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Wir blicken jetzt, immer im Bewußtsein, daß wir es mit der communio sanctorum zu tun haben, noch in eine dritte Richtung: auf die Form, in welcher sich die Erbauung er Gemeinde (diese auch als ihr Wachstum, auch als ihre Erhaltung in der Welt verstanden) vollzieht. Die ihr wesensnotwendige Form ist die der Ordnung. Wir können den Begriff sofort umschreiben, indem wir sagen: es ist der Erbauung der Gemeinde und also der communio sanctorum wesensnotwendig, sich nicht ohne und auch nicht in einer unbestimmten, nicht in irgend einer, sondern in einer bestimmten Form zu ereignen. Erbauung ist kein dem Zufall, kein der Willkür überlassenes, kein wildes, kein anarchistisches, sondern ein von einer bestimmten Form beherrschtes und auf deren Anwendung, Herausstellung und Geltung zielendes Geschehen. Erbauung folgt einem Gesetz und vollzieht sich in dessen Ausübung und Betätigung. So — nicht in abgeleiteter, sondern in ursprünglicher und exemplarischer Gestalt — auch und zuerst die Erbauung der Gemeinde. Im Raum der menschlichen Geschichte ist doch die Erbauung der Gemeinde als Bezeugung der in Jesus Christus geschehenen Versöhnung der Welt mit Gott die große Kampfaktion gegen das Chaos und also gegen die Unordnung. Wie sollte sie da anders als in Ordnung sich ereignen können? Wie sollte es ihr da nicht wesensnotwendig sein, der Gesetzlosigkeit schon in der Form ihres Geschehens das Gesetz entgegenzustellen? Auch wenn man ihre Erbauung, wie wir es an erster Stelle taten, als ihr Wachsen und Leben versteht, ist sofort zu sagen: es geschieht ihr Wachsen in einer bestimmten Form, nach einem bestimmten, nach dem ihr eigenen Gesetz. Und wenn wir sie, wie an zweiter Stelle geschehen, als ihre Erhaltung in der Welt verstehen, so ist wieder zu sagen, daß es ihre eigentümliche Form, ihr Gesetz und nicht irgendeine blinde Macht ist, die sich darin durchsetzt und darin zu

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Ehren kommt, daß sie mitten in der Welt Dauer und Bestand haben darf.

Wir reden von Ordnung da, wo bestimmte Verhältnisse und Beziehungen als der Sache, um die es geht, entsprechend und insofern als notwendig sich erweisen und als gültig erkannt werden, sich als solche von Fall zu Fall zu bestätigen, als solche Anerkennung und Nachachtung fordern und finden. Die Erbauung der Gemeinde, das Ereignis der Gemeinschaft der Heiligen vollzieht sich in solchen bestimmten Verhältnissen und Beziehungen und insofern eben: in Ordnung. Es geht bei der Erbauung der Gemeinde „mit rechten Dingen” zu. „Recht”, bzw. „richtig” ist dieses Geschehen im Besonderen im Blick eben darauf, daß es der Sache, um die es in diesem Geschehen geht, entspricht. Wir werden es, wenn von der Ordnung der Gemeinde die Rede sein soll, nicht vermeiden können, im gleichen Atemzug und mit demselben Bedeutungsgehalt von dem in ihr offenbaren, erkannten, anerkannten und gültigen Recht zu reden. Wie Unordnung nicht nur als Teilnahme am Chaos, sondern auch als die Auflösung der der Gemeinde wesensnotwendigen Form, als Zerstörung der Bestimmtheit der ihr eigentümlichen Verhältnisse und Beziehungen, also als solche Unrecht wäre: unrichtiger Umgang mit der Sache, um die es in ihrer Geschichte geht — so ist Ordnung, als Protest gegen das Chaos nicht nur, sondern als Bestätigung jener Form und Bestimmtheit zugleich Recht, d.h. richtiger Umgang mit dieser Sache.

Das Stichwort „Recht” hat nun schon angezeigt, daß wir im Begriff stehen, einen in der Neuzeit heiß umstrittenen Boden zu betreten. Ich nenne einige Schriften aus den letzten Jahren, in denen sich der heutige Stand der Diskussion, aber auch deren ältere Voraussetzungen in besonders bemerkenswerter Weise spiegeln: Wilhelm Vischer, Die evangelische Gemeindeordnung (nach Matth. 16, 13-20, 28) 1946, Eduard Schweizer, Das Leben des Herrn in der Gemeinde und ihren Diensten 1946, ferner: Gemeinde nach dem Neuen Testament 1949 und: Geist und Gemeinde im Neuen Testament und heute 1952, Emil Brunner, Das Mißverständnis der Kirche 1951, Erik Wolf, Bekennendes Kirchenrecht (in: Rechtsgedanke und biblische

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Weisung 1947 S. 65 ff.) und: Zur Rechtsgestalt der Kirche (in: „Bekennende Kirche” S. 254 ff.) 1952, Max Schoch, Evangelisches Kirchenrecht und biblische Weisung 1954, Max Geiger, Wesen und Aufgabe kirchlicher Ordnung 1954. Die Beiträge von Erik Wolf dürfen m.E. als besonders erhellend hervorgehoben werden.

Von was reden wir? Was darf und muß hier in Ordnung und also in bestimmter Form, nach Gesetz und Recht geschehen? Darauf ist zu antworten: Nicht mehr und nicht weniger als das ganze menschliche Sein und Tun der christlichen Gemeinde als der vorläufigen Darstellung der in Jesus Christus geschehenen Heiligung des Menschen. Wir nennen, um deutlich zu sein, einige der wichtigsten Punkte, an denen sich eben das Ordnungsproblem immer wieder erheben und nach Beantwortung rufen wird. Er geht um die Ordnung des besonderen Geschehens, in welchem die Existenz der Gemeinde nicht nur am konkretesten in Erscheinung tritt, sondern auch sachlich ihre Mitte und Spitze hat: um die Ordnung ihres Gottesdienstes. Es geht weiter um die Bestimmung und Verteilung der den einzelnen Christen innerhalb der Tätigkeit der Gemeinde zufallenden besonderen Verantwortungen, Verpflichtungen und Funktionen und deren Verhältnis untereinander. Es geht weiter um die Frage, in welcher Weise die Gemeinde als solche ihre gemeinsame Sache und deren Hoheit in ihrem Verhältnis zu ihren einzelnen Gliedern wahrzunehmen, in welchem Sinn sie gegenüber den einzelnen Christen sowohl im Blick auf die diesen anvertrauten besonderen Funktionen, als auch im Blick auf ihre christliche Existenz im allgemeinen, Disziplin, Aufsicht und Zucht zu üben hat. Es geht weiter um das Verhältnis der einzelnen christlichen Gemeinden als solcher zu den in der Nähe und in der Ferne neben ihr existierenden anderen christlichen Gemeinden, um die Erhaltung und Durchführung der Einheit aller Gemeinden, um die Gewährleistung der Gemeinsamkeit ihrer Aktionen und also um die Frage nach ihrer Verständigung untereinander, nach einer sie zusammenfassenden, ihre Existenz und Aktion koordinierenden Leitung. Und es geht weiter, sofern eine solche möglich und notwendig ist, um die Regelung ihrer

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Beziehungen zu den sonstigen menschlichen Gemeinschaftsbildungen, insbesondere zu der ausgezeichnetsten und umfassendsten unter ihnen, die da auf alle Fälle in Frage kommen wird: um die Ordnung ihres Verhältnisses zu dem in ihrem Bereich existierenden und maßgebenden Staat, seinen Gesetzen, Organen und Maßnahmen.

