unter sich zu Brüdern gewordenen Menschen sein müssen. Sie sind — und das wird im rechten Kirchenrecht zum Ausdruck kommen müssen — darin unter sich verbunden, eben darin aber auch ein Jeder dem Anderen gleich, daß sie Gottes alle gleich bedürftig und daß sie des Zugangs zu ihm alle gleich — in gleicher Gewißheit, Direktheit, Fülle und Würde —

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teilhaftig sind. Stärkere und schwächere, ältere und jüngere, vor- und nachgeordnete Brüder mag und muß es da wohl geben, und das in der Gemeinde geltende Recht wird zu ihrem Zusammenleben als solche die nötigen Anweisungen zu geben haben. Es wird aber auch sichtbar machen müssen, daß alle nötigen Differenzierungen die Einheit der Brüder nicht nur nicht verletzen, sondern nur bestätigen können, in der sie in der Anrufung des Vaters im Namen des einen wahren Sohnes Gottes beieinander sind, in der — mit alleiniger Ausnahme eben dieses Einen, des Erstgeborenen — Keiner eine geringere Bedürftigkeit Gott gegenüber geltend machen oder einen höheren Zugang zu ihm für sich in Anspruch nehmen kann, in der also Keiner als Mittler zwischen Gott und die Anderen hineintreten, sich ihnen als von Gott unmittelbar Beauftragter empfehlen oder aufdrängen oder von den Anderen als solcher anerkannt und proklamiert werden darf. Eine „Hierarchie” wird das Kirchenrecht in der Gemeinde nur schon darum nicht aufrichten können, weil auch dieser Begriff die Vorstellung eines „Herrschens” enthält und erweckt, für die es unter Brüdern nun einmal keinen Raum gibt. Es wird vielmehr zu zeigen haben, in welcher Weise Einer dem Anderen in der Gemeinde wirklich Bruder — sei es denn: stärkerer, älterer, vorgeordneter Bruder, aber eben Bruder sein, in gleicher Bedürftigkeit vor Gott und in gleich offenem Zugang zu Ihm und also ohne jeden wesentlichen Vorrang und Anspruch (im Namen des Erstgeborenen und als sein menschlicher Zeuge!), Helfer, Ratgeber und dann wohl auch — in faktischer, nicht in institutioneller Autorität! — Führer, Lehrer, Seelsorger sein kann. Wer sich am ernstlichsten, am vorbehaltlosesten neben alle Anderen, auch unter die Geringsten unter ihnen, zu stellen, wer sich am aufrichtigsten mit ihnen in die Tiefe zu begeben weiß, in die hinein die Sonne des Vaters leuchtet über Gute und Böse, Gerechte und Ungerechte, Weise und Toren, wer Ihm von dort aus am demütigsten und freudigsten (aber eben mit ihnen zusammen und als ihresgleichen) anzurufen weiß — der und nur der wird sich in der Gemeinde als zum Führer Berufener erweisen: indem er es faktisch ist, nicht indem er es zu sein beansprucht oder mit der Würde eines solchen bekleidet ist. Die Freiheit des Heiligen Geistes, die christokratische Bruderschaft in diesem Sinn zu ordnen, solche faktische Führerschaft des Bruders für den Bruder nicht zu verhindern, sondern zu garantieren — das wird die Aufgabe und Sorge des rechten Kirchenrechtes sein.

Unsere letzte Feststellung zur Definition des Kirchenrechtes als liturgisches Recht: Wie es im Gottesdienst seinen ursprünglichen Sitz und seine Erkenntnisquelle hat, so (3) wieder im Gottesdienst selbst seinen vornehmsten, seinen eigentlichen Gegenstand. Es hat diesen seinen eigenen Grund und diese seine eigene Quelle zu hüten. Auch der christliche