Eine Entfaltung und Beantwortung dieser Ordnungsfragen im Einzelnen kann hier nicht unsere Aufgabe sein. Dogmatik ist nicht Kirchenrecht. Dogmatik kann es aber auch nicht unterlassen, sich auf die für alles Kirchenrecht maßgebenden Gesichtspunkte zu besinnen, sich über den Ort Rechenschaft abzulegen, von dem her die einzelnen Ordnungsfragen auf alle Fälle zu beantworten sind, von dem auch alles Kirchenrecht — soll es nämlich Kirchenrecht, aber Kirchenrecht sein — herkommen muß.

 

Sind wir bei den über die Erbauung der Gemeinde bisher angestellten Überlegungen auf der rechten Spur gewesen und haben wir ihr auch in dieser Sache zu folgen, dann wird hier vor allem die folgende Entscheidung allem Weiteren zugrunde zu legen sein: Es muß, auch wenn nach der Ordnung und also nach dem Recht in der Gemeinde gefragt wird, das echte Verhältnis zwischen dem primären und dem sekundären Subjekt im Begriff „Gemeinde” gewahrt und also nicht etwa umgekehrt, auch nicht im Blick auf diese besondere Frage oder auf irgend eine ihrer Verästelungen suspendiert, eingeklammert, zum Behuf ihrer Beantwortung durch das entgegengesetzte ersetzt werden. Es wird auch im Kirchenrecht zu keiner μετάβασις εἰς ἄλλο γένος kommen dürfen. Ist es so, daß in dem Begriff „Gemeinde” Jesus Christus als Haupt dieses seines Leibes das primär handelnde Subjekt ist, dem gegenüber sich die daselbst ebenfalls handelnde menschliche Gemeinschaft der Heiligen nur als sekundäres verstehen kann, dann muß das in deren Ordnung nicht nur „unberührt” bleiben, d.h. als theologische Wahrheit, als Aussage des christlichen Glaubens und seines Bekenntnisses respektiert werden, dann muß das vielmehr auch in der Ordnung der Gemeinde und zwar in der Beantwortung aller

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in Frage kommenden Ordnungsprobleme in aller Form zum Ausdruck und zu Ehren kommen. Recht ist in der Kirche das, was nach Maßgabe jenes Verhältnisses richtig ist: alles andere ist in der Kirche Unrecht. Das ist gewissermaßen das Axiom, das von der Dogmatik her jedem geltenden oder geplanten Kirchenrecht gegenüber anzumelden, von dem her es bis in seine detailliertesten Bestimmungen hinein zu messen, zu dessen Anerkennung es einzuladen, eventuell zurückzurufen ist.

Es würde nicht ratsam sein, die Begründung des Kirchenrechtes von einem anderen als eben dem christologisch-ekklesiologischen Begriff der Gemeinde her unternehmen zu wollen. Sie ist, indem Jesus Christus ist: der Herr der menschlichen Gemeinschaft der Heiligen, das Haupt dieses seines Leibes, der seine eigene irdisch-geschichtliche Existenz ist — oder umgekehrt formuliert: Sie ist die menschliche Gemeinschaft der Heiligen, in welcher als in seinem Leibe, als in seiner irdisch-geschichtlichen Existenzform, Er das Haupt und der Herr ist. Zweierlei Desiderien zur Begründung des Kirchenrechts können nämlich nur von diesem Begriff der Gemeinde her erfüllt werden: es kann (1) nur von ihm her gezeigt werden, daß und warum nach Ordnung und also nach einer bestimmten Form, nach Gesetz und Recht im Leben der christlichen Gemeinde überhaupt gefragt werden muß, daß und wie geordnete und ungeordnete (wir könnten, indem wir an unseren größeren Zusammenhang denken, auch sagen: geheiligte und ungeheiligte) Gemeinde sich unterscheiden müssen. Und es kann (2) von ihm her gezeigt werden, nach welcher besonderen Ordnung und Form, nach welchem eigentümlichen Gesetz und Recht zu fragen ist, wenn das im Blick auf die christliche Gemeinde, die als solche mit keiner anderen menschlichen Gemeinschaft zu verwechseln ist, geschehen soll.

Die von Rudolph Sohm und in seiner Nachfolge von Emil Brunner zur Bezeichnung des Wesens der christlichen Gemeinde eingeführten Begriffe umgehen die christologische Frage und Antwort. Die Gemeinde sei (nach Sohm sogar unsichtbare) Geistkirche, Freiwilligkeitskirche, Liebeskirche, Kirche des Glaubens, oder nach Brunner

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(a.a.O., S. 12, 20) „reine Persongemeinschaft” (S. 118), „Brudergemeinschaft”, bzw. (S. 130) „Lebensgemeinschaft”. Ich übersehe nicht, daß sie bei Brunner alternierend mit diesen Begriffen häufig auch „Christusgemeinschaft” genannt wird und daß in seinem Buch sogar nicht weniger als fünf Abschnitte unter dem Titel „Christusgemeinde” stehen. Ich habe aber keine einzige Stelle bei ihm gefunden, in der er darin über Sohm hinausgegangen wäre, daß er den Begriff der Gemeinde ernstlich von Christus her durchgedacht und formuliert hätte. Was die christliche Gemeinde konstituiert, ist auch für ihn nicht die Existenz und Herrschaft Jesu Christi, sondern bestimmt geartete Beziehungen, in denen die ihr angehörigen Menschen, die Christen, zu ihm und vor allem zueinander stehen. Was Brunner „Christusgemeinde” nennt, ist sachlich nichts Anderes als das, was bei Sohm „Geistkirche”, „Liebeskirche” usw. heißt. Christus ist auch bei ihm Prädikat der christlichen Gemeinschaft und nicht umgekehrt. Aber wie dem auch sei: das ist klar, daß es von seinem wie von Sohms Begriff der Gemeinde her zu einer Erfüllung jenes ersten Desideriums, zu einem ernsthaften Fragen nach Ordnung und Recht im Leben der Gemeinde nicht kommen kann. Selbstverständlich nicht: ist dieser Begriff doch bei Sohm wie bei Brunner eben in der Absicht gewählt, nur schon diese Frage, geschweige denn jede Beantwortung dieser Frage als ein „Mißverständnis der Kirche” aufzuweisen, um der sog. „Rechtskirche” die wahre, mit keinen Ordnungs- und Rechtsproblemen beschwerte Gemeinde polemisch entgegenzustellen. Es möchte darum als sinnlos und unbillig erscheinen, ihn auf seine Brauchbarkeit im Licht unseres zweiten Desideriums anzusehen: ob sich von ihm her ein nützliches Fragen nach der besonderen, der der christlichen Gemeinde eigentümlichen Ordnung ergeben möchte? Selbstverständlich kann und will er auch dazu nicht brauchbar sein. Immerhin: Es könnte ja auch unter Voraussetzung des Sohm-Brunnerschen Gemeindebegriffs verlangt werden, daß die christliche Eigentümlichkeit nun eben der für ihn charakteristischen Abweisung des Ordnungsproblems sich von ihm her aufzeigen lassen müsse. Es gibt ja auch andere Person- oder Brudergemeinschaften, Geist- oder Liebesgemeinschaften — private Freundschaftsbünde etwa, aber auch wissenschaftliche oder künstlerische Interessengemeinschaften —, für die das Ordnungsproblem ebenfalls keine wesentliche Bedeutung haben mag. In welchem besonderen Sinn dies für die christliche Gemeinschaft gelten soll, ist von Sohm und von Brunner nicht gezeigt worden, ist von ihrer Definition dieser Gemeinschaft her auch unmöglich zu zeigen.

Wir stellen (1) fest: mit dem christologisch-ekklesiologischen Begriff der Gemeinde verhält es sich so, daß er schon als solcher von Ordnung und Recht redet und also zur Frage

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nach Ordnung und Recht nötigt und aufruft. Von ihm aus kann man sich dieser Frage darum zum vornherein nicht entziehen, weil er selbst ein Begriff von Ordnung und Recht ist, den man gar nicht vollziehen kann, ohne sofort auf diese Frage zu stoßen. Ist es nämlich so, daß die christliche Gemeinde diejenige menschliche Gemeinschaft ist, in der Jesus Christus als das Haupt das primäre Subjekt, die menschliche und menschlich handelnde Gemeinschaft der Heiligen als sein Leib das sekundäre ist, dann sagt man schon, indem man „Gemeinde” sagt, auch Ordnung und Recht. Man redet schon mit diesem Begriff als solchem von einer bestimmten Form, die dem mit communio sanctorum bezeichneten Geschehen eigentümlich, von einem Gesetz, dem es unter allen Umständen unterworfen ist, von einem Verhältnis, von einer Beziehung, von Proportionen, in denen es — der Sache, um die es da geht, entsprechend — notwendig verlaufen muß. Die Sache, um die es da geht, ist die vorläufige Darstellung der in Jesus Christus geheiligten Menschheit. Dieser Sache entsprechend geht es in der christlichen Gemeinde auf alle Fälle um ein Anordnen, Befehlen, Verfügen des einen Heiligen, in welchem Alle geheiligt sind und also Jesu Christi auf der einen Seite — und auf der anderen um ein ihm gehorsames, ihm sich unterordnendes Verhalten der menschlichen Gemeinschaft der Heiligen. Dieses Verhältnis konstituiert die christliche Gemeinde. Dieses Verhältnis ist ihr Ordnungsprinzip, ihr Grundrecht. Dieses Verhältnis hat sie, indem sie christliche Gemeinde ist, als „Kirchenrecht”, d.h. als das in ihr als Kirche aufgerichtete und für sie als Kirche geltende Recht in sich. Die Fragen, die vielen Fragen: Was das für ihr Leben und Tun im Einzelnen bedeuten möchte, sind mit dem Vereis auf dieses kirchliche Grundrecht noch nicht beantwortet. Eben sie wird die Gemeinde in der Besinnung auf die Rechtmäßigkeit ihres Lebens und Tuns zu beantworten haben. Aber eben indem dies das kirchliche Grundrecht ist, werden ihr diese Fragen immer aufs neue gestellt werden, kann sie unmöglich sein, was sie ist, ohne ihnen standzuhalten und ohne sich um ihre Beantwortung zu bemühen. Man wird die Frage nach dem rechten Kirchenrecht

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von daher unmöglich unterdrücken oder als eine Frage von minderer Bedeutung behandeln können.

Die Hauptdefinition von Erik Wolf trifft genau das Richtige: Die christliche Gemeinde ist „die Gemeinde des Herrn und der von ihm Erwählten, die so zu Brüdern gemacht sind” (Rechtsgestalt S. 258 f.), sie ist (S. 261, man beachte das Verhältnis von Subjekt und Prädikat!) „bruderschaftliche Christokratie”. Nachträglich und in untergeordnetem Sinn darf und mag sie dann (S. 259. 261) wohl auch als „christokratische Bruderschaft” gesehen, verstanden und bezeichnet werden. Der Begriff der „Christokratie” bleibt auch so der beherrschende. Und eben durch ihn wird die „Bruderschaft” als eine Rechtsgemeinschaft, d.h. eine durch das überlegene Recht Jesu Christi geordnete Gemeinschaft gekennzeichnet.
Wogegen die Definitionen von Sohm und von Brunner nur schon darum untragbar sind, weil sie — wahrhaftig ohne Grund im Neuen Testament — an dem mit „Christokratie” bezeichneten Sachverhalt und dmait an dem in der Kirche und für die Kirche gültigen Grundrecht vorbeigehen. Und es mach die Sache nicht besser, daß das — und damit die Diskriminierung alles Kirchenrechtes als solchen — ja gerade die Absicht ist, in der sie am entscheidenden Punkt von Geist, Freiwilligkeit, Liebe und dergl. statt von Jesus Christus reden. Es sei, so hört man von ihnen, die „Verrechtlichung” der Kirche das große Übel, das große „Mißverständnis der Kirche”, das durch diese Gewaltlösung beseitigt werden müsse. Die entscheidende Tat der Reformation Luthers wäre nach Brunner (S. 110) nicht etwa der Thesenanschlag von 1517, sondern die am 10. Dez. 1520 vollzogene Verbrennung des Corpus iuris canonici gewesen. Kirchenrecht als solches sei das Werk des „Kleinglaubens” (Sohm), Ersatz der fehlenden „Fülle des Geistes” (Brunner S. 58), identisch mit dem Verlust der messianischen Existenz oder doch mit der Schwächung des messianischen Bewußtseins (S. 67). „Was wir brauchen, ist der Heilige Geist” (S. 132). Sicher! Nur daß sich eine nach Ordnung und Recht nicht fragende, ihr Leben ohne diese Frage unvermeidlich dem Zufall, der Verwilderung preisgebende Gemeinde mit dem Heiligen Geist Jesu Christi ebenso in Widerspruch setzen dürfte wie eine solche, die ihre Beantwortungen dieser Frage über den Heiligen Geist oder an dessen Stelle setzt. „Verrechtlichung” ist (in dem größeren Zusammenhang dessen, was wir als „Sakralisierung” beschrieben haben) gewiß auch eine von den die Kirche bedrohenden Gefahren. Aber ist sie die einzige? Und bekämpft man sie damit wirksam, daß man den Begriff des Kirchenrechts überhaupt und als solchen mit dem großen Bann belegt? Sollte des demgegenüber nicht weiser sein, mit Erik Wolf (S. 254 f.) festzustellen, daß gerade die Juridifizierung und Bureaukratisierung, gerade die Formalisierung und Technisierung des kirchlichen Lebens Phänomene der Unordnung sind, der nicht mit Abweisung

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des Rechtsproblems, nicht mit Auflösung, sondern nur mit Erkenntnis und Befestigung der wahren Ordnung der Gemeinde zu begegnen ist: Kirchenunrecht, demgegenüber die der Sache entsprechende „Rechtsgestalt” und also ein rechtes Kirchenrecht (das dann aber auch allen Chiliasmus ausschließen wird) geltend zu machen ist. Das ist aber das rechte Kirchenrecht, das von dem in der Kirche gültigen Grundrecht, d.h. eben von dem christologisch-ekklesiologischen Begriff der Gemeinde her zu erfragen ist. Calvin war (bei aller Problematik seiner konkreten Antwort — aller hier zu gebenden Antworten!) grundsätzlich im Recht: Quant est de la vray Eglise, nous croyons, qu’elle doit estre gouvernee selon la police que nostre Seigneur Jesus Christ a establie (Conf. Gall. Art. 29). Man beachte: nous croyons. Es geht auch hier um einen Glaubenssatz: eben darum um einen Satz, der Jesus Christus zum Gegenstand und Inhalt hat, aber eben weil Jesus Christus, darum auch die in ihm aufgerichtete Ordnung und daraus folgend die Verpflichtung, die Kirche unsererseits nicht anders als dieser seiner Ordnung entsprechend zu „regieren”. Die Argumentation von Sohm und Brunner bewegt sich demgegenüber in einem circulus vitiosus: Weil sie das christologisch-ekklesiologische Grundrecht ignorieren, müssen sie nach einer Definition der Kirche greifen, auf deren Boden die Frage nach dem Kirchenrecht unmöglich ist. Und weil sie die Frage nach dem Kirchenrecht eliminieren wollen, müssen sie auf jene Definition der Kirche geraten und für deren christologisch-ekklesiologisches Grundrecht blind bleiben.