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Gottesdienst als die Mitte des gemeindlichen Lebens wird ja in allen seinen Elementen von Menschen begangen. Sie bekennen, sie taufen, sie feiern das Abendmahl, sie beten das „Unser Vater”. Und so ist dieses ganze Geschehen nicht geschützt vor ihrem Mißverstand und Mißbrauch, so trägt die Gemeinde ihren Schatz gerade in dieser Hinsicht in irdenen Gefäßen. Sie wird sich mit der Gefährdung, in der er sich deshalb befindet, nicht abfinden, sie wird sich aus der Unvollkommenheit dieses wie alles irdischen Geschehens keinen Trostgrund und aus der Erinnerung an die Vergebung ihrer Sünden kein Beruhigungsmittel machen. Die Gnade der Heiligung und also die Gnade Jesu Christi überhaupt müßte ihr ja fremd sein, wenn sie nicht gerade gegen die beständig drohende und wirksame Entheiligung des Heiligen durch ihre eigenen menschlichen und als solche immer auch unheiligen Hände nicht angehen, wenn sie ihr nicht nach bestem Wissen und Gewissen widerstehen wollte. Eben um das zu tun, fragt sie nach dem rechten Kirchenrecht als nach der rechten Ordnung ihres Gottesdienstes. Daß allein der, der als ihr Herr in ihm gegenwärtig ist und handelt, auch die Autorität und Kompetenz hat, ihn zu ordnen und so vor Verderbnis zu bewahren, wird die Gemeinde wohl wissen. Ihr menschliches Ordnen wird also nur im gehorsamen Achten auf das seinige bestehen und geschehen können. Aber eben dieses kann sie ihm nicht versagen. Und eben darum wird sie ihre Liturgie nicht für unberührbar, weil fehlerfrei halten, wird sie sie der kritischen Frage: ob sie recht getan sein möchte, ob sie nicht anders und besser getan werden sollte, nie (und am allerwenigsten aus irgendwelchen Pietätsgründen!) entziehen können. Eben darum wird ihre Bemühung um das Kirchenrecht als Gottesdienstordnung nie abreißen können.

Wir deuten nur an: Wer soll für das Bekenntnis der Gemeinde verantwortlich sein: dafür , daß es als Verkündigung, Lehre und Predigt zur rechten Zeit, am rechten Ort und in der rechten Form laut wird — für seine Reinerhaltung, Vertiefung und fortgehende Interpretation und Applikation — für die Gestalt, die ihm jetzt und hier, je in dieser und dieser bestimmten geschichtlichen Situation angemessen

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ist? Weiter: welches sind die Erfordernisse zum Empfang der Taufe und also zur Aufnahme in die Gemeinde, und welches die besonderen Verpflichtungen der Gemeindeglieder, die sich in jenem gegenseitigen Vertrauen aus ihrem Getauftsein ergeben? Weiter: Wer ist zum Abendmahl zuzulassen, eventuell auch nicht, noch nicht oder nicht mehr zuzulassen? Wie ist die Ordnung der Lebensgemeinschaft zu gestalten, die sich vom Abendmahl her als notwendig erweist, welche besonderen Tätigkeiten sind zu ihrem Vollzug notwendig, und wer soll mit ihnen beauftragt werden? Endlich: Wie und durch wen soll von der Mitte der gemeinsamen Anrufung Gottes des Vaters her der christliche Gottesdienst als Ganzes gestaltet werden? In welchem Verhältnis seiner verschiedenen Elemente zueinander? Ob da auch irgendwelche Nebenelemente, etwa ästhetischer oder geselliger Art, Raum oder keinen Raum haben sollen? Ob und in welchen Grenzen es da auch sonst — nicht Bereiche der Willkür und des Zufalls, wohl aber Bereiche des freien verantwortlichen Ermessens, der Entscheidung von Fall zu Fall, von Person zu Person geben soll? Schließlich: in welchem Verhältnis zwischen Spontaneität und Rezeptivität der Haltung der am Gottesdienst Beteiligten er sich abspielen soll. Man kann alle diese Fragen in die eine zusammenfassen: in welcher Weise gedenkt die Gemeinde sich selber und ihre Glieder gerade in dieser Mitte ihres Lebens, durch ihren Herrn in Zucht gekommen, ihrerseits in Zucht — in „Kirchenzucht”! — zu nehmen und zu halten? Entscheidend auf diese Frage wird das Kirchenrecht zu antworten haben, eben damit implizit mindestens grundsätzlich auch auf alle die Fragen, die sich im Umkreis dieser Mitte ergeben mögen — auf sie alle auf den vorhin angedeuteten Linien: das Bekenntnis will nicht nur ausgesprochen, sondern vollzogen sein; auf der Basis des Vertrauens soll da gemeinsam gehandelt, umfassende und völlige Lebensgemeinschaft soll da verwirklicht werden, in Brüderlichkeit solle die Menschen da miteinander umgehen. Alles dem Heiligen Geist überlassen! rufen die Schnellfertigen. Schon recht, aber gerade weil dem Heiligen Geist, darum nicht dem Mutwillen und nicht dem Schlendrian, sondern das Alles in gemeinsamen, gewissenhaftem, an der Heiligen Schrift orientiertem Fragen nach dem, was da Gehorsam sein möchte! In der Beantwortung dieser Frage kommt es zu kirchlicher Ordnung, zum Kirchenrecht.