Eben mit dem christologisch-ekklesiologischen Begriff der Gemeinde verhält es sich nun aber (2) auch so, daß Ordnung und Recht, wie sie von ihm her zu erfragen sind, als christlich-kirchliche Ordnung, als christlich-kirchliches Recht von allem, was in der Welt sonst so heißen mag, verschieden, in seiner Besonderheit wirksam und sichtbar werden wird. Es wird sich von der der christlichen Gemeinde eigentümlichen Grundform her als notwendig erweisen, daß die ganze Formung ihres Lebens eine allen anderen Formungen gegenüber eigenartige werden muß. Von einer Bindung an die für den Bestand und die Tätigkeit anderer menschlicher Gemeinschaften — vielleicht allgemein, vielleicht unter bestimmten geschichtlichen Voraussetzungen — gültigen Regeln wird dabei nicht die Rede sein können. Die in der christlichen Gemeinde handelnden Menschen werden eben bei der Frage nach dem, was in ihrem Leben Ordnung und Recht sein möchte, niemals von der Voraussetzung ausgehen können,

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daß sie, daß ihre Gemeinschaft untereinander, das Subjekt sei, das nun freilich in ihrem Fall ihren gemeinsamen Glauben, ihr gemeinsames Bekenntnis und Gebet, ihre gemeinsame Botschaft an die Welt und zuletzt und zuhöchst auch noch den von ihnen gemeinsam erkannten und anerkannten Herrn Jesus Christus zum Prädikat habe. Sie wird also niemals von der Voraussetzung ausgehen können, daß sie als diese menschliche Gemeinschaft (wie alle anderen Gemeinschaften in der Welt) selbst darüber zu befinden habe, was in ihr als Ordnung und Recht zu gelten habe. Gerade umgekehrt: Er, Jesus Christus, ist ja hier das Haupt, der Herr, das primär handelnde Subjekt. Er befindet wie über ihren Glauben, ihr Gebet, ihr Bekenntnis, ihre Verkündigung, so auch über die Form ihres Lebens, so auch darüber, was in ihrem ganzen Tun Ordnung und Recht ist. Sie ist nicht selbst Gesetz — auch nicht und gerade nicht in ihrem Verhältnis zu Ihm. Sondern in seinem Verhältnis zu ihr ist Er ihr lebendiges Gesetz. Was den in der christlichen Gemeinde handelnden Menschen zukommt, ist dies: Ihn als das für ihr Verhältnis zu Ihm maßgebende Gesetz zu erkennen, immer neu zu erkennen und also: Ihm gehorsam, immer besser, genauer, vollständiger gehorsam zu werden. Rechtes Fragen nach dem, was in der Kirche Recht ist, wird also immer ein Fragen nach seinem Anordnen, Befehlen, Verfügen und nach dem ihm entsprechenden Gehorsam sein müssen. Kirchliches recht muß von seinem Ansatz her und bis hinein in alle seine Verästelungen geistliches Recht sein — „geistlich” im strengen Sinn des Begriffs: Recht, das in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes Jesu Christi aufzusuchen, zu finden, aufzurichten und zu handhaben ist. In diesem Charakter wird sich jedes geltende und jedes geplante Kirchenrecht — soll es rechtes Kirchenrecht sein — von allem, was sonst „Recht” heißt, scharf und klar unterscheiden müssen. Rechtes Kirchenrecht entsteht (in großen und kleinen, in allen Dingen!) aus dem Hören auf die Stimme Jesu Christi. Solches, dieses Recht entsteht sonst nirgends in der Welt, formal nicht und dann auch nicht material. Es bildet das Suchen und Finden, die Aufrichtung

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und Handhabung solchen Rechtes einen integrierenden Bestandteil des Tuns, das der Gemeinde in der Welt und der Welt gegenüber aufgetragen ist. Man wird die Frage nach dem rechten Kirchenrecht auch von daher unmöglich eliminieren oder auch nur als zweitrangig behandeln können.

Das immer wieder zu erfragende rechte Kirchenrecht ist integrierender Bestandteil des ja ebenfalls immer wieder zu erfragenden rechten (nach innen und nach außen zu bewährenden) Bekenntnisses der Gemeinde. Wieder hat Erik Wolf schon in seiner Aufsatz von 1947 genau das Richtige gesagt: Rechtes Kirchenrecht ist „bekennendes Recht”. Es ist doch sehr verwunderlich, daß weder Sohm noch Brunner sich überlegt zu haben scheinen, ob es nicht jenseits der kurzatmigen Alternative „Verrechtlichung oder Rechtlosigkeit” dieses Dritte geben möchte — und geben muß: weil nicht abzusehen ist, inwiefern es der Kirche erlaubt sein sollte, gerade auf dieser Ebene nicht zu bekennen, untätig zu bleiben, ihr besonderes Zeugnis zu unterdrücken.

Eine Näherbestimmung ist hier notwendig: die zu hörende Stimme ist die des in der heiligen Schrift bezeugten Jesus Christus. Er in seiner dort bezeugten Gestalt ist das Haupt, der lebendige Herr der Gemeinde. Sein in seiner Bezeugung durch die Propheten und Apostel wirksamer Geist ist der Heilige Geist, die Macht seines Gehorsam fordernden Gebietens und Verfügens. Es ist also konkret die Schrift, auf die die Gemeinde bei der Frage nach der Ordnung und dem Recht, im Kampf gegen kirchliche Unordnung und kirchliches Unrecht zu hören hat. Sie hat sich biblische Weisung geben zu lassen. Es geht um die Bibel, in der Er bezeugt ist — anders gesagt: Es geht um Ihn als den in der Bibel Bezeugten und sich selbst Bezeugenden, um sein Handeln als incarnandus im alten und als incarnatus im neuen Israel. Es ist sein Handeln damals und dort das Gesetz, dem die Gemeinde heute und hier zu gehorchen hat. Biblische Weisung ist seine Weisung. Die Gemeinde hat also bei der Frage nach ihrer von Ihm zu bestimmenden Lebensform nicht etwa abzuschreiben, zu übernehmen, nachzuahmen, was im Achten auf seine Weisung als Lebensform des alten und des neuen Israels damals und dort Ereignis geworden und in der

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Schrift erkennbar ist. So wird sie ja mit der Schrift auch sonst nicht umgehen dürfen. Wie sollte sie aber seine Weisung heute und hier hören, ohne genau darauf zu achten, wie er damals und dort als Haupt seines Leibes gehandelt hat und welche Form, welche Ordnungen und Rechte seinem Handeln im Leben seines Leibes damals und dort entsprochen haben? Sie wird sich — wie in Lehre und Leben überhaupt — immer wieder an dem Leben des Herrn in der alt- und neutestamentlichen Gemeinde als an der ersten und originalen Gestalt der „bruderschaftlichen Christokratie” zu orientieren haben — nicht um sie in ihrer damaligen und dortigen Gestalt wiederherzustellen, sondern um sich durch sie anleiten zu lassen, Ihn, den damals und dort, aber auch heute und hier in seiner Gemeinde lebenden und handelnden Herrn, selbst zu erkennen. Es kann ja für sie nicht darum gehen, irgend einer Gestalt des Leibes Jesu Christi — und wäre sie die biblische! —, sondern Ihm als dem Haupt seines Leibes gehorsam zu werden, nicht um ihre Anpassung an die alttestamentliche also, und auch nicht um ihre Anpassung an die neutestamentliche Ökonomie als solche, sondern darum, sich dem unterzuordnen, der in beiden der Ökonom, der Hausherr war und auch der ihrige ist und als solcher heute und hier regiert. Wie sollte sie Ihn hören, wenn sie die Schrift nicht hören wollte? Sie hört aber die Schrift — und in der Schrift auch das Zeugnis des alt- und neutestamentlichen Volkes Gottes, seiner Ordnungen und Rechte —, um Ihn zu hören, um über das, was Ordnung und Recht in ihrem Leben sein soll, seine direkte Weisung entgegenzunehmen. In diesem Sinne ist die Schrift (selber norma normata!) norma normans ihres Fragen nach dem rechten Kirchenrecht, wird das „bekennende Recht” praktisch Bekenntnis zu dem in der Schrift bezeugten Recht Jesu Christi sein müssen.

Zu der Lehre von der kirchenrechtfreien Gemeinde (nach Sohm: der unsichtbaren „Kirche im Glaubenssinn”, nach Brunner: der sichtbaren „Ekklesia”) nun noch ein letztes Wort. Merkwürdig, daß sich nun doch auch ihre Vertreter mit der Frage beschäftigt zeigen, sich offenbar mit ihr beschäftigen mußten: wie denn ihre reine Geist-

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und Liebesgemeinschaft in der Welt existieren, den anderen menschlichen Gemeinschaften koexistieren soll? Warum unternehmen sie es nicht, sie — ob als sichtbar oder als unsichtbar verstanden — vertrauend auf die ihr zugeschriebene pneumatische Überlegenheit und Kraft — der Welt und den sämtlichen, wegen ihres Sündenfalls in das Kirchenrecht verworfenen Kirchen als die eine, wahre christliche Kirche oder Gemeinde oder Gemeinschaft trotzig gegenüberzustellen? Warum soll es sich nach Brunner (S. 135) nun doch nicht darum handeln, „aus der Unterscheidung von Ekklesia und Kirche ein negatives Urteil oder gar eine feindliche Haltung gegen die Kirchen abzuleiten”? Oder warum werden die verirrten Kirchen nicht aufgerufen, umzukehren und ihrerseits Ekklesia zu werden? Warum werden wir vielmehr (S. 123 f.) versichert, daß sie das niemals werden könnten und nicht einmal sollten? Es ist schlechterdings nicht einzusehen, warum nicht das Eine oder das Andere die Konsequenz aus den von Sohm und von Brunner angegebenen Prämissen sein müßte. Sie wird nicht gezogen, sondern nun vernimmt man überrascht, daß es außer und neben der unter soviel Polemik gegen Kirchenrecht und Rechtskirche so hoch gepriesenen Ekklesia doch auch noch kirchliche Institutionen im Rechtssinn geben dürfe und sogar müsse, die als solche niemals „wahre Kirche” sein könnten — hoffnungslos dem „Mißverständnis der Kirche” verfallende Gebilde offenbar! —, denen nun doch nicht nur die Aufgabe zufalle, die „Schale” zu bilden, in der jener „kostbare Kern” bewahrt wird (S. 134), die nicht nur „unter der Gesichtspunkt der Kontinuität der Verkündigung und Lehre” unentbehrlich seien (S. 127), sondern von denen nun doch zu verlangen sei, daß sie „dem Werden von Ekklesia” zu dienen, im Minimalfall es nicht zu hindern hätten (S. 123). „Die Institution Kirche hat sich trotz allem als das wirksamste externum subsidium der Christengemeinschaft erwiesen” (S. 134). — Die Fragen, auf die ich hier als Vertreter dieser Ansicht keine Antwort wüßte, sind diese:

1. Wer oder was konstituiert und ordnet nun eigentlich diese nicht wahre, von der Ekklesia (der „Kirche im Glaubenssinn”) so scharf und endgültig unterschiedene „Kirche im Rechtssinn”? Der Heilige Geist kann es definitionsmäßig nicht sein. Gerade er will oder kann ja nach den Voraussetzungen dieser Konzeption mit der Auffindung und Aufrichtung von Recht nichts zu tun haben. Wer oder was aber dann? Eine allgemeine, vielleicht naturrechtlich, vielleicht historisch-positivistisch begründete Anschauung vom Wesen von Vereinen, speziell religiösen Vereinen? Wer aber wird der Interpret dieser Anschauung sein? Vielleicht der Staat mit seinem „Staatskirchenrecht”? Oder werden sich die an der Existenz dieser Schale nun doch irgendwie interessierten Glieder der „Christusgemeinschaft” zum Behuf von deren sachgemäßer Konstruktion vielleicht ihrerseits beiläufig (unter

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Verzicht auf das Votum des Heiligen Geistes) auf den Boden einer solchen allgemeinen naturrechtlichen oder historisch-positivistischen Anschauung zu begeben haben? Eines ist sicher: Es wird das bei der Bildung und beim Bestand dieser „Schale” wirksame Prinzip ein jenem „kostbaren Kern” wesensfremdes Prinzip sein müssen.

2. Was wird aber aus jenem Kern in dieser ihm wesensfremden Schale werden? Ob sich das Leben jenes selbst gesetzlosen Geist- und Liebesgebildes gegenüber dem seine Existenz in der Welt schützenden und regelnden fremden Gesetz jenes Rechtsgebildes behaupten — oder ob es sich ihm nicht zwangsläufig anpassen, ob es daher dem Lauf und Leben der Welt nicht praktisch früher oder später „gleichgeschaltet” werden wird? Man bedenke: nachdem man ausgerechnet die Aufgabe von „Verkündigung und Lehre” vertrauensvoll diesem fremden Rechtsgebilde übertragen hat! Und wenn die von daher drohende Gefahr praktisch nicht immer gleich akut sein sollte: wie hat man sich das vorzustellen, in welchem Sinn soll das zu erwarten sein, daß diese Schale jenem Kern, daß die Institution im Rechtssinn dem Werden der pneumatischen Ekklesia geradezu dienen, es nicht vielmher nun eben doch — hemmen werde? Sollten nun dennoch Trauben von den Dornen und Feigen von Disteln zu lesen sein?

3. Was wird aus der pneumatischen Reinheit der Ekklesia, wenn diese nach der Brunner’schen Version (S. 124) eine sichtbare Größe ist, als „kirchlich völlig unstrukturiertes Gebilde” (S. 126) immerhin kirchengeschichtliche Ausdehnung und Wirksamkeit hat, so daß es im Blick auf die Vergangenheit (von der urchristlichen Gemeinde ganz abgesehen) möglich ist, etwa auf die Quäker als auf eine annähernde Realisierung dieser Sache hinzuweisen, oder im Blick auf die Gegenwart auf die Innere Mission Wicherns, auf den Weltbund der christlichen Jungmänner- und Jungfrauenvereine, die christliche Studentenbewegung, die „Oxford-Gruppenbewegung und jetzige MRA”, auf die Basler und auf die China-Inland-Mission und schließlich im Blick auf die Zukunft die Erscheinung weiterer, jetzt noch ungeahnter neuer „Formen” der Ekklesia in Aussicht zu nehmen? „Formen”! Das ist es ja: existiert die Ekklesia sichtbar, dann heißt das: sie existiert in einer Form. Existiert sie aber in einer Form, dann wird sich auch die Frage nach deren Richtigkeit nicht unterdrücken lassen, es werden dann Versuche zu deren Beantwortung schwerlich unterbleiben können. Sie haben faktisch im Raume keiner der von Brunner erwähnten Möglichkeiten ganz unterbleiben können — wirklich nicht nur als „etwas völlig Spontanes” (S. 66), sondern (auf Grund von Reflexionen und Diskussionen) in Form von an irgend einem Punkt verbindlichen Vereinbarungen und Einrichtungen („Institutionen”!) — und es wäre erst zu fragen: ob es dabei etwa noch nie auch zu mehr oder weniger üblen „Verrechtlichungen” gekommen ist? So wird es auf dem von Brunner visierten Feld wohl auch in Zukunft zugehen. Das bedeutet

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aber: gerade „kirchlich völlig unstrukturiert” wird die Brunner’sche Ekklesia an keinem Ort und in keinem Augenblick sein, sie wird sich von anderen — „Kirchen” nur dadurch — und das nicht zu ihrem Vorteil! — unterscheiden, daß sie die Ordnungsfrage tunlichst zu bagatellisieren, nebenbei zu erledigen wünscht, statt ihr offen, grundsätzlich und ernsthaft standzuhalten.

4. Was wird aus dem Zeugnis an die Welt, zu dem doch wohl auch die „Kirche im Glaubenssinn” verpflichtet sein dürfte, wenn diese nach Sohm als solche nicht sichtbar werden, sondern irgendwo im Rahmen und Schatten der „Kirche im Rechtssinn” unsichtbar existieren soll? Verzichtet sie auf die Herausbildung einer ihr eigentümlichen, im Raum der Welt sich abzeichnenden Gestalt, läßt sie es zu oder wünscht sie es geradezu, in diesem Raum anonym zu bleiben, bzw. sich durch die Fremdgestalt der „Kirche im Rechtssinn” repräsentieren zu lassen — was heißt das Anderes, als daß sie sich darauf verläßt, es möchte ja in der Person einzelner ihrer Glieder und durch deren Wort, Leben und Werk trotzdem zu einem christlichen Zeugnis an der Welt kommen? Sie wird wahrscheinlich sogar darauf pochen, daß eben das die einzig mögliche und wahre Form dieses Zeugnisses sei! Heißt das aber nicht, daß sie sich selbst der Welt gerade in ihrem wesentlichen Sein als der Leib Jesu Christi vorenthält? Kann es anders sein, als daß sie damit auch das Zeugnis jener Einzelnen zum vornherein entwerten, es nämlich dem Verdacht aussetzen wird, es möchte sich da doch nur um die Äußerung von deren privater, für Andere unverbindlicher Gesinnung und Frömmigkeit handeln? Und kann es anders sein, als daß die Welt sie — den ganzen Bereich des christlichen Geistes, Glaubens, Liebens — nach der wesensfremden Kulisse beurteilen wird, durch deren Ritzen hindurch sich zwar jene christlichen Privatpersonen bemerkbar machen mögen, hinter der sie selbst, d.h. aber hinter der sie selbst, d.h. aber hinter der die irdisch-geschichtliche Existenzform Jesu Christi in ihrer weltweiten Bedeutung verborgen bleibt? Alles nur weil sie sich in ganz unangebrachter Eigenwilligkeit für zu vornehm hält, in Erfüllung ihrer öffentlichen Mission sich als das, was sie ist, in der Weltöffentlichkeit zur Geltung zu bringen, sich darum die Frage nach der ihr angemessenen und eigentümlichen Form allen Ernstes gestellt sein zu lassen und selber zu stellen! Darf sich die Christenheit das wirklich leisten?

5. Die letzte Frage ist die einschneidendste: Wie steht es eigentlich mit der Maßgeblichkeit des jene ganze Konzeption beherrschenden Leitbildes der „Kirche im Glaubenssinn” bzw. der (angeblich neutestamentlichen) Ekklesia? „Die Christusgemeinde ist das große Wunder der Geschichte” (Brunner, S. 134). Die Gemeinde der ersten Jahrhunderte als dieses Wunder darzustellen, ist schon in der für die Geschichte der protestantischen Theologie so schicksalschweren Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert unternommen worden — in dem

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umfangreichen und in seiner Weise hochgelehrten Werk von Gottfried Arnold: „Die erste Liebe der Gemeinden Jesu Christi, das ist wahre Abbildung der ersten Christen und ihres lebendigen Glaubens und heiligen Lebens” (1696) — in ähnlicher Einschätzung und Absicht wie der von Sohm und Brunner schon damals! Aber haben Arnolds „Erste Christen”, hat Sohms Geist- und Liebeskirche, hat Brunners Ekklesia so jemals existiert, daß sie als Quelle und Norm alles Nachdenkens über das Kirchenproblem auch nur greifbar wäre? Braucht es nicht ein nun doch so großes Stück freier Imagination, ihre „Abbildung” für eine wahre Abbildung zu halten? Trocken gefragt: Ist dieses „große Wunder” wirklich geschehen? Auch nur nach dem, was im Zeugnis des Neuen Testamentes sichtbar ist — um von den ersten Jahrhunderten, die G. Arnold als Zeugnis dieses Wunders zum Sprechen bringen wollte, nicht zu reden? Sollte dieses Leitbild nicht in den Bereich dessen gehören, „was sich nie und nimmer hat begeben” — in die Welt der Ideen und Ideale also? Aber nehmen wir an: so etwas wie jene rein pneumatische Gemeinde hätte wirklich und in einer uns erkennbaren Weise existiert, so wäre die entscheidende Frage noch immer offen: wie sie bzw. ihre „Abbildung” nun zu der ihr in jener ganzen Konzeption zugeschrieben Maßgeblichkeit kommen möchte? Heißt credo ecclesiam nun eigentlich: Ich glaube an ein von mir entdecktes oder aufgestelltes oder mir sonstwie vorschwebendes und von mir als „großes Wunder” ausgezeichnetes Leitbild christlicher Gemeinschaft? Ist das Unternehmen, das Kirchenproblem an Hand diese Kriteriums zu diskutieren, nun nicht doch ein im Grunde — romantisches Unternehmen, bei dem auf theologische Überlegung schon im Ansatz verzichtet wird? Kraft welcher Autorität gilt nun gerade dieses Kriterium? Soll nun doch eine bestimmte Gestalt des Leibes Christi — nehmen wir an, daß sie uns im Neuen Testament und in der ältesten Kirchengeschichte so bezeugt sei — das Gesetz des Handelns der christlichen Gemeinde sein? Ich finde diese Frage weder bei G. Arnold noch in jenen neuen Verherrlichungen der „ersten Christen” beantwortet und merkwürdigerweise nicht einmal in Erwägung gezogen. Entscheidend darum meine ich, daß man bei dieser Sache nicht mittun kann. Das Neue Testament bezeugt kein Leitbild christlicher Gemeinschaft, wohl aber „das Leben des Herrn in der Gemeinde” (Ed. Schweizer) und eben damit das Grundrecht, das für die Gemeinde aller Zeiten gültig und maßgeblich ist. Es bezeugt die „bruderschaftliche Christokratie”, die „lebendige Gemeinde des lebendigen Herrn Jesus Christus”. Indem dieses sein Zeugnis nicht beachtet wurde, ist es schon in den ersten Jahrhunderten zu allerlei „Verrechtlichung”, aber ebenfalls schon damals auch zu allerhand Verlotterung gekommen. Man wehrt ihrer „Verrechtlichung” nicht, man entgeht ihr nicht einmal damit, daß man sich eine solche christliche Gemeinschaft vor Augen hält oder ausdenkt und zum Leitbild erhebt, in der es erlaubt und geboten sein soll, die von ihrem Grundrecht her gestellte Frage nach

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der Ordnung ihres Lebens niederzuschlagen, bzw. nur beiläufig und in Anwendung kirchenfremder Maßstäbe zu erledigen. Man wehrt ihr, man wehrt aber auch dem Chiliasmus und der Unordnung, indem man jenes Grundrecht respektiert und von ihm her die Frage nach dem rechten Kirchenrecht weder unterdrückt noch bagatellisiert, sondern ernst nimmt: als Gehorsamsfrage, als Frage nach der rechten Gestalt der communio sanctorum und dann auch als Frage nach dem rechten Zeugnis der Gemeinde in der Welt! — nach oben, nach innen und nach außen als Frage ersten Ranges.

Bevor wir von daher zur Erkenntnis der Grundsätze rechten Kirchenrechts vorzudringen versuchen, eine notwendige Zwischenerklärung: Die Gemeinde kann es der sie umgebenden Welt nicht verwehren, sie zunächst — und im entscheidenden Punkt, solange die Zeit dauert, sogar endgültig — ganz anders zu verstehen, als sie sich selbst versteht und also: sie mißzuverstehen. Was weiß die Welt — was kann sie, bevor Jesus Christus auf den Wolken des Himmels wiederkommt und es auch ihr offenbar macht, wissen von der „bruderschaftliche Christokratie” als dem in der christlichen Gemeinde gültigen Grundrecht? Sie muß und wird sie, die ja in der Tat auch eine menschliche Gemeinschaft unter andern ist — in Ermangelung der zu ihrem Verständnis nötigen Kategorien — immer zusammenwerfen und verwechseln mit den anderen in ihrem Raum entstandenen und noch entstehenden Gemeinschaften. Sie wird sie für eines jener soziologischen Gebilde halten, in denen die in ihnen vereinigten Menschen das handelnde Subjekt, deren besondere Überzeugungen und Bestregungen aber dessen Prädikat sind — und das auch dann, wenn es sich um sogenannte „religiöse” Gemeinschaften handeln sollte. Eben als eine solche wird sie auch die christliche Gemeinde betrachten und behandeln: als einen Verein oder als eine Körperschaft, der nun eben in dieser, der christlichen Gesinnung, zu dieser, der christlichen Betätigung vereinigten Menschen. Sie wird sich zwar deren gemeinsames Bekenntnis zu Jesus Christus als zu ihrem Herrn, der übrigens auch ihr, der Welt Herr sei (im besseren Fall mit Respekt, in mittleren Fall gleichgültig, im schlimmeren Fall ablehnend) anhören und zur Kenntnis nehmen. Sie wird zwar irgend ein Verständnis dafür

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aufbringen, daß es nun einmal der größere oder kleinere Gruppen von Menschen gibt, die dieses Glaubens (in irgend einer seiner konfessionellen Gestalten) sind. Sie wird sich aber — sonst wäre sie nicht die Welt — auf keinen Fall darauf einlassen, sich ihrerseits mit der Kirche von daher (indem sie deren Glauben und Bekenntnis ernst nähme!) zu beschäftigen und auseinanderzusetzen. Sie wird sie, dem kirchlichen Bekenntnis zuwider, als ein soziologisches Gebilde wie andere interpretieren. Sie wird von ihr erwarten, daß sie sich jedenfalls in ihrem Verhältnis zu ihr im Rahmen dessen bewege, was man allgemein unter dem Rechtssubjekt eines Vereins, einer Körperschaft, eines natürlichen oder geschichtlich entstandenen oder frei sich bildenden Zweckverbandes versteht. Die Gemeinde ihrerseits wird sich diese Interpretation niemals zu eigen machen können und dürfen. So ziemlich alle kirchenrechtlichen Irrtümer haben ihren Grund darin, daß die Gemeinde das — mehr oder weniger konsequent — immer wieder getan, daß sie sich selbst nach Maßgabe des ihr von der Welt her widerfahrenden Mißverständnisses verstanden hat. Sie wird es der Welt faktisch nicht verbieten können, sie so zu interpretieren und also mißzuverstehen. Sie wird wissen müssen, daß ihr von außen her etwas Anderes gar nicht widerfahren kann. Sie kann und soll dieser Fehlinterpretation ihr Bekenntnis, ihr Selbstverständnis laut und deutlich entgegenstellen. Sie kann aber die Welt nicht zwingen — sie soll sie auch nicht dazu zwingen wollen —, ihr Bekenntnis und Selbstverständnis ernst zu nehmen. Sie wird praktisch immer wieder damit rechnen müssen, daß sie von einem ganzen Ozean von Welt umgeben ist, die dazu nicht in der Lage und willens ist, die sie also nicht hindern kann, sie ganz anders zu verstehen, als sie sich selbst verstehen muß.

Das gilt nun besonders für den wichtigsten der Kirche konkret gegenüberstehenden weltlichen Partner, den Staat. Es ist eine Sache für sich, daß die Kirche unter allen anderen menschlichen Gemeinschaften vorzüglich die sie alle umfassende und zusammenordnende des Staates als ein Werk göttlicher Anordnung, als ein Element der Herrschaft Jesu

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Christi — als den großen menschlichen Exponenten seiner Herrschaft auch über die Welt da draußen —, seine Vertreter als „Diener Gottes” (Röm 13, 6) in diesem weiteren Sinn verstehen muß. Sie kann und soll ihm gegenüber bekennen: sie versteht ihn dahin, daß eben ihre eigene geistliche Mitte faktisch auch die Mitte seines Wesens und Bestandes ist. Sie kann aber auch ihn — sogar wenn sie das in irgend einer geschichtlichen Situation zu tun vermöchte — nicht zwingen wollen, sich selbst so zu verstehen, wie sie ihn versteht — eben darum auch nicht dazu, sie zu verstehen, wie sie sich selbst versteht. Sie wird sich faktisch darein finden müssen, daß er ihr, auch wenn die Mehrheit seiner Bürger und manche seiner Vertreter selbst mehr oder weniger gute Christen sein sollten, als ihr weltlicher Partner gegenüber stehen und in seinen Verhältnis zu ihr von seinen und nicht von ihren eigenen Voraussetzungen her denken und argumentieren, in seiner Gesetzgebung und in seinen Verwaltungsmaßnahmen mit ihr umgehen wird. Gerade vom Staat wird sie praktisch nichts Anderes erwarten, als daß er ihr eine — vielleicht mehr oder wenige hervorgehobene — Stellung und Funktion im Rahmen seines Vereinsrechtes bzw. Korporationsrechtes zuweisen wird.

Die Form, in der er seine Beziehung zu ihr, d.h. ihre Einordnung in seine Ordnung im Rahmen seines Verständnisses (bzw. Mißverständnisses!) ihres Wesens regelt, ist das sogenannte Staatskirchenrecht, in welchem er ihr als Inhaber der in seinem Bereich bestehenden Souveränität und als höchster Wahrheit der daselbst aufgerichteten und geltenden allgemeinen Rechtsordnung ihren angemessenen Raum garantiert, aber auch darüber wacht, daß sie ihrerseits dessen Grenze nicht überschreitet.

Er tut das, indem er neben vielen anderen ihm zustehenden Rechten auch ein ius circa sacra beansprucht und ausübt: nicht in sacra, nicht, indem er selber als Willensbildner in der Kirche auftritt, ihr inneres Leben regiert, wohl aber circa sacra: als Hüter jener Grenze nach beiden Seiten. Er kann solches Staatskirchenrecht entweder von sich aus (etwa durch bestimmte Verfassungsartikel und durch Erlaß der ihnen entsprechenden Kirchengesetze) setzen oder auch in Form

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von Verträgen („Konkordaten”) mit der Kirche vereinbaren. Er kann ihr dabei auch gewisse Privilegien verleihen, die bis zu ihrer Anerkennung als einer „Körperschaft öffentlichen Rechtes” oder gar (wie im alten Europa überall und in Spanien heute noch) bis zu ihrer Anerkennung als Kirche der offiziellen Staatsreligion gehen mögen.

Davon, daß der Staat als solcher sich das Selbstverständnis der Kirche zu eigen machen würde, wird doch auch in diesem Fall keine Rede sein können. Es wird also ihr Selbstverständnis in dem ihr vom Staat gesetzten oder von ihr mit dem Staat vereinbarten Recht niemals zum Ausdruck kommen. Das bedeutet aber: Staatskirchenrecht kann nie Kirchenrecht werden oder sein wollen oder als solches von der Kirche übernommen und anerkannt werden. Staatskirchenrechtliche Sätze gehören also nie und nimmer in eine Kirchenverfassung oder Kirchenordnung — darum nicht, weil sie als solche ein Verständnis der Kirche voraussetzen und wohl auch direkt oder indirekt aussprechen, das sich die Kirche ihrerseits nicht zu eigen machen kann. Sie kann die Entstehung von Staatskirchenrecht gerade nur geschehen und sich seine Geltung gerade nur gefallen lassen. Das prinzipiell nicht zu tun, hat sie keinen Anlaß. Daß sie eine menschliche Gemeinschaft unter anderen ist und sich als solche im Hoheitsgebiet des Staates befindet — eben des Staates, dessen Bürger ja auch ihre Glieder, die einzelnen Christen, sind und den sie ja ihrerseits als eine göttliche Anordnung versteht und anerkennt — das wird sie nicht in Abrede stellen. Sie wird sich also prinzipiell loyal in das vom Staat beanspruchte und ausgeübte ius circa sacra fügen. Und wenn ihr Gelegenheit geboten ist, auf dessen Gestalt und auf dessen Ausübung direkt oder indirekt Einfluß zu nehmen, so wird sie das dankbar und im Bewußtsein ihrer Verantwortlichkeit auch für die Existenz und den Bestand des Staates tun. Sie wird sich aber darüber im Klaren sein, daß es sich in allem Staatskirchenrecht als solchem — auch im besten — nun wirklich um das „Mißverständnis der Kirche”, nämlich um die Ignorierung des in der Kirche gültigen Grundrechtes handelt, daß sie in ihm auf alle Fälle — weil als Verein oder Körperschaft im Charakter eines souveränen Rechtssubjektes, da sie nun einmal

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nicht ist — nur in enormer optischer Verzerrung gesehen und verstanden ist, in der sie sich selbst nur eben unter Vornahme einer energischen Rückübersetzung wiedererkennen kann. Sie wird sich also in alles ihr gesetzte oder geschenkte oder auch mit ihrer Einwilligung aufgerichtete Staatskirchenrecht nur eben so einfügen, wie sie sich dem Lauf der Welt überhaupt einfügt. Hier gilt nun wirklich: ὡς μἠ, als täte sie es nicht! Sie wird ihre ursprüngliche und eigentliche Verantwortlichkeit, die ihr auch der beste Staat nicht abnimmt, noch abnehmen kann, auch im Rahmen von dessen Recht wahrzunehmen keinen Augenblick unterlassen dürfen. Um ihre eigene Macht oder auch nur die Wahrung ihres Prestiges wird es dabei niemals gehen dürfen. Wohl aber wird sie bei dem, was sie in jenem Rahmen tut und läßt, die im Unterschied zum Staat ihr anvertraute Sache beständig und scharf im Auge behalten müssen. Sie wird die sämtlichen Bestimmungen des Staatskirchenrechts ihrerseits, soweit es immer möglich ist, in der Richtung auf das hin interpretieren, was sie von ihrem Selbstverständnis her für Recht halten muß. Sie wird geradezu eifersüchtig darüber wachen, daß aus dem staatlichen ius circa sacra nicht offen oder heimlich doch etwa — die Tendenz dazu wird auch dem besten, auch dem ihr gegenüber loyalsten Staat (und diesem vielleicht am meisten!) nur zu nahe liegen — ein staatliches ius in sacra werde: ein staatliches Hineinregieren in ihre eigene Ordnung und dann wohl auch ein Verfügenwollen über ihre Verkündigung, Lehre, Theologie, wenn nicht über ihr Bekenntnis, so doch über dessen praktischen Vollzug. Sie darf sich durch das sie begrenzende Staatskirchenrecht nicht säkularisieren lassen. Sie wird sich nicht scheuen dürfen, hinsichtlich seiner Anwendung den für diese Verantwortlichen (ob es sich nun um Behörden oder um politische Majoritäten handelt), wenn es not tut, energisch entgegenzutreten. Es wird da immer wieder eine Grenze sichtbar werden, die sie von ihrem Selbstverständnis her zu hüten, jenseits derer sie vom Staate keinerlei Gebote oder Verbote entgegen zu nehmen hat. Sie wird aber vor allem nicht müde werden dürfen, ihr Selbstverständnis immer aufs neue positiv ans Licht zu

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stellen: entscheidend in den Konturen ihres Lebens und ihrer Tätigkeit innerhalb des staatlichen Bereiches, indem sie (an dem Zerrbild, in welchem sie im Staatskirchenrecht sichtbar ist, vorbei!) rein faktisch in ihrem eigenen Charakter, in Ausführung ihres Auftrages da ist, redet und handelt als die nun eben nicht sich selbst gehörige und regierende menschliche Gemeinschaft, als der Bereich, in welchem Jesus Christus das Regiment führt; indem sie ihren Glauben an ihn damit bewährt, daß sie ihm ernstlich und unbekümmert gehorsam ist. Das Alles nicht (auch im kritischsten Fall nicht!) gegen den Staat, sondern in wohlverstandener Verantwortlichkeit auch für ihn — um ihn, indem sie sich selbst, vielmehr: dem in ihr gültigen Grundrecht treu ist, an das zu erinnern, was letztlich auch ihn legitimiert, was auch seinen Auftrag begründet, was auch seine Würde ausmacht: daß nämlich auch er von Gott ist, ein ihm nicht eigenes, sondern nur übertragenes Recht ausübt und also seinerseits auch nur in beschränkten Sinn Rechtssubjekt ist. Was gerade der Staat braucht, ist eine — im Rahmen dieses oder jenes konkreten Staatskirchenrechtes! — freie Kirche, die ihn als solche an seine Grenzen und damit an seine Bestimmung erinnert, ihr vor dem Absturz in Anarchie und Tyrannis in gleicher Weise zu warnen in der Lage ist. Unter allen Umständen als freie Kirche — und nur als solche! — wird sich die christliche Gemeinde in die Rechtsordnung des Staates einfügen lassen und selber willig und freudig einfügen.

 

Wir gehen nach Klärung dieser Vorfrage an die Aufgabe heran, die allgemeinen Voraussetzungen zu umschreiben, die vom christologisch-ekklesiologischen Begriff der Gemeinde her als deren Grundrecht für jedes rechte Kirchenrecht maßgebend, in jedem rechten Kirchenrecht wirksam und sichtbar werden müssen. Unter „Kirchenrecht” sei nun also im Unterschied zu „Staatskirchenrecht” verstanden: diejenige Ordnung, die die Gemeinde von ihrem Grundrecht her für sich selbst — gemeint ist: unabhängig von allem Staatskirchenrecht und ohne die — wäre es auch leiseste — Einwirkung staatlicher Instanzen (in Form von Kirchenverfassung und Kirchenordnung)

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im Gehorsam gegen ihren Herrn zu finden, aufzurichten und zu handhaben hat.

Um mehr als um das Aufzeigen seiner allgemeinen, für alle Kirchen und ihr Recht theologisch verbindlichen Voraussetzungen kann es hier nicht gehen: also nicht um die Entfaltung des Kirchenrechtes selber. Sie ist Sache der verschiedenen Kirchen hier und dort, in dieser oder jener Zeit und Situation, in denen sie jeweils außer der nötigen theologischen Einsicht auch eine speziell juristische Wissenschaft und Kunst erfordern wird. Es gibt wohl jenes Grundrecht und in Form von dessen Analyse allgemeine Voraussetzungen alles Kirchenrechtes. Es gibt aber kein allgemeines Kirchenrecht. Es kann und muß von jenem Grundrecht und von den von ihm her geltend zu machenden Voraussetzungen her — und also als rechtes Kirchenrecht! — verschieden entfaltet werden. Uns interessieren aber eben die aus dem Grundrecht der christlichen Gemeinde sich ergebenden, die nun eben dieses Grundrecht selbst explizierenden Voraussetzungen alles Kirchenrechts. Sie sind in ihrer theologischen Verbindlichkeit für alles Kirchenrecht aufweisbar. Eben diese Voraussetzungen — und diese in ihrer Verbindlichkeit — deutlich und geltend zu machen, ihrer Erkenntnis und Anerkennung zu dienen, gehört nun allerdings in den Aufgabenkreis der Dogmatik. Ihnen haben wir uns nun zuzuwenden.